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Hugo Bettauer: Die Neujahrsnacht der Banknoten.

             Um einen grünen Tisch herum sitzen wohlbekannte Gestalten, um sich nach rastloser Wanderung einer kurzen Muße hinzugeben und bei Punsch und Krapfen den Eintritt des neuen Jahres abzuwarten; der Einser, der Zweier, der Zehner und Zwanziger, der Fünfziger und Hunderter, der Tausender und Zehntausender haben genau nach Rang und Wert ihre Plätze eingenommen. Zwei Stühle sind für weitere Gäste reserviert. Der Einser und der Zweier befinden sich in despektierlichem Zustand. Abgerissen, fetzig, schmutzig, klaffende Risse notdürftig mit Heftpflaster verklebt, in sich zusammengesunken sitzen sie da, als wollten sie demnächst verenden.

             Dem Zehner ist die Nachbarschaft ersichtlich unangenehm, er rümpft die Nase, schüttelt sich vor Ekel und brummt wütend:

             „Ihr hättet auch lieber zu Haus bleiben können. Ordentlich kompromittieren tut Ihr die ganze Gesellschaft!“

             „Na, na, spiel‘ dich nicht auf, Zehner,“ ruft der Hunderter höhnisch, „schaust ja selber schon wie ein Pülcher aus! Auf ja und nein wird sich nach dir auch keiner mehr bücken wollen.“

             „Mir alle san halt strapaziert,“ keucht der beleidigte Zweier!

             „Volksfreunde san mir,“ echot der Einser, „Kinderfreunde und Genossen der notleidenden Klassen!“

             Das war zu viel der Anstrengung, der Einser rutscht vom Stuhl hinunter und sein Oberkörper trennt sich vom Unterleib. Der Zweier bückt sich, um dem Genossen zu helfen, dabei kommt auch er zu Fall und der Zehner stoßt sie beide wütend mit dem Fuß beiseite.

             Der Tausender beschwichtigt die Aufgeregten. „Laßt’s die armen Hascher lieger! Sie haben ja eh‘ die längste Zeit schon kein Leben mehr g’habt! Wann i der Hausherr wär, tät ich sei im neuchen Krematorium verbrennen! Kosten eh‘ mehr, als sie wert san!“

             Der Zwanziger will sich noch nicht beruhigen! „Eine Schande ist es, so mit uns umzugehen! Auf ja und nein kann uns allen dasselbe geschehen! In den letzten Wochen habe ich schon genug Schimpf und Schande erleben müssen.“

             Der Tausender reckt sich, wirft funkelnde Blicke aus den braunen Augen und meint:

             „Es herrscht eben keine Achtung und Ehrfurcht mehr in diesem Lande, seit der gute Kaiser Karl…“

             „Nichts von Politik,“ brüllt der demokratisch gesinnte Hunderter dazwischen.

             Der Tausender begehrt auf: „Wer etwa behauptet, daß ich Monarchist bin, ist ein Verleumder! Aber einen Herrn brauchen wir, sage ich! Wissen Sie, was mir neulich beinahe geschehen wäre? Beim Heurigen war es, als nach kräftigem Genuß von neuem Wein und Powidlgolatschen sich so ein reich gewordener Selcher beinahe, weil er nichts anderes zur Stelle hatte, mit mir…“ Die anderen Worte flüsterte der Tausender indigniert den Nachbarn zu, von denen der Hunderter erbleichte, während der Zehntausender in schallendes Gelächter ausbrach.

             „Allerdings, mir könnte das nicht so leicht passieren! Na, ja, schließlich bin ich auch unter den geänderten Verhältnissen ein Wertfaktor, den man respektieren muß!“

             „An Schmarrn bis du,“ kreischt der kranke, schäbige Zehner im Bewußtsein, eh‘ auf dem letzten Loch zu pfeifen. „Du und der Tausender, Ihr seid nichts als Schwindler, besonders seitdem Ihr von hinten wie die Zwillingsbrüder ausschaut.“

             Mit philosophischer Ruhe mengt sich der Fünfziger ein. „Meine Herren, geben wir uns keinen Illusionen hin, Schwindler sind wir alle! Jeder von uns will etwas vorstellen, was er nicht ist, und ob einer sich Tausender nennt oder Zehntausender, in Wirklichkeit ist er ein Dreck!“

             „Da muß ich doch sehr bitten,“ meint scharf der Zehnstausender. „Ich als der Erste und Beste unter Ihnen denke in diesem Punkt wesentlich anders…“

             Die Tür geht auf und der Herr Fünftausender tritt ein. Einen Moment ist alles baff, der Glanz des nagelneuen Gewandes, das der späte Gast trägt, fasziniert, der Hunderter vergißt seine demokratische Gesinnung , der Zehner seinen beleidigten Zustand, beide springen auf, um den Fünftausender an die Spitze der Tafel zu führen. Da schlägt der Zehntausender mit der Faust wütend auf den Tisch.

