Fritz Rosenfeld: Der visuelle Mensch
Die
Verbindung des Individuums mit der Umwelt, des einzelnen mit der Gesamtheit,
stellen der Gehör- und der Gesichtssinn her, die an Bedeutung die anderen Sinne
bei weitem überflügeln. Schon von Natur aus sind diese zwei Sinne nicht bei
allen Menschen gleich stark ausgebildet; bei dem einen, dem visuellen Typus; ist der Gesichtssinn
stärker, bei dem anderen, dem akustischen,
der Gehörsinn. Aber das gegenseitige Verhältnis dieser Sinne unterliegt auch
Verschiebungen, die in den geistigen und seelischen Eigenschaften der Menschen
einer Epoche ihren Ursprung haben. Ob wir die Vorgänge in der Umwelt
vorzugsweise durch das Auge oder vorzugsweise durch das Ohr aufnehmen, macht
nicht nur einen Unterschied in der Aufnahmeart, sondern auch einen Unterschied
im aufgenommenen Stoff aus. Je nach
dem nun, ob der Mensch einer Zeit den Erlebnisstoff sucht, den ihm das Ohr mitteilt, oder den, den er durch das
Auge empfängt, wird er den einen oder
den anderen Sinn stärker ausbilden. Aus der Art, wie der Mensch die Umwelt in sich
aufzunehmen trachtet, läßt sich also auf seine geistige und seelische
Beschaffenheit schließen.
Jeder Mensch kann es an sich selber erproben, daß der
Weg vom Auge zum Gehirn kürzer ist, als der vom Gehör zum Gehirn. Gesehenes
wird leichter begriffen als Gehörtes. Daher verwendet man zur Unterstützung des
Gehöreindrucks bei Vorträgen und in Büchern Bilder (das Lesen ist eigentlich,
obgleich äußerlich ein optischer, im Kern dich ein akustischer Vorgang; das
gelesene Wort wird in Töne umgesetzt.) Diese Bilder sind Illustrationen, und
illustrieren heißt nichts anderes als erleuchten, erhellen – ein Dunkel
aufhellen, das das gesprochene oder gelesene Wort immer noch in der
Vorstellungswelt des Hörers oder Lesers hinterlassen hat. Das Bild, der
optische Eindruck wirkt unmittelbar, auf dem Umweg über den
Vorstellungsapparat, der die Worte, die Töne erst in Vorstellungswerte, also in
innerlich Sichtbares umwandelt. Um diesen Prozeß der Verwandlung zu
erleichtern, unterstützt man den Gehörsinn durch den Gesichtssinn. Der wenig
phantasiereiche Mensch wird vielleicht aus all den Beschreibungen und
Charakterzügen, die er im Laufe eines langen Romans vom Helden oder der Heldin
bekommt, sich diese noch nicht vorstellen können, das heißt, er wird sie noch
nicht bildhaft-plastisch innerlich zu schauen vermögen. Da kommt ihm das Bild
zu Hilfe. Es gibt ihm die Gestalt in ihren genauen körperlichen Umrissen. Nun
muß er sie auf der Bühne seiner Phantasie nur die Bewegungen ausführen lassen,
die die jeweilige Situation des Romans erfordert. Sieht er nun dramatisiert auf
der Bühne oder verfilmt im Kino, so fällt die Vorstellungsarbeit fort. Sein
Gehirn arbeitet viel weniger, es nimmt leichter auf und muß den aufgenommenen
Stoff nicht erst umwandeln. Statt eines Vorstellungsinhalts, den ihm das Wort
bot wie einen Extrakt, der erst aufgelöst werden muß, wird ihm das fertige Bild
geboten. Wo das Gehör nur eine Anregung gab, die der eine besser, der andere
schlechter zu verarbeiten vermochte, bietet das Gesicht bereits die Wirklichkeit
(die scheinbare Wirklichkeit des Bühnengeschehens oder des Vorganges auf der
Leinwand); wo das ungreifbare, abstrakte Wort stand, steht die greifbare
Körperlichkeit. (In diesem Sinne ist auch die in die Fläche projizierte
ehemalige Körperlichkeit des Filmbildes „greifbar“.)
