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 [Parteivorstand]: Genossen und Genossinnen!

 [Parteivorstand]: Genossen und Genossinnen! (1919)

Einige tausend Arbeitslose und Heimkehrer haben gestern eine Demonstration veranstaltet, die damit ge­endet hat, daß Menschen, die ebenso Proletarier sind wie die Demonstranten selbst, getötet und verwundet worden sind, daß Volkseigentum in Brand gesteckt worden ist.

Wir kennen die Not der Arbeitslosen und be­greifen ihre Erregung. Wir kennen das Elend der Heimkehrer und begreifen ihre Erbitterung. Aber gewalttätige Demonstrationen sind nicht das Mittel, Not und Elend zu lindern.

Was soll durch Gewalttätigkeiten erreicht werden? Will die Arbeiterschaft das gegenwärtige Regierungssystem ändern, so bedarf es dazu nicht der Gewalt. Unsere Genossen in der Regierung werden ihr auf­reibendes und sorgenvolles Amt keine Stunde länger behalten, als die Arbeiterschaft es will. In der Stunde, in der die Mehrheit eurer von euch selbst gewählten Vertrauensmänner beschließt, daß unsere Genossen aus der Regierung scheiden sollen, werden sie das selbst­verständlich tun. Die deutschösterreichische Arbeiterschaft hat es also selbst in der Hand, durch ihren bloßen Beschluß, ohne jede Gewaltanwendung das Regierungssystem zu ändern. Aber freilich, nur der Gesamtheit der organisierten Arbeiterschaft steht dieses Recht zu! Ein paar tausend Demonstranten haben nicht das Recht, ihren Willen der Gesamtheit der organisierten Arbeiterschaft gewaltsam aufzuzwingen!

Was heute geschehen ist, ist also sinnlos! Aber mehr als das! Es ist zugleich höchst gefährlich! Längst schon ruft die Bourgeoisie nach der Besetzung Deutschösterreichs durch Truppen der Entente! Unter dem Schutze der Bajonette der Entente möchte sie ihre Herrschaft wieder aufrichten! Bisher haben wir diese Gefahr abgewehrt, indem wir die Vertreter der Entente überzeugt haben, daß Deutschösterreich, trotz dem furchtbaren Massenelend, aus eigener Kraft Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten kann! Daß wir das wirklich können, hat auch der heutige Tag bewiesen: Mit musterhafter Disziplin hat unsere Volkswehr die Ordnung wiederhergestellt, sobald sie auf den Schauplatz der Demonstration gerufen wurde. Aber trotzdem ist die Gefahr groß. Die Entente will sich die Verkehrswege von Italien zu ihren tschechischen und polnischen Bundesgenossen nicht stören lassen; wenn sie befürchten wird, daß unser Land zum Schauplatz größerer Unruhen werden könnte, dann droht uns die Gefahr, daß Wien und unsere anderen großen Industriegebiete von Ententetruppen besetzt werden. Dann würde die Gegenrevolution triumphieren! Unsere Hoffnungen für die Zukunft wären bedroht, das schon Errungene wäre gefährdet!

Es ist unsere Pflicht, Genossen und Genossinnen, eine solche Katastrophe zu verhindern! Klärt eure Arbeitsbrüder und Arbeitsschwestern darüber auf, daß Gewalttätigkeiten und Unruhen uns fremde Truppen ins Land bringen und damit alles, was wir schon errungen haben, in Gefahr bringen, alles, worauf wir hoffen, gefährden können! Klärt die ganze Arbeiterschaft darüber auf, daß jeder, der heute durch sinn- und zwecklose Gewalttätigkeit die republikanische Ordnung stört und die proletarische Disziplin verletzt, nur den alten Mächten hilft, unter dem Schutze fremder Waffen ihre Herrschaft wieder aufzurichten!

Genossen und Genossinnen! Wir brauchen revolutionären Mut und revolutionäre Tatkraft! Aber wir brauchen auch — heute dringender denn je! — Besonnenheit, Einsicht und Selbstzucht!

Der Parteivorstand der deutschösterreichischen Sozialdemokratie.

In: Arbeiter-Zeitung, 18.4.1919, S. 1.