Johannes Biederhofer: Verbrecherkult auf der Theaterbühne
Wie sehr die Demokratie, wie sie heute allgemein verstanden wird, nicht nur gute Kräfte entbindet, sondern fast noch mehr allem Zersetzenden und Dämonischen Freipaß gibt, das wird fast nirgends sichtbarer als an der Entwicklung des heutigen Theaterwesens. Es ist unglaublich, wie sehr im Zeichen der Demokratie, die die Zensur abgeschafft hat, die Korruption auf der Bühne um sich greift, die Korruption in der Form des immer häufiger Werdens von Stücken mit der Verherrlichung von Krankheit und Verbrechen. Es ist unmöglich, die Dinge so weitergehen zu lassen, wie sie gehen. Abschaffung der Zensur kann doch niemals heißen, allem was die Grundlagen von Kultur und Gesellschaft untergräbt, Freiheit zu geben. Wenn es dennoch gewissen Linkspolitikern gefällt, Verfassungsparagraphen so auszulegen, so dürfen christliche Politiker sich nie eine solche Auslegung zu eigen machen. Sie haben vielmehr die Pflicht, den Feinden von Staat und Gesellschaft, wie sie heute auf der Bühne predigen, mit aller Kraft entgegenzuwirken, das heißt, ihnen das Wort zu entziehen.
Die ganze Dringlichkeit dieser Aufgabe kann nicht besser veranschaulicht werden als durch Hinweis auf etliche Theaterstücke, wie sie, nachdem sie zunächst in Berlin Mode waren, auch in Wien und in anderen Großstädten Mitteleuropas Mode wurden.
Da ist zunächst das Stück Die Dreigroschenoper (Wiener Raimund-Theater). Es wird nun schon seit Monaten allabendlich bei unvermindertem Zulauf des Publikums gespielt; wann die Zugkraft des Verbrecherstückes erschöpft sein wird, ist im Augenblicke noch nicht abzusehen. Das Raimundtheater hat sich für dieses Stück ein eigenes Orchester, das „Wiener Jazz-Symphonie-Orchester“ engagiert, denn die Musik des aus alten englischen Moritaten-Motiven zusammengestoppelten Stückes bewegt sich in modernsten Jazz-Rhythmen. Das Milieu: Straßenbanditen, Mörder, Diebe, Bettler und Dirnen. Der Hauptheld: Mackie Messer, ein „berühmter“ Raubmörder, „Chef einer Platte von Straßenbanditen“, wie ihn der Theaterzettel nennt. Er ist aber auch ein großer Frauenfreund und Herzensbrecher; zu seinen „Bräuten“ zählt gleichzeitig Polly, die Tochter des „Chefs einer Bettlerplatte“, und Lucy, die Tochter des Polizeichefs von London, was aber Herrn Messer nicht hindert, auch noch häufig Zeit zum Besuch eines Bordells zu erübrigen. Dies wird im Theater dann immer durch großprojizierte Aufschrift kinomäßig angekündigt -, worauf man den edlen Mörder in traulichem Umgange mit den Insassinnen des Dirnenhauses betrachten kann. Dem Milieu angepaßt ist auch die unsägliche rüde Ausdrucksweise dieses „Kunst“werkes. Der Verfasser, Bert Brecht, sympathisiert offensichtlich mit dieser Gesellschaft von Verbrechern und Dirnen, denen er, ein Verächter des satten Bürgertums, ganz recht gibt, wenn sie sich auf irgendeine beliebige Art Geld verschaffen. „Nur wer in Wohlstand lebt, lebt angenehm“, lautet der Refrain eines Couplets. Ein anderer: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Diesem Bert Brecht, der aus seinem kommunistisch angehauchten Schundstück sehr fette Tantiemen in Mark und Schilling bezieht, ist übrigens in der letzten Zeit ein kleines Malheur zugestoßen: Es wurde ihm nachgewiesen, daß er einen in der Dreigroschenoper vorkommenden vielstrophigen Liedertext einfach gestohlen hat, und zwar von einem Franzosen François Villon. Herr Brecht mußte das zugeben und erklärte seinen Diebstahl in einer Zeitungsnotiz seelenruhig mit seiner „grundsätzlichen Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“. In Berlin gab es über 200 Aufführungen der Dreigroschenoper, in Wien steht die 100. Aufführung bevor. In Graz aber gab es schon nach den ersten Aufführungen so entschlossene Kundgebungen der empörten Bevölkerung, daß die Dreigroschenoper schleunigst vom Spielplan abgesetzt werden mußte.
