Schlagwortarchiv für: Impressionismus

Raoul Auernheimer: Expressionistische Bewegung

             Es wird jetzt ziemlich viel von Expressionismus gefabelt, sowohl von den Führern dieser allerneuesten Literatur- und Kunstbewegungen als auch von jenen, die sich ihr aus freier Überzeugung angeschlossen haben aber aus Furcht, den Anschluss zu versäumen, dahinter hertaumeln. Indessen wissen die wenigsten zu fragen, was dieses dunkel und gewalttätig klingende Wort „Expressionismus“, das ungefähr gleichzeitig mit den Bolschewiken in die deutsche Sprache eingedrungen ist, im Grunde bedeutet, was man sich dabei zu denken habe, und das ist umso merkwürdiger, als es die Expressionisten selbst an Versuchen, sich uns zu erklären, keineswegs fehlen lassen. Man kann in diesem Zusammenhang recht wohl bereits von einer expressionistischen Literatur reden, zumindest von einer Literatur über den Expressionismus. Die aufschlussreichste und den hier unter Betracht kommenden manifestartigen Verlautbarungen dürfte eine Rede sein, die Kasimir Edschmid, einer der Häuptlinge des literarischen Expressionismus, im Dezember vorigen Jahres vor dem Bunde deutscher Gelehrter und Künstler in Berlin gehalten hat. „Wenn man,“ so beginnt der Redner seine auch gedruckt vorliegenden Ausführungen, „selbst verstrickt in eine Bewegung, darüber auszusagen den Drang spürt, bedarf es vor allem Unerbittlichkeit und Hingabe.“ An beiden Voraussetzungen, die selbstgestellte Aufgabe zu bewältigen, lässt es der Wortführer der jungen Bewegung, der in seinen unprogrammatischen Stunden ein schätzbarer Novellist ist, in der Folge nicht fehlen, am wenigsten an der erforderlichen Unerbittlichkeit. „Seit der Romantik war Stagnation,“ erklärt er nach ein paar einleitenden Allgemeinheiten und macht mit dieser halben Zeile, wie mit einem Rasiermesserschnitt, vier Generationen und literarischen Richtungen zugleich den Garaus. Das junge Deutschland und die nachfolgende sogenannte Epigonenzeit werden verworfen, aber auch der Naturalismus, den die Expressionisten Impressionismus nennen, und das „Ästhetentum“ gehören – die Anhänger der alten Richtung werden jubeln – auf den Schindanger. Im Gegensatz zu diesen abgetanen Schulen stellt Edschmid sodann die Grundlinien der eigenen fest. Die jungen Dichter von heute wollen nicht mehr wie die von 1890 das Leben nachbilden, sondern nur, sozusagen, ihre eigene „Vision“ von der Welt gefühlsmäßig zum Ausdruck bringen. Hierdurch unterscheiden sie sich von Anbeginn von ihren Vorgängern: „Sie sahen nicht, sie schauten; sie photographierten nicht, sie hatten Gedichte.“ Wozu auch photographieren? „Die Welt ist da, und es wäre sinnlos, sie zu wiederholen.“ Was uns not tut, ist vielmehr, daß „alles, was der Dichter darstellt, eine Beziehung zur Ewigkeit bekommt.“ Damit wird man sich gern einverstanden erklären, obwohl diese Erkenntnis nicht gerade aus dem Dezember 1917 stammt. Was Edschmid die „Beziehung zur Ewigkeit“ heißt, nannte man zu Goethes Zeit und wohl auch noch etwas später das „Allgemein-Menschliche“. Wogegen dann, weil es schließlich ganz im himmelblauen und konventionellen zu zerfließen drohte, die Naturalisten mit ihren aufgeregten Wahrheitsforderungen Sturm liefen.

