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N.N.: [O. Bauer]: Rätediktatur oder Demokratie.

(Teil 4) Der Weg der Demokratie.

            Die Revolution hat der deutschösterreichischen Arbeiterschaft die demokratische Republik, die Selbstregierung des Volkes im Staate, im Lande und in der Gemeinde gebracht und damit ihre Macht wesentlich erweitert. Aber der große politische Sieg konnte das wirtschaftliche Elend nicht bannen. Unsere Lebensmittelvorräte sind erschöpft; wir leben nur von den allzu kargen Zuschüben der Entente. Die Zufuhr der ausländischen Kohle, auf die wir angewiesen sind, stockt; daher ist unser Eisenbahnverkehr gedrosselt, unsere Fabriken können infolge des Mangels ausländischer Rohstoffe und Kohlen nicht arbeiten; Hunderttausende sind arbeitslos. Die Kriegskosten sind mit Milliarden Banknoten, die in den Umlauf gepreßt wurden, gezahlt worden; dadurch sind unsere Geldzeichen entwertet, die Preise steigen ins Unerhörte, die leeren Staatskassen und die Krise der Industrie machen es unmöglich, Löhne und Gehalte in gleichem Ausmaß zu erhöhen. Die Entente verweigert uns immer noch den Frieden, die Rückkehr unserer Gefangenen, die freie Einfuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln. An all dem kann keine Regierung etwas ändern, Aber die Massen, die hungern und leiden wie nie zuvor, sind verzweifelt und erbittert. Die Leidenschaft, durch die Not entfesselt, droht über besonnene Erwägung zu obsiegen. Das Vorbild Rußlands und Ungarns lockt Tausende. Die Bourgeoisie sieht, daß die Versuchung zu neuer Revolution, zur Proklamierung der Rätediktatur die Massen lockt, Die Bourgeoisie zittert davor, daß die Massen der Versuchung erliegt, So klammert sich die Bourgeoisie jetzt selbst an die Demokratie, gegen die sie sich vor wenigen Monaten noch mit Händen und Füßen gewehrt, die sie nur unter unwiderstehlichem Zwange hingenommen hat. Die Bourgeoisie sucht die Demokratie zu retten, indem sie den arbeitenden Volksmassen ihre Fruchtbarkeit beweist. So ist die Bourgeoisie unter dem Drucke der Furcht vor der Rätediktatur zu weit größeren Zugeständnissen bereit, als sie sonst bei gleichen Machtverhältnissen bereit wäre. Ist die Macht des Proletariats zunächst vergrößert worden durch den Sieg der Demokratie, so wird sie jetzt neuerlich vergrößert dadurch, daß die Bourgeoisie die Demokratie bedroht sieht durch die Werbekraft des Gedankens der Rätediktatur.

            So können wir heute im Rahmen der demokratischen Republik ohne neuen gewaltsamen Umsturz sehr viel durchsetzen. Wir können die alten monarchischen, feudalen und militaristischen Institutionen von der Wurzel aus ausrotten. Wir können durch eine Reihe mutiger Reformen das Unterrichtswesen neu gestalten, um für die Erziehung einer selbstbewußten, denkenden, mutigen Generation die Grundlagen zu schaffen. Wir können das Arbeiterrecht und die Arbeiterversicherung unvergleichlich schneller und unvergleichlich großzügiger, als es jemals zuvor möglich war, ausbauen. Wir können die ersten Schritte auf dem Wege zur Sozialisierung der Industrie und des Bergbaues, der Forstwirtschaft und des Handels zurücklegen. Wir können durch eine energische Vermögensbesteuerung das Volk von dem Tribut an die Staatsgläubiger befreien. All das ist heute möglich auf der Grundlage der Demokratie. Und all das ist im Zuge, im Werden. Die Demokratie wird diese Aufgaben erfüllen, wenn ihr nur Zeit zur Erfüllung dieser Aufgaben gelassen wird.

            Aber freilich, all das genügt den breiten Massen des Proletariats nicht mehr. Aufgewühlt durch das furchtbare Erlebnis des Krieges, aufgerüttelt durch die Stürme der Revolution in Rußland, in Deutschland, in Ungarn, fordert das Proletariat die volle Macht, die Alleinherrschaft. Sie kann es freilich in // der deutschösterreichischen Nationalversammlung nicht erlangen, denn in ihr halten die Kräfte der klerikalen Bauernschaft und der sozialistischen Arbeiterschaft einander das Gleichgewicht. Aber müssen wir darum die Demokratie aufgeben? Gibt es nicht auch auf demokratischer Grundlage einen Weg zur Macht?

            Im Staate ist die Macht der Arbeiter begrenzt durch die Macht der Bauern. Anders in lokalen Selbstverwaltungskörpern. In der Nationalversammlung haben wir nicht die Mehrheit; aber in der Gemeindevertretung von Wien, im Landtag von Niederösterreich, in den zu schaffenden Kreisvertretungen des Viertels unter dem Wienerwald oder des obersteirischen Kreises kann die Arbeiterschaft unschwer die Mehrheit erringen. Und wenn nun all diesen Selbstverwaltungskörpern eine breite Autonomie zugewiesen, wenn ihnen insbesondere auch das Recht zur Enteignung und Sozialisierung dazu geeigneter Betriebe zugestanden wird, dann kann die Herrschaft über die lokalen Selbstverwaltungskörper zur gewaltigsten Machtquelle des Proletariats werden. Im Staate sind die Bauern zu zahlreich, als daß die Arbeiterschaft allein herrschen könnte; in den Großstädten und Industriebezirken aber ist die Arbeiterschaft die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, da kann sie auf demokratische Weise, durch den Stimmzettel, die Herrschaft in den lokalen Vertretungskörpern erringen und die Autonomie der Gemeinden und Kreise kann so zu einem wichtigen Herrschaftsmittel des Proletariats werden. Darum brauchen wir vor allem eine demokratische Lokalverwaltung mit breiten Kompetenzen.

