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Joseph Gregor: Republik und Theater (1919)

             Es ist kein Zweifel mehr: Unser Leben hat sich geändert. Der schwerfällige Wiener denkt dabei zunächst an den bitteren Unterschied der Kost von einst und jetzt und kämpft einen harten Kampf, jede seiner Gewohnheiten in die sogenannte neue Zeit hinüberzuretten. Es wird aber nicht dabei bleiben. Die Einstellung auf das alte Österreich, uns allen noch gründlich im Blute, wird weichen und einem unbekannten, geheimnisvollen Neuen zur Gänze Platz machen. Die Speisekarte wird noch oft geändert werden.

             Dieses Neue, so unbekannt es ist, und so zaghaft unsere Schritte in die neue republikanische Ära sein mögen, muß doch irgendwie in uns geschlummert haben, denn selbst ein so unerhörter wirtschaftlicher und militärischer Zusammenbruch vermag eine so unerhörte Revolution nur unzureichend motivieren, wenn wir nicht seelische Kräfte annehmen, die dahin zerrten. Wir in Österreich sind mit einer Erklärung ja bald zur Hand: Das waren die Nationen, de nach der großen verlorenen Schlacht binnen weniger Wochen das „unteilbare und untrennbare“ Gefüge dieses alten Staates zerissen. Bleibt eben noch immer die Erklärung zur Republik, vermutlich bis heute die einzige Einmütigkeit der alten Volksgenossen, als nicht ganz erklärter Rest. Vollends in Deutschland wird es schwer, sich den auch in der kürzesten Zeit bewirkten Wechsel von straffstem, musterhaftesten Imperialismus und linksstehender Republik auch nur vorzustellen, dazu mit der unberuhigten Neigung zu weiterem, blutigen Bürgerkrieg. Rache an der alten Ordnung der Dinge, die möglichst durcheinandergeschüttelt werden soll, um das Neue, immer dieses geheimnisvolle Neue, aussichtsreich aufzubauen? Der Nachahmung des östlichen Beispiels, dieses offenbar unerfreulichen Lichts aus dem Osten, über das wir jahrelang gestaunt und gelächelt haben?

             Es gibt natürlich tausend Erklärungen. Der Politiker, der Nationalökonom, der Historiker, sie werden nicht verlegen sein. Wir tun ja nichts als erklären. Wir bewegen uns zwischen Kohlensorgen und Vermögensabgabe und trachten, unser Leben den neuen Tendenzen gemäß zu regulieren und gewiß gibt es auch solche, denen vor der eigenen Gottähnlichkeit bange ward. Indessen, man regt sich und fordert. Man organisiert sich bis zur Taferlklasse hinab, wählt Räte und Räte. Und was das Erstaunlichste ist: Man erreicht sogar! Freiheit des gesprochenen, geschriebenen, gemalten Wortes war ein Federstrich, warum sollten nicht mehr folgen? Kühner denn: Weg mit dem abgeblaßten Mediceertum, das der Kunst solange trübe geleuchtet hat, weg mit der Protektion, die sich mit so unfehlbarer Sicherheit die Ungeeigneten holte, weg mit Clique und Klüngel, die sie monarchisch regierten – dem freien Volk eine neue Kunst! Wobei man – und das ist ja das wirklich Schönste an der // Republik – nicht vergessen darf, daß der Republikaner diese Forderungen an keine höhere Macht mehr richten kann als an sich selber, freilich eine Weisheit, die dem geborenen Österreicher erst nach einer Weile aufgehen wird.