Auf den allgemeinen Teil von Edschmids Rede folgt dann der besondere. Namen werden genannt und mit jener schönen Parteilichkeit ausgerufen, die ein liebenswürdiges Vorrecht der expressionistischen wie jeder anderen Tugend bildet. Heinrich Mann führt den Reigen. Er ist eine Art Stubenältester der expressionistischen Schule, was seinen Humor hat, wenn man bedenkt, daß Heinrich Mann alles in allem einige vierzig Jahre alt ist. Für die Expressionisten aber steht er offenbar bereits an den äußersten Gemarkungen des menschlichen Lebens und mit einem Fuß im Grabe; man kann daraus ermessen, wie jung sie selber sind. Mann gegenüber, gleichfalls auf einem Sockel, wird Wedekind aufgestellt, als Schutzpatron des Dramas. Ihm reihen sich dann auf dem engeren Gebiete der neuen dramatischen Richtung Rene Schickele, Hasenclever, Kornfeld und Unruh an, lauter sehr begabte junge Dramatiker. Goering, der Verfasser der „Seeschlacht“, wird nicht erwähnt; er ist der bedeutendste. Hingegen wird von Döblin rühmend hervorgehoben, daß er „quadratisch dasteht“ und von Georg Heym gemeldet, daß er „Gedichte stürzte“. Dem Lyriker Werfel wird im Vorbeigehen der ihm gebührende Rang eingeräumt, Trakl erwähnt, von Stramm gesagt, daß er den „Satzleib derart zerglühte, daß nur… benommenes Stöhnen übrig blieb“, während der verhältnismäßig blässere Däubler bloß ein „in silbernen Wucherungen kosmisch wucherndes Versfleisch besitzt“, der Arme. Die Rede ist aber trotz dieser an das gottselige Preziösentum gemahnenden Manieriertheiten, über die als der Molière der neuen Richtung Karl Sternheim zu spotten berufen wäre, ganz vernünftig geschrieben, sie schließt auch sehr vernünftig. Es seien vorerst nur die Ansätze zu einer neuen Kunst vorhanden, sagt der Redner beiläufig, was daraus weiter entstehen werde, möchte er nicht entscheiden.

Und indem er die weitere Entwicklung mit einer Bescheidenheit, die überrascht, Gott anheimstellt, schließt er versöhnlich mit den Worten: „Niemand ist gut, weil er neu ist. Keine Kunst ist schlecht, weil sie anders ist.“ Ja, er geht noch weiter: „Ein guter Impressionist ist größerer Künstler und bleibt für die Ewigkeit aufbewahrter als die mittelmäßige Schöpfung eines Expressionisten, der nach Unsterblichkeit schaut.“ Schließlich ringt sich der Redner noch das Zugeständnis ab: „Vielleicht besteht vor dem Urteil des letzten Tages Zolas, schamlose, gigantische, stammelnde Nacktheit der Kraft besser als unser großes Ringen um Gott…“ Man sieht, die neue Jugend bemüht sich sogar, gerecht zu sein. Es gelingt ihr nur nicht immer.

Es ist übrigens kein Zufall, sondern tiefere Gerechtigkeit, daß in diesem Zusammenhang Zola genannt wird. Die neue Bewegung, die gegen den siegreichen Impressionismus kämpfen uns stürmen gelernt, und Zola war es, der damals, vor fünfzig Jahren, als einer der jungen Offiziere der jungen impressionistischen Kunst die ersten Sturmtrupps befehligte, die ersten feindlichen Stellungen nahm. Auch dazumal waren es die Maler, die als eine lockere Plänklerkette vorangingen, während die Literatur erst etwas später nachrückte. Im Jahre 1890, als die jetzt Unmoderne in Deutschland modern wurde, verlief der Kampf nicht viel anders, nur daß der deutsche Naturalismus vom Anfang an weniger auf den Roman als auf das Drama losging, das unter Ibsens geistiger Führung mit stürmender Hand erobert werden sollte. Die jungen Leute von heute machen ihre Sache aber gründlicher, sie stellen ebenso viel Dramatiker wie Epiker und Lyriker ins Feld und planen einen Durchbruch auf der ganzen Linie, indem sie neben den Malern auch noch die Plastiker, ja die vor allem, zum Kampfe unter den neuen Fahnen aufgerufen haben. Nur die Musik ist noch nicht expressionistisch, wahrscheinlich weil sie es immer war. Denn was heißt Expressionismus? Wörtlich übersetzt Ausdruckskunst, sinngemäß verdeutscht, diejenige Kunst, die im Gefühlsausdruck ihr eigenes Ziel sucht und findet. Gefühl ist jetzt wieder alles, wie zur Zeit der Romantik, und die jungen Leute von heute scheren sich einen blauen Teufel darum, ob das Weltgefühl, daß sie in sich tragen und in ihre „Werke stürzen“, mit der Wirklichkeit übereinstimmende aber nicht. Der Schrei des Lebens kümmert sie am wenigsten, sie lauschen nur ihrem eigenen Schrei oder Geschrei. Auch finden sie, und damit haben sie auch nicht ganz unrecht, daß die völlige Naturtreue für sich allein keine künstlerische Maxime sein kann, weil sie das Äußerliche und Zufällige auf Kosten des Wesentlichen betont, in dessen Hervorbringung ihnen einzig und allein die Aufgabe des Künstlers zu bestehen scheint. Denn die Kunst hat es nach ihrer Meinung und auch nach derjenigen aller Verständigen nicht mit der wechselnden „Erscheinung“, sondern mit dem bleibenden „Ding an sich“ zu tun, mit den ewigen Ideen, die sie freilich einleuchtend zu versinnlichen im Stande sein muss, weil sie sonst Philosophie bliebe. Auch im idealen griechischen Götterleib ist die Menschengestalt nachweisbar, wenngleich ohne störenden Naturalismus, das heißt mit Hintansetzung einer auf Nebensächlichkeit beruhenden niedrigen Ähnlichkeit. Demgemäß verschmähen auch die Expressionisten alles Nebenbei, die sogenannten feinen Züge und die ganze Psychologie.