             „Oha, das wär‘ noch schöner! Da links von mir ist der Platz für den neuen Herrn, denn ich bin noch immer der Rangältere.“ Und spitz wendet er sich an den verwirrt und verlegen ins Licht blinzelnden Fünftausender:

             „Der Herr hat wohl mit Erfolg in Valuta spekuliert? Unsereins kann sich nämlich nicht so ohneweiters ein neues Gewand leisten.“

             Verdrossen, geknickt, zerrissen wacht der Zwanziger aus dem Halbschlummer auf.

             „Tun’s Ihnern nix an, Herr Präses, Sie gehören ja selbst zu den neuen Reichen, die was im Jahr 1914 noch gar net auf der Welt waren!“

             Der Fünftausender setzt sich artig, fühlt die neidischen und bewundernden Blicke und denkt sich: In eine schöne Gesellschaft bin ich geraten! Wer weiß, vielleicht schau‘ ich bald auch so aus, wie der stinkerte Zehner da!

             Jetzt kommt aber breitspurig, mit wuchtigen Schritten, würdevoll der letzte Gast, der Kommerzialrat Fünfzigtausender. Vergebens hat er sich allegorisch einzukleiden versucht, er sieht entschieden „eingewandert“ aus und je vornehmer er sprechen will, desto mehr jüdelt er.

             „Platz da, meine Herren,“ ruft er und setzt sich breitspurig an die Spitze der Tafel. „Hast ä Hitz, was Sie da haben! Nü, Herr Tausender, Sie sehen auch schon etwas mitgenommen aus, von die anderen Herren gar nicht zu reden! Und Sie, Herr Zehntausender, Ihnen ist auch nicht ganz wohl? Also,ich sag‘ Ihnen, jetzt, wo ich da bin, wird ein neuer Zug in die Sache kommen! Reißen wird man sich um mich und was echter Kavalier ist, wird gar nicht ohne mir in die Bar gehen wollen!“

             Und schon schließt sich alles gegen den neuen Eindringling zusammen. Der Zehntausender rückt von ihm ab und vom unteren Ende der Tafel werden stürmische Rufe“ „Schieber! Schieber! Schieber“ laut. Der Zehner kreischt: „Haut’s den Hebräer tor“, der Hunderter brüllt: „Wart nur, bei der nächsten Plünderung!“

             Der Lärm wird so groß, daß im Café „Zentral“ am Literatentisch, wo eben heftig über Stendhal, Daimler, Goethe, Julisüd, Wildgans und Chemosan diskutiert wurde, Unruhe entsteht. Die Türe fliegt auf und der Hausherr, Herr Gürtler, kommt mit der Nachtmütze auf dem Kopf und einem Staberl in der Hand.

             „Ruhe, Bagage, elende! Wan i euch allemiteinander nur schon los wär, ös elendige Gauner, ös! Marsch ins Steueramt mit euch! Aber rasch, sonst hol i mein Freund, den Rosenberg, und lass‘ euch alle zusammen abstempeln!“

In: Der Morgen, 2.1.1922, S. 4.

Ludwig Hirschfeld: Das Wiener Leben ein Fiebertraum. Eine Influenzaphantasie

            Ab und zu ein bißchen krank sein, das ist heute der Gesundheit sehr zuträglich. Miserabel fühlt man sich jetzt doch nur, solange man gesund ist, seinen Mitmenschen, den behördlichen Einfällen, dem Telephon, den Preisen und Tagesereignissen hilflos ausgeliefert. Im Moment, wo man sich aus diesem überreizten und stark überzahlten Wiener Leben zurückzieht ins Privatleben eines Krankenzimmers, wird das alles sofort ganz belanglos. Wenn man dann hustend und in nasse Wickel eingepackt im Bett liegt, fühlt man sich wohl und geborgen, und wenn der Hausarzt sagt: „Sie müssen mindestens acht Tage liegen,“ da hat man nach langer Zeit wieder einmal das herrliche Gefühl: Es kann dir nix g’scheh’n.

