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D[avid] Bach: Das Arbeiter-Symphoniekonzert (1925)

Das letzte Konzert wurde mit der Aufführung eines neuen Sprechchors, Kerker von Fritz Rosenfeld, eingeleitet. Man muß sich wohl nicht erst verteidigen, daß in unseren eigenen Veranstaltungen ein Werk aufgeführt wird, das sich offen und ausdrücklich zu den Ideen des kämpfenden Proletariats bekennt. Unsere Konzerte heißen nicht bloß Arbeiter-Symphoniekonzerte, sondern sie wollen es auch im höchsten Sinne sein. Darüber also, daß insbesondere am 12. November ein Werk mit sozialistischer Tendenz aufgeführt wird, braucht man kein Wort zu verlieren. Wohl aber müssen die bei uns aufgeführten Werke, und das ist unser Stolz, nicht bloß durch ihre Tendenz, sondern auch künstlerisch gerechtfertigt sein. Der Sprechchor von Rosenfeld nun sucht innerhalb dieser noch ganz jungen Kunstgattung neue Möglichkeiten. Der Sprechchor als solcher ist geboren aus dem Bedürfnis, die Masse selbst zur tätigen Aktion auf der Bühne heranzuziehen. Die ganze Sprechchorbewegung hat natürlich ihre politischen und sozialen Ursachen und sie ist ganz besonders ein Kind der revolutionären Ereignisse des letzten Jahrhunderts. Künstlerisch begegnen sich hier zwei Entwicklungs­tendenzen. Die eine will zur Annäherung der Bühne an das Leben führen. Sie leitet sich aus dem verständlichen Wunsch her, auf dem Theater nicht bloß Angelegenheiten erörtert zu sehen, die dem Fühlen der großen Masse vollkommen fremd sind und fremd bleiben müssen. Die Gefahr eines Mißverständnisses liegt natürlich nahe. Nicht der Stoff, nicht die Handlung ist das, worauf es in Wahrheit in der Dichtung ankommt, sondern der Inhalt, das wahre Problem. Man könnte ein Stück ersinnen d solche werden leider auch oft genug geschrieben, das in Arbeiterkreisen spielt, jede der Figuren die dem Zuschauer wohlgefälligen Reden führen läßt und das trotzdem einem Arbeiterpublikum gar nichts zu sagen hat. Denn das revo­lutionäre Element der Kunst kann niemals vom künstlerischen ganz abgelöst werden. Auf der andern Seite ist es verständlich, wenn Gefühle der Masse durch die Masse selbst ausgedrückt werden. Der Chor des antiken Dramas, der mit Betrachtungen und Gefühlen die Handlung begleitet, wird hier selber der Träger der Handlung, Ausdruck eines Massenwillen und eines Massenschicksals. Die Masse als Held —das ist nicht mehr die Forderung einer nach neuen Stoffen greifenden Dramatik und ihrer ästhetischen Mode, wie es einmal der Naturalismus war, sondern es ist das einleuchtende Ergebnis einer Entwicklung, welche die Kunst im Zusammenhang des gesamten gesellschaftlichen Geschehens sieht. Damit gleichzeitig läuft das Bestreben, Theater und Theaterspielen schneller, als es den wirtschaftlichen Verhältnissen und Gesetzen entspricht, aus dem Zwange zu befreien und den lebendigen, wirksamen Kräften des Volkes zu nähern. Die Lust am Theaterspielen ist keineswegs bloß die Freude des Dilletanten, sie ist das unbewusste, darum doch sehr tiefe und sichere Gefühl: „Es geht um dich“ auch auf der Bühne; wenn der Zuschauer die Schicksale des Helden mitleidet – das ist der Sinn aller dramatischen Kunst –, dann möchte er erst recht auch darstellerisch der Held sein.

Die Versuchung liegt nahe, beim Sprechchor mit ein paar feststehenden Worten und typischen Wendungen auszukommen. Aber wie die großen Dichter des klassischen Altertums einem für sie alle gemeinsamen Stoff, der Götter- und Heldensage, jedes­mal einen neuen großen Inhalt abgewannen, so bliebe in der Gebundenheit des Sprechchors, selbst des streng sozialistischen Sprechchors, erst recht die bewegliche Kraft des Dichters zu erproben. Rosenfeld bemüht sich, von der Abänderung der Form zu neuem Inhalt zu kommen. Er versucht Chorwirkungen, legt großes Gewicht auf das Verhältnis der Gruppen zueinander, ja baut seine Sprechdichtung in verschiedenen Stufen gleichsam symphonisch auf. Weniger neu ist er in der sprachlichen Gestaltung seiner Absichten; hier wird mit den bewährten Mitteln einer poetischen Phraseologie das Auslangen gefunden. So hängt die Wirkung seines Sprechchors[1] wesentlich auch von der Begeisterung ab, die den Chor selbst trägt. Daran hat es der Sprechchor der Kunststelle wahrlich nicht fehlen lassen; sein Sprechen war erfüllt von Hingabe an die Sache des Werkes und der durch dieses ausgedrückten sozialistischen Idee, für das man der Leiterin Elisa Karau zu danken hat. Sie war auch die verständnisvolle Hauptsolistin kleinere Solostimmen waren mit tapferen und begabten Mitgliedern des Chors besetzt — des Sprechwerkes; daß die Solistin nicht gleichzeitig dirigieren kann, schon deshalb nicht, weil der Anblick stört, wird sich die Künstlerin für spätere Gelegenheiten wohl selber sagen.

Die Musik zu diesem Sprechchor hat unser Freund Paul A. Pisk beigestellt. Es ist keine Musik zu gesprochenen Worten, soll es nicht sein. Wenn einmal die Literatur der Sprechchöre ein gewisses Maß erreicht haben, wenn genügend Material und Erfahrungen aus den notwendigen Versuchen vorliegen werden, darin kann auch die Frage des Verhältnisses von Musik zu Sprechchor theoretisch geprüft werden. Augenblicklich scheint der Sprechchor an sich eine Abkehr von der Musik in Tönen zu be­deuten; will er doch gerade die Musik der Sprache mit den Mitteln der Sprache allein vernehmbar machen. Aber Massensprechen, rhythmisches, chorisches Sprechen stellt nun doch einen Übergang zur Musik dar. Friedrich Theodor Vischer, der berühmte Ästhetiker, hat deshalb in den Chören der Braut von Messina eine Vorahnung der Bestrebungen der deutschen Oper gesehen. Überdies haben von der Seite der Musik her die Künstler, trotz aller Warnungen der ästhetischen Theorie, niemals aufgehört, Versuche mit dem Melodram, der musikalischen Untermalung des gesprochenen Wortes, anzustellen. Dieses Problem wird von der Musik zum Kerker nicht berührt. Pisk beschränkt sich darauf, die Übergänge mit Musik zu füllen, die Szene an entscheidenden Punkten musikalisch anzudeuten. Er tut dies mit den einfachsten Mitteln, mit Geschmack und Können. So einfach diese Musik ist, so ist sie, um das Geheimnis zu verraten, doch „modern“; daß dies weiter gar nicht auffällt, sondern daß diese Art Musik als selbstverständlich empfunden wird, beweist, daß die Entwicklung der Musik eben ins allgemeine Bewußtsein eingegangen ist; man schreibt auch sonst heute die einfachste Begleitmusik anders als vor vierzig Jahren, die Tanzmusik ist anders geworden, die Salonmusik, die Hausmusik, die symphonische Musik — welche Frage also, ob der Arbeiter dafür „reif“ sei! Er hat auch hier nicht um die Erlaubnis gefragt, „reif“ zu werden…

Paul Pisk dirigierte auch die Musik zu Mozarts „Petits riens“, das sind „Nichtigkeiten“ oder besser „Kleinig­keiten“. Es ist eine Ballettmusik, deren textliche Grundlage verloren gegangen ist. Es lockte die Aufgabe, aus der Musik selbst das neue tänzerische Gebilde entstehen zu lassen. Die Hellerauer haben dies wahrlich verstanden. Mit Geist, Witz, Anmut und vor allen: mit musikalischem Verständnis ist hier eine Handlung ersonnen, die mit der Musik eine natürliche Einheit zu bilden scheint. Valeria Kratina, die Tanzdichterin,  Tanzkünstlerin und Führerin ihrer Gruppe, ist an erster Stelle zu nennen, dann die Damen ChIadek, Berg, Hougberg, schließlich alle anderen Mitwirkenden. Die von Emmy Ferrand entworfenen Kostüme verdienen besondere Erwähnung. Was die Musik selbst angeht, so steckt in diesem entzückenden Werkchen der spätere, größere Mozart. Einzelne Teile der Musik haben als Einzelstücke auch andre Verwendung gefunden, so die reizende Gavotte, oder das eine Hauptthema, das auch dem Bearbeiter der Grünen Flöte so gefallen hat, daß er es hinübernahm. Diese Musik wurde vorn Orchester ganz lustlos und unaufmerksam, auch technisch nicht einwandfrei, heruntergespielt. Es lag nicht am Dirigenten. Es wäre schlimm, am schlimmsten für das Orchester selbst, wenn in den Arbeitern jemals die Meinung entstünde, das Orchester glaube, sich manches gerade mit einem Arbeiterpublikum erlauben zu dürfen. Die Meinung ist auch sicherlich falsch; aber dann sollte das Orchester selber darauf Wert legen, solche Mißverständnisse zu unterdrücken.

Das Konzert enthielt noch eine zweite größere, auch umfangreichere choreographische, das heißt der tänzerischen Um­schreibung gewidmete Nummer, die Bilder aus einer Ausstellung von Mussorgsky. Es sind Klavierstücke (Paul Weingartner hat sie vor einigen Jahren zum erstenmal öffentlich in Wien gespielt), welche die Eindrücke einer Bilderausstellung wiedergeben. Es ist eine Umsetzung des Bildes in Musik. Ein Bild kann in Worten kaum umfassend beschrieben, schon gar nicht etwa durch ein Gedicht vollkommen ersetzt werden; wie sollte dies in Tönen, in der Form einer geschlossenen Komposition möglich sein? Dies meint der Komponist auch gar nicht. Denn die Aufbaugesetze, die formalen Notwendigkeiten eines Musikstückes sind andre als die eines Bildes; schon deshalb, weil dieses sich in der Gleichzeitigkeit einer Ebene, jenes aber in der Aufeinanderfolge der Zeit vollzieht. Wenn in beiden Fällen von „Komposition“ gesprochen wird, so ist jedesmal etwas andres gemeint, nämlich jedesmal eine andre Anordnung, eine andre „Zusammenstellung“, wie Komposition deutsch heißt. Bei der Umsetzung des Musikstückes in Tanz oder vielriehr in rhythmische Bewegung, Anordnung der Gruppen und so weiter, wird das Musikstück eigentlich wieder mehr dem Bild angenähert. Aber vor allem mit dem Unterschied, daß die Ebene des Bildes in den Raum der Szene übertragen, doch dabei der Rhythmus mit dem Rhythmus der Musik in Übereinstimmung [gebracht] werden muß. Diese schwierige Anfgabe hat auch hier Fräulein Kratina ausgezeichnet gelöst, sowohl schöpferisch wie, mit ihrer Gruppe als Tänzerin, als Nachschöpferin der eigenen Gedanken. Manche Nummern wurden geradezu bejubelt und mußtein wiederholt werden. Es erübrigt sich also auch hier die Frage, ob die Arbeiter, sich dafür interessieren; da entscheidet der Erfolg, geradeso wie im vorletzten Konzert die einfache Tatsache, daß ein Satz aus dem Violinkonzert von Prokofieff stürmisch zur Wiederholung begehrt wurde, die Frage nach der Berechtigung der modernen Musik im Arbeiter-Symphoniekonzert zumindest für diesen einen Fall erledigt. Kaum ein andrer Pianist hätte, übrigens, um auf Mussorgsky zurückzukommen, die Musik an sich den Hörern näher bringen können als Professor Friedrich Wührer durch sein technisch vollendetes, plastisches und farbenreiches Klavierspiel. Er wurde mit Recht durch Beifall und Hervorrufe geehrt.