             Der Gedanke liegt nahe, Macht und Wirksamkeit der neuen Schlagworte – wobei der Ausdruck durchaus nicht abfällig genommen zu werden braucht! – auch an jener Kunst zu erproben, die stets als der deutlichste Spiegel des Lebens genommen wurde, an der geheimnisvollen, fluktuierenden, lebendigen Kunst des Theaters. An dieser Kunst, die sich nicht mit einem gelungenen Vers oder einem guten Bild oder gar einer schönen Attitüde der Ausdruckstänzerin erschöpft, sondern die etwas von einer Volksversammlung, einem Ball, etwas von einer Messe und etwas von einem Geschäft hat, also schon darum geeignet, unser Leben zu symbolisieren, an dieser Kunst, die darin besteht, Tausende zu Tränen zu rühren, während man an die unerschwinglichen Preise des Schuhzeugs denkt, an dieser Kunst, wo ein Schrei Gold sein kann und ein unechtes Atmen ein Hinauswurf, die läutert, indem sie demütigt, beglückt, indem sie ärgert, mit einem Firlefanz von falschen Bärten zu den Sternen erhebt und mit dem letzten Vorhang unweigerlich, aber auch unwiederbringlich zu Ende ist. Trug auch unser Theater den Keim der Republik in sich und wie gedenkt es sich mit dem plötzlich zauberhaft ausgewachsenen Baum zu verhalten?

             Zunächst: innere Hemmungen kennt das Theater nicht. Man konnte schon früher auf denselben Brettern ohne Scheu Gorkys Nachtasyl neben Schönthans Maria Theresia spielen, am selben Tage sogar, und es ist einfach nicht abzusehen, was entstanden wäre, hätte Hamlet nicht solche, sondern eitel monarchistische Verse in die Rede des ersten Schauspielers geflickt. Diese Charakterschwäche ist natürlich seine Stärke. Wir werden dieses stärkste Instrument auf den Geschmack der Masse bereit zu allem finden, die Frage ist nur, wie wir es handhaben. Wir haben solange Detektivstücke im Kino angesehen, bis wir uns eines Tages wunderten, wie gut man zu rauben verstand. Im Gegenteil aber wußten die römischen Cäsaren genau, warum sie ihre Macht, Menschen verbluten zu lassen, mit Vorliebe im Theater demonstrierten, und kein deutscher Fürst, der sich nicht gerne mit einem Hoftheaterchen drapierte, Lenin oder die Sowjets haben denn auch sofort irgend welche Schritte getan, um durch die Theater den „Bauern“ die Kunst zuzuführen und die ungarische Kommune ließ es als eine ihrer ersten Sorgen sein, noch vor der Zahlungseinstellung die Theater zu requirieren. Man applaudiert füglich zu allem.

             Das Theater wieder braucht die Tendenz wie wir die Lebensmittel. Aus der sprühendsten Comédie wird ein nüchternes Lustspieltheater, wenn die Coquelins ausgehen. Wir müssen gar nicht so weit gehen – war es doch alltäglich, daß ein Theater mit guten literarischen Anlagen plötzlich zur Operette abbog, weil die einzige Tendenz einer gewissen geduldigen Stadt die seidenbestrumpften Beine der Choristinnen waren. Unsäglich viel ist über den Rück//gang der ersten deutschen Bühne geredet und geschrieben worden und alles waren nur Glossen zu der alten Weisheit, daß man keine Bühne der Welt mit wehmütigen Erinnerungen allein speisen kann, sondern nur mit der Tendenz, mit dem Gedanken, der auf das Leben gestellt ist. Umgekehrt hat so mancher vor Jahren dem schlichten, alten Haus in der Schumannstraße in Berlin ein unrühmliches Ende geweissagt. Aber siehe da – ein eifriger Direktor holte sich Material aus der mächtig aufsteigenden Moderne, scheute sich nicht, mit Kühnheit zu verblüffen, seine Leute zu dressieren, jenes Geschimpf zu erregen, das beim Theater immer die Vorbedeutung des Erfolgs ist, übertrieb maßlos um wenigstens etwas zu retten – und landete wohl oder übel dort, wo von Rechts wegen die „erste deutsche Bühne“ hätte sein sollen; ein einer stark tendenziösen Stilkunst, der sich kein Theater, aber auch kein Zuschauer der Welt mehr entschlagen konnte.