            Darum war ich auch hocherfreut, als sich zur rechten Zeit eine kleine Influenza einstellte, gerade als ich vor allerlei lang hinausgeschobenen schweren Entschlüssen stand: einen Stoff für einen neuen Frühjahrsanzug aussuchen, das Einkommen für das Steuerbekenntnis zuschneiden, die Sommeraufenthaltsrechnung ohne den Wirt machen, zum Entzweiungsrendezvous und zum Zahnarzt gehen. Diese ganzen Frühjahrssorgen sind eines schönen, fiebernden Morgens vertagt und erledigt, wo einen der Hausarzt mit Influenza ins Bett schickt. Aber es war diesmal nicht das Richtige. Es hat die apathische Stimmung gefehlt, die sonst ein Krankenzimmer behaglich erfüllt. Wie überflüssige und lästige Krankenbesuche haben sich die Wiener Tagesereignisse und Neuigkeiten hereingedrängt, mich behelligt und irritiert. Wie das jetzt schon so ist, bringt jeder ein Stück Tagessorgen von draußen herein. Der Hausarzt konstatiert besorgt, daß mein Puls lebhaft und die Börse matt ist, die Bedienerin und die zur Aushilfspflege herangezogene Hausbesorgerin laben mich mit den letzten Teuerungen. Außerdem blättere ich zwischen zwei Schwitzkuren die Zeitungen durch und weiß zum Schluß nicht mehr genau, was ich eigentlich gehört und gelesen habe. Es scheint gerade jetzt enorm viel vorzugehen, Reformen und Neuerungen von umstürzender lokaler Bedeutung. Oder kommt es nur mir in meinem konfusen Fieberzustand so vor? Träume ich, oder habe ich, ohne es zu wollen, eine expressionistische Komödie des heutigen Wiener Lebens verfaßt? Soweit ich mich noch erinnern kann, sind darin folgende Personen vorgekommen:

  • Der Patient
  • Der Hausarzt
  • Die Hausbesorgerin
  • Ein kommunaler Würdenträger
  • Ein Magier, der sich in den Steuervorschriften auskennt
  • Der Gaskassier
  • Der Elektrizitätskassier
  • Ein Einbrecher
  • Ein Schleichhändler

            Das sind die handelnden Personen der Fieberkomödie, die als zeitgemäße Figuren natürlich nicht mit sich handeln lassen, sondern auf ihren Forderungen unerbittlich bestehen. Der passive Held ist der Patient, womit natürlich nicht gerade ich gemeint bin, sondern der Wiener im allgemeinen und der Mittelständler im besonderen.

            Die erste Szene spielt sich zwischen dem Patienten und dem Hausarzt ab, der eben von einem Riesenthermometer die Temperatur abliest: „140 Grad.“ – „Um Gotteswillen, Herr Doktor, das ist doch nicht möglich. Sie meinen wohl 40 Grad.“ – „Das war einmal im Frieden. Wo alles so stark gestiegen ist, sollen gerade die Fiebertemperaturen nicht gestiegen sein?“ – „Werde ich da überhaupt davonkommen?“ – „Ausgeschlossen. Schon deshalb nicht, weil Sie ein unbescholtener, korrekter Oesterreicher sind. Ja, wenn Sie ein ausländischer Valutenschieber wären, da würden Sie bestimmt davonkommen. . . . Gurgeln Sie fleißig und kaufen Sie sich Juli-Süd. Zum Schwitzen brauche ich Ihnen nichts zu verordnen. Lesen Sie nur die letzten Nachträge zur Personaleinkommenssteuernovelle. Das genügt.“

            Er läßt mich richtig allein mit meinen Steuersorgen. Weiß Gott, wieviel Fatierungstermine ich da im Bett versäume. Der Angstschweiß bricht aus. Kann mir denn niemand raten und helfen. . . . Aus dem Dunkel der Ofenecke löst sich eine sonderbare Gestalt ab: ein uralter Mann, kahlköpfig, mit einem langen, grauen Bart und in einem wallenden Mantel gehüllt, der mit lauter Paragraphenzeichen und Verordnungszahlen gemustert ist. „Wer sind Sie denn? – „Ich bin der, der die letzten Steuervorschriften versteht.“ – „Dann sind Sie kein irdisches Wesen und zur Erteilung von Steuerauskünften nicht konzessioniert.“ Unbekümmert zieht er aus seinem Mantel endlose Bogen von hoffnungslos gelbgrauem Amtspapier hervor und murmelt dabei: „Gesetz vom soundsovielten, Novelle, Nachtragsverordnung, Durchführungsbestimmung.“ Und dabei beginnt er, mich in die Bogen einzupacken wie in einen Stammumschlag. „Um Gotteswillen, lassen Sie mich doch zuerst lesen. Ich muß ja bis 15. Mai fatieren. Er schüttelt den kahlen Kopf: „Alles längst veraltet. Bis Sie gesund sind, gilt das nicht mehr. Das hat alles nur den Zweck, Ihnen warm zu machen.“ Und er wickelt mich immer weiter ein, bis ich mich gar nicht mehr wie ein Mensch fühle, sondern wie ein papiergewordenes Steuersubjekt, und läßt mich hilflos liegen.