            Andererseits aber brauchen wir den Anschluß an das Deutsche Reich. Denn wie immer sich die Klassenkämpfe des reichsdeutschen Proletariats vorübergehend gestalten, schließlich sind in der großen deutschen Republik die Voraussetzungen für die Herrschaft des Proletariats doch unvergleichlich günstiger als in unserem kleinen, industriell viel weniger entwickelten Deutschösterreich. Dort bildet die Arbeiterklasse einen viel größeren, die Bauernschaft einen viel kleineren Teil der Bevölkerung als hier. In Deutschland wird das Proletariat die Herrschaft erobern; also wird auch Deutschösterreich unter proletarischer Herrschaft stehen, sobald es ein Teil des Deutschen Reiches wird.

            Unser deutschösterreichischer Staat ist ein Notgebilde, zu vorübergehender Leistung bestimmt. Wenn es erst in dem großen Deutschland aufgegangen sein wird, dann werden unserer Nationalversammlung keine wichtigen Aufgaben mehr bleiben. Das Schwergewicht der Gesetzgebung und der Verwaltung wird dann fallen einerseits an das Reich, andererseits an die lokalen Selbstverwaltungskörper, an Gemeinden, Kreise und Länder. Im Reiche aber kann die Arbeiterschaft auf demokratischem Wege die Herrschaft erlangen und in den Stadtgemeinden und industriellen Kreisen wird sie mit demokratischen Mitteln die Herrschaft erobern. So können wir ohne Rätediktatur, mit den Mitteln der Demokratie die Macht gewinnen.

            Die Rätediktatur würde in Deutschösterreich keineswegs die Diktatur des Proletariats bedeuten; denn die Arbeiterräte müßten mit den Bauernräten die Macht teilen. Die Rätediktatur würde aber bei den heutigen Verhältnissen neuen Krieg gegen die Entente, die Gefahr einer Besetzung unseres Landes durch fremde Heere, die vollständige Einstellung der Lebensmittel- und Kohlenzufuhr, die ungeheuerlichste Steigerung des Massenelends bedeuten und in einer Hungerkatastrophe enden, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gäbe als die Konterrevolution. Es gibt einen anderen, sichereren und schmerzloseren Weg zur Macht. Das ist der Weg der Demokratie. Wenn wir uns einerseits dem großen roten Deutschland eingliedern und andererseits in Gemeinden und Kreisen starke Burgen roter Herrschaft schaffen, führen wir das Proletariat auf sichererem Weg zur Macht.

In: Arbeiter-Zeitung, 28.3.1919, S. 1-2.

Max Adler: Der Krieg ist aus, der Kampf beginnt (1918)

            Der Krieg ist aus, – und er hat anders geendet als es die militärstolzen Mittelstaaten gewähnt hatten, aber eigentlich auch anders, als es die Entente erwartet hatte. Denn wenn auch die Zentralstaaten eine so zerschmetternde Niederlage erlitten, wie es die Entente  kaum je in ihren kühnsten Hoffnungen für möglich halten konnte, so liegt das Entscheidende und geschichtlich in seiner Tragweite noch gar nicht Auszu-//schöpfende in dem Umstand, daß dieser Sieg der Entente gar nicht so sehr durch ihre militärische Überlegenheit, als durch den Willen der Völker in den Mittelstaaten ermöglicht wurde. Nicht eigentlich der Siegt der Entente, sondern die Revolution der Mittelstaaten, die mit der Meuterei ihrer Fronten begann, hat den Krieg beendet; die Entente siegte, weil die Völker Österreichs, Ungarns und Deutschlands nicht länger mehr kämpfen wollten. Das große Beispiel, das zuerst die russischen Soldaten in der letzten Offensive 1917 gegeben hatten, das sich dann im Oktober 1918 an der bulgarischen Front weiderholte, das befolgten nun auch die Soldaten der Mittelmächte im Westen und im Süden, wo sie lange unter unerhörten Opfern „siegreich“ ausgehalten hatten. Sie warfen die Waffen weg, sie verließen die Stellungen, sie ließen das „Vaterland“ im Stich, das ihnen stets ein Stiefvaterland gewesen war. Konnte man sich darüber wundern, daß der Soldat endlich müde geworden war, seine Haut zu Markte zu tragen für Interessen, die doch nicht die seinen waren? Was hätte er verteidigen sollen, da ihm doch an diesem „Vaterland“ nichts gelegen war, das ihn im Frieden ausbeutete, ihn und seiner Familie stets nur ein kümmerliches Dasein und ein freudloses Heim bereitete und ihn schließlich, ohne ihn zu befragen, auch noch in die Hölle des Krieges gezwungen hatte! Was hätte er für einen inneren Anlaß gehabt, sich noch länger für dieses ganz furchtbare Gewaltsystem des Kapitalismus und Militarismus aufzuopfern, statt dessen durch das Vordringen der feindlichen Heere bewirkte Schwächung zu benützen, um sich ihm ganz zu entziehen!