Der große diesjährige Erfolg des Deutschen Volkstheaters heißt Der Fall Mary Dugan, Komödie aus dem Amerikanischen von Bayard Veiller, gleichfalls durch lange Serien von Aufführungen in Berlin (bei Reinhardt) mit der nötigen Empfehlung für Wien ausgestattet. Das Publikum wohnt einer dreistündigen Gerichtsverhandlung bei. Mary Dugan, eine „bessere“ Dirne, ist angeklagt, den Mann, dessen bezahlte Freundin sie zuletzt war, in ihrem Schlafzimmer ermordet zu haben. Sie leugnet alle Schuld, doch ein völlig lückenloser Indizienbeweis spricht so sehr gegen sie, daß ihre Verurteilung zum Tode nicht ausbleiben kann. Der Staatsanwalt spielt mit ihr, wie die Katze mit der Maus, bevor sie ihr den Gnadenbiß gibt. Zum Verteidiger hat Mary Dugan einen Anwalt namens West. Plötzlich aber stürmt Jimmy in den Gerichtssaal. Wer ist Jimmy? Der Gerichtshof argwöhnt, er sei der heimliche Geliebte Marys und ihm zuliebe habe sie den guten, alten Herrn Rice während einer Schäferstunde umgebracht. Nicht doch! Jimmy ist der jüngere Bruder Marys, sie sind zwei Waisenkinder, und um ihn studieren zu lassen (hier ist das Publikum und der Gerichtshof tief gerührt!), hat Mary so viele Jahre lang ein Lasterleben geführt. Aber jetzt ist Jimmy fertig, jetzt ist er Anwalt, und er übernimmt mitten während des Prozesses die Verteidigung seiner Schwester. Und jetzt wendet sich plötzlich das Blatt, der Staatsanwalt muß seine Anklage Säule für Säule zusammenbrechen sehen. Und was kommt allmählich ans Tageslicht? Wer waren die eigentlichen Mörder? Niemand anderer als jener Herr West, Marys erster Verteidiger, und die ehrenwerte Witwe des ermordeten Herrn Rice, die mit dem Anwalt schon längst ein Liebesverhältnis hatte und den unbequemen Gatten beiseiteschaffen wollte. Sie werden beide im Gerichtssaale verhaftet, die Anklage gegen Mary aber wird selbstverständlich zurückgezogen. – Worauf beruht die Wirkung dieses Stückes, das als ungeheuer „spannend“ gerühmt wird? Das Publikum freut sich kindlich, daß unter seinen Augen und gewissermaßen mit seiner Mitwirkung (denn das Stück wird so gespielt, als sei das ganze Theater Gerichtssaal, zu welchem Zwecke sogar die Billeteure als Gerichtsdiener livriert sind) eine Schuldlose von schwerem Verdacht befreit und die wahren Schuldigen überführt werden. Aber noch über etwas anderes freuen sich die Leute: Daß sich der Staatsanwalt bis auf die Knochen blamiert, dieser Staatsanwalt, der, nachdem er durch seine falsche Beweisführung beinahe einen Justizmord heraufbeschworen hätte, zum Schlusse noch die Kühnheit hat, zu behaupten, seinem Scharfsinn sei es gelungen, die wirklichen Schuldigen zu finden. Hierüber bricht dann, während der Vorhang fällt, das ganze Haus in hämisches Lachen aus, gewissermaßen: Da sieht man wieder einmal, was für eingebildete Tröpfe diese Staatsanwälte sind! Dieses Stück, das seine Requisiten aus dem kitschigsten Kinodrama herübernimmt, hat also auch noch einen anderen Nebenzweck: Die Gerichtsbarkeit lächerlich zu machen, das Vertrauen des Volkes in die Diener der mit Blindheit geschlagenen Justitia zu erschüttern.