            Matt und gebrochen erwache ich aus meinem Angsttraum und sehe die Hausbesorgerin an meinem Bett stehen und neben ihr einen verdächtigen Burschen. „Was bringen S’denn, Frau Schebesta?“ Wie einen Dolch zieht sie aus ihrem Busen einen Haustorschlüssel hervor und reicht ihn mir. „Was soll ich denn damit?“ – „Das Sperrsechserl ist abgeschafft worden. Sie kriegen Ihren eigenen Schlüssel und können nach Haus’ kommen wann und mit wem Sie wollen. Es geht mich leider nichts mehr an.“ Ist die Welt aus den Fugen oder bin ich wirklich ernstlich krank. . . . „Und wer ist denn der Herr?“ – „Bitt’ schön, das ist unser ständiger Einbrecher. Jetzt, wo sich jeder hergelaufene Kerl einen Haustorschlüssel verschaffen und einbrechen kann, kriegt jedes Haus seinen Einbrecher zugewiesen, damit eine Ordnung ist. Und bitt’ schön, dann möchte ich auch gleich vom Reinigungsgeld reden. Es wird jetzt nach der neuen Vorschrift ganz anders berechnet: die Zahl der Fenster plus der Zahl der Stufen zur Wohnung mal Regentage und schmutzige Füss’. . . .“

            Bevor ich der sinnreichen Rechnung noch folgen kann, läutet es draußen heftig. Der Gaskassier tritt ein, sonst sehr liebenswürdiger Herr, heute sieht er streng und drohend drein: „Ich erteile Ihnen einen amtlichen Verweis. Sie haben im abgelaufenen Monat bloß 29 Kubikmeter Gas verbraucht.“ – „Mehr zu verbrauchen, war doch streng verboten?“ – „Natürlich, aber geduldet war es längst. Haben Sie das nicht bemerkt? Und Sie wollen ein echter Wiener sein? Schämen Sie sich nicht? Daß Sie mir von nun an mehr Gas verbrauchen. Baden und waschen Sie sich so viel Sie wollen. Nur keine Schmutzerei. Das Sparen hat aufgehört, wo die Kohle ohnehin so teuer ist.“ Und dann verwandelt er sich in seinen Kollegen, den Elektrizitätskassier: „Warum brennen Sie denn so eine lumpige Sechzehnerlampe? Verwenden Sie Fünfziger oder meinetwegen Bogenlampen, wie sie jetzt in allen Straßen eingeführt werden. Wir brauchen ein Elend bei festlicher Beleuchtung. Die Welt soll sehen, wie schlecht es uns geht.“ Und plötzlich verwandelt er sich wieder, diesmal in einen kommunalen Würdenträger. Ich weiß nicht, wer er ist, aber er sieht sehr wohlgenährt und gesinnungstüchtig aus. Er hält mir ein Päckchen Straßenbahnfahrscheine unter die Nase: „6 Kronen 50 Heller im Vorverkauf. Nicht der Mühe wert. 7 Kronen ist doch auch kein Geld. Wem kommt es heute auf 2 Kronen mehr an? Wenn Sie sich dazu noch eine Reiseunfallversicherung kaufen, können Sie nach zwei bis drei Straßenbahnfahrten ein reicher Mann sein. . . . Nächstens werden Sie vielleicht schon um 20 Kronen bis Mitternacht fahren können. Dann können Sie auch bis 1 Uhr im Gasthaus sitzen, bis 2 Uhr im Kaffeehaus. Das Nachtleben muß wieder amtlich eingeführt werden, das Wiener Leben bei Tag heißt ohnehin nichts. Bisher hat die Gemeinde ihren Bürgern bloß Sorgen gemacht, jetzt wird sie ihnen auch schlaflose Nächte bereiten. . . .“

            Nein, diese wüsten Gesichte halte ich nicht länger aus. Wie komm’ denn ich mit meiner Influenza dazu, die Gemeindefinanzen in Ordnung zu bringen? Wo ich ohnehin schon ganz verschmachtet bin. Jetzt wär’ eine kleine Erfrischung gut, am besten eine Orange. . . . Kaum gedacht, ist schon eine Hand da und darunter eine Orange, bereits geschält und zerteilt. Die Hand ist nicht sehr sauber, aber die guten Sachen kriegt man ha immer nur unter solchen Händen. Ich kenne sie gut, es ist die Hand meines Schleichhändlers, er selbst bleibt wie immer rätselhaft dunkel und unsichtbar und sagt verlockend: „Die Spalte 20 Kronen.“ Eine Spalte kann ich mir schon leisten. Ah, das tut wohl . . . noch eine. „Dreißig Kronen.“ Die nächste 40 und jede mehr als die vorherige. „Was ist denn das für eine Orange?“ – „Das ist überhaupt keine Orange. Das ist der Preisabbau, mit dem die Regierung jetzt das Gremium der Schleichhändler betraut hat. . . . Wenn der Herr vielleicht Würfelzucker braucht – oder ägyptische Zigaretten, garantiert von Derbysiegern. . . . Das Stück 5 ungarische Kronen, andere nehm’ ich nicht. . . .“ Und dann wird es dunkel, ich weiß nicht mehr, was Valuta ist und habe offenbar das Bewußtsein vollständig verloren. . . .