Auch ohne Unterstützung der Szene behauptet die Musik zu Viel Lärm um Nichts von Erich Wolfgang Korngold ihren Rang und ihren Wert. Diese Musik ist manchem Arbeiter schon aus den Aufführungen des Burgtheaters bekannt; die sie im Konzert zum erstenmal kennen­lernten, erfreuten sich hier an der anmutigen Erfindung, an dem beweglichen Geist der Rhythmik, an der witzigen Instrumentation. Der Komponist dirigierte selbst und gewann die Hörer ohne weiteres trotz gelegentlicher Hindernisse des Orchesters; auch hier gab es Wiederholungen. Ein wahres Prachtstück bot Herr Korngold als Dirigent noch vor der Ouvertüre zu den Lustigen Weibern von Windsor von Nicolai. Der Schwung dieser in jeder Einzelheit durch­dachten Wiedergabe riß alle mit sich fort. Korngold wurde sehr gefeiert.

In: Arbeiter-Zeitung, 3.12.1925, S. 20.


[1] [Orig. FN] „Kerker“ ist im Verlag der Brüder Suschitzky, Wien, erschienen.

Arnold Höllriegel: Apotheose des Fußballs.

Ein berühmter Kulturhistoriker hat die Glanzzeit der Hellenen die agonale Periode genannt; wir würden sagen: das Zeitalter der Matches. Es war die Zeit, da außer einer lächerlichen Art Völkerbund, den Amphyktionen, den großen Gedanken der hellenischen Kultureinheit überhaupt nur die zwischenstaatlichen Sportregeln der olympischen Wettspiele repräsentierten. Man datierte damals die Jahre der nationalen Geschichte ungefähr so: im ersten Jahre nach dem Sieg der Mannschaft von Uruguay. Diese Helenen, die unsere Schulmeister fortwährend als Philosophen und Künstler ausgeben wollen, waren vor allem einmal ein Volk der Sportsmen. Was Ihnen die sogenannte nationale Ertüchtigung nutzte, zeigte sich später bei dem Zusammenstoß mit den Römern, die ihre Jahre nach kommandierenden Generalen benannten und die keine Olympioniken trainierten, sondern einfach Rekruten drillten.

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Nein, das mit der Ertüchtigung ist Schwindel und süße Ausrede. In den großen agonalen Perioden, wenn ganze Nationen vom Wettspielbetrieb erfaßt sind,  wenn der Sieg einer nationalen Mannschaft im Ballschleudern oder dergleichen zu einer, nein, zu der nationalen Sache wird, der Sport keine Angelegenheit der Sporttreibenden mehr. Als das moderne Fußballwesen aufkam, mögen vielleicht die besten Fußballer vor schlechteren gespielt haben, die alle Sportsgenossen der großen Heroen waren, wenn auch bescheidene. Heute spielen die großen, berühmten Professionalmannschaften vor fünfzig- oder sechzigtausend leidenschaftlich interessierten Zuschauern, von denen nicht der zehnte Teil jemals eine Schuhspitze mit einem Ball in Berührung gebracht hat. Wieviele von diesen Zuschauern träumen denn davon, später einmal so gut kicken zu können, wie der Uridil? Die Mehrzahl wünscht so wenig zu kicken, wie auf den Händen gehen zu können. Wenn die Jeritza singt, gibt es vielleicht ein paar angehende Sängerinnen im Parkett, aber nicht sie führen dann das große Beifallsgetöse aus. Wer sind in unseren Großstädten die leidenschaftlichsten Fußballenthusiasten? Industriearbeiter, die ihr Leben den Maschinen opfern müssen, und ferner die unentwegten Schimmytänzer, das Flaneur-Publikum der Bars und Five o‘Clocks.

Die Tatsache aber steht fest, daß in meiner Heimatstadt Wien heute die Theater leer sind und die Fußballplätze voll, daß es festliche Massenfreude überhaupt nur noch auf dem Fußballplatz gibt – und in den Tanzhallen. Es ist, als ob der große Dionysos die Köpfe nicht mehr zu beseelen wüßte, sondern nur noch die Füße. Es gab in der Weltgeschichte Kopfperioden, und Handperioden und auch Bauchperioden. Wir leben in dem Zeitalter der Füße.

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Merkt auf: die bürgerlichen Fußballenthusiasten, das sind die gleichen Leute, die an anderen Nachmittagen die modernen Tänze tanzen oder diesen Tänzen zusehen: den eigenen oder fremden Füßen mit totenernsten [!] und gierigen Blicken folgen, während sie sich in schwierige und wenig heitere Stellungen verschieben. Die Menschen, die dies begeistert, sind die gleichen, die nur mehr mit Hilfe des Typewriters schreiben und die mit Hilfe des Autos wandern. Bürgerliche Herren der Maschinen und proletarische Sklaven der Maschinen, das ist das Fußballpublikum. Das Fußballspiel ist aber der große dramatische Protest gegen die Maschine. Hier agiert der menschliche Körper. Das Fußballspiel, das eben ein Fußball ist, ein Tanz verhält sich zu den anderen Tänzen so, wie sich in anderen Epochen die Kampftänze zu ihnen verhalten haben, jene Waffentänze, Schwerttänze, die es immer gegeben hat und wahrscheinlich immer geben wird. Aus dem Tanz hat sich einst das Drama entwickelt. Welche noch ungeahnte neue Kunstform wird einmal aus dem Ballspiel hervorgehen?

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Ein Kampfspiel. Symbol des Krieges. Wir fechten auf den Fußballplätzen Klassen-, Rassen- und Völkerkonflikte spielerisch aus. Der vergötterte Fußballheros, der in einem Länderspiel gegen die Mannschaft des Nachbarlandes kämpft, ist nur der Nachfahr des Häuptlings, der einst mit einigen Gefolgsleuten, sagen wir: zehn Mann, einen großen Sonderkampf gegen den feindlichen Häuptling bestand, vor dem beide Herren, die erregt zusahen und „Hoppauf!“ schrien oder „Hipp, hipp!“ oder „Heilo!“ Matches dieser Art, zwischen den ernsteren Massenschlachten, hat die Geschichte immer wieder geschaut.

Der Krieg, der Haß ist, grenzt hier an den Tanz, der Liebe ist. Daher die Häufung von Leidenschaften. Daher diese unerklärliche Faszination, die von solchen Kampfspielen ausgeht. Sie packen den Menschen dort, wo er am empfindlichsten ist, als Einzelwesen, das sich jung und stark träumt, und als Kollektivwesen, das seine Rasse, Klasse oder Nation siegreich wissen möchte. Es ist im Grunde der gleiche Traum, auf zwei verschiedene Ebenen projiziert. Ein Traum von der Mannheit, den auch das Weib träumt, gerade das Weib.

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Die Kulturgeschichte hat immer wieder solche Kollektivtänze geschaffen. Die Schwerttänze der Wilden, die Turniere der Ritter waren nichts anderes. Immer wieder aber kehrt mit bemerkenswerter Zähigkeit die Entwicklung zu einer primitiven und bedeutsamen Form des Wettspieles zurück, zum Balltreiben. Die Freude daran steckt ganz tief im Menschen, nein, in der lebenden Kreatur überhaupt. Wer lehrt junge Katzen mit rollenden Bällen spielen? Das Menschenjunge kugelt den Ball, ehe er [!] sicher auf seinen Beinen steht. Ist das der uralte Instinkt einem flinken kleinen Tier nachzulaufen, der entzückenden Maus, die so lieb ist, mit sich spielen zu lassen, ehe man sie frißt, oder steckt auch hier ein anderer Urgedanke dahinter?

Ist dieser Ball, den alle Menschen im Innersten lieben, vielleicht ein Symbol des größeren Balles, mit dem die unsterblichen Götter spielen, der runden Erde? Ist sie selbst nicht ein Fußball, den ungeheure Füße durch den Äther kicken und durch die geheimnisvollen Tore der Unendlichkeit?

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Wo immer auf der Welt man viele Tausende von Menschen ein Ding lieben sieht, einen Brauch, gar ein Spiel, wird man ruhig annehmen dürfen, daß diese Sache dieser Brauch, dieses Spiel eben an die zwei oder drei richtunggebenden Urinstinkte der Menschenseele rührt: Nahrungstrieb, Sexualtrieb, Religion. Das Fußballspiel macht keine Ausnahme von dieser ehernen Regel. Es ist leicht, aber dumm, diese Leidenschaft der Massen mit einem snobistischen Nasenrümpfen abzutun. Wo so viel Rauch ist, muß wohl Feuer sein, ein großes mystisches Opferfeuer. Das Fußballspiel, wie jedes Massenfest, muß letzten Endes eine religiöse Angelegenheit sein. In diesem Kulttanz der modernen Zeit vereinigen sich gewißlich die großen drei Motive; niemand weiß es und jeder ahnt es. Der gejagte Ball versinnbildlicht zugleich das gehetzte Beutetier, den halbrunden Kosmos, und noch etwas anderes. Fragt die Psychoanalytiker, wie sie etwa einen Traum vom Fußballspiel deuten würden, vom Eindringen der Kugel in das verteidigte Tor!

Ein Spiel, das solche Elemente darstellt, hat man nun noch den nationalen Instinkten dienstbar zu machen gewußt, die wieder nichts sind als eine andere Erscheinungsform der einfachsten menschlichen Ur-Regungen. Wen wundert es noch, daß die Fußballwettspiele so zahllose Massen mit einer unklaren, aber erklärlichen Begeisterung erfüllen?

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Die agonale Periode des Hellenentums hat den Sport geboren, aber auch seine Schwester, die Tragödie. Aus irgendwelchen Gründen hat, soviel wir wissen, der altgriechische Sport Wettspiele von größeren Mannschaften kaum gekannt, sondern um [!] Einzelwettkämpfe, Schwer- und Leichtathletik. Die großen Matches rivalisierender Truppen gab es auch, aber sie wurden nicht ausgefochten von kleinen Ballspieler-Banden, sondern von Schauspielertruppen, deren Captains Euripides und Sophokles hießen. Es gab ein Match Antigone kontra Iphigenie. Es waren, wie wir wissen, richtige Wettspiele mit Unparteiischen, Meisterschaften und leidenschaftlich begeisterten Parteigängern auf beiden Seiten. Diese dramatischen Wettspiele des antiken Theaters, das gar nicht viel anders aussah als ein moderner Fußballplatz, waren hervorgegangen aus den Wetttänzen und Wettgesängen rivalisierender Mannschaften, aus ursprünglichen Kampftänzen, wie sie auch dem Fußballspiel zugrunde liegen. Aus den Evoë-Chören bacchantischer Tänzer ist einmal die edelste Form menschlicher Kunst entstanden; wer weiß, was in einem oder zwei Jahrtausenden noch aus den Hurrahs werden könnte, mit dem auf den Fußballplätzen die Mannschaften einander begrüßen!

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Eine moderne Großstadt ist nicht anders als ein Menschenhaufen zu jeder beliebigen Zeit. Viele, viele Menschen manchmal beieinander zu sehen, ist uns allen ein starkes Bedürfnis, und jede Epoche schafft festliche Vorwände für seine Erfüllung. Die gedeckten und komplizierten Theater des Epigonenzeitalters, ärmliche Nachahmungen der alten Massen-Kulturstätten, genügen dieser Menschheitssehnsucht und ungeheuren Versammlungen nicht mehr; der Verfall der Demokratie hat jene andere Form des Dramas, die bewegte Volksversammlung, uninteressant gemacht, aber der Mensch braucht immer wieder riesige, von Massenleidenschaft rhythmisch durchwühlte, in einem Einheitsgedanken zusammengeschweißte, besser noch, von zwei rivalisierenden Liebes- und Hassesgemeinschaften dramatisch belebte Kultversammlungen. Die aber gewährt dem Volk unserer heutigen Städte der Fußballsport. Er gewährt einer konfessionslos gewordenen Menge jene elementaren Schauspiele des Kultus, die nichts sind als die tänzerischen Bewegungen priesterlicher Leiber; Jünglinge mit prachtvollen Muskeln, die hier springen, dort rennen, hier die Arme heben, dort ein Symbol der Weltkugel zum Himmel schleudern, sind sie nicht die Mystagogen, die Priester, die jede Menge braucht? Sind sie nicht, was der Priester sein soll, das irdische Abbild jener Götter, die die großen rotierenden Bälle durch den Raum wirbeln lassen, nach geheimnisvollen, aber strengen Regeln, zwischen den erhabenen Toren der Unendlichkeit?

In: Der Morgen, 11.5.1925, S. 5f.

Walter Süß: Mariahilfer Straße. Die Herzader der Großstadt.

