Schlagwortarchiv für: Anschluss

Stefan Großmann: Sprung nach Wien

Nachdem man einen Tag im Eisenbahnwagen verbracht hat, wird man in Passau aus dem Kupee getrieben, die ganze Herde der Reisenden muß auf der Treppe der Überquerung des Bahnhofs eine Stunde lang, mit Koffern und Taschen, frierend hocken. Oben wird der Stall durch eine Kette abgesperrt, die ein Schutzmann von Zeit zu Zeit öffnet. Dann darf eine kleine Bande hurtig ins Zimmer der Zollbeamten laufen, um sich abtasten zu lassen. Es ist die kläglichste Mißhandlung durch den Staat, die man sich denken kann. Täglich lassen sich dreihundert Leute diese Malträtierung gefallen. Es ist nicht angenehm, von der bayrischen Seite den Anschluß an die österreichische zu finden, es ist die menschenunwürdigste Art des Anschlusses, die man sich vorstellen kann. Aber was läßt sich der Deutsche nicht alles vom Staate gefallen? Nur wird im stillen ein theoretisches Aufblitzen von Staatsfreudigkeit durch so rohe Methoden des Herdenbesitzers Staat zerstört.

             Aber am Nachmittag ist man in Wien und alle Schmach ist vergessen.

                                                      Billardspieler.

             Sonntag vormittags bummelte ich durch sie Alserstraße. Regnerischer Tag. Die Kaffeehäuser schon jetzt vor dem Mittagessen überfüllt. Und in jeder größeren Straße zehn, zwölf Kaffeehäuser. Überall Leute, die Zeit haben, zu lesen, zu rauchen, Bilder anzusehen, zu plauschen. Hier wird noch Billard gespielt. In Berlin gibt es nur mehr ein einziges Café, in dem Billards stehen, Kerkau in der Friedrichstraße, aber das Billardspiel artet dort gleich in ein Turnier aus. Hier ist in jedem Café ein Billardsaal und erwachsene Menschen vertreiben sich viele Stunden damit, einen langen Stab in der Hand zu halten, ihn mit bläulicher Kreide an der Spitze einzusalben, sich über das Spielbrett zu beugen, auf ein paar weiße und rote Kugeln zu zielen und endlich loszustoßen. Wie viel Rast und Ruhe der Seele gehört zu diesem Spielgleichmut. Das ist ein Spiel ohne aufregenden Gewinn, ein Spiel ohne sportliche Leidenschaft, ein Spiel ohne nagende Berechnung, mit einem Wort: Nichts als ein Spiel. Nur sehr gelassene, nicht von Zwecken gehetzte Menschen sind solcher gleichmütigen Betätigung fähig. Man sollte auch in Berlin Billard spielen. Es wäre besessenen Menschen Medizin. Aber um es einzuführen, müßte die Polizei Billardzwang einführen, oder Ullstein müßte ein Sechstage-Billardspiel arrangieren. Daß erwachsene Menschen freiwillig stundenlang mit einem Stab dastehen, ihn einsalben, Kugel zu Kugel stoßen, dem Partner aufmerksam zusehen, über jeden Stoß Aufzeichnungen an der schwarzen Tafel machen, den Stab wieder bekreiden, wieder zu zielen, stoßen… eine besessene Berliner Betriebsseele wäre dazu nicht imstande.

                                                      Breitbartspiel.

Die Erwachsenen in Wien haben sich seit Monaten nur mehr mit Breitbart beschäftigt. Das ist ein junger galizischer Schlosser von ungeheurer Kraft. Er zerdrückt schwerste Eisenketten mit den Zähnen, zerdrückt Hufeisen in der Hand, trägt auf dem eisernen Brustkasten ein Auto mit Menschen.