            Nach endlosem Schlaf erwache ich spät am Vormittag, matt und zerschlagen, aber fieberfrei. Gott sei Dank, alles war nur wüster Fieberspuk, nur böser Traum und sinnloses Delirium. Der Hausarzt kommt, ist sehr zufrieden mit mir und sagt: „Zwei, drei Tage bleiben Sie noch vorsichtshalber zu Hause. Dann dürfen Sie ausgehen. Ich kann Sie schon heute gesund entlassen.“ Langsam begehe ich meine Auferstehung, zögernd kehre ich wieder ins tägliche Leben zurück, zu den Bekannten, zum Telephon, zum Beruf, in die Straßen und zu den Tagesneuigkeiten. Aber ist denn das . . . ich bin doch fieberfrei . . . alles ist ja genau so, wie ich’s geträumt habe. Was ich für wüste Fieberphantasien gehalten habe, ist wüste Wiener Wirklichkeit, wie sie sich in den letzten Wochen zusammengedrängt hat. Es lohnt sich jetzt wirklich nicht, krank zu sein und Fieber zu haben in einer Zeit, wo die Wirklichkeit alle Fieberphantasien an Konfusion und Unwahrscheinlichkeit überbietet. Und ich habe mich schon lang nicht so miserabel gefühlt, wie an dem Tag, wo ich wieder gesund ins Wiener Leben entlassen wurde.

In: Neue Freie Presse, 24.04.1921, S. 10-11.

Stefan Zweig: Roman der Inflation. (Robert Neumann: „Sintflut“)

Die phantastischen Tage der Inflation, da Geld wie Gummi sich dehnte, Werte wegschmolzen wie Eisstücke auf der Herdplatte, da Unten und Oben, Armut und Reichtum innerhalb weniger Stunden sturzhaft ineinander übergingen – diese urwitzigen Tage sind den meisten heute nur mehr gespensterhaft gegenwärtig, ein Alptraum, ein tolles Feuer- und Schattenspiel. Aber andererseits sind sie noch zeitlich zu nahe, diese Tage, zu gestrig, zu vorgestrig, als dass die Historiker sich schon wissenschaftlich bewältigt hätten. Noch fehlt, hier in Oesterreich und überall, das richtige Museum des Krieges und der Nachkriegszeit mit den Photographien der verfallenden Häuser, der ausgeleerten Auslagen, der ausgedörrten Menschen, noch fehlt die klinische, wissenschaftliche Analyse jener Tollwutzeit. Bereits wird es mühsam, sich an jede einzelne Schwankung und Schwellung zu erinnern, und doch ist es ander[er]seits zu früh, in Geschichtswerken wie eine fremde Epoche unsere vorgestrige zurückzulernen: darum bedeutet diese Zwischenzeit ideale Bildnerepoche für den Künstler. Er kann, ehe die Vergangenheit ganz zum Dokument wird, also papierkalte Anschauung, noch aus eigener Erinnerung die Epoche zeichnen, einzelne Fälle zum Typischen erheben, zufällige Wirklichkeit zum gültigen Werk. Und man sieht: gerade jetzt beginnt in der deutschen Epik der Krieg erst zu sprechen1, zehn Jahre nachdem die letzten Kanonen gebellt, die letzten Mörser Mord in die Welt geschmissen haben, und jetzt auch erst scheint die Zeit gekommen, seine letzte Folgekrankheit, die Inflation, künstlerisch aufs Korn zu nehmen. Gestreift im Vorübergehen oder mit der Blendlaterne angelichtet hat diesen Morbus viennensis schon mancher: unser verstorbener Freund Paul Zifferer hat in seiner Kaiserstadt einen solchen Querschnitt durch die Uebergangszeit mit der ihm besonders eigenen Sorgfalt und Sauberkeit vorgezeichnet2, Raoul Auernheimer in einem Roman einzelne dieser Umschaltungen mit Figuren ironisch umrissen3, Felix Braun in seiner Agnes Altkirchner manche Krise lyrisch untermalt4, aber keiner von ihnen hat so zentral das Problem an der Wurzel gefaßt, beim Geld, in der tollwütigen Gier nach dem sich blähenden und schwindenden, dem plötzlich vom Himmel fallenden und über Nacht in nichts zerfließenden Geld der Inflation, keiner so ehern und hinreißend bisher das absurde Geschehnis eingekreist als Robert Neumann in seinem Roman Sintflut (Engelhorns Verlag, Stuttgart).