Daraus ergibt sich, daß eine Zeit, die phantasiereich
ist, sich mit der Anregung der Vorstellung, mit dem bloßen Vorstellungsinhalt,
im Wort komprimiert, wird begnügen können, eine phantasiearme aber das
vollendete Bild fordern wird. Der visuelle
Mensch, der Mensch des optischen Eindrucks, ist also der phantasieärmere. Die phantasiearme, die
phantasietötende Zeit der großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen gebar die
naturalistische Kunst; sie schuf Bilder, die die Wirklichkeit so genau
kopieren, daß der Beschauer sie ohne Gedankenarbeit aufnehmen konnte; sie schuf
Romane, die so wirklichkeitstreu waren, daß der Phantasie des Lesers kein
Spielraum blieb; sie schuf auf dem Theater Situationen, die nicht mehr
ergänzungsfähig sein wollten (denn alle Phantasie ist letzten Endes die
Ergänzung eines kleineren oder größeren Teils zum Ganzen). Sie bot eben das
fertige Bild; auch dort, wo die naturalistische Kunst zu dem phantasiearmen
Menschen ihrer Zeit durch das Wort allein sprach, schilderte sie so breit, daß
die Deutlichkeit ihrer Beschreibung den Mangel an ausgestaltender Phantasie
wettmachte. Erst der Expressionismus, in einer Zeit entstanden, die
Verinnerlichung erstrebte, wenn auch nicht erreichte, konnte sich wieder mit
den Andeutungen, die der Ergänzung durch die Phantasie bedürfen, begnügen. Hier
gab es Wortbrocken, die nur abrißartig und flüchtig Hauptpunkte skizzierten,
Farbflecken, die nur anregten, Bildteilchen, die durch die Phantasie
ausgestaltet werden mußten. Die Kunst setzte wieder Phantasie voraus. Weil
diese Phantasie aber nicht mehr da war und die Menschheit einfach nicht mehr
die Fähigkeit hatte, die Bruchstücke des expressionistischen Kunstwerks, das
Ausdruck eines innerlichen, also sinnlich nicht wahrnehmbaren, visuell nicht
erfaßbaren Erlebnisses sein wollte, mit Hilfe der Phantasie zu seinem Gebilde
durchzugestalten, als das sie ursprünglich bestanden (bevor die „geballt“ wurden!),
deshalb starb der Expressionismus so schnell ab und machte realistischeren
Kunstbestrebungen Platz.
Der optische Eindruck, der dem primitiven, visuellen
Menschen das Abbild der Welt vermittelt, ist aber nicht nur klarer, sondern
auch oberflächlicher. Dem Wort gilt die Fläche nicht, nur die Tiefe; es kennt
keine Hindernisse des Raumes, es dringt in die verborgensten Fältchen des
Dinges und macht sie dem Menschen durch das Medium der vorstellenden Phantasie
sichtbar. Das Auge sieht aber nur die Oberfläche. Und auf dem Weg, der vom Ohr
des akustischen Menschen zum Gehirn führt, entsteht jene höhere Wirkung des
Eindrucks, die auf dem kürzeren Weg, der vom Auge des visuellen Menschen zum
Gehirn zurückgelegt werden muß, viel seltener ist: der Gedanke. Phantasiearme Zeiten sind die Zeiten der großen
Schaustellungen, der so oft als „roh“ verschrienen Schaulust; phantasiereiche,
weniger realistisch eingestellte die der Musik und des literarischen
Sprechtheaters. Und es ist nicht so falsch, wenn man das Ausarten des Theaters
in bloße Schaudarbietungen als eine Verflachung bezeichnet. Sind sie doch
die höchste Erfüllung des visuellen, also des phantasiearmen und weniger
denkfreudigen Menschen, dessen Verbindung mit der Umwelt durch den Gesichtssinn
hergestellt wird, durch den er nur das Abbild der Oberfläche, des in übertragenem Sinn „Flachen“ empfängt!
Zwischen Oberflächlichkeit und Phantasielosigkeit
besteht also eine unterirdische Verbindung, die ziemlich eng zu sein scheint.