So empfand zunächst der Soldat die Niederlage auf dem Schlachtfelde, das er freiwillig verließ, eher wie eine Befreiung von dem Banne einer unerhörten Vergewaltigung. Und diese Welle der Befreiung ergoß sich mit ungestümer Kraft über das ganze Hinterland. War erst einmal der ungeheuerliche Druck, mit dem der Militarismus allen wahren Volkswillen erstickte, behoben, so machte sich dieser in elementarer Weise geltend, und vor seiner entfesselten Energie sanken überall die Throne in den Staub, die so lange ihr unbegreifliches anachronistisches Dasein behauptet hatten. Nun war es mit einem Male offenbar geworden, daß der Glanz der Habsburger, daß der stolze Trotz der Hohenzollern gar nichts gemein hatten mit der wirklichen Kraft und Anteilnahme „ihrer“ Völker, als deren bestes Teil sie sich immer ausgegeben hatten, sondern daß sie nur dank der nackten Schwertgewalt existiert hatten, die sie aufzubieten imstande waren. Gegen den brausenden Unwillen der Völker, welche ihre Dynastien als die an dem Kriege nicht am wenigsten Schuldtragenden in lächerlich kurzer Zeit wegfegten, erhob sich auch nicht eine Hand, und auf dem Boden der stolzesten Militärmonarchien der // Erde besteht jetzt ein Kranz von Republiken, von Freistaaten, in denen die gärende Kraft des Volkes darangeht, nach der politischen auch die soziale Umwälzung herbeizuführen, und damit uns erkennen läßt, daß ein neues Kapitel in der Geschichte der europäischen Kultur, ja der Menschheit aufgeschlagen ist.

            So erklärt es sich, daß diese Niederlage trotz der ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen, welche der noch ungebrochene Enteneimperialismus den Zentralstaaten auferlegt hat, doch bei den Völkern derselben nirgends als eine solche empfunden wurde. Ja im Gegenteil – und dies ist nur ein Beweis mehr für die wahnsinnige Unnatur, in welche der Zwang des Imperialismus und Militarismus seine Völker daniedergehalten hat – diese Niederlage wurde geradezu als eine Bedingung der eigenen Befreiung und der demokratischen Fortentwicklung der Welt überhaupt erhofft. Es wiederholte sich die geschichtliche Situation, die schon einmal in der Geschichte Deutschlands da war, als nach der französischen Revolution alle wirklich freiheitsdurstigen deutschen Patrioten den Siegeszügen der Franzosen innerlich zujubelten und, so sehr sie die Herrschaft Napoleons als Säbelrasselherrschaft haßten, sie doch als Bahnbrecherin einer neuen Zeit dem verrotteten Absolutismus ihrer angestammten Dynastien vorzogen. Am besten für die freie Fortentwicklung der Demokratie und für die allgemeine Abrechung der Sozialismus mit der alten Gesellschaft wäre es freilich gewesen, wenn der Krieg so ausgegangen wäre, wie es vor dem Eintritt Amerikas möglich schien, daß er enden würde, ohne Sieger und Besiegte. Aber da dies nun einmal nicht mehr möglich war, so wurde die Niederlage der Mittelmächte geradezu zu einer Bedingung jeglicher Volksfreiheit. Wie anders hätte man mit dem preußischen Militarismus und mit dem habsburgischen Absolutismus fertig werden können? Es ist nicht auszudenken, welches Übermaß von Reaktion über die Welt gekommen wäre, welche politische und soziale Knechtung, wenn Kaiser Wilhelm seinem Siegerwillen hätte frönen können, wenn die preußische Militär- und Junkerkaste die herrschende Klasse der Welt geworden wäre.

            Dieser Alpdruck ist bereits von uns hinweggenommen, und es war die Revolution, die ihn hinwegwälzte. Das Gewaltsystem des Militarismus hat aus sich selbst heraus seine Aufhebung gezeitigt. Und damit hat das schicksalsschwere Wort aus dem Kommunistischen Manifest, daß der Kapitalismus seine eigenen Tote erzeuge, auch seine Anwendung auf das gewaltigste Schutzmittel des Kapitalismus erfahren, auf den Militarismus. Auch der Militarismus erzeugt seine eigenen Totengräber. Indem der Kapitalismus gezwungen war, um seinen Eroberungsgelüsten zu genügen, immer mehr // Männer in den Dienst seiner Armeen hineinzupferchen, ist er schließlich dazu gelangt, das Volk zu bewaffnen. Aber die Waffen in der Hand des Volkes haben die verhängnisvolle Eigenschaft, daß sie nicht bloß dorthin gerichtet werden können, wohin sie die Herrschenden gerichtet sehen möchten, sondern daß sie in plötzlicher Wendung auch dorthin zielen, wo das Volk endlich seinen wirklichen Feind erblickt. Und hat das Volk erst erkannt, daß dieser wirkliche Feind gar nicht notwendig außerhalb der Landesgrenzen steht, daß es vielmehr die kapitalistisch-imperialistische Herrenkaste ist, die es in Krieg und Feindschaft mit dem äußeren Feinde verwickelt hat, um nur desto besser und sicherer ihre eigene Herrschaft und Ausbeutung erhalten und vergrößern zu können – hat erst einmal das bewaffnete Volk diesen Feind erkannt, dann ist es mit der Herrschaft desselben für immer vorbei. Dann mag der Staat durch das Versagen seiner Wehrkraft und durch die Invasion des äußeren Feindes eine Niederlage erlitten haben. Dies bedingt unter den heutigen Verhältnissen bloß eine vorübergehende Fremdherrschaft. Das Volk des besiegten Staates selbst aber feiert einen großen und entscheidenden Sieg über seine dauernden Feinde, über die Fremdherrschaft seiner unterdrückenden und ausbeutenden Klassen. Schon steht verheißungsvoll die deutsche sozialistische Republik vor den staunenden Augen der Mitwelt da, und im stürmischen Drang bereitet das Proletariat auch bei uns sich vor, diesem leuchtenden Beispiel zu folgen.