Denn nicht um die Abschattierung des Individuums ist es ihnen zu tun, sondern um die Darstellung des Menschen, des expressionistischen, der „so aussieht, als trüge er sein Herz auf der Brust gemalt“.

Sie streben daher allenthalben den großen Urgefühlen der Menschlichkeit zu, sie wollen nichts zu schaffen haben mit jenen kleinen, abgeleiteten, örtlich und zeitlich bedingten Einzel- und Sondergefühlchen des modernen Großstädters, in deren gewissenhafter Nachzeichnung die Literatur eine Zeitlang ihre Aufgabe zu erblicken glaubte. Freilich, welche Literatur? Nie und nirgends die beste, ja nicht einmal die gute. Es ist der große Irrtum der jungen Expressionistenschule wie aller derartigen Kunstbewegungen, wenn sie polemisch werden, daß sie das einzelstehende und arbeitende Talent für die Maulmacher der Richtung oder Schule, der es beigezählt wird, verantwortlich macht. Und doch war es immer nur das Talent, das eine Richtung vorwärts brachte, nicht das Programm. Zola ist nicht durch den Impressionismus berühmt geworden, sondern umgekehrt der literarische Impressionismus durch Zola, wie der deutsche Naturalismus durch Hauptmann. Aber ist der Dichter der „Versunkenen Glocke“ und von „Emanuel Quint“ deswegen ein Naturalist? Er ist es ebenso wenig, wie Gottfried Keller ein Epigone war, weil er zu seiner Zeit lebte, in // der die Kunst vorzugsweise nach Vorbildern statt nach der Natur arbeitete. Hat diese vielgelästerte Zeit Gottfried Keller gehindert, ein eigenmächtiger Künstler zu werden, hat sie Storm, Fontane, hat sie, um den uns zunächststehenden zuletzt zu nennen, Anzengruber verhindert? Und auf der anderen Seite, ist denn der Expressionismus als Kunstprinzip wirklich etwas so absolut Neues? Junge Dichter, die mit einer antizipierten Lebenserfahrung ihr stürmisches Gefühl in die Welt hinausschreien, hat es immer gegeben, wird es immer geben, denn es ist dies der subjektive Ursprung aller Dichtkunst. Um nur einen, den größten, zu nennen, Schiller, als er die „Räuber“ schrieb, war sicher ein Expressionist, auch der junge Goethe war einer, „Werther“ ist ein expressionistisches Werk, die ganze Sturm- und Drangzeit nichts anderes als Expressionismus des achtzehnten Jahrhunderts. Ja, darüber hinaus wäre es nicht allzuschwer, im Werke fast jedes großen Dichters expressionistische Elemente aufzuzeigen, was die expressionistischen Wortführer auch nicht ungern tun. Ihre Pietätlosigkeit hat Grenzen, Homer lassen sie gelten, auch die Klassiker im großen Ganzen. Sie sind in diesem Punkte ungleich duldsamer als ihre Vorgänger, die Naturalisten, und das ist auch nur ganz natürlich: da die Expressionisten das Vorbild der Natur ablehnen, müssen sie naturgemäß, weil doch kein so begabter junger Dichter die Kunst völlig neu zu erfinden und aus sich heraus aufzubauen vermag, in den vorhandenen Vorbildern Ersatz suchen. Das aber sind die Klassiker, denen sie sich solcherart, vielleicht ohne es selbst zu wissen und sich darüber Rechenschaft zu geben, auf einem Umweg nähern. Reinhold Goerings „Seeschlacht“ hat, bis in den einzelnen Vers hinein, die Intensität und unerbittliche Gedrungenheit einer griechischen Tragödie, von Unruh stellt sogar Edschmid mit einem gewissen Bedauern fest, daß er „noch nicht ganz weit entfernt von Kleist“ sei, und die ersten zwei Akte von Hasenclevers neuem Werk „Antigone“ könnten, unbeschadet ein paar gewalttätiger und stillos heftiger Ausdrücke, alles in allem von einem jungen Grillparzer sein, was natürlich keine Beleidigung für Hasenclever sein soll…