Mariahilferstraße: Das ist mehr als eine große Verkehrsader, mehr als zwei endlose Fronten großer Häuser, steinerne Schlucht, in der Ströme von Fußgängern, Autos und Trambahnwagen ewig aneinander vorüberfließen. Nein, Mariahilferstraße – das ist die Seele der Großstadt, das ist eine Symphonie von Luxus, wohlhabender Behäbigkeit und traurigem Elend. Ist ein Märchen von Licht, eine Symphonie von Farben. Ist Granitwüste, Sumpf, Korso, ist Strich, den ein unerbittliches Schicksal durch Lebensrechnung der Armen gezogen hat, die nun auf ihm wandeln müssen. Und ist eine der großen Heerstraßen der Zivilisation, durch die der Rythmus des Jahrhunderts dröhnt, flankiert von Bauten einer geruhigen Vergangenheit und überschattet vom Traum der Zukunft: der Stadt von morgen, Metropolis mit Wolkenkratzern und flammenden Lichtfontänen inmitten brüllender Verkehrskatarakte,  Mariahilferstraße in tausendster Potenz.

              Hundert Gesichter hat diese Straße und hundert Gesichte vermittelt sie. Sie ist Wien, auf eine einzige lapidare Formel gebracht. Sie ist das Wien von gestern, dort, wo noch die alten Häuser stehen und zwanzigstes Jahrhundert an die Mauern des achtzehnten brandet, vergessener Barock im Brausen der Moderne, sie ist das Wien von heute, leuchtende Schriften bunt und eindringlich hoch über flammenden Schaufensterfronten. Und sie ist das Wien von morgen, dessen Zentrum langsam gegen Westen tendiert. Sie führt nicht nur nach Schönbrunn, die Mariahilferstraße. Sie führt in die Zukunft…

Vergangenheit.

Kaffeehaus: Offene Galerie in Stockhöhe, leuchtend rote Riesenparasols über zierlich weißen Tischen. Und unten die Mariahilferstraße – Fußgängerheere, Autokolonnen, gestaute Tramwayzüge; plaudernd, tutend, klingelnd und all das verschmolzen zu einem Inferno der Töne, einer gigantischen Dissonanz, die trotzdem Melodie bedeutet…

So ist es heute.

Und so war es gestern: eine ehrwürdige Landstraße, weißer Staub in ausgefahrenen Räderfurchen, grüne Sträucher am Rain. Und ab und zu Häuserln, dahinter Weingärten und darüber der blaue Himmel. Laimgrube, Gumpendorf, Neubau, Schottenfeld. Es sind alte Namen, ein bißchen rostig schon im Klang. Und damals waren es kleine Nester an der großen Straße, die weit, weit hinaus, bis ins Bayrische führte. Anno 1400 reichten die Häuserln gar nur bis zur heutigen Stiftskirche. Dreihundert Jahre später war die Straße schon bis zur jetzigen Esterhazygasse verbaut. Und in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts rückten die Mauern bis zur „Lina“ vor und dort, wo heute am Gürtel der Obelisk steht, gab es eine Statue des heiligen Johann von Nepomuk, die auf einer steinernen Säule stand.

Einstmals hieß die Straße „Im Schöff“, nach dem gleichnamigen Schild des Wirtshauses, in das die bayrischen Schiffsleute, wenn sie zu Lande heimwärtsstrebten, einzukehren pflegten. Später wurde sie Penzingerstraße, Bayrische Landstraße und Schönbrunnerstraße genannt. Ihren jetzigen Namen bekam sie von einem Marienbild. Jetzt steht auf dem Grund, wo es früher nur eine kleine Holzkapelle gab – sie wurde 1660 errichtet -, die Anno 1715 erbaute Mariahilferkirche. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts hatten die Barnabiten das Land getauft und errichteten, noch lange vor der Kapelle, einen Friedhof, damit der alte vom Michaelerplatz aufgelassen werden konnte. Das Gnadenbild „Maria, hilf!“ gab der Straße und dem Bezirk den Namen. Keine Weingärten gibt es mehr, keinen Friedhof, und kaum einer der Hunderttausende, die täglich durch die Straße ziehen, denkt an die Vergangenheit. Da war das Haus Casa piccola, Mariahilferstraße 1 – jetzt gibt es ein paar Schritte weiter ein Kaffeehaus gleichen Namens – in dem hat der Kriegsrat Napoleons getagt. Im Hause Mariahilferstraße 45, einst hieß es „Zum Goldenen Hirschen“, wurde Ferdinand Raimund geboren. Aber das alles ist schon lang, lang vorbei. Hier wächst kein Wein mehr, keine bayrischen Flößer sinken mehr vor dem Gnadenbild der Himmelskönigin in die Knie und keine Toten werden hier begraben. Und Napoleon, der sich gern als Großer zeigte, mußte dem Gerngroß Platz machen, so wie die Flößer den Automobilen gewichen sind.

Und ein Stockwerk über dem allen sitzt man beim Kaffee unter einem roten Parasol, sechs Meter über den Asphalt.

              Das erste Auto

Ununterbrochen ändert sich das Gesicht dieser Straße. Ich habe Bilder von ihr gesehen, so wie sie Anno neunzig ausgesehen hat: behaglich noch und still, Pferdebahnwagen und Damen mit Puffärmeln und Wespentaillen, mit Spitzenschirmen und Fliegenpilzhüten, ein paar Fiaker dazwischen und im Hintergrund würdige Bürgerhäuser, über denen die Luft des Brillantengrundes lag. Und das Gesicht von gestern ist geblieben, trotz des Gesichts von heute: Draußen in Rudolfsheim stehen noch die alten Barockhäuserln beim Schwendermarkt, an denen die Zeiserlwagen vorübergefahren sind, in der Gegend des Palace die protzigen Fin-de-siècle-Paläste, aufgedonnert mit Kuppeln und patzigen Ornamenten, knapp daneben der nüchterne Zweckbau des Hauses, in dem sich das Flottenkino befindet, und der ganz, ganz entfernt ein bißchen an Broadway und Newyork mahnt. So steht gestern und heute nahe beisammen und einmal wird das Heute neben dem Morgen stehen, aber das Gestern wird nicht mehr da sein.

             In der Straßenschlucht die Automobile, eines nach dem andern. Erst sie geben der Mariahilferstraße Stimmung und Gepräge. Man sehe sie sich an im Morgengrauen, wenn sie leer und öde ist, toter Granitdarm, und wird erkennen – erst die Autos machen sie vollkommen. Es ist vielleicht kein Zufall, daß das erste Auto durch sie gefahren ist. Das war Anno 1879, als Siegfried Marcus, der erfindungsreiche Mechaniker, im Hause Mariahilferstraße 107, seine Werkstätte betrieb. Schon fünfzehn Jahre früher hatte er einen „Motorwagen“ auf der Schmelz ausprobiert. Dann hatte er lange gebastelt und probiert, bis auf einmal in Nacht und Nebel – bei Tag hätte sich der Erfinder nicht getraut – ein sonderbares Fahrzeug, ohne Roß und Schiene knatternd und pfauchend durch die Mariahilferstraße ratterte. Allerdings nicht lange. Die Wiener Polizei verbot das Auto des Marcus. „Wegen des großen Geräusches“, hieß es in der geistvollen Begründung. Es ist also wirklich nicht die Schuld der Polizei, daß es heute Autobanditen gibt…

                           Die Straße lebt.

             Man muß bescheiden sein: Die Mariahilferstraße ist nicht der Berliner Kurfürstendamm und nicht der Londoner „Strand“. Aber sie ist ein Stück Weltstadt, durch die rastlos das Leben pulst, sinnverwirrend in seiner Mannigfaltigkeit und grandios in seinem ewigen Wechsel. Vier Kilometer – aber jeder Kilometer hat ein anderes Gesicht und jede Stunde ein anderes Antlitz. Eng, gedrängt, wie das Herz der City, die ansteigende Kurbe am Beginn; breiter Geschäftsboulevard bis zum Gürtel und kleinbürgerlich, schon ein bißchen vorstädtisch, hinaus gegen Schönbrunn. Am Ende noch ein ganz anderes Bild: ruhige Avenue inmitten grünen Parklandes, zur Rechten der vornehme Kolossalbau des Technischen Museums. Es sind vier verschiedene Straßen, aber es ist ein und dieselbe Straße…

             Aber die Mariahilferstraße mit ihrem Leben, ihrer Brandung, reicht hinein bis in die Seitengassen. Man denke an die Stumper-, an die Reindorfgasse. Mehr als tausend Geschäfte sind in der Mariahilferstraße oder in ihrer unmittelbaren Nähe. Es ist ein riesenhafter Basar, ein einziges gewaltiges Warenhaus, in dem alles verkauft wird, vom Kragenknopf bis zur kompletten Heiratsausstattung, von der Stecknadel bis zum Nobelauto, und alles erhältlich ist, was es in dieser Welt gibt: Ware, Vergnügen, Elend, Liebe und Seelenheil. Gewaltige Mammonspaläste für die Ware, Cafés und Lichtspieltheater für das Vergnügen, vergessene Winkel für das Elend, fein säuberlich reglementierte Striche für die Liebe und Kirchen für das Seelenheil. Und alles, des Lebens Notdurft, Vergnügen, Liebe und Farbe, ja das Leben selbst, scheint Ware geworden zu sein in dieser Straße. Das ist ihr Gesetz und ihr Fluch.

             Fest und hart ist der Asphalt – aber dort, wo die armen Mädel gehen, ist er weich und tückisch, wie Sumpf, in dem sie versinken. Und ihnen allen: denen, die gehen, um sich zu verkaufen, und denen die gehen, um zu kaufen; denen, die hetzen in der Tretmühle der Arbeit, und denen, die gehetzt werden; und denen allesamt, die ihre Luft geatmet und den Rhythmus ihres Tempos in ihren Adern pochen fühlten, ist sie zur Straße des Lebens geworden. Ja, sie ist das Leben selbst; tönend die Pracht der Fassaden und in grauen Lichthöfen das Elend, glänzend die Schminke und tief unter ihr die Bazillen – und flackerndes Licht auf hohen Dächern, über denen es Nacht ist…

             Und man liest wie im Märchen: In der Zeit der Maria Theresia wurden in der Straße Öllampen angebracht. Sie brannten nur, wenn sich der Hof nach Schönbrunn begab. Das war vor 150 Jahren. Und in wieder anderthalb Jahrhunderten werden hier Wolkenkratzer stehen und seltsam geformte Flugschiffe wie Meteore durch die Nacht blitzen. Die Trottoire werden bewegliche Laufbänder sein und drei Straßen werden übereinander liegen. Und jemand wird lesen, wie im Märchen: In der Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts bettelten Männer in der Straße und Frauen verkauften ihre Körper. Denn sie alle, alle hatten ewig Hunger

In: Das Kleine Blatt, 19.5.1928, S. 3-4.

Josef Luitpold Stern: Auf dem Wege zur Kultur.

Die Entfaltung der Geistigkeit der modernen Arbeiterschaft ist noch wenig erforscht, noch wenig beschrieben. Die Ergebnisse dieser Forschungen sind nur versprengt, nur vom Lesefleiß auffindbar. Eine umfassende Darstellung des Erwachens der proletarischen Seele gibt es noch nicht. Aber welcher Weg von den unglücklichen Kindern des Frühkapitalismus, als Fünf- und Sechsjährige verkauft und vermietet von Armenhäusern und Pfarreien an die Fabrikaten – „Maschinengeklapper, die einzige Musik, die das Kind von seinem zarten Alter an zu hören bekommt“ – bis zum Ausklingen von Arbeiterkinderchören in Sinfoniekonzerten des Proletariats von heute! Welcher geistige Werdegang vom Manufakturarbeiter des 18. Jahrhunderts in der Schilderung Tucketts bis zum geschulten Betriebsrat mit der Sehnsucht nach der Arbeiterhochschule! Welche Wende von der Zeit, in der die Sprache der schaffenden Massen „wenig mehr als die Artikulation der dringen Bedürfnisse“ genannt werden konnte, bis zu den ergriffenen Klassengenossen eines Bebel, eines Gorki. Welche Wandlung des proletarischen Menschen aus jenem Zustand der Massennarkose und der wehrlosen Stumpfheit, noch von Viktor Adler gesehen, „unterbrochen durch Aufregungszustände mit phantastischen Träumen und ziellosen Traumhandlungen“, bis zur Klassenreise und Geschichtskraft des industriellen Volkes von Wien! Welche Revolution des Lebens vom Maschinensturm zum Arbeiterurlaub in der proletarischen Schutzhütte!