Robert Neumann, der diesen harten Griff getan, hatte bisher nur sein Handwerk legitimiert. Zuerst mit lyrischem Fingerspiel, einem Gedichtband, dann mit der heitern Stiläfferei Mit fremden Federn, diesem berühmt gewordenen Parodienbuch. Aber schon in der sehr gelungenen Rahmennovelle Die Pest von Lionora spürt man den geborenen Fabulisten und in der zündenden Reportage seiner Jagd auf Menschen und Gespenster einen brennend klugen, scharfäugigen Beobachter5. All dies ist aber nur Vorbereitung, nur Fingerspiel; hier in diesem Roman zeigt er zum erstenmal die Faust. Mit einem klirrenden Stoß zerschlägt er die Matt//scheibe der Vergesslichkeit, mit einem prachtvollen, unerbittlichen Ruck reißt er die Tür auf zur Kloake jener Fäulnis.

Er schont dabei nicht unsere Nerven. Gestank schlägt einem entgegen, grässliche Gärung, schwefliger Geruch von Sodom und Gomorrha. Aber mit festem Fuß stapft der Erzähler hinein in diesen phosphoreszierenden Sumpf und zieht uns unerbittlich mit. Bis zu den Knien watet er weiter durch den ganzen Stall des Augias6, den ganzen Unrat fegt er heraus ans Licht, unnachgiebig, unbarmherzig. Er greift der Zeit bis an die Eingeweide und schwemmt sie mit der Lauge durch. Sentimentale seien gewarnt: in diesem Buche geht es durchaus ungemütlich zu, nichts wird verdeckt und verschönert, nichts verschwiegen und gemildert, nicht eine falsche Gemütlichkeit in die Schwindelepoche hineingeschwindelt, sondern eher das Phantastische noch übersteigert, das Fiebrige überhitzt. Mit Aquarellfarben kann man keine Apokalypse malen; Goya und der Höllenbreughel7 sind darum die wahren Vorbilder des Erzählers Robert Neumann für diesen wilden Herrentanz ums Geld.

Ausgezeichnet schon die rein technische Anlage des Werkes. Eine Kindheit in einem Vorstadthaus. Vorn die Fabrik, gute, brave Geschäfte, gemächliche Leute, rückwärts Arme und Aermste. Dies Oben und Unten, Vorn und Rückwärts, Arm und Reich, Bürger und Proletarier, Jude und Christ natürlich sorgsam geschieden. Aber auf den Rinnsteinen des Hofes, auf den Bauplätzen nebenan spielen die Kinder gemeinsam. Sie verbinden die Gegensätze, und dank ihrer blickt man gleichzeitig in alle Türen, die wohlverschlossenen und locker angelehnten, in die guten Stuben und in die Mansarden. Das ganze Vorspiel dieses Romans überwölbt eine Kindheit, und diese dauert bis zum August 1914.