             Absichtlich ist hier vermieden, die Namen zu nennen, die allerdings auch so deutlich sind, weil es ja nicht um Lob und Tadel geht, sondern um die Kräfte, die aus diesen Häusern hervorgehen und die wir in sie hineintun. Und man sieht, es ist immer noch ein bißchen so, wie in den alten Zeiten der Karren mit den grüngestrichenen Rädern. Man zahlt sein Geld und geht hinein. Man lacht oder weint, klatscht oder pfeift, je nachdem. Daß es aber zweierlei ist, den Geschmack des Publikums glatt zu befriedigen oder die große Tendenz zu bestätigen, hat schon bei Goethe Direktor und Dichter entzweit. Man kann aber, gewitzigt durch mehr als ein weiteres Jahrhundert, hinzufügen: Wehe dem Herren der Gaukler, der Lieb und Hassen, der die Tendenzen seines Gottes Publikum nicht ebensogut verstünde wie die leichtbewegliche Seele seiner Komödianten und der nicht entschlossen wäre, in beiden in gleichem Streben zu modellieren. Es wäre Shakespeare übel gestanden, inmitten seines von allen Kräften der Renaissance durchbebten Zeitalters bei den Untiefen der Marlow und Chapman zu verharren und keine Truppe von heute kann daran vorbeispielen, doch diese Zuhörer, wenn sie auch willig zu allem kommen, innerlich doch durchbebt sind von Leiden, Entbehrungen, Mühsalen, Gefahren – von Gewalten, die wiederum Ernst verlangen und sich nichts vorspiegeln lassen, sozusagen Schattentänze und Fahrten ins Blaue. Und wehe auch dem Publikum, das solche Spiegel für rein hält und das Theater, das nicht seines Geistes ist, nämlich seines besseren, freiheitlichen Geistes, nicht sofort und nachdrücklichst ablehnt, nicht eben mittels Referendum, aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des Geschmackes, das älter ist als jenes andere.

In: Der Merker H. IV (1919), S. 668-670.

Richard Kralik: Unsere Kunststelle

             Es ist eine für das katholische Leben eminent wichtige Angelegenheit, die wir in ihrer vollen Bedeutsamkeit zu würdigen haben. Unter der Leitung von Hans Brecka, den unsere Leser als Kritiker, Dramaturgen und Dichter („Stiftegger“) sehr wohl kennen, wirkt seit März dieses Jahres die „Kunststelle für christliche Volksbildung“, hervorgegangen aus der bewährten Organisation des „Katholischen Volksbundes“, unterstützt von der Gemeinde Wien, im Zusammenhang mit unseren politischen und Berufsorganisationen, gefördert von so großen Vereinen wie dem herrlichen Sängerbund „Dreizehnlinden“ und von manchen begeisterungsvollen Mitarbeitern. In der kurzen Zeit der ihrer Wirksamkeit hat die „Kunststelle“ bereits Unglaubliches geleistet an Zahl und Gehalt der Aufführungen in größerem wie in kleinerem Rahmen. Klassische Dramen und Opern wurden in unseren ersten Theatern geboten, neuere Dichter kamen zur Geltung. Das katholische Kunstleben wurde so in einer bisher nicht gewöhnlichen Weise berücksichtigt, so bei den „Meisteraufführungen Wiener Musik“.

             Das christliche Publikum hat damit die ihm gemäße Kunst dargeboten erhalten. Es zeigt sich auch dafür dankbar, es strömt zu den billigen Aufführungen hinzu. Es ist aber auch die Pflicht der christlichen Intelligenz, besonders der Politik, die große Bedeutung der Sache zu würdigen, sich dieser glücklichen Entwicklung dankbar bewußt zu werden und sie auf jede Weise zu fördern.

