Fritz Rosenfeld/Karl Leuthner: Neue russische Romane

Fritz Rosenfeld/Karl Leuthner: Neue russische Romane (1930)

Wohl selten war eine literarische Schaffensperiode in ihren Themen und in ihrer Form so einheitlich wie es die russische Dichtung der Nachkriegszeit ist. Der Stoff aller Romane ist die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart Sowjetrußlands; die Darstellungsform bleibt, mit Ausnahme ganz weniger Dichter, die zu einer neuen Romantik Hinstreben (Leonow), der breite Naturalismus alter Schule, in den sich impressionistische Elemente, lyrische Zwischenspiele, Stimmungsmalerei, mischen. Ihrem Inhalt nach sind die neuen russischen Romane leicht zu gliedern. Der Krieg, die Revolution und der Bürgerkrieg, die Aufbauarbeit im neuen Staate, sind die drei großen Themengruppen, in die sich die neue russische Epik einteilen läßt. 

Der Krieg ist die Hauptmelodie des großen Romans 

Der stille Don

von Michael Scholochow (Verlag für Literatur und Politik, Wien-Berlin). Das Buch schildert erst das Leben der Kosaken, die an den Ufern des Don stille Bauernarbeit leisten, und zeigt dann, wie diese Kosaken, vom Zaren in das Blutbad des Weltkrieges gestürzt, zu neuen Menschen werden. Die Vollendung der Wandlung, die der Krieg an ihnen vollzieht, wird ein zweiter Teil des Romans darstellen. Wie die Kriegsbücher aller Völker, zerreißt auch dieses russische Kriegsbuch die Legende vom Heldentum. Friedliche Menschen werden zu Mördern, weil sie fürchten, gemordet zu werden.

Ein Zeitdokument aus der Revolution ist die Selbstbiographie Vera Inbers, die im Malik-Verlag, Berlin, deutsch unter dem Titel 

Der Platz an der Sonne 

erschienen ist. Das Buch ist kein Roman im gewöhnlichen Sinne, sondern eine breite, gestaltenreiche Zeitschilderung, die den Atem, die „Schwingungen“ einer großen Epoche wiederzugeben versucht.

Farbiger, lebendiger sind die beiden Erzählungen, die der Neue Deutsche Verlag, Berlin, in dem Band

Taschkent, die brotreiche Stadt 

vereinigt hat. Die Titelerzählung des Buches stammt von Alexander Newerow. Sie spielt in den trübsten Hungerzeiten nach der Revolution und hat einen kleinen Jungen zum Helden, der für seine Familie die abenteuerliche Fahrt nach Taschkent wagt, um Brot und Saatkorn heimzubringen. Er schlägt sich mit Soldaten, mit Wegelagerern, mit dem großen Heer der Hungerndenherum, aber er erreicht sein Ziel. Großartiger als diese Geschichte ist A. Sferafimowitsch‚ gewaltiges episches Fresko Der eiserne Strom, das den zweiten Teil des Buches bildet. Hier gibt es keinen „Helden“, kein Einzelschicksal. Ein von den Horden der Reaktion aus der Heimat vertriebener Trupp kaukasischer Bauern bahnt sich mit der nackten Faust durch die ehernen Reihen der Feinde einen Weg und entrinnt den weißgardistischen Kadetten, von denen er verfolgt wird. Ein schauriges Gemälde aus dem Bürgerkrieg, unbarmherzig in der Darstellung der Kriegsgreuel, überhöht und überglänzt von dem Gedanken, daß an der geeinten Kraft der Revolutionäre alle Mordbanden der Reaktion zuschanden werden müssen.

Eine Episode aus dem Bürgerkrieg erzählt A. Fadejew in seinem im Verlag für Literatur und Politik erschienenen Buch 

Die Neunzehn.

Kommunistische Freischärler kämpfen gegen die Truppen Koltschaks. Typen treten aus der Masse heraus, das Gesicht des russischen Freiheitskämpfers wird in vielen Abwandlungen gezeigt. Die Hauptfigur ist ein junger Mensch, der nicht weiß, wofür er kämpft, der in seinem innersten Wesen ein Feigling ist: er schlägt sich in der Stundeder Gefahr seitwärts in die Büsche, wahrend die Kameraden, zielbewußte Soldaten der Revolution, den Kampf weiterführen.