             So verliert auch der Expressionismus, wenn man ihm etwas näher ins Gesicht leuchtet, viel von seinem anfänglichen Schrecken. Es bleibt, genau genommen, nicht viel mehr davon übrig als die Tatsache, daß es wieder zwanzigjährige Dichter gibt, die ihren Platz an der Sonne oder unter dem Scheinwerfer des Ruhmes, den man in jungen Jahren zuweilen mit der Sonne verwechselt, für sich in Anspruch nehmen. Sie gehen dabei ziemlich rücksichtslos zu Werke und in ihrem unbedingten Auftreten liegt etwas von der sonstigen Unbedingtheit dieser Zeit, die man auch anders nennen könnte. Dem entspricht natürlich der Stil, den sie schreiben und der seine charakteristischen Eigentümlichkeiten hat. Die Sätze stehen unverbunden nebeneinander, ohne Brücken und Spreizen, kein Gedanke lehnt sich an den vorhergehenden, jeder führt ein trotzig isoliertes Eigenleben und brüstet sich mit seiner Nacktheit, die freilich von einer allgemeinen Dunkelheit meist schamhaft verhüllt wird. Der Metapher, jeder Art von Umschreibung wird der Krieg bis aufs Messer erklärt, das schmückende Adjektiv, das von seinem angemaßten Thron gestoßen und durch das den Satz jetzt ausschließlich regierende Verbum, das tätige, gebietende Zeitwort, ersetzt. Angenehm wirkt diese neue Schreibart nicht immer, aber das will sie auch gar nicht, sie will vielmehr Beachtung erzwingen und man muß zugeben, daß ihr das gelingt. Die neue Bewegung versteht sich vorzüglich auf die Inszenierung, auch außerhalb des Theaters. Sie fristet keine peripherische Existenz wie die Bohème von 1830 und die Literaturbohème von 1890, sondern sie trachtet aus dem Mittelpunkt der Gesellschaft heraus auf diese einzuwirken. Indem sie sich mit der Mode verbindet, schreitet sie unaufhaltsam fort zwischen einem Spalier von Leuten, die im Tiefsten davon überzeugt sind, daß Kunst etwas ist, was alljährlich neu erfunden oder, wie man von den Göttern unter den Schneidern sagt, „kreiert“ werden müsse. Ihnen schließen sich als freiwillige Trabanten der neuen die Feinde der vorigen Richtung an, die auf diese Weise, von hinten herum, etwas spät auf ihre Kosten kommen. Die Snobs beiderlei Geschlechts fehlen nicht in dem Zuge, und die Eingeschüchterten, die sich das Beispiel Manets und Richard Wagners dauernd zu Herzen genommen haben, wollen nicht zurückbleiben, um nicht für zurückgeblieben zu gelten. Das Gefolge der neuen Richtung schwillt so fortwährend an; es ist heute schon stattlich und mächtig genug, um ihr unbeschadet des Dauerwertes der großenteils erst hervorzubringenden Werke einen gewissen Anfangserfolg zu sichern.