Wie sehr der visuelle Mensch oberflächlich und phantasielos ist, erweist der
Vergleich zwischen Roman und Film. Im Roman kann zum Beispiel ein Kapitel mit
dem Entschluß des Helden enden, nach Amerika zu fahren. Das nächste Kapitel
zeigt ihn bereits in Amerika. Von der Ueberfahrt muß kein Wort berichtet
werden. Die Phantasie des Lesers kann einen großen Sprung über den Ozean
machen, oder sich die Ueberfahrt so breit ausmalen, als sie nur mag. Für den
visuellen, phantasielosen Menschen des Films wäre dieser Sprung eine
empfindliche Lücke. Der Film muß den Helden bei der Abfahrt im europäischen
Ausgangshafen darstellen, muß zumindest ein Bild bringen, das den Helden
während der Ueberfahrt zeigt, und eins, wie er in Amerika ans Land steigt. Die
Phantasie arbeitet beim visuellen Menschen nicht. Er muß die Umwelt in fertigen
Bildern empfangen. Diese Bilder aber sind meist äußerlich. Nur den allergrößten
Künstlern und Regisseuren gelingt es, in einer stummen Geste dem visuellen
Menschen das mitzuteilen, was dem akustischen das Wort mitteilt. Denn diese
Erscheinung ist immer Gestalt, ist geformt, das Wort kann schleierhafte
Andeutung, spukhafter Aufblitz, leiseste Anregung sein.
Und der akustische Mensch ist der persönlichere. Wenn
man in Worten vor hundert Menschen einen Vorgang beschreibt, so werden hundert
Vorstellungen entstehen, die im Grundzug wohl gleich, in den Einzelheiten aber
sehr verschiedenartig ausfallen werden. Wenn man aber hundert Menschen ein Bild
zeigt, so werden sie allesamt denselben Eindruck haben. Dieser Eindruck kommt
der Wirklichkeit viel näher als der durch das Ohr empfangene. Der unpersönliche
visuelle Mensch ist eben der realistischere!
Unsere Zeit, realistisch und phantastisch, mußte
vorwiegend visuell eingestellt sein. Sie hat ihre Kunst im Kino, sie hat das
Sprechtheater, das Theater des Gehörseindrucks und des Gedankens unterdrückt
zugunsten der Schaubühne, der Revue
und der Ausstattungsoperette. Das müde Gehirn des in der Hast des Alltags
zermürbten Gegenwartsmenschen verlangt nach der leicht verdaulichen Kost des
Auges und weist die schwerer verdauliche Kost des Ohrs meist zurück. Wo die
Kunst der Revue und der Operette noch durchs Ohr wirkt, dort ist es durch den
leichten Witz und die sehr leichte Musik, durch eine Musik, von der ja immer
behauptet wird, daß sie „leicht ins Ohr geht“. Auge und Ohr sind wie zwei
Schalen einer Wage. Wenn die eine in die Höhe steigt, muß die andere fallen.
Wenn die visuelle Kunst die Ueberhand gewinnt, muß die akustische
zurückweichen. Eine Zeit ohne Lyrik ist eine Zeit des Kinos; eine Zeit ohne
Musik eine Zeit des Fußballs, eine Zeit ohne Drama eine Zeit des
Automobilrennens. In der Not und Hast der Zeit sucht der Mensch die leichte
(und auch schnellere) Aufnahmeart des Auges, die ihm die müheloseste
Unterhaltung und Entspannung bringt. Ruhigeren und verinnerlichten Zeiten
bleibt die Kunst der inneren Schau, der Phantasie vorbehalten, die nur der
leisten Anregung durch den akustischen Eindruck bedarf.
Kaum aber hat diese visuell eingestellte Zeit ihren
Höhepunkt erreicht, ersteht ihr schon der große Gegner, der sie vernichten
kann: das Radio. Das Radio kann vielleicht dem visuellen Menschen des Films,
der Revue und des Sportschauspiels ein Gegengewicht bieten und die Wagschalen
wieder auf die gleiche Höhe bringen. Das Radio gibt wieder nur die Anregungen
durch das Gehör, die der Phantasie zur Ausgestaltung dargeboten werden. Am
Radio wird es sich schließlich erweisen, ob der visuelle Mensch der Gegenwart
noch ein Restchen Phantasie hat oder nicht. Wenn er sie hat, wird das Radio als
Kunstdarbietungsmittel eine ungeheure Rolle spielen; hat es sie nicht, dann war
es nur das letzte Aufzucken der Gegenkräfte, die sich noch einmal sammelten,
bevor sie dem visuellen Menschen das Feld einräumten. Dem phantasie- und
illusionslosen, dem realistischen, oberflächlichen und unpersönlichen, in einer
komplizierten Welt der höchsten technischen Errungenschaften wieder primitiven
visuellen Menschen.
In: Arbeiter-Zeitung, 16.5.1926, S. 21.