             Es ist staunenswert, was da bereits geleistet wurde. Aus den Programmen von März bis Oktober, die 23 Veranstaltungen aufweisen, hebe ich hervor: Balladen und andere Rezitationen, Mozarts Requiem, Nestroys klassische Komödien, Kammermusik, Volkslieder zur Laute, Haydns „Schöpfung“, Orgelkonzert Springer, Kunstwanderung nach Klosterneuburg mit Orgelkonzert Goller, Veronika, „Die Kinderbergstadt“ von Rienößl, „Aus der Biedermeierzeit“, Beethovens „Fidelio“, „Aus Alt-Wien“, „Der Wafffenschmied“, „Das alte Spiel von Dr. Faust“, „Wilhelm Tell“, „Der Ackermann und der Tod“. Andere bedeutende Veranstaltungen sind für die Wintermonate vorbereitet.

             Die Arbeitslast dieser großen Serie ist ungeheuer. Es ist schier unglaublich, daß ein einzelner Mann wie der bewährte Leiter der Kunststelle sie bewältigen kann. Denn nur der Eingeweihte in dies Kunstleben weiß, welche neuen Mühen bei jeder neuen Veranstaltung immer wieder erwachsen, vom Drucklegen der Programme und Karten an bis zur künstlerischen Vollendung. Aber nach meiner eigenen früheren Erfahrung in diesen Dingen ist derlei wirklich nur ausführbar, wenn sich ein Mann wie Brecka findet, der alles unter eigener Verantwortlichkeit beherrscht, der auf sich selber in allen Einzelfragen zählen kann, der die Kenntnisse, die allseitige Befähigung, die vielseitigen Beziehungen zu Künstlern, Vereinen, Instituten hat, der als erprobter Mann deren volles Vertrauen besitzt.

             Man sagt so oft irrigerweise, daß wir keine Männer haben. Ich bin diesem Irrtum wiederholt auf jedem Gebiet entgegengetreten. Wir haben die Politiker, die wir brauchen, wir haben die Dichter, Künstler, Aesthetiker, Männer der Wissenschaft, wir haben die Organisatoren jeder Art. Wir müssen sie nur an ihrer richtigen Stelle einschätzen, uns dessen bewußt werden, was wir alles besitzen, um so unsere christliche Kultur zu jener Bedeutung in Gesellschaft und Staat zu bringen, die ihr von Rechts wegen gebührt.

In: Reichspost, 4.11.1920, S. 1.

Josef Gregor: Republik und Theater

             Es ist kein Zweifel mehr: Unser Leben hat sich geändert. Der schwerfällige Wiener denkt dabei zunächst an den bitteren Unterschied der Kost von einst und jetzt und kämpft einen harten Kampf, jede seiner Gewohnheiten in die sogenannte neue Zeit hinüberzuretten. Es wird aber nicht dabei bleiben. Die Einstellung auf das alte Österreich, uns allen noch gründlich im Blute, wird weichen und einem unbekannten, geheimnisvollen Neuen zur Gänze Platz machen. Die Speisekarte wird noch oft geändert werden.

             Dieses Neue, so unbekannt es ist, und so zaghaft unsere Schritte in die neue republikanische Ära sein mögen, muß doch irgendwie in uns geschlummert haben, denn selbst ein so unerhörter wirtschaftlicher und militärischer Zusammenbruch vermag eine so unerhörte Revolution nur unzureichend motivieren, wenn wir nicht seelische Kräfte annehmen, die dahin zerrten. Wir in Österreich sind mit einer Erklärung ja bald zur Hand: Das waren die Nationen, de nach der großen verlorenen Schlacht binnen weniger Wochen das „unteilbare und untrennbare“ Gefüge dieses alten Staates zerissen. Bleibt eben noch immer die Erklärung zur Republik, vermutlich bis heute die einzige Einmütigkeit der alten Volksgenossen, als nicht ganz erklärter Rest. Vollends in Deutschland wird es schwer, sich den auch in der kürzesten Zeit bewirkten Wechsel von straffstem, musterhaftesten Imperialismus und linksstehender Republik auch nur vorzustellen, dazu mit der unberuhigten Neigung zu weiterem, blutigen Bürgerkrieg. Rache an der alten Ordnung der Dinge, die möglichst durcheinandergeschüttelt werden soll, um das Neue, immer dieses geheimnisvolle Neue, aussichtsreich aufzubauen? Der Nachahmung des östlichen Beispiels, dieses offenbar unerfreulichen Lichts aus dem Osten, über das wir jahrelang gestaunt und gelächelt haben?