             Wichtiger als die Erfolgsfrage ist jedoch die Frage, was die Kunst bei der neuen Unternehmung des Expressionismus zu gewinnen hat. Hier muß man vor allen Dingen sagen, daß sie aller Voraussicht nach dem Drama besser bekommen dürfte als dem Roman, der seiner Natur nach mehr auf die impressionistische Methode, zu deutsch auf die Beobachtung, angewiesen bleiben dürfte. Es war einer der Grundirrtümer der literarischen Revolution von 1890, daß sie aus dem Sieg des Impressionismus im Roman Folgerungen für das Theater ableitete, die sich auf die Dauer als unhaltbar erwiesen. Demgegenüber wird es vielleicht die Aufgabe der Expressionisten sein, das Drama auf seine Grundbedingungen, als da sind Knappheit, Intensität, Leidenschaft und starke Kontraste, zurückzuführen. Auch die Lyrik, die ihrem Wesen nach immer expressionistisch ist, kann in ihrer Schule nur gewinnen. Hingegen werden die expressionistischen Erzähler wohl früher oder später, wenn sie wirken wollen, bei den älteren Erzählern in die Lehre gehen müssen, wie dies auch die älteren Erzähler getan haben. In Wahrheit ändert sich ja in der Kunst nicht so viel, wie Impresarios und Modenarren glauben. Das menschliche Herz, nicht dasjenige, das der expressionistische Mensch wie ein Kartenblatt „auf der Brust gemalt“, sondern das er innerlich trägt, das Cor humanum, auf das der Dichter wirken, das er rühren will, ist in Lust und Leid seit Jahrtausenden unverändert. Dementsprechend sind auc der dichterischen Willkür natürliche Grenzen gezogen, jenseits welcher die Kunst eben aufhört, Goethe äußerte einmal zu Eckermann, die jungen Leute glaubten, es gäbe auf der Scheibe neben dem Schwarzen noch ein Schwarzes, aber sie irrten, es gäbe nur eines. Das werden auch die Expressionisten mit der Zeit herausfinden, diejenigen sowohl, die mit ihrer neumodischen Schießwaffe ins Schwarze treffen, als auch die anderen, die, einem Programm zuliebe, ihr Gewehr verreißen.

In: Neue Freie Presse, 4.7.1918, S. 1-3.

Hermann Menkes: Romako, Kokoschka, Masereel

Drei Ausstellungen

            Ein Malergenie und ein ganz besonderer tragischer Fall, das ist Anton Romako. Ein „verrückter Maler mit verrückten Bildern“, mit diesem Stigma verbrachte er in Wien die letzten unglücklichen Jahre seines Lebens. Und weit über seinen 1889 erfolgten Tod hinaus dauerte sein Bekanntsein, dieses uns jetzt unbegreifliche Unverständnis seiner offenkundigen Genialität gegenüber. Romako brauchte ungefähr ein Vierteljahrhundert nach seinem Dasein, um in der österreichischen Kunstgeschichte den Platz zu erreichen, der ihm schon während seiner ersten Schaffensperiode zugebilligt werden mußte. Jetzt bricht sich die Ueberzeugung durch, daß wir in ihm unser stärkstes malerisches Temperament besaßen, einen Koloristen von unerhörter visionärer Kraft, die ihn oft in die Nähe eines Tintoretto, aber auch der großen französischen Impressionisten brachte. Die Tragik seines Künstlertums lag in erster Reihe darin, daß er der Zeitgenosse von Makart war, dessen blendende Malerei die seine eine Zeitlang zu verdunkeln vermochte. So wurde Romako von den Kunstvereinigungen zurückgewiesen, vom akademischen Geist der tonangebenden Kritik abgelehnt, vom Publikum verhöhnt. Ein tragischer, aber auch ein beschämender Fall, der sich in Wien leider zu oft wiederholte. Romako war ein bahnbrechender Revolutionär, ein rastloser Sucher nach malerischen Ausdrucksmitteln und vor allem ein unsteter Geist, und das alles mußte er in schwerster Weise büßen. Ganz verzweifelt in grauenhafter Armut machte er seinem Leben durch Selbstmord ein Ende.