            Und das ist der Punkt, in welchem der Krieg, der sonst die größten Hoffnungen der Entente erfüllt hat, doch so ganz anders ausgegangen ist, als sie es erwartet hat und ihr recht sein kann. Die Heere der Entente ziehen zwar in ein geschlagenes Land, aber in ein revolutioniertes Volk ein. Sie finden keine niedergeworfenen Staaten: denn diese existieren nicht mehr, sie sind von dem jäh erstarkten Volkswillen hinweggefegt worden. Das alte Österreich, dieses Zuchthaus seiner vielsprachigen Völker, die übermächtige Adelsrepublik des alten Ungarn, die preußisch-deutsche Militärmonarchie – sie alle sind gewesen und an ihre Stelle sind neue Staaten getreten, in denen zwar noch nicht überall das Proletariat die Herrschaft anzutreten vermochte, was aber dadurch wettgemacht ist, daß dies in dem mächtigsten und größten dieser neuen Staaten, in der deutschen Republik, der Fall ist. Die Tatsache der deutschen sozialistischen Republik gibt der geschichtlichen Situation, die nun nach Beendigung des Krieges eingetreten ist, viel mehr das Gepräge als der Sieg der Entente.

            Denn allerdings steht der Ententekapitalismus noch ungebrochen da und zeigt seine ganze hemmungslose Raubtiernatur in den Waffenstillstandsbedingungen, die er den einzelnen Teilen der ehemaligen Zentralstaaten aufgezwungen hat. /780/ […]

An der Macht des deutschen Proletariats wird sich die Kraft der sozialistischen Bewegung in den Ententestaaten ebenso entzünden, wie sich die unsrige an der Revolution Rußlands entzündet hat. Auch der großmächtige Imperialismus der Entente wird daran glauben müssen und den lebendigen Sinn des alten Wortes an sich erfahren: Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen. Und der Gott, der sie in Gang bringt, das wird die wieder erstehende Internationale sein. //

            Nun halten wir selbst in Deutschösterreich allerdings erst bei einer bloß politischen Revolution. Wir haben erst nur die bürgerliche Republik aufgerichtet. Aber wer sich von dieser Einschätzung der bei uns vollzogenen Umwälzung allein leiten ließe, ginge mächtig an ihrer eigentlichen geschichtlichen Bedeutung vorbei. Für Österreich und ebenso für Ungarn liegt das eigentlich Revolutionäre in diesem ersten Abschnitt in der Zertrümmerung des alten alten Habsburgerreiches und damit in der endlichen Befreiung von der würgenden Fessel des Nationalitätenstreites, der jede politische und noch mehr soziale Entwicklung unmöglich gemacht hat. Hier mußten also zuerst die neuen, national einheitlichen Staaten aufgerichtet werden, was zunächst nicht anders möglich war als in der Form der bürgerlichen Republik, das heißt in der Form eines einheitlichen Vorgehens aller Klassen der Nation. Diese nationale Konstituierung hat aber, soweit die Sozialdemokratie in Betracht kommt, die sich ja zur Hauptträgerin dieser Forderung gemacht hat, ganz und gar nichts mit Nationalismus zu tun. In der Forderung nach einem deutschösterreichischen Staat ist die deutsche Sozialdemokratie in Österreich nicht etwa auf einmal deutschnational geworden. Sondern diese Forderung nach nationaler Trennung und staatlicher Konstituierung der einzelnen Völker des alten Österreich ist nur die Verwirklichung der revolutionären Forderung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. […] Das ist fürwahr kein Nationalismus, sondern die einfache Vorbedingung jeder wirklichen Demokratie. Weil sie aber das deutsche Volk in Österreich zugleich befreit von dem unfruchtbaren Streit mit Tschechen, Polen und Südslawen, weil sei endlich die Möglichkeit schafft, nunmehr statt des Nationalitätenstreites der ganzen Völker den Klassenkampf des deutschen Proletariats gegen die deutsche Bourgeoisie auf die Tagesordnung zu setzen, darum ist diese bis jetzt nur erst bürgerliche Revolution zugleich ein großer und bleibender Gewinn für das Proletariat.