Der wertvollste Roman des neuen Rußland nach Fedor Gladkows „Zement“ ist der ebenfalls im Verlag für Literatur und Politik erschienene Bauernroman 

Die Genossenschaft der Habenichtse

von F. Panferow. Er ist das Gegenstück zu „Zement“: dem Roman vom Wiederaufbau der Industrie wird hier der Roman vom Neuaufbau der russischen Landwirtschaft gegenübergestellt. An den Ufern der Wolga gründen ein paar arme Bauern auf ungerodetem Regierungsgrund einen gemeinwirtschaftlichen Betrieb, eine landwirtschaftliche Genossenschaft. Sie verteidigen ihre Idee und ihr langsam wachsendes Werk gegen die Sabotierungsversuche der wieder frech gewordenen Großbauern, sie führen Werk und Idee zum Sieg, obgleich die Kulaken mit den niederträchtigsten Mitteln die Genossenschaft umzubringen versuchen. An dem Problem: Einzelwirtschaft oder Gemeinwirtschaft, entzünden sich andre Probleme; der Konflikt der Generationen, der Konflikt der Geschlechter. Große, schicksalsträchtige Spannungen erfüllen den Roman, treiben seine Handlung an. Die Kernfragen der neuen russischen Bauernpolitik werden aber nicht trocken abgehandelt, der neue Geist des Kollektivismus wird nicht pathetisch gepredigt, sondern lebendig und dichterisch gestaltet. In machtvoller Steigerung spitzt Panferow das Buch auf eine Auseinandersetzung zwischen Großbauern und Habenichtsen zu, die zugunsten der Habenichtse ausfällt: die Arbeitsgenossenschaft der Besitz losen räumt mit dem alten Elend der kleinen Einzelwirtschaft auf und bannt die politische Gefahr der allzu mächtigen großen Einzelwirtschaft. Was Eisenstein in dem Film „Die Generallinie“ in großartigen beredten Bildern geformt hat, formt Panferow mit den Mitteln des Romans. Sein Werk ist oft von wuchtigster dramatischer Größe, oft wieder von verträumter lyrischer Zartheit. Ein großer Gestalter hat einen großen Stoff meisterhaft bezwungen.

[F. Rosenfeld]

Romantischer Roman

Leonid Leonov: „Der Dieb“

Leonow, der vor acht Jahren— damals zweiundzwanzig Jahre alt — mit den „Aufzeichnungen Kowiakins“, einer kurzen, meisterhaften Erzählung aus dem Leben der Provinz, hervortrat, gilt für eine der stärksten Begabungen des jungen Rußland. Dem Erstlingswerk folgten mehrere Erzählungen, der Roman Barsuki (Die Dachse) und 1928 der große Roman Wor (Der Dieb), der in deutscher Übertragung im Paul-Zsolnay-Verlag, Wien, erschien. Der Dieb hat in der russischen Kritik ein zwiespältiges Urteil erfahren. Nennen die einen den Roman ein herrliches, vollwichtiges Werk (so Pilski) und entdecken darin Züge des großen Seelenergründers und Seelenkünders Dostojewskis, so bezeichnet ihn Arseniew in  seiner Russischen Literatur der Neuzeit als „psychologisch recht interessant, aber  schwerfällig und langatmig“. Doch an diesem Urteil kann nur so viel als richtig zugegeben werden, daß kein rascher Drang und Zug die Handlung einem Konflikt und seiner Lösung zutreibt. Diese Eigenschaft teilt der „Dieb“ mit einigen der berühmtesten russischen Romane. Das Gefüge ist lose. Der Verfasser selbst tritt mit seinen Figuren auf die Bühne und schreibt im Roman den Roman, wie unsere Romantiker im Theater das Theater aufführten. Ja, es ist ein sehr abenteuerliches Geschehen, das hier zum größten Teil in der Verbrecherwelt des sowjetistischen Moskau spielt. Indes man fragt im Lesen gar nicht danach, ob nun jede wundersame Wendung der Geschicke genau den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit entspricht, ob nicht eine oder die andre der Gestalten vom Abenteuerlich-Romantischen ins Romanhafte hinüberspielt. Um all die Gestalten, um all die Dinge, um all die Ereignisse fließt der Geist der Ironie, einer Ironie, die manchmal scharf ätzend, noch häufiger jedoch mit leisem Lächeln deutend, Andeutung an Andeutung reiht, bis sich uns das ganze Geschehen des Romans zur schärfsten Kritik der Sowjetwelt wandelt. In dem Tschinownik, der, in einen Sowjetbeamten und Hausvertrauensmann umgeschaffen, doch nur der alte Tschinownik ist, bekommt die Ironie ihr kraftvollstes Symbol. Wie von Gogol her kommt diese Gestalt und scheint zu sagen: sie ist wiederum da die Zeit, welche Menschen gebiert, über die wir weinen müssen, während uns zugleich der Ekel würgt.

[K. Leuthner]

 In: Arbeiter-Zeitung, 19.8.1930, S. 5.