Dann kommt ein Loch. Ein schwarzer Fleck, absolute Leere, ein Nichts: die fünf Jahre Krieg. Kein Wort über ihn, keine Zeile; erst später wird man wissen, was diese fünf Jahre verändert und verwandelt haben. Der eigentliche Roman setzt ein, wie der Eisenbahnzug den Helden (wie schlecht passt ihm dieses Wort!) im Viehwaggon in zerschlissener Uniform über die Grenze zurückführt. Er kommt an mit leeren Taschen und einem gallbitteren Herzen, beschäftigungslos, fremd, ausgeheimatet und starrt das alte Haus, in dem er aufgewachsen, an wie die Kuh den neuen Zaun. Alles ist anders geworden, die Fassaden, die Geschäfte, die Menschen. Der kleine Schokoladenhändler im Vorderhaus ist gigantischer Unternehmer, Marke Omnia, er handelt mit Wolle und Seide, mit Getreide, mit Papieren und Nicht-Papieren, das heißt, mit wertlosen Aktien. Der wackere deutsche Beamte, bei dem er aufgezogen war, ist seine rechte Hand, die Greifhand, der kleine eingewanderte, halbverhungerte Samuel Klein die linke, die Versteckhand, die Denkhand geworden, ein Trio, das aus der zum Zerreißen gespannten Saite des Wiener Elends musiziert. Alle drei sind sie, jeder in seiner Art, aufgestiegen aus den kleinen Verhältnissen ins scheinbar Gigantische auf Kosten Unzähliger, die ringsum verhungern, alle drei besessen, betrunken von der Tollgier nach dem Mehr und Mehr. Und nun sieht man, wie diese Eiterblase (diese vergiftete Jauche aus fremdem Blute)8 schwillt und schwillt zu immer kankhafterer Größe, wie der Organismus des ganzen Staates durch dieses geschwürige Konzerngewächs fiebrig erschüttert wird, bis die Beule endlich platzt. Aber schon hat ihn selbst, den hundearm Zurückgekehrten, das Fieber gefasst, er wird mitgerissen, dieser unheldische Held, in eine jener kartenhaft aufgetürmten Unternehmungen, wo mit allem gehandelt wird und Geld wieder zu nichts; aus dem Viehwagen, mit dem man ihn heimtransportierte, schwingt er sich in ein eigenes Auto, saust immer höher die Serpentinen der Macht und des Erfolges hinauf, bis er plötzlich übe einer zu kühn genommenen Kurve an die Schranken des Gesetzes anrennt und abstürzt. Aehnliches ist oftmals erzählt worden, aber niemals so spezifisch die Wiener Inflation geschildert mit ihren spannweiten Gegensätzen, die gräßliche Nähe jämmerlichster Entbehrung neben polizeilich verbotenen, frenetisch verschwenderischen Unterhaltungen bei herabgelassenen Gardinen, die Spannungen innerhalb derselben Familie zwischen krassen Verdienern, leeren Snobs, überzeugten Kommunisten, das ganze Auf und Ab, Kreuz und Quer, Hinauf und Hinunter, die vollkommene Durchmischung und Durchschichtung in der riesigen Maschine Inflation, die gleichzeitig Geld zerbröselt und Seelen zerquetscht. Mit einer bewundernswerten Menschen- und Episodenfülle belegt Robert Neumann zahlenmäßig genau und exakt alle Formen dieser Geistverwirrung und Wertverwirrung innerhalb der verschiedensten Gesellschaftsschichten, aber schon selbst ergriffen von jener Besessenheit des Mehr und immer noch Mehr, schaufelt er in diesen Hexenkessel noch alles Phantastische des letzten Jahrzehnts hinein, alles was sich an Frechem und Absurdem, an Pathetischem und Perversem im geschüttelten Gefäß der Zeit herausdestillierte. Die ganzen ‚Fälle’ der Nachkriegszeit, der Fall Haarmann9, die Episode Bekessy10, die feisten Figuren unserer Pseudo-Stinnes, der fünfzehnte Juli11, alles das wird in diese schon überfüllte Sphäre noch gewaltsam hineingedrückt, nur um sie noch irrwitziger, tollwütiger erscheinen zu lassen. Manchmal werden durch solche Überfülle Gestalten in ihren Dimensionen verzerrt, das Dämonische der Figuren noch überdämonisiert: der große Schieber Abel wird zu einem Fedor Karamasow12, und sein Sohn Aljoscha, hier Ruben genannt, noch dazu Homosexueller, Hellseher und Kokainist. Ach, was pelzt er alles hinein: Häuser gehen in Flammen auf, Menschen werden gemordet, Verschwörungen geplant, schon spürt man manchmal durch die überhitzten Hitzigkeiten den angebrannten öligen Geruch der Kolportage, und noch immer schaufelt der Unermüdliche neuen Chrafit und Dynamit in sein Geschütz. Freilich, er kann sich rechtfertigen, daß gerade die großen epischen Meister wie Balzac und Dostojewski nur durch Outrierung, durch Ueberdimensionierung erst rechten Raum für ihre Riesengestalten fanden, aber von Dostojewski stammt auch das weise Künstlerwort: „Es gibt nichts Phantastischeres als die Wirklichkeit.“ Wo der Dichter Erlebnis groß zu sehen berufen ist, bedarf es keiner gewaltsamen Steigerung mehr und das Zuviel an Wahrhaftigkeit mindert die reine und endgültige Wahrheit.

Und dabei ist gerade die Darstellung des Wirklichen, die Abschilderung des Geschäftlich-Sachlichen die Genialität dieses Romans. Nie, auch bei Zola nicht, ist eine Börsenszene, das Hinaufpeitschen einer wertlosen Aktie durch Selbstsuggestion und Massensuggestion so hinreißend, so gleichzeitig wahr und dichterisch geschildert worden; bis in die Nerven hinein hat Robert Neumann in Geschäfte, Betriebe, Bündelungen, Affären und Seelenschwindeleien der Inflation gesehen, es ist eine wahre Lust, nachzulesen, wie er eine Bestechung, eine Schiebung, eine Erpressung schildert – niemals kalt, ironisch, sondern immer ingrimmig genau, leidenschaftlich beteiligt, wie Dichter sonst nur an ihren Liebesszenen und geistigen Diskussionen. Gerade diese dokumentarischen Schilderungen, wo die Zeit nicht mehr im Hohlspiegel verzerrt gesehen, sondern gleichsam unter die Lupe genommen wird, machen seinen breitströmigen, tausendwelligen Roman zu einem der wichtigsten Bücher, die wir seit Jahren aus Wien bekommen haben, halb Epos, halb zorniges Pamphlet der Schieberjahre, reich an unvergesslichen Einzelheiten und kühn in der Wölbung. An der Größe der Anlage ist hier ein junger Künstler selbst groß geworden, und schon in diesem ersten Roman erreicht er durch Ueberlegenheit der Konzeption, abwechslungsreiche Fülle der Figuren, weitgespannte Kontrastierungen jenes Welthafte, das wahrhaft wichtigen, epischen Gebilden immer notwendig ist. Und auch dort, wo er noch ins Maßlose, ins Uebermäßige sich verliert, geschieht es nur durch Leidenschaft, durch eine gewaltsam zurückgehaltene und doch wieder feurig vorbrechende Erbitterung über das Verbrecherische jener Zeit und das Gebrechliche unserer Welt – die einzige Leidenschaft also, die selbst im Uebermaß immer dem Künstler ziemt und die allein erst jedes literarische Werk menschlich legitimiert.