            Und das gleiche gilt von von der Erringung der Demokratie. Kein Zweifel: für uns ist die Demokratie kein Selbstzweck, nicht sie ist das Ziel, sondern die sozialistische Gesellschaft. Aber die Demokratie ist dazu das unerläßliche Mittel, weil erst sie dem Emanzipationskampf des Proletariats jene Bewegungsfreiheit verschafft, die es braucht, um zur Macht zu gelangen. Die Vorgänge und das Schicksal des Sozialismus in Rußland// beweisen, wie verhängnisvoll der Weg in die Irre führt, welcher meint, die Demokratie durch die Diktatur ersetzen zu können, die sich zwar Diktatur des Proletariats nennt, aber, weil Diktatur bloß einer kleinen Gruppe desselben, eher eine Diktatur gegen das Proletariat ist. […]

            Unser Ziel aber, das nicht etwa als ein fernes zu betrachten ist, sondern als eine Sache, die heute unsere unmittelbare politische Tätigkeit praktisch zu bestimmen hat, ist die sozialistische Republik; und deren Verwirklichung gilt die von der Sozialdemokratie als treibende Kraft durchgesetzte Forderung des Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich. Auch der Sinn dieser vielfach von dem Proletariat noch gar nicht in seiner revolutionären Bedeutung erfaßten Forderung ist kein in erster Linie nationaler. Wir unterschätzen durchaus nicht auch die nationale Seite unserer Forderung. Im Gegenteil, es erfüllt uns mit hoher Genugtuung, daß gerade die sozialistische Politik des Proletariats dazu ausersehen ist, den Traum so vieler deutscher Generationen zu erfüllen und das Ideal zum Besten unseres Volkes zu verwirklichen: die politische Einheit des deutschen Volkes. Aber dieses nationale Interesse ist nicht das Entscheidende für unsere Stellungnahme, so verscheiden es selbst in diesem Falle von dem der Deutschnationalen wäre. Denn nicht das Deutschland des Imperialismus, das Deutschland des „herrlichen Kriegsheeres“ und der der Flottenbegeisterung ist es, zu dem wir Sozialdemokraten stoßen wollen. Dieses ist vielmehr dem Arbeiter bei uns ebenso verhaßt gewesen, wie es den Haß der ganzen Welt auf sich gezogen hatte. Was der Gegenstand der Begeisterung studentischer und „völkischer“ Deutschprotzerei war, das Deutschland Bismarcks mit seinem Sozialistengesetz, das Deutschland der Hohenzollern mit seinem persönlichen Regiment und seiner Junkerherrschaft, dem waren wir stets aus ganzer Seele feind. Aber wir liebten und bewunderten stets das Deutschland der Dichter und Denker, das Deutschland der // Erfinder und Entdecker, des werktätigen Fleißes und der zielbewußten Organisation. Und darum schätzen wir dieses Deutschland als das Land der höchstentwickelten produktiven Arbeit und zugleich der höchsten geistigen Kultur, als das Land, in welchem, wenn überhaupt irgendwo, alle objektiven und subjektiven Bedingungen für die Verwirklichung des Sozialismus bereits gegeben sind. Wenn daher die Begeisterung für den Anschluß an Deutschland  hier zuerst beim Bürgertum recht hoch stieg, während die Arbeiter noch eher zurückhielten, so bemerken wir bereits jetzt, unter dem Einfluß der Aufrichtung der sozialistischen Republik in Deutschland, wie wenig echt diese bürgerliche nationale Begeisterung war, da sie schon bedeutend abzuflauen beginnt, seitdem es klar wird, daß es nicht die schwarz-rot-goldenen Fahnen und schon gar nicht die schwarz-weiß-roten Fahnen sind, zu denen wir stoßen werden, sondern die roten Fahnen. Für die Arbeiter aber wird es im selben Maße klarer, daß unser Anschluß an Deutschland keine deutschnationale Politik ist, so wenig, als die rote Fahne eine nationale Fahne ist, sondern daß dieser Anschluß eine direkte Folge unserer sozialistischen Politik ist und eine unbedingte Forderung für ihre Fortentwicklung.

            Denn Deutschösterreich, das für sich allein keine wirtschaftliche Selbständigkeit behaupten kann, ist heute auch noch nicht imstande, den Sozialismus für sich allein zu verwirklichen. Dem stehen noch der überwiegend agrarische Charakter unseres Landes entgegen. Als ein Teil des großen Deutschen Reiches aber entscheidet sich unser Schicksal mit dem des ganzen deutschen Volkes. Als ein Teil der deutschen sozialistischen Republik ist der Fortbestand einer bloß bürgerlichen Republik bei uns unmöglich. Indem wir unseren Anschluß an das deutsche Volk vollziehen, werden wir durch seine soziale Kraft mit einem Male auf eine Entwicklungsstufe hinaufgerissen, die wir allein erst beträchtlich später zu erreichen vermöchten.

[…] //

            Der Krieg ist aus und er endet mit einer Weltenwende. Ja, jetzt wird erst vollends klar, was wir Sozialisten schon immer während des Krieges von ihm sagten, daß er selbst schon der Beginn dieser Weltenwende war, der Beginn des Zusammenbruches der bürgerlichen Welt.

In: Der Kampf, H. 12/1918, S. 776-784.