Ich komme zu Freunden. Im Kinderzimmer heilige Stille. Was ist denn los? Warum schreien die Bälger nicht? Besorgt treten wir ein. Da liegt die fünfjährige Erica auf dem Boden. Auf ihrer Brust das Reißbrett des großen Bruders. Und auf dem Reißbrett stehen, eng beieinander, das achtjährige Brüderchen, der neunjährige Freund des Bruders und die dreijährige Schwester. Im ersten Augenblick fahre ich entsetzt zurück, aber mein Freund, der Vater der Bande, lächelt: „Es sieht nur bedrohlich aus. Die Kinder haben das oft erprobt. Erica spielt Breitbart.“

                                                      Aussichten.

In einer Zeitung veröffentlicht der frühere Bundeskanzler Schober, der jetzt Polizeipräsident von Wien ist, eine Erklärung, worin er die Nachricht, daß er Bankpräsident werden soll, entschieden berichtigt. „Wenn ich einmal zurücktrete, so gedenke ich mich wissenschaftlichen Arbeiten zuzuwenden. Ich werde, da ich kein Vermögen besitze und – mein Ruhegehalt zum Lebensunterhalt nicht ausreicht, wahrscheinlich auch schriftstellerisch tätig sein.“ Wie spartanisch, wie edel in der Armut. Krieger, die invalid wurden, betätigen sich als Werkelmänner. Ministerpräsidenten, die in Pension gehen, werden Schriftsteller. Dazu langt’s immer noch.

                                                      Auslagefenster.

Von allen Auslagenfenstern die schönsten sind immer die der Blumenläden. Ich stehe vor einem Geschäft in der ….gasse. Rosen, Flieder, Alpenschneeglöckchen, Zyklamen, blühende Weidenäste. An den Wänden hängen kleine Holzschnitte und Photographien sehr schöner Frauen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so viel mehr schöne Frauen in Wien gibt als anderswo, jedenfalls gibt es hier sehr viel mehr schöne Photographien sehr schöner Frauen. Und es ist reizend, diese Bilder unter den blühenden Zweigen aufzuhängen. Unter dem Holzschnitt ist mit einem Reißnagel ein kleiner Zettel befestigt: „Verkäuflich.“ Er ist ein bißchen unordentlich angebracht. Unzweifelhaft gilt der Zettel nur dem Holzschnitt. Aber die Hälfte des Zettels reicht zum Damenporträt hinüber. Nun, es ist jedenfalls ein verlockendes Auslagenfenster.

                                                      Hofapotheke.

             Sonntag nachmittag. Ausgestorbene Straße in der Inneren Stadt. Alle Läden geschlossen. Ich wollte doch abends meinen Freunden ein paar Flaschen Wein mitbringen. Zum Glück ist die Hofapotheke, gleich neben der alten Burg, offen. Ich trete in die hochgewölbten Hallen des alten Gebäudes. Sauberkeit, Geordnetheit, Spiegelblankheit der idealen Apotheke. Eine reizende, ebenfalls blinkende Dame fragt mich nach meinem Begehr. Ich verlangte drei Flaschen Muskateller. Ein Blick fliegt zu dem großen Glaskasten, in welchem der herrlichste alte Tokayer, wunderbarer alter Cognac, die reifsten ungarischen Weine ausgestellt sind: „Wählen Sie.“

             Während die Flaschen aus dem Keller gebracht werden, kann ich mich nicht enthalten, zu sagen: „Wie schön, daß Sie auch diese Heilmittel führen.“

             Die junge Dame erwiderte: „Man kuriert sich nicht nur mit Medizinen.“ Dazu ein sehr taktvolle, sehr liebenswürdiges, halbernstes Blick-Lächeln. Ich bin versucht zu sagen: „Auch ein freundlicher Blick kann heilen“, aber ich verschluck es. Man soll nicht alles zu Wort machen.

                                                                   Hofschauspielerin a. G.