            Dr. Oskar Reichel erzählt vom Auf und Ab dieses Lebens im Katalog zu der nahezu sechzig Werke umfassenden Ausstellung im Kunsthause Würthle. Vom glanzvollen Aufstieg Romakos während seines vieljährigen italienischen Aufenthaltes und den Pariser Auszeichnungen wird berichtet. Nach dieser glückvollen Episode und einem blühenden Schaffen kamen die Wiener Unglücksjahre. Sie begannen mit einer verfehlten Ehe und einem vergeblichen Ringen um die bescheidenste Anerkennung. Kein Mensch wollte seine Bilder kaufen, die er um fünf Gulden das Stück in einer von ihm selbst veranstalteten Auktion anbot. Seine Armut wurde so groß, daß er in einem Frack, dem einzigen Kleidungsstück, das er noch besaß, herumlaufen mußte. Und man versagte sich diesem früheren Porträtisten von Königen und Kirchenfürsten. Er war dem traditionellen Geschmack eben nur ein verrückter, neuerungssüchtiger Maler. Jetzt besitzt unsere moderne Belvederegalerie eine große Anzahl seiner Meisterwerke und vieles, vieles ist in Wiener Privateigentum übergegangen. Wenn Romako irrsinnig war, woran kein Mensch mehr glaubt, so war er ein verrücktes Genie. Und das wollte noch vor zwanzig Jahren in Wien kein Mensch zugeben.

            Dieses Schaffen war für die verhältnismäßig kurze Lebensdauer Romakos ungewöhnlich reich. Sein Werk umfaßt ungefähr 1500 bis 2000 Bilder. Darunter selbstverständlich manches Minderwertige als Anpassung an den damaligen Publikumsgeschmack. Er, der den Impressionismus genial vorausahnte, blieb von einer vergänglichen Zeitmode nicht ganz unberührt. Aber nicht unbeeinflußt auch von Marées-Stimmungen, von Feuerbach und den Franzosen. Er war kein „bodenständiger“ Künstler, sondern als solcher ein Weltbürger. Und trotz mancher Verwandtschaft und Beziehung gab er im Besten seines Schaffens eine eigene Anschauung, eine ganz eigene, ganz starke Note. Er sah und erlebte in Farben von seltener Magie, verfügte über eine eben so starke Gestaltungskraft. Er war Romantiker wie lebensstrotzender Realist, konnte sich in die künstlerischen Geheimnisse der klassischen Meister Italiens wie in die Welt Rembrandts hineinfühlen, ahnte aber auch schon die späteren Entdeckungen eines Manet, Rivoir und Courbet in vielen Darstellungen voraus.

            Man ist von der Sinnlichkeit seiner Farbe, seinen flimmernden Visionen und von all den Finessen und Schönheiten fasziniert, wenn man die Ausstellungsräume betritt. Er malt zu weilen ein menschliches Gesicht mit einer solchen Fülle von Vitalität, mit so blühendem Inkarnat, als ob er ein Nachkomme von Tizian wäre, mit einer solchen Einfühlungsfähigkeit wie ein nächster Verwandter Leibls. Man sehe sich daraufhin seine Schwabach-Bildnisse, das Porträt der Kaiserin Elisabeth, der Frau Stern, von Sophie und Luise Romako und eines Sängers an. Das klassische Italien ist in bezaubernden Farbenstimmungen und Linien in seinen Bildern wie in den eines Marées. Ruhevoll hier, ist er anderwärts von vibrierender Nervosität, immer ein Bekenner seines Phantasie- und Innenlebens, immer bezwingend, ob er in der Wirklichkeit sich bewegt oder über diese hinausgeht.