             Diese Odyssee des Heldenschicksals einer Klasse ist noch nicht in Worte gefaßt. Diese bannende, aufwühlende Wucht ihrer bald den ganzen Erdball umspannenden Leiden, Aufstände, Niederlagen und Siege wartet noch des proletarischen Homer. Ist ihr der doch gewaltige Geisterkampf des Bürgertums zur Zeit seiner glorreichen Erhebungen an die Seite zu stellen? Nicht im Maße der Tiefe und Verkommenheit, aus der es zu steigen galt; nicht im Vergleich der Millionenmassen, die ihre Befreiung planvoll ins Werk setzen; nicht in der Namenlosigkeit der Rückschläge und Verfolgungen; nicht in der Flammenkraft der Ziele, um die gestritten wird.

Aus dunklen Tiefen tagempor

sonnenhungrig ringt ein Riese…

Aus seinen Augen zucken

unlöschliche Strahlen des Lichtes,

und ob sie mit goldenen Händen

ihn niederdrücken und schänden,

der Riese läßt sich nicht ducken

und wächst mit gewaltigen Rucken

aus dem verachteten Nichts.

             Und dennoch: je sieghafter der Riese dem verachteten Nichts entwächst, je bewußter der geistige Befreiungskampf geführt wird, je kraftvoller Sehnsucht in Erprobung, Forderung in Erfüllung übergehen, um so ernster wird das erfahrende Proletariat die Weisheit des Goethe-Wortes zu werten wissen: Aller Anfang ist leicht.

             War es schwer, die verdammte Bedürfnislosigkeit der Massen zu überwinden? Es wird schwerer sein, das erwachende Kulturbedürfnis der Massen vor der Verdammnis seiner Verbürgerlichung zu bewahren. Es war schwer, in Kellergeschossen die ersten Wahlvereine zu gründen? Es wird schwerer sein, den Schöpfermut zu den Kathedralen der Massenbewegung zu finden. Es war schwer, Arbeitergesang//vereine zu schaffen? Es ist schwerer, ein halbes Jahrhundert später auf künstlerische Erfolge proletarischen Gepräges hinzuweisen. Groß ist es, Arbeiterkultur zu wünschen; größer, sie zu schaffen. Der Beginn einer Bewegung gestattet Schwäche, erklärt Unzulänglichkeit. Aufstieg und Vormacht steigern die Erwartung, spornen den Anspruch.

             Es gibt sichere Vorzeichen des Beginnens einer antiproletarischen Kulturkritik. Die Epoche des Gleichgewichts der Klassen treibt sie hervor. Das Proletariat ist nicht mehr so schwach, nur Kritik an der bürgerlichen Welt zu üben. Es schickt sich an, selbst Kulturmacht zu werden. Presse und Verlag, Architektur, Theater und Musikleben, Radio und Kino, Fest und Geselligkeit, sie bedeuten kein reines Klassenmonopol mehr. Die Bourgeoisie wird besorgt. Die Bourgeoisie ist nicht mehr so selbstbewußt, an der wachsenden Geistigkeit des Proletariat ein Klassenkampfmittel zu entdecken.

             Was kann antiproletarische Kulturkritik erhoffen? Sie tritt mit ultrarevolutionärer Geste auf; ihr Scheinradikalismus macht auf proletaroide Schichten Eindruck. Die Angreifer kommen sich und ihren Verehrern äußerst verwogen vor. Lehnt die antiproletarische Kulturkritik bloß unsere Klassenziele ab – Stichwort: Tendenz – so macht sie von einem Rechte Gebrauch, das unser Geschichtsempfinden nur verfeinert. Deckt sie aber Unzulänglichkeiten, offenkundige Minderwertigkeiten, tatsächliche Verfälschungen im Ringen des Proletariats um seinen eigenen Geist auf, so entfache sich an ihr nicht unfruchtbarer Ärger, sondern schöpferisches, immer waches Verantwortlichkeitsgefühl. Dieses geistige Verantwortlichkeitsgefühl, diese kulturelle Wachsamkeit immer beherzter und freimütiger mit fördernder Strenge wirken zu lassen, gehört mit zu den Aufgaben und Pflichten der proletarischen Generation von heute. Die Arbeiterjugend weiß es und will es. Solchem Wissen und Willen entspringen neue Triebkräfte proletarischer Kultur.

             Dies erkennen und gelten lassen, heißt den Gegensatz zwischen bürgerlicher und proletarischer Kulturkritik offenbar machen. Dies übersehen, hieße die Geschichtskraft dieses Gegensatzes zum Vergnügen des Gegners ungenützt lassen. Bürgerliche Kritik an Proletarierkultur freut sich der geistigen Unzulänglichkeiten unserer Klasse, hofft auf ihre Verewigung, übt an ihnen Spottlust und Schmähkraft, ermuntert sich an unseren Fehlern.

             Wo die Quellen proletarischer Unkultur trübe springen, das sieht nicht, das will nicht sehen der bürgerliche Kritiker. Arbeitslosigkeit, Unterernährung, Wohnungsnot, Sorge und Unsicherheit auch in Tagen der Arbeit und Gesundheit – und in Verbindung damit flackernde Sehnsucht nach ablenkendem Vergnügen, was weiß der schreibflinke Spötter von Zuckungen der sozialen Angst? Bewegt ihn die Antwort des Indianers in Guatemala auf die Frage, warum er soviel Schnaps trinke?: Zafarse de su memoria, um sich Ruhe zu schaffen vor seinem Gedächtnis …

             Nein, dorthin zeigt der Finger der bürgerlichen Kritik nicht; ihr sind ja die eigenen Stilkünste des Wortes Schnaps, um sich Ruhe zu schaffen vor eigenem Gedächtnis und Schuldgefühl! Wohin fällt also ihr Blick? Auf das Alltagsbild unseres Organisationslebens, auf die Widersprüche zwischen Programm und Form unserer Bewegung, auf die Tatsache, daß die Gewalt der sozialistischen Idee auf dem Boden der kapitalistischen Welt nie Kulturgestalt gewinnen kann. Sie borgen sich verspätet Lassalles Augen aus und entdecken die Laster der Unterdrückten, die müßigen Zerstreuungen der Gedankenlosen. Mit Lassalles Augen ist wahrhaftig scharf zu schauen. So werden sie auf viel kleinbürgerliches Verhalten des Proletariats, überkommen aus Vorkriegsjahren, noch Jagd machen können. Das Bierglas mit dem Parteiabzeichen wird daran glauben müssen.

             Wo ist unser Gegensatz? Nicht in Lassalles Blick. In Lassalles Veränderungswillen! Ragen nicht die Organisationsgebäude unserer die Massen planvoll umgestaltenden Vereinigungen? Umwogt uns nicht alle die Vielgestaltigkeit des Kampfes um den neuen Menschen?

             Dennoch: Kinderfreunde, Jugendverbände, Naturfreunde, Freidenker, Sänger, Abstinenten, Turner und Sportler, Unterrichtsauschüsse, Kunststellen, in ihrer Buntheit geschichtlich erklärbar, sie werden sich dem Gesetz der kulturellen Konzentration zu beugen haben; sie sind aus dem Nebeneinander des geistigen Strebens // zu einem Miteinander, zu einem Füreinander zu formen. Wer fühlt es nicht? Der Wille zum Zusammenschluss all dieser Gruppen und Sparten ist da. Viele fassen den Weg dahin als Frage äußerer Organisation auf; sie irren. Man versuche nur die Zusammenschweißung! Es werden sich Hemmnisse geistiger Natur, Gegensätzlichkeiten des Erziehungswillens zeigen. Der großen Vereinigung wird schwere, grundlegende Aussprache über das allein Einigende vorausgehen müssen: über Inhalt und Form proletarischer Kultur, über ihr Wesen, über ihre Geschichtsaufgaben, über die grundsätzliche Trennung von Arbeiterbildung und Volksbildung als Gesellschaftsnotwendigkeiten gesonderter Klassen, kurz über Weg und Ziel des gesamten geistigen Klassenkampes.

             Wie Partei und Gewerkschaft nicht wirken können, nicht leben wollen ohne ständige Durchdenkung, Überprüfung, Ergänzung und Beachtung ihrer Programme und Aktionsmethoden, so bedarf erst recht die proletarische Geistigkeit in ihrem Kampfverbänden eines gemeinsamen, von allen beratenen, von allen beschlossenen, alle verpflichtenden Kulturprogrammes.

             Entfernung und Annäherung der täglichen Bildungsarbeit all unserer Vereine diesem Programm gegenüber – das ist dann Grundlage unserer eigenen Kritik. Das erst schafft Möglichkeiten sozialistischer Kritik an proletarischer Kultur. Das erst pflanzt geistiges Verantwortungsgefühl und kulturelle Wachsamkeit in die Massenseele des Proletariats.

             Dann, und hoffentlich bald, reihen sich den Kongressen der Partei und Gewerkschaft die Kulturtage der kämpfenden Arbeiterklasse an, die Jahr um Jahr Rechenschaft ablegen von dem Kampfe des Sozialismus um Hirn und Herz der schaffenden Menschheit.

In: Der Kampf, Sozialdemokratische Wochenschrift, Mai 1926, Nr. 5, S. 193-195.

David Josef Bach: Die Kunststelle der Arbeiterschaft

Als im November 1919 mit Beschluß des Parteivorstandes eine eigene Kunststelle der Bildungszentrale errichtet wurde, dachte man zunächst nur an eine bequemere organisatorische Zusammenfassung der vorhandenen Bestrebungen; ein Ausbau schien möglich und wünschenswert, aber seine Dimensionen waren nicht weniger als klar. Vorhanden war nicht allzuviel. Vor allem die Arbeiter – Symphoniekonzerte, die in Wien im Gegensatz zu allen anderen Städten Deutschlands am Beginn der proletarischen Kunstpflege stehen und daher auch der ersten Wiener Volksbühne um einige Jahre voraus sind. Die Arbeiter – Symphoniekonzerte in ihrem äußerlich bescheidenen Umfang hatten zähe auch die Schwierigkeiten der Kriegszeit überstanden. Die Volksbühne jedoch, schon vor dem Kriege fast vollständig zugrunde gerichtet, schleppte nach dem Verlust des eigenen Theaters kümmerlich ein paar hundert Mitglieder weiter. Sie kamen so wenig in Betracht, daß, als nach dem Umsturz zum erstenmal Vorstellungen in den ehemaligen Hoftheatern, nunmehr Staatstheatern, stattfanden, diese Vorstellungen unter dem Namen der Arbeiter – Symphoniekonzerte gehen mußten, weil diese die einzige Organisation waren, die tatsächlich ganz Wien umfaßte. Mit der Gründung der Kunststelle war ein neues Organ geschaffen, daß auch für das Theater überhaupt für das gesamte Gebiet der Kunst dasselbe leisten sollte wie vordem die Arbeiter – Symphoniekonzerte allein. Da gab es nun die erste große Schwierigkeit. So groß nämlich das Bedürfnis der Arbeiterschaft nach guten Vorstellungen war, fast ebenso groß war nach den üblen Erfahrungen, die sie mit der ersten Volksbühne gemacht hatte, das Mißtrauen gegen den Zwang und die materielle Belastung einer neuen Volksbühne. Es mußte daher ein anderer Weg gewählt werden, der den Verhältnissen Rechnung trug, ohne das Ziel aufzugeben. Die Kunststelle ist zum Unterschied von allen ähnlichen Volksbühnenorganisationen nicht auf die einzelnen Mitglieder, sondern auf die politischen  und gewerkschaftlichen Organisationen aufgebaut. Die Kunststelle gibt die Karten nicht an den einzelnen Teilnehmer, sondern in vereinbartem Ausmaß an jede teilnehmende Organisation ab, die erst wieder den Betrieb an ihre Mitglieder übernimmt. Dadurch ist für beide Teile das Gefahrenrisiko ausgeschlossen, natürlich nur so lange, als die Kunststelle wirklich das Vertrauen der Arbeiterschaft genießt, weil davon die Höhe der Kartenbestellung durch die Organisation abhängt. Die Ausdehnung, die die Kunststelle nun tatsächlich gewonnen hat, weißt natürlich in erster Linie der Massen, dann aber wohl auch das Vertrauen der Massen zu dieser Kunstorganisation.