Dem gleichen Zwecke dient noch viel deutlicher ein anderes Verbrecherstück, das gegenwärtig im Theater in der Josefstadt (Reinhardt) allabendlich gespielt wird, nachdem es in Berlin und vielen anderen Städten des Reiches über viele Bühnen gegangen ist und mancherorts stürmische Theaterskandale entfesselte: Die Verbrecher von Ferdinand Bruckner. Der Autorname Ferdinand Bruckner ist ein Pseudonym und niemand weiß, welcher wirkliche Name dahintersteckt. Seit vielen Monaten wird in der Sensationspresse ein großes Rätselraten betrieben, wer „Ferdinand Bruckner“ sein könne. Für den Mann hat sich die schlau gewahrte Anonymität schon reichlich bezahlt gemacht, denn sie wirkt als ununterbrochene Reklame. Wenn für Die Verbrecher der Theatervorhang hochgeht, zeigt die Bühnenöffnung den Querschnitt durch ein Großstadthaus, mit Wohnräumen zu ebener Erde, im ersten und zweiten Stockwerke. In sieben Zimmern wird gleichzeitig gespielt und überall geschehen Verbrechen: Diebstahl, Betrug, Erpressung, Meineid, Mord, Unzucht wider die Natur, Abtreibung der Leibesfrucht. Dabei geht es so wüst, so hemmungslos gemein zu, wie man es ähnlich auf einer Bühne noch niemals erlebt hat. Handlung und Sprache strotzen von derbster Deutlichkeit, die, wenn Ferdinand Bruckner Schule macht, seinen Nachahmern kaum eine Möglichkeit offen läßt, noch einen Schritt weiter zu gehen, als der Meister. Der nächste Akt zeigt wiederum einen Querschnitt, aber diesmal einen durch ein Gerichtsgebäude, in dem in vier Gerichtszimmern gleichzeitig Strafverhandlungen stattfinden. Einige der vorhin begangenen Verbrechen bilden Gegenstand dieser Prozesse. Und nun zeigt sich Ferdinand Bruckner als eingefleischter Verächter der Justiz: Alle vier Richter sind Idioten, aufgeblasene und bornierte, herz- und verständnislose Bediener einer Paragraphenmaschine. Alles, was sie machen, ist falsch, verfehlt die Verurteilungen, verfehlt die Freisprüche. Auch einen richtigen Justizmord gibt es: Ein Unschuldiger wird zum Tode verurteilt, während das Publikum weiß, daß nicht er den ihm zur Last gelegten Mord begangen hat, sondern eine Köchin, auf die während der Verhandlung nicht der Schatten eines Verdachtes fällt. Wo hinaus läuft dies alles? Offenkundig auf planmäßige Zerstörung des Rechtsbewußtseins im Volke, auf Erschütterung seines Vertrauens zu der Gerichtsbarkeit. Darum tat jener Rechtsanwalt sehr wohl, der bei der Wiener Erstaufführung im Josefstädter Theater mit lautem „Pfui“-Ruf gegen solche Kunst protestierte Er wurde daraufhin zur Polizei gebracht – und verwarnt, denn offenbar sind unsere Behörden der Ansicht, daß man solche Verhöhnungen der Gerichte nur gutheißen, nicht aber mißbilligen dürfe. Nicht der Einzelfall des Verbrechens interessiert diesen Ferdinand Bruckner. Er vervielfacht und steigert ihn. In jedem Großstadthause, sagt er, geht es täglich, stündlich so verbrecherisch zu, wie ich hier an einem Beispiel zeige. Und dann geht es wieder in jedem Gerichtsgebäude täglich so toll verständnislos zu, wie beispielsweise in diesem hier. Also, Verbrecher, seid schlau, seid raffiniert, leugnet eure Taten, verwischt ihre Spuren, eignet euch Kenntnis der Gesetze an, um durch ihre weiten Maschen entschlüpfen zu können, das übrige überlaßt dem Unverstand der Richter!