            Oskar Kokoschka, von dem Werke aus verschiedenen Abschnitten seines Schaffens im Künstlerhaus, in der Sezession wie in einer ganz ihm gewidmeten Ausstellung in der Neuen Galerie zu sehen waren, hat sich eines bedauerlichen Vorfalls wegen in einem veröffentlichten Brief in etwas brüsker Weise von Wien und seinem Publikum losgesagt. Wohl ist es zu seinen Anfängen auch ihm gar arg in Wien ergangen. Aber er gehört längst nicht mehr zu den verkannten Oesterreichern, mag auch eine Beurteilung, die virtuoses Handgelenk oder gar nur zeichnerische Korrektheit mit Kunst verwechselt, auch jetzt noch ablehnend sich ihm gegenüber verhalten. Dieser eigenwillig neurasthenische Künstler hat das Verständnis auch dem Willigen schwer gemacht, wie seine eigene Entwicklung es gewesen. Kokoschka hat in schwerem Ringen durch Stile und künstlerische Zeiteinflüsse sich erst durchschlagen müssen, ehe er zu seiner harmonischen Synthese und zu einer rein persönlichen Kunst gelangte. Lange haben die verschiedensten Elemente vom Kubistischen bis zum Expressionismus seinem Schaffen den Charakter des Experiments verliehen. Ein pathologischer Einschlag, die Neigung zum charakteristisch Häßlichen, machte dem ästhetisch Befangenen seine Kunst nur schwer zugänglich. Kokoschka setzt jetzt noch alles Gestaltete ins Morbide um. Seine Reize fließen aus der Linie oder der Farbe. Mit dem koloristischen Medium hat er am längsten gerungen, ehe er zu seiner jetzigen Noblesse und Ausdrucksfähigkeit gelangte. Ein Beweis hiefür ist sein einst vielumstrittenes „Stilleben mit dem Hammel“, das noch in einem koloristischen und gegenständlichen embarras de richesse schwelgt und in dieser Nuancenüberfülle verwirrt. Aber wir wissen heute, daß er in seinen Bildnissen ein tiefgründiger Seelendeuter ist, auch wenn er aus eigener Verfassung vieles in seine Darstellung hineinfließen läßt; daß seine Malerei eine ungemein vergeistigte, seine Farbenvision von magischem Reiz ist. Oft erreicht seine Koloristik die große Noblesse eines Velasquez. Ueberaus geistvoll ist seine lineare Eleganz, so besonders in seinem mit vielen ornamentalen Wirkungen verbundenen „Irrenden Ritter“. Da, wie in einigen seiner eindrucksvollen wie reizenden Frauen- und Kinderbildnisse ist bereits der gefestigte, synthetische Stil eines ganz individuellen Meisters. Ein Glanz, den allerdings nur ein ebenso verfeinertes Auge wahrnimmt.

            Frans Masereel, der niederländische Künstler, der mit einigen Bildern, vielen Zeichnungen und Holzschnitten im graphischen Kabinett der „Bukum“ jetzt repräsentiert wird, ist, wenn auch am hervorragendsten im Holzschnitt und im Zeichnerischen von einer Größe und Vielfältigkeit des Ausdrucks und einer fast religiösen Inbrunst, daß wir in ihm einen der großen europäischen Meister unserer Tage zu sehen gezwungen sind. Die Stärke und Innigkeit seines Gefühls ist wie aus der Welt Memlings, seines großen Vorgängers. Dieser jetzt sich in das tiefe Mitleid mit allen Beladenen und Mühseligen um und selbst das Laster wird unter seiner Hand zu reiner, leidender Menschlichkeit umgewandelt. Masereel gibt in seinen Holzschnitten und Zeichnungen die tragische Epopöe unserer an Elend so reichen Zeit. So überwältigend ausdrucksvoll ist seine bis ins Minuziöseste gehende Handschrift, daß er in einer textlosen Bilderfolge Lebensdramen und Romane zu geben vermag, wie in seiner soeben im Verlag Kurt Wolff, München, erschienenen „Passion eines Menschen“ (25 Holzschnitte), ein Werk, das man mit ebenso tiefer Ergriffenheit wie mit hohem künstlerischen Genuß durchblättert. Aber Masereel ist nicht nur der große Verkünder tiefen Menschenleids, er verfügt als Zeichner auch über die genial markante Linie eines Toulouse Lautrec. Es scheint, daß er bei einer erstaunlichen Produktion eine unerschöpfliche Phantasie besitzt, und seine Kunst ist gleich stark in der Darstellung des Intimen wie Monumentalen, in der Sphäre des Elends wie in einer mondänen Welt. Und sie ist in sparsamer Andeutung so großzügig und von technischer Brillanz, wie in seiner wundersam feinen und stilvollen Akribie. In seinen wenigen Bildern ist seine Farbe weniger Ausdrucksmittel als Ergänzung: ein noch äußerliches Element.

In: Neues Wiener Journal, 28.10.1924, S. 4-5.