Stefan Großmann: Sprung nach Wien

Nachdem man einen Tag im Eisenbahnwagen verbracht hat, wird man in Passau aus dem Kupee getrieben, die ganze Herde der Reisenden muß auf der Treppe der Überquerung des Bahnhofs eine Stunde lang, mit Koffern und Taschen, frierend hocken. Oben wird der Stall durch eine Kette abgesperrt, die ein Schutzmann von Zeit zu Zeit öffnet. Dann darf eine kleine Bande hurtig ins Zimmer der Zollbeamten laufen, um sich abtasten zu lassen. Es ist die kläglichste Mißhandlung durch den Staat, die man sich denken kann. Täglich lassen sich dreihundert Leute diese Malträtierung gefallen. Es ist nicht angenehm, von der bayrischen Seite den Anschluß an die österreichische zu finden, es ist die menschenunwürdigste Art des Anschlusses, die man sich vorstellen kann. Aber was läßt sich der Deutsche nicht alles vom Staate gefallen? Nur wird im stillen ein theoretisches Aufblitzen von Staatsfreudigkeit durch so rohe Methoden des Herdenbesitzers Staat zerstört.

             Aber am Nachmittag ist man in Wien und alle Schmach ist vergessen.

                                                      Billardspieler.

             Sonntag vormittags bummelte ich durch sie Alserstraße. Regnerischer Tag. Die Kaffeehäuser schon jetzt vor dem Mittagessen überfüllt. Und in jeder größeren Straße zehn, zwölf Kaffeehäuser. Überall Leute, die Zeit haben, zu lesen, zu rauchen, Bilder anzusehen, zu plauschen. Hier wird noch Billard gespielt. In Berlin gibt es nur mehr ein einziges Café, in dem Billards stehen, Kerkau in der Friedrichstraße, aber das Billardspiel artet dort gleich in ein Turnier aus. Hier ist in jedem Café ein Billardsaal und erwachsene Menschen vertreiben sich viele Stunden damit, einen langen Stab in der Hand zu halten, ihn mit bläulicher Kreide an der Spitze einzusalben, sich über das Spielbrett zu beugen, auf ein paar weiße und rote Kugeln zu zielen und endlich loszustoßen. Wie viel Rast und Ruhe der Seele gehört zu diesem Spielgleichmut. Das ist ein Spiel ohne aufregenden Gewinn, ein Spiel ohne sportliche Leidenschaft, ein Spiel ohne nagende Berechnung, mit einem Wort: Nichts als ein Spiel. Nur sehr gelassene, nicht von Zwecken gehetzte Menschen sind solcher gleichmütigen Betätigung fähig. Man sollte auch in Berlin Billard spielen. Es wäre besessenen Menschen Medizin. Aber um es einzuführen, müßte die Polizei Billardzwang einführen, oder Ullstein müßte ein Sechstage-Billardspiel arrangieren. Daß erwachsene Menschen freiwillig stundenlang mit einem Stab dastehen, ihn einsalben, Kugel zu Kugel stoßen, dem Partner aufmerksam zusehen, über jeden Stoß Aufzeichnungen an der schwarzen Tafel machen, den Stab wieder bekreiden, wieder zu zielen, stoßen… eine besessene Berliner Betriebsseele wäre dazu nicht imstande.

                                                      Breitbartspiel.

Die Erwachsenen in Wien haben sich seit Monaten nur mehr mit Breitbart beschäftigt. Das ist ein junger galizischer Schlosser von ungeheurer Kraft. Er zerdrückt schwerste Eisenketten mit den Zähnen, zerdrückt Hufeisen in der Hand, trägt auf dem eisernen Brustkasten ein Auto mit Menschen.

Ich komme zu Freunden. Im Kinderzimmer heilige Stille. Was ist denn los? Warum schreien die Bälger nicht? Besorgt treten wir ein. Da liegt die fünfjährige Erica auf dem Boden. Auf ihrer Brust das Reißbrett des großen Bruders. Und auf dem Reißbrett stehen, eng beieinander, das achtjährige Brüderchen, der neunjährige Freund des Bruders und die dreijährige Schwester. Im ersten Augenblick fahre ich entsetzt zurück, aber mein Freund, der Vater der Bande, lächelt: „Es sieht nur bedrohlich aus. Die Kinder haben das oft erprobt. Erica spielt Breitbart.“

                                                      Aussichten.

In einer Zeitung veröffentlicht der frühere Bundeskanzler Schober, der jetzt Polizeipräsident von Wien ist, eine Erklärung, worin er die Nachricht, daß er Bankpräsident werden soll, entschieden berichtigt. „Wenn ich einmal zurücktrete, so gedenke ich mich wissenschaftlichen Arbeiten zuzuwenden. Ich werde, da ich kein Vermögen besitze und – mein Ruhegehalt zum Lebensunterhalt nicht ausreicht, wahrscheinlich auch schriftstellerisch tätig sein.“ Wie spartanisch, wie edel in der Armut. Krieger, die invalid wurden, betätigen sich als Werkelmänner. Ministerpräsidenten, die in Pension gehen, werden Schriftsteller. Dazu langt’s immer noch.

                                                      Auslagefenster.