Die Aufführung dieses Stückes hat auf katholischer Seite natürlich den Ruf nach dem längst geplanten, aber immer wieder hinausgeschobenen „Schund- und Schmutzgesetze“ (vielleicht nicht der beste Name für eine gewiß gute, ja unbedingt notwendige Sache) neuerdings laut werden lassen. Darauf hat sich der publizistische Vorkämpfer der Gegner dieses Gesetzes, Ernst Lothar, zu Wort gemeldet und in einem (von der „Schöneren Zukunft“ bereits zitierten) Feuilleton Die Austreibung der Scham zwar den ganzen sittlichen Tiefstand dieser völlig schamlosen Art von Literatur zugegeben, jedoch unter Ablehnung gesetzlicher Gegenmaßnahmen eine sehr sonderbare Abhilfe vorgeschlagen: Man müsse warten, bis es von selber besser werde. Wenn sich das Laster erst gründlich erbrochen habe, werde sich schon irgendeinmal wieder die Tugend an den Tisch setzen. Die Eiterbeule müsse gewissermaßen erst ausreifen. Operativer Eingriff verboten. Indes, fragt die Lehrer, die Jugendrichter, fragt Seelsorger und Ärzte, sie alle, die in ihrem Wirkungskreise immer wieder auf die Spuren dieser literarischen Seuche stoßen, fragt sie, ob sie der Meinung sind, hier dürfe noch länger gezögert und zugewartet werden! Nicht Literaten und Künstler dürft ihr fragen, am allerwenigsten solche, die selber Partei sind und Grund haben zu der Befürchtung, ihnen selber könnte durch ein Abwehrgesetz die Geschäfte gestört werden. Es ist bewußte Irreführung, wenn behauptet wird, Österreich stünde, wenn es solche gesetzliche Schutzmaßnahmen schüfe, in der ganzen Welt vereinsamt, gewissermaßen am Pranger, da. Was geschah vor etlichen Monaten im freien Amerika? In New-York wurden die Schauspieler und Schauspielerinnen, die an einer Aufführung des pornographischen Stückes The Pleasure Man von Miss West am Baltimore-Theater mitgewirkt hatten, verhaftet, und der New-Yorker Bürgermeister, Walker, gab im Anschlusse an diese Verhaftungen folgende Erklärung ab: „Das Vorgehen der Polizei tut das, da unsere Behörde entschlossen ist, Aufführungen unmöglich zu machen, die derart die Gesetze verhöhnen. Auf unseren Bühnen wird es keine Vorführungen mehr geben, die Themen von solcher Sittenlosigkeit behandeln, daß man sie nur als unanständig bezeichnen kann. Bei meinem Feldzug gegen die unanständigen Theaterstücke auf den New-Yorker Bühnen rechne ich auf die Unterstützung aller Behörden und aller Privatleute.“
Als es kürzlich den Wiener Katholiken durch machtvolle Protestkundgebungen gelang, die Aufführung der gotteslästerischen Komödie Ehen werden im Himmel geschlossen von Hasenclever zu verhindern, las man in den linksgerichteten Zeitungen wieder das Lied von der „klerikale Unduldsamkeit“. Ist es nicht überduldsam, daß die Aufführungen von Stücken wie Die Dreigroschenoper oder Die Verbrecher monatelang widerspruchslos hingenommen werden? Ein Beispiel wirklicher Unduldsamkeit in Kunstdingen ereignete sich vor wenigen Wochen in Köln. Dort wurde am Stadttheater das Drama Die Laterne von Ilgen gespielt, aus dem man angeblich an einigen Stellen eine antisozialistische oder antikommunistische Tendenz heraushören kann. Die Kommunisten veranstalteten einen wüsten Theaterskandal und nun verlangte die sozialistische Rathausfraktion von dem Intendanten Modes, er müsse das Stück unter Aufsicht des marxistischen Theaterdezernenten umarbeiten. Modes fügte sich dem Diktat, doch es nützte ihm wenig, denn auch die umgearbeitete „Laterne“ wird immer noch von Kommunisten gestört, die auf den Galerien randalieren und mitten während der Vorstellung die „Internationale“ singen. Und ist das etwa duldsam, wenn der von dem berühmten französischen Filmregisseure Jacques Feyder gedrehte Film Die neuen Herren (nach der gleichnamigen Komödie von Flers), in welchem die Unfähigkeit eines vom einfachen Arbeiter plötzlich zum Minister beförderten Sozialdemokraten humoristisch glossiert wird, auf Betreiben der Sozialisten in ganz Frankreich verboten wurde? Aus Furcht vor politischen Kundgebungen lehnte auch die „Ufa“ für Deutschland diesen Film ab, der jetzt endlich unter amerikanischer Flagge seinen Weg machen wird.
Wer die Entwicklung unserer Bühnenliteratur, die immer hemmungsloser auf Verherrlichung und Gutheißung alles Krankhaften, Lasterhaften, Verbrecherischen ausgeht und zugleich jede zur Warnung oder Ahndung berufene Autorität zu untergraben trachtet, jahraus, jahrein beobachtet, der muß als richtig bestätigen, was die Wiener „Reichspost“ nach der Verbrecher-Erstaufführung schrieb: Die Schaffung des Gesetzes zur Abwehr von Schmutz und Schund ist eines der dringendsten Gebote der Stunde geworden.
In: Schönere Zukunft, Nr. 34, 26.5. 1929, S. 719f.