             Nachts beim „Wiesenthal“. Das ist eine Art Heuriger für die Leopoldstadt. Nicht in Grinzig, sondern in der Nothgasse. Nicht unter freiem Himmel, sondern unter der Erde, ein Kellertheater. Es wird gesungen, Klavier gespielt. Lozzelachs werden erzählt. Der Chef ist Herr Wiesenthal, der mit der berühmten Grete keine Ähnlichkeit hat. Er ist etwas beleibter als Grete Wiesenthal, will aber auch nicht durch pagenhafte Schlankheit verführen. Er stammt nicht aus der Tänzerfamilie, eher aus der Familie Pallenberg, von dem er den aggressiven, deutlich höhnenden, den Hohn parodierenden Befehlston hat: He, Bürger! Wer hat vor Pallenberg gewagt He! zu krähen? Nun, Herr Wiesenthal ist ein wohlbeleibter Mann, der die Zuschauer beschmust. Vor und nach jeder Nummer erscheint er und wickelt die Zuschauer durch Anekdoten, Kalauer, vertrauliche Anreden ein. Er redet urwienerisch mit einem drolligen Einschlag jüdischen Jargons. Ein Fiaker, der seinen Standpunkt in der Tempelgasse hat. Es ist nur in der Ordnung, daß sein Lokal an der Grenze des Judenviertels steht, dort, wo der Leopoldstädter sich wienerisch zu assimilieren beginnt.

             In diesem unterirdischen Lokal tritt die berühmte Hofschauspielerin auf. Ich habe sie vor x-zig Jahren gesehen, damals kam sie gerade mit Kainz von einer russischen Reise zurück, die Hermann Bahr brillant beschrieben hat. Kaum zu schildern, wie jung und sprühend und schlank sie damals war. Jetzt tritt sie, von ehrfürchtigem Beifall umrauscht, um ein halb ein Uhr nachts auf die Pawlatschen, in schwarzem Spitzenkleid, heroischen Schrittes, das Haupt gen Himmel gerichtet, als müßte sie das Rauchtheaterpublikum übersehen, die Bewegungen der Arme tragisch-medeenhaft und die Stimme, diese sorgsam silbenrettende, langsam akzentuierende Stimme trägt ein vaterländisches Gedicht vor: Eine Palme wächst zu hoch. Die Palme ist Deutschland. Der Gärtner ist Gott. Es ist reinstes Burgtheater von heute. Die Verse Franz Nissels würdig, die Sprachkunst edelster Höbling, die Gesinnung würdigster Bodenstedt. Und das Publikum, das eben noch Wiesenthals Anekdoten belacht hat, klatscht begeistert in die Hände. Ja, das ist unser schönes altes Burgtheater. Dann singt die Hofschauspielerin zwei Niggerlieder. Ihre blanken Zähne glitzern, die dunklen Augen funkeln, die medeenhaften Armbewegungen verschwinden. Einen Moment muß ich an die sprühende schlanke Dame denken, die vor x-zig Jahren aus Rußland zurückgekommen ist. Es gibt ein Feuer, das nie erlischt. Vorausgesetzt, daß es einmal da war.

In: Der Tag, 22.3.1923, S. 3.

Richard v. Schaukal: Die Idee Österreichs

V o r b e m e r k u n g   d e r   S c h r i f t l e i t u n g: Die Zollunion Deutschland-Österreich ist verboten worden. Sie wäre auch in der Form der ersten Pläne kaum durchzuführen gewesen, denn zu verschieden sind die Verhältnisse und Lebensbedingungen der österreichischen Volkswirtschaft von der reichsdeutschen. Aber auch sonst wäre eine bloß auf das Nationale gestellte Union, selbst wenn sie eine politische würde, keine Lösung. Die Endlösung des deutschen bzw. österreichischen Problems ist nicht ein Nationalstaat mit unmöglicher Grenzgestaltung, die Endlösung heißt: das föderierte Mitteleuropa. Und je mehr heute von der Weltpolitik Gräben aufgerissen werden zwischen Deutschland und Österreich, um so mehr mag letzteres Vorarbeit für das künftige Mitteleuropa leisten durch Ausbau von Beziehungen vor allem mit seinen bisherigen engeren Weggenossen im Rahmen der altösterreichischen Monarchie. Das ist wohl der tiefere Sinn des folgenden Bekenntnisses eines hervorragenden Dichters und Denkers von Österreich.