           Noch im Jahre 1919 stiegen wir auf durchschnittlich zwanzig Vorstellungen im Monat, im vergangenen Jahre bereits auf 39 und in den letzten zehn Monaten wurden nahezu eine halbe Million Eintrittskarten verbraucht. Noch in einer anderen Hinsicht muß die Kunststelle beweglicher sein, als es sonst Volksbühnenorganisationen zu sein pflegen. Wir haben Vorstellungen in den Theatern aller Grade und aller Arten. Diese große Bereicherung des Spielplanes, die durch ein einziges Theater allein, und wäre es das größte, niemals erzielt werden kann, bringt organisatorisch den Nachteil einer größeren Schwierigkeit bei der Kartenverteilung mit sich; ein mechanisches Gleichmaß ist vollkommen ausgeschlossen. Dazu kommt, dass die Preise der einzelnen Vorstellungen je nach dem Theater verschieden sind, ja auch die Preise der Vorstellungen in demselben Theater; jedesmal ist der Fassungsraum ein verschiedener, auch in demselben Theater wechselt die Zahl der verfügbaren Sitze, und da durchschnittlich alle zwei Monate eine Verteuerung eintritt, maß immer eine neue Umrechnung vorgenommen werden. Um nur ein Beispiel zu geben: Von 5000 Kronen, die eine Vorstellung im Burgtheater noch 1920 kostete, sind wir jetzt auf das nahezu Zwanzigfache gestiegen. Es darf dabei jedoch nicht übersehen werden, daß die Staatstheaterverwaltung selber bei diesen Arbeitervorstellungen finanzielle Opfer bringen muß. Damit allein wäre es nicht getan, denn die Einnahmen, welche die Kunststelle aus dem Kartenvertrieb erzielt, bleiben in den allermeisten Fällen hinter den Selbstkosten zurück. Dies ist der Punkt, an dem die Hilfe der Gemeinde Wien (gesperrt gedr. Im Orig.) in großzügiger Weise eingesetzt hat .

           Mußten wir noch das Jahr 1919 hindurch die Arbeiter-Symphoniekonzerte zum Beispiel ohne jede Subvention durchbringen, so wäre dies heute bei den Saal- und Orchesterpreisen schlechterdings unmöglich; es ist ausgeschlossen, die Preise so zu erhöhen, daß sich die Veranstaltung selber decke, will man nicht die Arbeiter aus den für sie bestimmten Veranstaltungen vertreiben. Die Gemeinde Wien widmet seit 1919  6 Prozent des Ertrages der Lustbarkeitssteuer der Unterstützung künstlerischer Veranstaltungen „für Arbeiter, Angestellte und Schüler“. Diese Unterstützung allein ermöglicht es, Arbeitervorstellungen und Arbeiter-Symphoniekonzerte aufrecht zu erhalten. Allerdings, die Grenze nach oben ist bereits erreicht und ob sie nicht überschritten wird, wenn eine neue, heute schon unausweichliche Verteuerung eintritt, werden schon die nächsten Wochen lehren. Von dem Kampf, den die Bühnenangestellten um ihre Existenzmöglichkeit führen müssen, werden auch die Arbeitervorstellungen berührt. Es hat schon im vergangenen Jahre nicht an Versuchen gefehlt, die Arbeitervorstellungen gegen die geistigen und manuellen Arbeiter des Bühnenbetriebes auszuspielen, selbstverständlich ohne Erfolg. Auf der anderen Seite ist es ebenso unmöglich, auf dem Umweg über die Subvention unsere Veranstaltungen zu einer größeren Beitragsleistung für die Theaterunternehmungen heranzuziehen. Theaterdirektoren schenken uns nichts; sie sind schließlich auch nicht dazu berufen. Eine nüchterne Betrachtung der Tatsachen lehrt, daß die Arbeitervorstellungen ein sehr großer wirtschaftlicher Faktor für die Wiener Theaterbetriebe geworden sind, ja daß einzelne Betriebe ohne diese Vorstellungen gar nicht aufrecht erhalten werden könnten.

          Aber noch mehr. Mit der Organisierung der Arbeitermassen als Theaterkonsumenten ist die Aufgabe einer proletarischen Kunststelle keineswegs erfüllt. Wenn wir die ursprünglich guten Instinkte eines neuen Theaterpublikums entwickeln, wenn wir es ohne Zwang, nur durch das Beispiel, durch Selbsterziehung, dahin bringen, nur Gutes und Wertvolles zu verlangen, so veredeln wir damit auch das Theater. Heute stehen die Dinge so, dass selbst die größten und reichsten Bühnen wirklich wertvolle Stücke nicht aufführen können, ohne sich vorher der Hilfe der Kunststelle zu versichern. Niemals wäre das deutsche Volkstheater an eine Neuinszenierung des „Don Karlos“ geschritten, niemals an die Aufführung von „Dantons Tod“, niemals wäre „Gas“ aufgeführt worden, wenn nicht die Kunststelle von vornherein eine Anzahl Aufführungen erworben hätte. Die Beispiele lassen sich leicht vermehren, auch für andere Bühnen. Es gereicht den Direktionen zur Ehre, daß sie diese Hilfe benützen, um auch ihr künstlerisches Programm durchführen zu können. Diese Hilfe zu gewähren ist nicht immer ganz leicht. Denn die Kunststelle kann den Bühnen weder den Dramaturgen noch den verantwortlichen Oberregisseur ersetzen, sie kann aber auch nicht zugeben, daß die literarischen Versuche der Wiener Theater ausschließlich auf Kosten der Arbeiterschaft unternommen werden. Daß es kein Literaturcafé gibt, welches jetzt nicht sogenannte, „revolutionäre“ Stücke liefern würde, oder Dramen, die an die „Zukunft“ appellieren, versteht sich. Doch die Arbeiterschaft braucht nicht ein „Theater der Intellektuellen“, das heißt in Wahrheit ein Theater des papierenen, totgeborenen Geistes, sondern sie braucht das Theater des Volkes, des Volksganzen, zu dem alle lebendige und lebensfähige Kunst gehört.

Bezeichnend genug können in Wien auch Volksstücke und wirklich lustige Possen nicht aufgeführt werden, wenn nicht die Arbeitermassen dafür eintreten. Wir haben A n z e n –

g r u b e r vor dem Verschwinden aus den Spielplänen gerettet, wir werden ähnliches bald für

N e s t r o y leisten müssen. Während das Amüsierbedürfnis der Zahlungsfähigen dem „Schwan“ von Molnar nachläuft, hat die Arbeiterschaft allein sechzehn Aufführungen seiner besten Dichtung „Liliom“ ermöglicht. Ein redlicher Künstler wie Rudolf H a w e l hätte es mit seinem Volksstück „Der reiche Aehnl“ nicht über zwei Aufführungen gebracht, wenn nicht die Kunststelle eingegriffen hätte; jedes Mal hat jubelnder Beifall dem Volksdichter gedankt. Und wie war es den mit Raimund? Als Karl E t l i n g e r, den jetzt Berlin als Schauspieler und Regisseur festhält, die „gefesselte Fantasie“ bearbeitet und neu einstudiert hatte, fand sich hierfür überhaupt kein Theaterdirektor: erst als sich die Kunststelle von vornherein verpflichtete, wagte es ein Theater. In Berlin hat jetzt das Staatstheater die „gefesselte Fantasie“ in der selben Bearbeitung, mit dem selben Etlinger als eine Art Sensation herausgebracht, bei uns in Wien hatten wir die Sensation von achtzehn Aufführungen ausschließlich vor Arbeiterpublikum. Noch ein besonders bezeichnendes Beispiels verdient Erwähnung: die „Troerinnen“ des Euripides, eine der besten Aufführungen des Burgtheaters, waren schon abgesetzt, da wagte es die Kunststelle mit vier Aufführungen, und der tiefe Eindruck, den die Dichtung auf proletarische Hörer machte, gab ihr Recht. Natürlich war es ein Wagnis und wir müssen oft genug wagen. Richtung und Haltung gibt die Ueberzeugung, daß a l l e Kunst, insofern sie überhaupt Kunst ist, revolutionär ist und revolutionär wirkt. In Deutschland, wo es Volksbühnen der verschiedensten politischen und religiösen Parteien gibt, wird lebhaft die Frage erörtert, ob und in wieweit Kunstwerke herangezogen werden dürfen, die nicht unmittelbar dem begrenzten Fühlen und Wollen eines bestimmten Kreises entsprechen. Aber ist nicht diese Fragestellung an sich irreführend, falsch? Grundsätzlich müssen wir daran festhalten, jede Kunst, die ihren Namen verdient, dem Volk zu erschließen. Die taktischen Probleme, die sich bei der Durchführung ergeben, sind nicht Fragen der p o l i t i s c h e n Opportunität, oder nur in einem sehr geringen Grade, sondern der künstlerischen und kunsterzieherischen. Auch hier sind Wagnisse, ja Irrtümer und Fehler unvermeidlich, doch vor lauter Schwierigkeiten und der Furcht davor darf uns nicht der Weg verloren gehen, den die Arbeiterklasse, der Erbe der Zukunft, zuschreiten bestimmt ist.

           Die Frage  der Durchführung hat die Kunststelle auch einen Versuch unternehmen lassen, der für die Volksbühnen, zumindest die proletarischen, etwas Neues darstellt. Das im Wesentlichen schon längst bekannte Prinzip der Wanderbühnen nämlich ist hier eigenartig ausgestaltet worden. Wenn man die Arbeiter aus diesem oder jenem Grund nicht zur Kunst bringen kann, so muß man die Kunst zur Arbeiterschaft bringen. Dies gilt nicht bloß für die Provinz, sondern auch für Wien selbst, wo in den Randbezirken Zehntausende von Proletariern wohnen, die Scheu, auch Bequemlichkeit, von dem Besuch der großen zentralen Bildungs- und Kunststätten abschreckt. Aber wie wir mit politischen und gewerkschaftlichen Vorträgen überallhin dringen müssen, so auch mit der Kunst. Also spielt die Kunststelle in Floridsdorf, in Leopoldau, in Simmering, in Breitensee u.s.w. überall, wo es nur ein halbwegs brauchbares Podium gibt. Wir haben in B e t r i e b s k ü c h e n Wiener Abende veranstaltet, die hellen Jubel weckten und sofort wiederholt werden mußten. Aber wir spielen auch  T h e a t e r, und zwar mit unserer eigenen V e r s u c h s b ü h n e, die von der offiziellen Wanderbühne des Unterrichtsamtes und ähnlichen Veranstaltungen wohl zu unterscheiden ist. Denn wir können uns bei der „Neutralität“ der Kunst nicht gänzlich bescheiden. Es gibt künstlerisch durchaus wertvolle und jedenfalls künstlerisch zu rechtfertigende Stücke, ernste und heitere, ja auch Lieder, Couplets, Soloszenen und dergleichen, die ihre revolutionäre sozialistische Gesinnung ganz unbekümmert ausdrücklich aussprechen. Sie könnten niemals aufgeführt werden, böte die Versuchsbühne nicht Möglichkeit dazu. Sie ist eine richtige s o z i a l i s t i s c h e Bühne, die jungen, unbekannten Autoren, jungen noch unerprobten Schauspielern und einem noch jungen, weil noch unverkünstelten Publikum dient. Sie erfüllt damit eine der Aufgaben, die uns auf dem Gebiet der Kunst und der Kunsterziehung gestellt sind, und gerade sie macht besonders klar, daß auch dieses Gebiet nicht für sich allein existiert, sondern das alles miteinander in einen Zusammenhang gehört, in dem Befreiungskampf des Proletariats überhaupt.

In: Arbeiter-Zeitung, 30. Oktober 1921, S. 7.

Hans Margulies: Echo der Zeit

             Niemand kann aus seiner Haut heraus. Der Dichter, der Schriftsteller, am allerwenigsten. Denn was er kündet, ist das Geschehen der Welt, das Echo der Zeit, wie es sich in ihm, durch ihn geformt hat.

             Spätere Generationen werden deutlicher noch als wir die Trennungslinie, die durch die literarische Produktion unserer Zeit läuft, feststellen können. Aber auch heute schon ist sie, wenn auch noch nicht mit jener Genauigkeit, die nur der Rückblick ermöglicht, in den wichtigsten Punkten markant.

             Es wäre falsch oder zumindest sehr ungenau, wollte man sagen, daß die Reaktion auf politische Geschehen die Handhabe zu dieser Trennung gäbe. Ebenso ungenau wäre die Behauptung, daß es sich hier um die Gegensätzlichkeit der Generationen handelt. Wie es überhaupt schwer fällt, Geistiges auf eine knappe Formel zu bringen. Ein angedeuteter Vergleich möge diese ersetzen: Die einen empfinden die Gegenwart als mehr oder minder harmonische Fortsetzung der Vergangenheit, während die anderen als Grundlage ihrer Einstellung die Überzeugung besitzen, daß das Vergangene absolut vorüber und das Heute ein Anfang, ein völlig neues Beginnen ist.