In: Neue Freie Presse, 8.3.1929, S. 1-3.

  1. 1928 erschienen Krieg von Ludwig Renn und Jahrgang 1902 von Ernst Glaeser;  1929 Im Westen nichts Neues von Erich M. Remarque, 1930 legte Ernst Jünger eine Anthologie unter dem Titel Krieg und Krieger vor, die zu heftigen Reaktionen führte, u.a. durch Bernhard v. Brentano: Die fascistische Mobilmachung. In: Frankfurter Zeitung, 26.4. 1930.
  2. Paul Zifferer (1879-1929), Journalist und Schriftsteller, befreundet u.a. mit H.v. Hofmannsthal, den er als österreichischer Presseattaché in Paris auf seine Marokko-Reise im März 1925 begleitete. Am bekanntesten ist seine Erzählung Das Feuerwerk (1919), die auch A. Schnitzler im Tagebuch (22.8.1919) als „leidlich“ verbuchte.
  3. Gemeint ist R. Auernheimers (1876-1946) Roman Die linke und die rechte Hand (1927); zuvor hatte er den Umbruch von 1918/19 im Roman Das Kapital (1923) thematisiert.
  4. Felix Braun (1885-1973) war in den 1920er Jahren u.a. Lektor im G. Müller-Verlag und Feuilletonredakteur für die Baseler Nationalzeitung, ferner für H.v. Hofmannsthal als Sekretär tätig und mit zahlreichen Schriftstellern der Wiener Moderne, aber auch mit Thomas Mann befreundet. Sein Roman Agnes Altkirchner. Ein Roman in sieben Büchern erschien 1927 im Insel Verlag; Braun hat ihn für die 2. Auflage 1965 (Zsolnay) überarbeitet.
  5. Robert Neumann: Die Pest von Lionora (1927) bzw. Jagd auf Menschen und Gespenster (1928).
  6. Augias: König von Elis in der griechischen Mythologie. Der Sage nach waren seine Ställe, die 3000 Rinder n Platz gaben, seit 30 Jahren nicht gesäubrt worden und entsprechend verdreckt. Eine Säuberung galt daher als undurchführbar. Augias versprach Herakles den zehnten Teil seiner Rinder, falls er dies schaffe. Obwohl es eine heldenunwürdige Handlung war, gelang es Herakles, die Aufgabe zu erledigen; Augias jedoch verweigerte den Lohn. In einem Gerichtsverfahren sagte auch dessen Sohn gegen den König aus, woraufhin beide aus Elis verjagt wurden. H. kehrte zurück, tötete Augias und setzte dessen Sohn in die Herrschaft ein.
  7. Francisco de Goya (1746-1828), bedeutender spanischer Maler und Grafiker, dessen Spätwerk, insbes. die Zyklen Desastres de la Guerra und Pintura negras, visionär-düstere Stimmungen und zeitkritische Reflexionen ineinander blenden. Pieter Breughel, der jüngere, Sohn des gleichnamigen P. Breughel (Bauernbreughel), geb. um 1565, gest. 1637/38 in Antwerpen.
  8. Jauche: österr. Ausdruck für Gülle.
  9. Fritz Haarmann, 1879-1925, Serienmörder aus Hannover, der nach aufsehenerregenden Prozess (Rolle der Polizei, Schuldzurechnungsfähigkeit, homosexuelles Umfeld) hingerichtet wurde.
  10. Imre Bekessy (1887-1951, Budapest), Vater des Schriftstellers Hans Habe; seit 1919 in Wien, wo er 1923 die Boulevard-Tageszeitung Die Stunde und 1924 Die Bühne gründete. Erbitterte Gegner B.s. war K. Kraus, von dem der Satz stammt: Hinaus mit dem Schuft aus Wien; 1926 im Zuge eines Erpressungsprozesses brach das von Bekessy aufgebaute Verlagskonglomerat zusammen, er selbst setzte sich nach Frankreich ab.
  11. Bezugnahme auf den Brand des Justizpalastes in Wien vom 15. Juli 1927.
  12. Anspielung auf die gleichnamige Figur in Fedor M. Dostojewskis Roman Die Brüder Karamasow.