Von allen Auslagenfenstern die schönsten sind immer die der Blumenläden. Ich stehe vor einem Geschäft in der ….gasse. Rosen, Flieder, Alpenschneeglöckchen, Zyklamen, blühende Weidenäste. An den Wänden hängen kleine Holzschnitte und Photographien sehr schöner Frauen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so viel mehr schöne Frauen in Wien gibt als anderswo, jedenfalls gibt es hier sehr viel mehr schöne Photographien sehr schöner Frauen. Und es ist reizend, diese Bilder unter den blühenden Zweigen aufzuhängen. Unter dem Holzschnitt ist mit einem Reißnagel ein kleiner Zettel befestigt: „Verkäuflich.“ Er ist ein bißchen unordentlich angebracht. Unzweifelhaft gilt der Zettel nur dem Holzschnitt. Aber die Hälfte des Zettels reicht zum Damenporträt hinüber. Nun, es ist jedenfalls ein verlockendes Auslagenfenster.

                                                      Hofapotheke.

             Sonntag nachmittag. Ausgestorbene Straße in der Inneren Stadt. Alle Läden geschlossen. Ich wollte doch abends meinen Freunden ein paar Flaschen Wein mitbringen. Zum Glück ist die Hofapotheke, gleich neben der alten Burg, offen. Ich trete in die hochgewölbten Hallen des alten Gebäudes. Sauberkeit, Geordnetheit, Spiegelblankheit der idealen Apotheke. Eine reizende, ebenfalls blinkende Dame fragt mich nach meinem Begehr. Ich verlangte drei Flaschen Muskateller. Ein Blick fliegt zu dem großen Glaskasten, in welchem der herrlichste alte Tokayer, wunderbarer alter Cognac, die reifsten ungarischen Weine ausgestellt sind: „Wählen Sie.“

             Während die Flaschen aus dem Keller gebracht werden, kann ich mich nicht enthalten, zu sagen: „Wie schön, daß Sie auch diese Heilmittel führen.“

             Die junge Dame erwiderte: „Man kuriert sich nicht nur mit Medizinen.“ Dazu ein sehr taktvolle, sehr liebenswürdiges, halbernstes Blick-Lächeln. Ich bin versucht zu sagen: „Auch ein freundlicher Blick kann heilen“, aber ich verschluck es. Man soll nicht alles zu Wort machen.

                                                                   Hofschauspielerin a. G.

             Nachts beim „Wiesenthal“. Das ist eine Art Heuriger für die Leopoldstadt. Nicht in Grinzig, sondern in der Nothgasse. Nicht unter freiem Himmel, sondern unter der Erde, ein Kellertheater. Es wird gesungen, Klavier gespielt. Lozzelachs werden erzählt. Der Chef ist Herr Wiesenthal, der mit der berühmten Grete keine Ähnlichkeit hat. Er ist etwas beleibter als Grete Wiesenthal, will aber auch nicht durch pagenhafte Schlankheit verführen. Er stammt nicht aus der Tänzerfamilie, eher aus der Familie Pallenberg, von dem er den aggressiven, deutlich höhnenden, den Hohn parodierenden Befehlston hat: He, Bürger! Wer hat vor Pallenberg gewagt He! zu krähen? Nun, Herr Wiesenthal ist ein wohlbeleibter Mann, der die Zuschauer beschmust. Vor und nach jeder Nummer erscheint er und wickelt die Zuschauer durch Anekdoten, Kalauer, vertrauliche Anreden ein. Er redet urwienerisch mit einem drolligen Einschlag jüdischen Jargons. Ein Fiaker, der seinen Standpunkt in der Tempelgasse hat. Es ist nur in der Ordnung, daß sein Lokal an der Grenze des Judenviertels steht, dort, wo der Leopoldstädter sich wienerisch zu assimilieren beginnt.

             In diesem unterirdischen Lokal tritt die berühmte Hofschauspielerin auf. Ich habe sie vor x-zig Jahren gesehen, damals kam sie gerade mit Kainz von einer russischen Reise zurück, die Hermann Bahr brillant beschrieben hat. Kaum zu schildern, wie jung und sprühend und schlank sie damals war. Jetzt tritt sie, von ehrfürchtigem Beifall umrauscht, um ein halb ein Uhr nachts auf die Pawlatschen, in schwarzem Spitzenkleid, heroischen Schrittes, das Haupt gen Himmel gerichtet, als müßte sie das Rauchtheaterpublikum übersehen, die Bewegungen der Arme tragisch-medeenhaft und die Stimme, diese sorgsam silbenrettende, langsam akzentuierende Stimme trägt ein vaterländisches Gedicht vor: Eine Palme wächst zu hoch. Die Palme ist Deutschland. Der Gärtner ist Gott. Es ist reinstes Burgtheater von heute. Die Verse Franz Nissels würdig, die Sprachkunst edelster Höbling, die Gesinnung würdigster Bodenstedt. Und das Publikum, das eben noch Wiesenthals Anekdoten belacht hat, klatscht begeistert in die Hände. Ja, das ist unser schönes altes Burgtheater. Dann singt die Hofschauspielerin zwei Niggerlieder. Ihre blanken Zähne glitzern, die dunklen Augen funkeln, die medeenhaften Armbewegungen verschwinden. Einen Moment muß ich an die sprühende schlanke Dame denken, die vor x-zig Jahren aus Rußland zurückgekommen ist. Es gibt ein Feuer, das nie erlischt. Vorausgesetzt, daß es einmal da war.