             Namen werden dies vielleicht verdeutlichen, Gerhart Hauptmann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Rainer Maria Rilke. Jakob Wassermann, Robert Musil gehören der einen, Henri Barbusse, Romain Rolland, Anatol France, Heinrich Mann, Leonhard Franck, Alfred Döblin, Otto Flake, Robert Müller der anderen Seite an.

             Am deutlichsten aber wird diese essentielle Scheidung, vergleicht man zwei soeben und gleichzeitig erschienene Bücher daraufhin miteinander, natürlich ohne mit diesem Vergleich etwas anderes als eine geistige, also keine ästhetische oder qualitative Gegenüberstellung bezwecken zu wollen.

             Jakob Wassermanns vierter Teil des „Wendekreis“, „Faber oder Die verlorenen Jahre“ (S. Fischer, Berlin) ist gewiß eine bewußt ehrliche Auseinandersetzung mit unserer Zeit, wie Wassermann sich ja seit jeher bemüht, auf das Geschehen rings um ihn zu reagieren, und der Entscheidung nie ausweicht. Warum aber ist dann dieser Roman doch nicht das geworden, was Wassermann selbst mit seinem „Wendekreis“, den Büchern der Zeitenwende, zu geben beabsichtigte? Es führt in keine Zukunft, es ist das Ablaufen des Vergangenen. Ein rein bürgerliches Problem: Eine Ehe, die in der Vorkriegszeit so harmonisch, so absolut glücklich sich gestaltet hat, wie dies nur in den allerseltensten Fällen denkbar ist, läßt sich nach der erzwungenen Trennung durch Kriegsdienst und Gefangenschaft des Mannes, nicht wieder fortführen, da in der Zwischenzeit die vorher Ineinanderlebenden sich auseinander entwickelt haben. Sie finden nicht mehr zusammen, wenn uns auch der Dichter mit der Hoffnung entläßt, daß irgendwann einaml wieder die Harmonie der gestörten Zeit hergestellt sein wird.

             Wer sehend durch die letzten zehn Jahre gegangen ist, weiß, daß das Thema dieses Romans vielfältig vom Leben variiert wurde, daß es wirklich ein Problem allzu Vieler ist. Und doch! Was geht uns das heute an? Ganz unpolitisch gesprochen. Die Ästhetik, Ethik und Moral dieser bürgerlichen Gesellschaft, um die es da geht, hat für uns ihre Bedeutung verloren, denn diese bürgerliche Welt ist an ihrem Ende angelangt, und was wir jetzt durchleben, ist ihre Auflösung und ihr Übergang in etwas Neues, das wir noch nicht voraussehen können, aber von dessen Kommen wir überzeugt sind.

             „Rebellen“ (Verlag Die Schmiede, Berlin) heißt das andere Buch, das als Gegenstück herangezogen werden soll. Sein Autor, Josef Roth, ein noch zu wenig bekannter Schriftsteller.

             Ein Jemand, einer aus der namenlosen Masse, hat im Krieg ein Bein verloren, dafür eine Medaille erhalten und eine Lizenz als Drehorgelspieler. Damit ist er, der Untertan, für sein Gefühl selbst schon Autorität, Behörde geworden. Sein Glück wird vollständig, als ihn sich eine junge Witwe mit Wohnung als Mann nimmt. Nachdenken ist nicht seine Art. Er hat, was er will. Und mißbilligt Unzufriedenheit und Empörung der anderen Invaliden. Da er in eine Invalidendemonstration gerät, packt ihn der Ärger und in dieser momentanen Verstimmung stößt er an einen Spießer, der auch wütend ist. Das Wort „Bolschewik“ fällt, und er, der staatstreue, autoritäre Invalide, fühlt sich angegriffen, fühlt in sich die Behörde beleidigt und schlägt mit der Krücke um sich und auch einen Polizisten. Lizenzentzug, seine Frau wirft ihn hinaus, verkauft seine Frau verkauft seine Drehorgel; Schluß des kleinbürgerlichen Glücks. Eine Vorladung zu Gericht für zehn Uhr. Aber um sieben Uhr schon wird er auf die Polizei gebracht und, ein Michael Kohlhaas, wird vorläufig einmal, weil sich der Polizeibeamte von ihm keine Vorschriften machen lassen will, für vierundzwanzig Stunden eingesperrt und natürlich in der Zwischenzeit, in seiner Abwesenheit, bei Gericht verurteilt.

             In der Zelle rebelliert es in diesem Ungeistigen, dessen Gerechtigkeitsgefühlt so brutal verletzt wurde. Eine ganz dumpfe, unwissende, unpolitische Umstellung auf die Gegenseite. Gegen den Staat, die Behörde, die Autorität. Nach verbüßter Haft – der Gefängnisdirektor ist bemüht, eine Wiederaufnahme des Prozesses zu erzielen – wird er im Dienst eines Konjunkturverbrechers Toilette-Aufseher in einem Kaffeehause. Da kommt die Vorladung zur zweiten Verhandlung. Schon glaubt er vor seinem Richter zu stehen und schüttet sein Herz aus, da begreift er, daß er tot ist und vor dem himmlischen Richter steht. Und rebelliert. Und sagt, was er in seinem dummen Herzen, in seinem Ungeist mit sich trägt. Aus der Kaffeehaustoilette ins Anatomische Institut, das ist der letzte Weg des Nachfahren von Crainquebille.

             Diese „Rebellion“ geht uns an. Das sind wir, die rebellieren, wir, die wir uns wehren, die es anders haben wollen, die wir wissen, daß wir ein Anfang sind, ein böser, häßlicher, unbequemer Anfang. Den wir aber auf uns nehmen, weil wir die Ungerechtigkeit des Gestern nicht in unser Heute tragen wollen. Denn wir wissen, daß unabhängig davon, ob wir es erwünschen oder nicht, etwas Neues begonnen hat, wenn auch das Gewesene noch fortlebt. Und darum sehen wir in Wassermanns neuem Buch nur den Beitrag zur Psychologie des Gestern, in dem von Roth aber spüren wir den Atem des Kommenden.

             Zwei gute Bücher, Bücher, die gleichzeitig erschienen sind und doch aus zwei Welten stammen. Echo der Zeit.

In: Der Tag, 26.11.1924, S. 4.

e[rnst] f[ischer]: Sprechchor und Drama

Alle, die das Problem des Theaters, des Dramas, der Bühnenkunst prüfen, konstatieren seit Jahren in sämtlichen europäischen Ländern die Krise des Schauspiels. Immer wieder ist es vor allem das eine, dessen Mangel schmerzlich empfunden wird: der unmittelbare Kontakt mit dem Publikum. Einst Megaphon religiöser Erlebnisse, später Tribüne herrschender oder revoltierender Klassen, ist das Theater ein Luxuslokal geworden, in dem zusammengewürfelte Massen sich unterhalten wollen. Einerseits erstarrte das klassische Drama in tönender Langeweile, Anlaß zu Festprologen und billigen Phrasen, andererseits waren Autoren und Regisseure gezwungen, durch Effekte lärmender oder sentimentaler Art die Nerven des Publikums zu dem neuen Werke zu verführen. Zwischen  dem zahlenden Publikum und der Bühne klaffte ein Raum, der nur durch die Sensation überbrückt werden konnte.  Dichtung, Inszenierung, Erfolg waren Zufälle ohne tiefere kulturelle Bedeutung, ohne lebendige Bindung mit der Zeit. Man konnte immer auch anders. –

             Das Theater der letzten Jahrzehnte war das Theater des altgewordenen Bürgertums, des Bürgertums, das die Klassiker zu Zitatenonkeln entfärbte und sich bei Operetten von ihnen erholte, des Bürgertums, dem die Werte Schillers zur Konvention und Extravaganzen der Kunst zum Bedürfnisse geworden waren, des Bürgertums, das aus der Wirklichkeit in die Romantik floh. Der Naturalismus war der letzte große und einheitliche Versuch, aus verstaubten Kulissen das schwindende Leben zu retten, der Naturalismus, der zugunsten der von den bürgerlichen Epigonen mit Limonade vergifteten Wahrheit auf Stil und Symbol verzichtete und sich daher sehr bald in innere Widersprüche verwickelte, an denen er starb. Dann kamen die teils genialen, teils schwachsinnigen Experimente des einzelnen, auf eigene Faust eine neue Form des Dramas zu finden. Von den gewaltigen Experimenten Strindbergs und Wedekinds bis zu den blutlosen Konstruktionen der Expressionisten oder den Kunststücken Pirandellos wirken nur ein gemeinsames Wissen, ein gemeinsamer Wille in den Dramatikern des interessant verwesenden Bürgertums: „Die alten Formen sind tot, wir müssen neue finden.“

             Es ist charakteristisch für die Zeit der triumphierenden Technik, daß die Regisseure (vor allem die russischen) die Möglichkeiten einer Theatererneuerung viel deutlicher witterten als die Dramatiker, daß die Inszenierung die Voraussetzungen für Kunstwerke schuf, mit denen die Zeit schwanger geht, ohne sie gebären zu wollen. Der Regisseur riß die Herrschaft an sich und wurde zum eigentlichen Schöpfer und Dichter, ohne daß aus der wundervollen Maschinerie ein Gott sich erhob. Aber die Bühnenzauberer unserer Tage, die Meister des Lichtes, der Farbe und der Dynamik, haben Urkräfte des Theaters entfesselt: Sie haben die von Pedanten vertriebene Lust am Spiel zurückgerufen und sie haben künstlerisch das zwanzigste Jahrhundert entdeckt. Das alles gilt freilich nur für die Inszenierung, nicht aber für die Unterwerfung der Darsteller unter einen bestimmten Stil.

             Das Proletariat war von diesen Ereignissen ausgeschlossen, das Theater war eine Angelegenheit der bürgerlichen Gesellschaft – und weil es das war, konnte es nicht mit strotzendem Leben erfüllt werden. Die sterbende Klasse war nicht mehr fähig, kulturproduktiv in die Zukunft zu zeugen. Nun aber erleben wir etwas seltsam Erschütterndes: Während das Bürgertum die technischen Voraussetzungen für eine neue Bühnenkunst improvisierte und das Theater technisch revolutionierte, begann im Proletariat die neue Form des Dramas organisch sich zu entfalten. Kulturelemente werden nicht am Schreibtisch erklügelt, sie wachsen langsam in tausend Herzen und sind auf einmal da.  Und so entstand an vielen Orten zugleich, aus der Schöpfersehnsucht der proletarischen Jugend geboren, der Sprechchor. In namenloser Gemeinschaft, wie es an den Maschinen steht, wie es gegen die Ordnung der Dinge sich aufbäumt, wie es zu schicksalsverkitteter Solidarität sich bekennt, schafft sich das Proletariat seine Kunst. Der Sohn, die Tochter aus bürgerlichen Familie imitieren, wenn sie sich künstlerisch betätigen, den übelsten Typus des bürgerlichen Kunstbetriebes, den Star, der junge Proletarier, die junge Proletarierin symbolisieren in ihrem Verlangen nach künstlerischem Ausdruck das Schicksal der Klasse, der sie angehören, den Dienst an anonymem, an kollektivem, an gemeinsamem Werk. Kunst und Leben sind eins in diesem Tun und das ist entscheidend, jede Kultur entsteht aus dieser Einheit von Kunst und Leben, jede Kultur zerbröckelt, wenn diese Einheit sich auflöst.

             Ich halte den Sprechchor in der Tat für die Urform eines neuen Dramas, wie einst der griechische Chor, wie einst der Chor der ersten Kirchenspiele es war. Und wer vor einigen Tagen im Opernhaus den Sprechchor der sozialistischen Arbeiterjugend sah und hörte, wer die wundervolle Kraft und Erschütterung, die von der Sinfonie ihrer Stimmen und der Reinheit ihres Spieles ausging, erlebte, der wird meinen Glauben und meine Hoffnung teilen. Man könnte vielleicht einwenden: Was soll ein gelungenes Experiment beweisen? Nun, was ursprünglich nur als Experiment gedacht war, wurde zum wesentlichen Ereignis. Es handelt sich nicht so sehr um den Effekt, den man mit einem sorgfältig geschulten Sprechchor erzielen kann, es handelt sich vor allem darum, daß das Publikum wieder mitspielt, daß die Menschheit der Zukunft, die Arbeiterschaft, die bisher im bürgerlichen Theater nur ein geduldeter Gast war, sich selber auf der Bühne erleben kann, und zwar nicht nur inhaltlich (das war schon bei manchen naturalistischen Dramen, man denke nur an „Die Weber“, der „Fall“), sondern auch in seiner ureigenen Form, in der unisono empfindenden und hanselnden Masse.