    Der Österreicher, der als österreichischer Mensch seiner Herkunft und Natur gemäß fühlt und denkt, muß vor allem einen „Anschluß“ wünschen: den an seine Vergangenheit, die Österreich heißt, also an das Landgebiet, das ihn in Wechselwirkung seit Jahrhunderten bestimmt hat. Österreich, das von den schlecht beratenen Siegern in den Friedensverträgen auf das grausamste verstümmelt worden ist, aber in seiner Hilflosigkeit die zähe Lebenskraft seines Selbstvertrauens bewahrt hat, muß wieder zu sich selbst auferstehen als das vielfarbige, vielstimmige Reich der Mitte, zu dem es sein Schicksal ausersehen hat. Seine Entwicklung, die seine Geschichte ausmacht, war nichts weniger als Willkür, sondern gesetzmäßiges Wachstum aus den eigenen weitverzweigten Wurzeln. Diese Entwicklung ist gewaltsam unterbrochen worden, aber ihren Sinn kann Willkür nicht Lügen strafen. Daß sich die in der Monarchie vereinigten Völker, die kurzsichtige Regierungs- und Verwaltungsanschauung nach dem zerstörerischen Freiheitstaumel des Jahres 1848 durch ungeschickte Versuche gegeneinander getrieben statt wieder zusammengebracht hatte, auf den Trümmern des Reiches selbständig gemacht haben, ist mitnichten ein dauerndes Hindernis wohlbedachten, weil dem auseinandergerissenen Ganzen zuträglichen Zusammenschlusses. Die äußere Form ist fast gleichgültig: es kommt auf die innere Gestalt an, die sich in der Vereinigung ausdrückt. Um die Donau und ihre Nebenflüsse hat sich ein Gefüge zu erneuern, das in seiner Vielfalt eine Einheit bildet. Künstliche Schranken zwischen den zusammenstrebenden Teilen sind widersinnig. Die Alpen und ihre südlichen Ausläufer sind ein Ganzes, ebenso wie das von Randgebirgen abgegrenzte böhmisch-mährische Becken zum österreichischen Strom als ein Ganzes herniedergeht, wie die ungarische Tiefebene von diesem Strom aus bis an ihre Berge als ein Ganzes verbreitet. Und die Völker, die in diesem Mittelraum – man mag ihn bis an die „Vorlande“, die schwäbische Alp, den Bodensee erstrecken – seit mehr als einem Jahrtausend sich zusammenfanden, haben, ebenso wie der Boden, den sie besiedelten, seinen natürlichen Verlauf zeigt, sich von einander nicht gesondert, sind in einander über-, in einander aufgegangen. Es ist ein österreichisches Volk entstanden, in das der Österreicher, unbefangen sich selbst darangebend, wohl auch den Ungarn aufnimmt, der sich dagegen sträubt. Die Ostmark ist aus dem Herzogtum Bayern als Siedlung hervorgegangen. Als Rudolf von Habsburg, schwäbischer Herkunft, den Przemysliden Ottokar besiegt und sein gewaltiges Reich zur Grundlage der österreichischen Hausmacht bestellt hatte, ist das Österreich entstanden, von dem es am Ausgang des Mittelalters hieß, es werde zuletzt in der Welt sein. Viele Kronen hat sein Herrscher in seinem „großen Titel“ vereinigt. Der Weltkrieg hat sie zerschlagen. Aber was sie versinnlichten in ihrem stolzen Gefüge, die Zusammengehörigkeit des Zusammenhangenden [sic], in einander Verwachsenen und Verschlungenen, das hat er im Gedächtnis der Überlebenden nicht zu tilgen vermocht. In der Vergangenheit besitzt der Österreicher sein Vater- und Mutterland: daß er wieder erwerbe, was sein bleibt, hofft er von der Zukunft. Denn die Wandlungen der Geschichte können, was als Idee wirklich ist, verwischen und verdunkeln, nicht auslöschen.

In: Schönere Zukunft. Nr. 2, 11.10.1931, S. 30-31.