In: Der Tag, 22.3.1923, S. 3.

Richard v. Schaukal: Die Idee Österreichs

V o r b e m e r k u n g   d e r   S c h r i f t l e i t u n g: Die Zollunion Deutschland-Österreich ist verboten worden. Sie wäre auch in der Form der ersten Pläne kaum durchzuführen gewesen, denn zu verschieden sind die Verhältnisse und Lebensbedingungen der österreichischen Volkswirtschaft von der reichsdeutschen. Aber auch sonst wäre eine bloß auf das Nationale gestellte Union, selbst wenn sie eine politische würde, keine Lösung. Die Endlösung des deutschen bzw. österreichischen Problems ist nicht ein Nationalstaat mit unmöglicher Grenzgestaltung, die Endlösung heißt: das föderierte Mitteleuropa. Und je mehr heute von der Weltpolitik Gräben aufgerissen werden zwischen Deutschland und Österreich, um so mehr mag letzteres Vorarbeit für das künftige Mitteleuropa leisten durch Ausbau von Beziehungen vor allem mit seinen bisherigen engeren Weggenossen im Rahmen der altösterreichischen Monarchie. Das ist wohl der tiefere Sinn des folgenden Bekenntnisses eines hervorragenden Dichters und Denkers von Österreich.


    Der Österreicher, der als österreichischer Mensch seiner Herkunft und Natur gemäß fühlt und denkt, muß vor allem einen „Anschluß“ wünschen: den an seine Vergangenheit, die Österreich heißt, also an das Landgebiet, das ihn in Wechselwirkung seit Jahrhunderten bestimmt hat. Österreich, das von den schlecht beratenen Siegern in den Friedensverträgen auf das grausamste verstümmelt worden ist, aber in seiner Hilflosigkeit die zähe Lebenskraft seines Selbstvertrauens bewahrt hat, muß wieder zu sich selbst auferstehen als das vielfarbige, vielstimmige Reich der Mitte, zu dem es sein Schicksal ausersehen hat. Seine Entwicklung, die seine Geschichte ausmacht, war nichts weniger als Willkür, sondern gesetzmäßiges Wachstum aus den eigenen weitverzweigten Wurzeln. Diese Entwicklung ist gewaltsam unterbrochen worden, aber ihren Sinn kann Willkür nicht Lügen strafen. Daß sich die in der Monarchie vereinigten Völker, die kurzsichtige Regierungs- und Verwaltungsanschauung nach dem zerstörerischen Freiheitstaumel des Jahres 1848 durch ungeschickte Versuche gegeneinander getrieben statt wieder zusammengebracht hatte, auf den Trümmern des Reiches selbständig gemacht haben, ist mitnichten ein dauerndes Hindernis wohlbedachten, weil dem auseinandergerissenen Ganzen zuträglichen Zusammenschlusses. Die äußere Form ist fast gleichgültig: es kommt auf die innere Gestalt an, die sich in der Vereinigung ausdrückt. Um die Donau und ihre Nebenflüsse hat sich ein Gefüge zu erneuern, das in seiner Vielfalt eine Einheit bildet. Künstliche Schranken zwischen den zusammenstrebenden Teilen sind widersinnig. Die Alpen und ihre südlichen Ausläufer sind ein Ganzes, ebenso wie das von Randgebirgen abgegrenzte böhmisch-mährische Becken zum österreichischen Strom als ein Ganzes herniedergeht, wie die ungarische Tiefebene von diesem Strom aus bis an ihre Berge als ein Ganzes verbreitet. Und die Völker, die in diesem Mittelraum – man mag ihn bis an die „Vorlande“, die schwäbische Alp, den Bodensee erstrecken – seit mehr als einem Jahrtausend sich zusammenfanden, haben, ebenso wie der Boden, den sie besiedelten, seinen natürlichen Verlauf zeigt, sich von einander nicht gesondert, sind in einander über-, in einander aufgegangen. Es ist ein österreichisches Volk entstanden, in das der Österreicher, unbefangen sich selbst darangebend, wohl auch den Ungarn aufnimmt, der sich dagegen sträubt. Die Ostmark ist aus dem Herzogtum Bayern als Siedlung hervorgegangen. Als Rudolf von Habsburg, schwäbischer Herkunft, den Przemysliden Ottokar besiegt und sein gewaltiges Reich zur Grundlage der österreichischen Hausmacht bestellt hatte, ist das Österreich entstanden, von dem es am Ausgang des Mittelalters hieß, es werde zuletzt in der Welt sein. Viele Kronen hat sein Herrscher in seinem „großen Titel“ vereinigt. Der Weltkrieg hat sie zerschlagen. Aber was sie versinnlichten in ihrem stolzen Gefüge, die Zusammengehörigkeit des Zusammenhangenden [sic], in einander Verwachsenen und Verschlungenen, das hat er im Gedächtnis der Überlebenden nicht zu tilgen vermocht. In der Vergangenheit besitzt der Österreicher sein Vater- und Mutterland: daß er wieder erwerbe, was sein bleibt, hofft er von der Zukunft. Denn die Wandlungen der Geschichte können, was als Idee wirklich ist, verwischen und verdunkeln, nicht auslöschen.

In: Schönere Zukunft. Nr. 2, 11.10.1931, S. 30-31.