             Das Drama der Zeit, die Großstadt, die Arbeiterbewegung, die Revolution, mußten stets in die Formelemente des bürgerlich-individualistischen Dramas übertragen werden, damit man es überhaupt darstellen konnte – und an diesem inneren Widerspruch kranken alle revolutionären Bühnendichtungen unserer Tage. Es war wohl möglich, eine Massenaktion äußerliche richtig, in photographischer Natürlichkeit, auf die Bühne zu projizieren, aber die innere Wirklichkeit, das geheimnisvolle Fluidum der Masse mußte geopfert werden. Und da es im Drama vor allem um innere Erlebnisse geht, waren die großen, die mythischen, die göttlichen Dinge des zwanzigsten Jahrhunderts von der Bühne so gut wie verbannt und die erotischen und pathologischen Konflikte des untergehenden Bürgertums beherrschten das Repertoire. Eine Wiedergeburt der Tragödie aus dem proletarischen Sprechchor würde die Dichter zur Überwindung der kleinlichen Psychologie, der medizinischen Spässe, der überspitzten Gehirnschweinerein, würde sie zu Form und Größe erziehen.

             Das heißt natürlich nicht, daß morgen oder übermorgen das neue Drama blank und gepanzert vor uns hintreten wird; aber alle Dramatiker, die unter dem Zwiespalte der Bühnenkunst leiden und um den künstlerischen Ausdruck der Zeit ringen, werden bald zu dem Sprechchor der Arbeiterschaft in die Schule gehen und hier aufatmend, mitten unter Maschinen und Konstruktionen, etwas organisch Bewachsenes, herrlich Lebendiges entdecken, etwas das nur darauf wartet, einem Werke dienen zu dürfen. Die Möglichkeiten sind euch gegeben, und das Zeit, die Techniker der Inszenierung und das Proletariat haben alles für euch getan, ihr müßt nur hineingreifen in diese beginnende Welt und aus ihr ein dramatisches Gleichnis formen. Denn nicht aus euren einsamen Experimenten, nur aus dem Wesen einer neuen Gemeinschaft wird eine neue Kultur und mit ihr ein neues Drama sich bilden. Und tausendmal lebendiger und ergreifender als alle eure persönlichen Konflikte und Probleme ist der Sprechchor, den die Arbeiterjugend sich geschaffen hat.

In: Arbeiterwille, Graz, 18.10.1925, S. 5-6.1

  1. Der Text ist auch abgedruckt bei: Ernst Fischer: Neue Kunst und neue Menschen. Literarische und essayistische Texte aus seinen Grazer Jahren (1918-1927). Hg. von Jürgen Egyptien. Graz: Clio 2016, 219-223.

N.N.: „Brülle China“. Neues Wiener Schauspielhaus.

             In der dumpfen schwülen Wüste des völlig geistlosen, bürgerlichen Wiener Theaters eine kleine Oase. Sie sticht umsomehr von der Umgebung ab. Sie kommt für die Arbeiterschaft gerade dieser Stadt umso überraschender und kann deshalb mit umso größerer Freude begrüßt werden, weil das Theater in Wien überhaupt aufgehört hat, auf die Arbeiterschaft, die zu neunzig Prozent die Bevölkerung Wiens bildet, irgendwie Rücksicht zu nehmen. In keiner anderen Stadt z. B. Deutschlands wäre es möglich, daß ein solcher Kurs in den Theatern eingeschlagen wird wie in Wien, wo nahezu sämtliche Theater völlig abhängig sind von der Sozialdemokratischen Kunststelle und der sozialdemokratischen Gemeindeverwaltung. Darüber wird noch zu sprechen sein.

             Aktuelles Theater. Ein Ausschnitt aus den Kämpfen, den brennendsten Kämpfen der Gegenwart. Das bedeutendste Ereignis des gegenwärtigen Weltgeschehens: der Befreiungskampf der unterdrückten Kolonialsklaven, die Flammenzeichen gegen die imperialistischen Unterdrücker. Ein Russe, Genosse Tretjakow, hat ein bewußtes Tendenzstück geschrieben, das von Meyerhold in einer Weise inszeniert wurde, die in der ganzen Welt Beifall und Aufsehen erregte. Beide, Tretjakow und Meyerhold, haben damit neuerlich den Beweis geliefert, daß ein wirkliches Kunstwerk, das imstande ist, die Massen zu erfassen und mitzureißen, nur entstehen kann aus dem kämpfenden Leben bei eindeutiger und klarer Stellungnahme. Das ist verpönte „Tendenz“, die das Bürgertum und mit ihm auch die Sozialdemokratie aufs tiefste haßt und ablehnt.

             Die Handlung, die der Wirklichkeit entnommen wurde: Ein amerikanischer Kaufmann kürzt den Kulis, die ihn Lasten schleppen, den kärglichen Hungerlohn. Er beginnt auch mit dem Schiffer, der ihn auf einem kleinen Boot vom englischen Kriegsschiff an Land bringt, Streit wegen des Fuhrlohns, versucht dem Chinesen das Ruder zu entreißen, um ihn damit zu schlagen. Er kommt aber dabei selbst zu Fall, stürzt, fällt über Bord und ertrinkt. Viele Zeugen haben vom Ufer aus den Vorfall beobachtet, auch die Offiziere. Dennoch verlangt der Kommandant des „Kanonenboots Seiner Majestät des Königs von England“ von der Stadt Wanshien Sühne für den „Mord“. Entweder sofortige Hinrichtung des Schiffers, in dessen Kahn der Kaufmann fuhr oder – da dieser von den Schiffern versteckt wird – Hinrichtung von zwei Mitgliedern der Schiffergilde. Falls diese Forderung bis zum nächsten Tag nicht erfüllt ist, wird die Stadt bombardiert. Der englische Journalist drahtet an die Weltpresse: „Schamlose Ueberfälle von Chinesen auf Europäer, drei Kaufleute ermordet, als Auftakt zu weiteren Morden.“ Ein Telegramm der chinesischen Behörden wird nicht befördert. Die Chinesen sagen: „Auch ein englischer Kapitän muß sich in seinen Forderungen mäßigen, wir werden uns beim sozialistischen Ministerpräsidenten von England beschweren“. „Ich kenne keinen solchen“, antwortet der Kapitän, „ich kenne nur einen Ministerpräsidenten Seiner Majestät, des Königs von England.“

             Die Masse der verhungernden Kulis, die um sich vor dem Hungertod zu retten, ihre Kinder und Frauen für ein paar armselige Münzen an Europäer verkaufen, beginnt zu rebellieren. Noch kennen sie nicht den Grund ihrer Unterdrückung, noch haben sie kein Klassenbewußtsein. Allmählich – und das bringen Autor und Regisseur meisterhaft zum Ausdruck – dringt die Erkenntnis durch, daß die Kulis ganz Chinas zusammenstehen und kämpfen müssen gegen die Unterdrücker. Die Kulis fragen nach Recht. „Für euch gibt es keins“, antwortet einer aus ihrer Mitte, „ihr werdet getreten, geschunden, geköpft, euch nimmt man euer Land, weil ihr arm seid.“ Die Chinesen gehen nochmals aufs Kanonenboot, um den Kapitän zu bitten, von dem Mord an den Schiffern abzulassen. Der chinesische Bürgermeister erniedrigt sich vor dem englischen Offizier, kniet vor ihm nieder. Aber je mehr sich die Chinesen erniedrigen, desto frecher werden die Bedrücker. (So ist es nicht nur in China!) Zwei Schiffer werden ausgelost, um dem imperialistischen Blutsauger als Opfer vorgeworfen zu werden. Die ganze Stadt würde sonst in wenigen Stunden in Flammen stehen. Ein Kuli stirbt für den andern! Das Klassenbewußtsein beginnt, feste Formen anzunehmen. „Sag mir einen von jenen, die sich gegen die Ausbeuter auflehnen und sie zusammenschlagen, sag mir einen, ich will mittun.“ Der andere Kuli, ein Wissenderer, antwortet: „Du, ich, er, wir alle!“

             Die beiden Schiffer werden zur Richtbank geschleppt, der Kapitän ist unerbittlich. „Hier stehe ich und keine Macht der Welt kann mich zwingen, diesen Platz zu verlassen.“ Es fehlt nicht der Millionär, der den Mord mitvorbereitet hat und nun Krokodilstränen vergißt, von den Chinesen aber schroff abgewiesen wird, es fehlt nicht die Wohltätigkeitsdame, die verspricht, den kleinen Sohn des ermordeten Schiffers in ein Waisenhaus zu bringen.

             Das Programm des Kapitäns ist erfüllt. Stolz und auf die Chinesen zynisch herabblickend, will er sich entfernen. Aber da geht auch die Geduld der Kulis zu Ende, der Sturm bricht los und unter den derben Fäusten der Proleten bricht der „Offizier Seiner Majestät, des Königs von England“ und Seiner Exzellenz, des sozialistischen Ministerpräsidenten Macdonald tot zusammen. Schon krachen auch die Salven vom Kanonenboot gegen die Stadt Wanshien, aber die Kulis sind zu einer eisernen Masse zusammengeschweißt, vorwärts, aufwärts geht es unter der Fahne Sunyaisens. Aufschreien die Kulis: „Brülle, China!“

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             Der Originaltext wurde an einigen Stellen geändert. So wurden alle Hinweise auf die Sowjetunion, die die Kulis im Kampfe gegen die imperialistischen Unterdrücker unterstützt und wegweisend voranschreitet, gestrichen. Der revolutionären Kraft des Stückes konnte aber dadurch nicht Abbruch getan werden.

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             So wirksam wie das Stück selbst ist die Regie Fritz Peter Buchs, die für Wien eine wahre Revolution bedeuten könnte, wenn wir nicht wüßten, daß nach dieser kleinen Oase wieder endlose schwüle geisttötende Wüste kommt. Auch die Darstellung steht durchaus auf dem gleichen künstlerischen Niveau.

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             Die Wiener Arbeiter haben es sich im Lauf der Jahre abgewöhnt, ins Theater zu gehen und so ist es nicht weiter verwunderlich, daß die proletarischen Massen dieser Stadt nur sehr spärlich ins Schauspielhaus strömen. Bezeichnend für die sozialdemokratische Kunststelle ist es, daß sie wohl Operettentheater und Bühnen, die allen erdenklichen Mist und Schund aufführen, füllt, bisher aber nicht die Massen auf das wirklich revolutionär-proletarische Stück „Brülle, China!“ aufmerksam machte.

             Es ist zu hoffen, daß die Direktion des Schauspielhauses, die in Tretjakows Stück nichts als ein Kunstwerk sieht und glaubte, damit gute Geschäfte zu machen, auch den revolutionären Arbeiterorganisationen den Besuch von „Brülle, China!“ durch Abgabe von ermäßigten Karten ermöglicht. Kein Arbeiter soll die Möglichkeit, einmal in einem Wiener Theater ein aktuelles revolutionäres Stück, geschrieben von einem russischen Genossen, zu sehen, ungenützt vorübergehen lassen.

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             Die gesamte bürgerliche Presse brüllt auf. Skandal! Bolschewisierung des Theaters! Verbieten! – Wir erwähnen das als Bestätigung der Richtigkeit des von uns vorher Gesagten.

In: Die Rote Fahne, 7. Mai 1930, S. 5. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

F. L.[orenz]: Dichter und Revolution. Ein Gespräch über entfesseltes Theater

Kürzlich sprach ich mit einem Dichter, der nach langjähriger Abwesenheit wieder nach Wien zurückgekehrt war und nun erschüttert vor der Ruine des Justizpalastes stand. Das Gespräch drehte sich um die Stellung des Dichters zur Revolution.

            „Was verstehen Sie unter Revolution?“ fragte der Dichter. „Wir, die wir schöpferisch arbeiten, die wir in anderem Sinn Nutznießer des Zeitgeistes sind als die Politiker, verstehen darunter schon jede Verzerrung des Straßenbildes. Das erscheint Ihnen sonderbar, überspannt? Sie meinen, daß Revolution für den Dichter erst dort beginne, wo eine Weltordnung im Wochenbett liegt? Wo aus dem Elend, der Angst Tausender von Menschen eine neue Idee entsteht? Sie irren, wir Dichter sind der Straße verhaftet, der Straße in ihrem unpolitischen Sinn, der Straße als der Summe des Unvermuteten, des Zufälligen, des Anregenden. Wir brauchen keine Haupt- und Staatsaktionen, im Gegenteil, wir scheuen sie. Was wir brauchen, sind die kleinen Winke, die uns die Straße gibt, eine schöne Frau, ein typisches Männerprofil, einen ungewöhnlichen Lichtreflex, den geheimnisvollen Chor aus Menschenstimmen, Tierlauten und Maschinengeräuschen, den krassen Wechsel der Stimmungen, der das Wesen der Städte bildet: hier Kaffeehaushalbdunkel, dort grelle Bogenlampe…“

            „Aber die Revolution?“ fragte ich.

            „Man möchte nicht glauben,“erwiderte mein Begleiter, „wie oberflächlich wir Dichter sind, wenn es Anregungen gibt. Darum scheint uns die Weltrevolution einem kleinen Straßenkrawall gleichwertig. Ueberlegen Sie doch: es handelt sich nur darum, was man sieht, was man miterlebt. Wenn wir uns einer Straße verschrieben haben, mit der wir leben, dann ist diese Straße die Welt und ihre Entfesselung die Weltrevolution. Ich habe auf meiner Reise durch die Länder viele Empörungen der Straße mitgemacht. Es waren oft nur kleine Zusammenstöße, die kaum die Lokalzeitungen beschäftigten. Mich aber erregten, schmerzten sie, als drohe die ganze Welt unterzugehen. Denn ich konzentrierte meine Liebe in diese Straßen, wie ein anderer eine Stadt, ein dritter etwa sein Vaterland liebt. Das müssen Sie festhalten, daß wir oberflächlich sind, wenn wir Stimmungen suchen. Der Kontakt mit der Welt, dem Zeitgeist findet sich später, unbewußt. Ich habe die Beobachtung gemacht, daß in dem Augenblick, da die Oberfläche der Zeit, der Straße revoltiert, mit einem Schlag die Quellen der Kunst versiegen, als sögen sie ihre Kraft aus eben dieser Oberfläche. Grotesker Zustand für einen Dichter, von dem Zufall eines Lohnkonflikts abhängig zu sein! Der Grund dafür: wir brauchen friedliche Entwicklung der Dinge und verabscheuen die billige Dramatik der entfesselten Straße.“

            „Dennoch gibt es Dichter, die gerade von der Revolution befruchtet werde?! Ich meine nicht die sozialen Dichter an sich, sondern die vor allem, die Revolution als wildbewegtes Drama fesselt.“

            „So wäre also mein Bekenntnis das „ecce homo“ des Bourgeois. So wären wir mit unseren Nerven, die kein Blut spüren können, ohne zu zucken, die dafür aber stark sind, wenn es gilt, unblutige Geheimnisse zu erleben, so wären wir mit unserem Sinne für Beschaulichkeit, für innere Sensation um Jahrzehnte zu spät geboren? Ich glaube es nicht. Bedenken Sie, daß alles Wilde, Unorganische den Spiegel der Zeit beschlägt, vor dem wir sitzen. Wir haben als Menschen nicht die Kraft zu so gewaltiger Objektivität, daß wir vor einer revolutionär aufflammenden Stadt daran denken könnten, daß hunderttausend andere Städte zur gleichen Stunde im tiefsten Frieden leben. Wir sehen nur das Nächstliegende und müssen es sehen, da wir mit tausend Fühlern nur aus unserer engsten Umgebung die Stimmung holen, die wir brauchen. Der Dichter ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, Untersuchungshäftling seiner nächsten Umgebung. Und zwar ein Häftling, dem nicht einmal Selbstbeköstigung gestattet ist.“

            „Und ich dachte, daß gerade der Dichter in Zeiten der Konzeption zu größter Objektivität fähig sei. Wie vermöchte er sonst aus dem Zufälligen, das ihn umgibt, Allgemeingültiges zu holen? Und außerdem: ist die Revolution in diesem Jahrhundert wirklich bloß ein Zufall? Ist Rußland, sind die überall aufzuckenden Flammen revolutionären Geistes nicht der Beweis dafür, daß unsere Zeit im Zeichen der Umwälzungen, der Umwertung der Begriffe steht? Gibt es noch einen anderen Zeitgeist als den, den wir spüren, oder garantiert der Dichter, der seiner Zeit bekanntlich immer um ein Stück voraus ist, daß die Revolution keine Angelegenheit eines Jahrhunderts ist, sondern bloß Phase, Uebergang zu neuer Ordnung der Dinge auf überlieferter Ebene? Garantiert der Dichter mit den schwachen Nerven dafür, daß es niemals das geben wird, von dem Utopisten heute faseln, Kunst der Masse, revolutionäre Dichtung, Aesthetik des ganzen Volkes?“

            „Sie fragen mich etwas unerhört Wichtiges. Sie fragen mich nach dem Sinne unserer Zeit, wie man sich etwa bei einer Wahrsagerin nach der Zukunft erkundigen mag. Was soll ich Ihnen erwidern? Meine schwachen Nerven, die versagen, wenn die Straße revoltiert, wollen Sie als Argument nicht gelten lassen. Ist das, was wir erleben, eine Götterdämmerung der alten Kunstform, der unmittelbaren Kunst von Mensch zu Mensch, die aus inneren und nicht aus äußeren Stürmen entstand? Wird der Mensch als Persönlichkeit, von dem die Kunst bisher lebte, entwertet werden zugunsten der Masse als Inhalt des Kunstwerkes? Und mit dem Menschen auch sein Dichter? Ich glaube es nicht. Denn ich glaube nicht daran, daß der Mensch sein Herz, das große Geheimnis, um das sich alles dreht, einmal nicht mehr in seiner eigenen Brust wird schlagen hören, sondern in der Masse. Sie müssen an eine große Wahrheit denken. Jeder Mensch geht einmal nach Hause! Zu Hause, wo er sein eigenes Schicksal wieder vorfindet, wird er nicht mehr Gefahr laufen, sein eigenes Freud und Leid mit dem seiner Mitmenschen zu verwechseln. Revolution ist immer und überall ein Rausch. Ihm folgt die Ernüchterung, wenn man nach Hause kommt und statt der Barrikaden wieder sein Bett sieht. Es ist, wie wenn ein Theaterpublikum plötzlich die Bühne stürmen will, um selbst Komödie zu spielen, dann aber einsieht, daß dazu doch etwas mehr gehört als bloße Begeisterung. Zwar, die Politik, die aus Diplomatenintrigen längst eine Monstertheatervorstellung für das Volk geworden ist, erzieht die Menschen dazu, lieber Akteure zu sein, als Zuschauer. Und da haben sie das tiefste Wesen der Krise der Theater: Der Mensch in seiner Eitelkeit ist lieber der letzte Statist auf der Bühne der Zeit Als der erste Zuschauer im Parkett eines Theaters. Aber das ist nicht weiter schlimm. Wenn die Menschen nach Hause kommen, unterscheiden sie wieder genau zwischen politischer Theatervorstellung und Kunst. Denn sie hören ihr Herz wieder schlagen und fühlen, daß das Geheimnis des wirklichen Dramas – Furcht und Mitleid, sagt Aristoteles – nicht dem gelegentlichen Schauspieler sich enthüllt, sondern dem Zuschauer. Und darum glaube ich als Dichter zwar an geistige Revolutionen, nicht aber an die metaphysische Bedeutung von Straßenkämpfen, die die Oberfläche des Spiegels trüben, durch den wir in die Tiefen des Menschen schauen.

In: Neues Wiener Journal, Nr. 12140, 11. September 1927, S. 19-20.

Paul Wertheimer: Zement. Roman von Feodor Gladkow.

Aus dem Russischen übertragen von Olga Halpern. 11. bis 18. Tausend. Verlag für Literatur und Politik, Berlin-Wien

Ein flammendes Buch, eine flammende Beichte. Eines der seltenen Bücher von heute, die, nicht in der Schreibstube, sondern aus glühender Wirklichkeit geboren, uns wie mit glühenden Armen umpressen. Gladkow – man wird diesen Namen als eines der stärksten, jüngeren wortbildnerischen Talente Rußlands merken müssen – hat die russische Revolution aus der Nähe gesehen. Was er sah, steigt hier in vorüberflackernden, oft in das Ekstatische gesteigerten, expressionistischen, aber doch unendlich einprägsamen Visionen vor dem erstaunt-erschütterten, oft abgestoßenen, aber immer wieder mit harter Faust zum Interesse gezwungenen Leser auf. Ein Zeitdokument von authentischer Echtheit und, weil Gladkow nicht ein Schreier, sondern ein Bildner im Streit ist, ein künstlerisches Werk von nicht gewöhnlicher Bedeutung. Eines der wenigen, die wir einstweilen aus diesen chaotischen Tagen, dieser chaotischen Welt besitzen. Weil es den repräsentativ modernen Roman des Rußland von heute oder von gestern bedeuten soll, ist es ein Roman der Masse und der Maschinen und des maschinell gewordenen Menschen. Aber dennoch ist es kein konstruktives, maschinelles Gebilde. Vielmehr sind in diesem großen, zeitreflektorischen Roman nach einem Wort Heines die Maschinen, die Daimler Motoren etwa, wie Menschen. Und die Menschen, kommunistische Arbeiter, zwischen denen ein westeuropäisch gesinnter Ingenieur sich mühsam behauptet, sind nicht Maschinen, sondern, trotz ihres programmatischen Lebens von Leidenschaften, nicht motorisch, sondern gewaltsam durch ihr Blut vorwärts getrieben. Ungezählte Figuren in schärfster Kontur, wie auf den Zeichnungen Krinskis, Kustodjews und Annenkows, der Graphiker dieses Bolschewismus. Die „Masse Mensch“, gebändigt von der Hand eines starken, nie im Parteiwortschaum verlorenen, durch sein sicheres Gefühl für das Bildnerische geleiteten Künstlers. Hat dieses seltsam aufwühlende Werk, was man früher Handlung nannte, die Geschlossenheit eines aufwärts steigenden Geschehens? Keineswegs. Es hat nur Figuren und Atmosphäre der Zeit, — eine Atmosphäre von Schweiß und Blut — tausend drohende, schwielige Arme, gestraffte Muskeln heben sich gegen den Betrachter wie auf manchen Plakaten. Diese Menschen, dumpf, trieb- und tierhaft, russische Menschen der Arbeit, nicht, wie bei Dostojewski und Gorki, des Sinnierens, Gott- und Sich-selbst Suchens. Sie gruppieren sich um den aus Kämpfen der Roten Armee siegreich in sein Städtchen und seinen Betrieb heimgekehrten Werkmeister Gleb. Er will das große, durch die Planlosigkeit der als Organisatoren versagenden Führer zum Stillstand gebrachte Werk wieder in Gang bringen, die Schlote blau wie Gaszylinder sehen, das Herz, nach dessen Pochen er sich – die russische Romantik des Maschinellen – sehnt, wieder vernehmen. Wie ihm dies zuletzt gelingt, trotz des Widerstandes der kommunistischen Bureaukratie, die Gladkow mit ingrimmiger Laune schildert: dies ist der ganze Roman. Er kling in einen Päan der Arbeit aus. Dieser Ton ist der russisch-zeitdokumentarische. Aber Gladkows Werk birgt einen gewichtig menschlich-künstlerischen. Es sind Episoden in diesem Buche, die man nicht vergißt: Das Sterben des Töchterchens Glebs Njurka, das, fremder Obhut überlassen, weil Dascha, die Mutter, sich der Parteipropaganda hingegeben, buchstäblich an mangelnder Liebe verhungert. Es sind Figuren, die sich wie aus dem ›Germinal‹ einprägen, wie der Vorsteher-Genosse Badjin mit dem metallenen, harten Gesicht. Es gibt hier Gesichte des Schreckens, Szenen aus den Kämpfen zwischen den ›Roten‹, ›Weißen‹ und ›Grünen‹, Schilderungen des entfesselten Trieblebens wieder von Zolascher Wucht, so abschreckend sie auch, vielleicht gegen die Intention des Dichters wirken mögen. Die Landschaftsbilder, Stimmungen der russischen Haide, der weißen Kalkfelsen, des Sommers, der Sonntagmorgen, aufblühend zwischen Blut und Grauen – ein Dichter hat sie mit solcher Zartheit gefühlt. Kein Zweifel: der Sturm, der über dieses, uns noch immer halb sagenhafte Land getobt, ist hier nicht zu einem Säuseln abgedämpft, doch es sind auch leisere Stimmen darin, die seinen Schrecken mildern.

In: NFP, 10.6.1928, S. 28.