             Es gibt natürlich tausend Erklärungen. Der Politiker, der Nationalökonom, der Historiker, sie werden nicht verlegen sein. Wir tun ja nichts als erklären. Wir bewegen uns zwischen Kohlensorgen und Vermögensabgabe und trachten, unser Leben den neuen Tendenzen gemäß zu regulieren und gewiß gibt es auch solche, denen vor der eigenen Gottähnlichkeit bange ward. Indessen, man regt sich und fordert. Man organisiert sich bis zur Taferlklasse hinab, wählt Räte und Räte. Und was das Erstaunlichste ist: Man erreicht sogar! Freiheit des gesprochenen, geschriebenen, gemalten Wortes war ein Federstrich, warum sollten nicht mehr folgen? Kühner denn: Weg mit dem abgeblaßten Mediceertum, das der Kunst solange trübe geleuchtet hat, weg mit der Protektion, die sich mit so unfehlbarer Sicherheit die Ungeeigneten holte, weg mit Clique und Klüngel, die sie monarchisch regierten – dem freien Volk eine neue Kunst! Wobei man – und das ist ja das wirklich Schönste an der // Republik – nicht vergessen darf, daß der Republikaner diese Forderungen an keine höhere Macht mehr richten kann als an sich selber, freilich eine Weisheit, die dem geborenen Österreicher erst nach einer Weile aufgehen wird.

             Der Gedanke liegt nahe, Macht und Wirksamkeit der neuen Schlagworte – wobei der Ausdruck durchaus nicht abfällig genommen zu werden braucht! – auch an jener Kunst zu erproben, die stets als der deutlichste Spiegel des Lebens genommen wurde, an der geheimnisvollen, fluktuierenden, lebendigen Kunst des Theaters. An dieser Kunst, die sich nicht mit einem gelungenen Vers oder einem guten Bild oder gar einer schönen Attitüde der Ausdruckstänzerin erschöpft, sondern die etwas von einer Volksversammlung, einem Ball, etwas von einer Messe und etwas von einem Geschäft hat, also schon darum geeignet, unser Leben zu symbolisieren, an dieser Kunst, die darin besteht, Tausende zu Tränen zu rühren, während man an die unerschwinglichen Preise des Schuhzeugs denkt, an dieser Kunst, wo ein Schrei Gold sein kann und ein unechtes Atmen ein Hinauswurf, die läutert, indem sie demütigt, beglückt, indem sie ärgert, mit einem Firlefanz von falschen Bärten zu den Sternen erhebt und mit dem letzten Vorhang unweigerlich, aber auch unwiederbringlich zu Ende ist. Trug auch unser Theater den Keim der Republik in sich und wie gedenkt es sich mit dem plötzlich zauberhaft ausgewachsenen Baum zu verhalten?

             Zunächst: innere Hemmungen kennt das Theater nicht. Man konnte schon früher auf denselben Brettern ohne Scheu Gorkys Nachtasyl neben Schönthans Maria Theresia spielen, am selben Tage sogar, und es ist einfach nicht abzusehen, was entstanden wäre, hätte Hamlet nicht solche, sondern eitel monarchistische Verse in die Rede des ersten Schauspielers geflickt. Diese Charakterschwäche ist natürlich seine Stärke. Wir werden dieses stärkste Instrument auf den Geschmack der Masse bereit zu allem finden, die Frage ist nur, wie wir es handhaben. Wir haben solange Detektivstücke im Kino angesehen, bis wir uns eines Tages wunderten, wie gut man zu rauben verstand. Im Gegenteil aber wußten die römischen Cäsaren genau, warum sie ihre Macht, Menschen verbluten zu lassen, mit Vorliebe im Theater demonstrierten, und kein deutscher Fürst, der sich nicht gerne mit einem Hoftheaterchen drapierte, Lenin oder die Sowjets haben denn auch sofort irgend welche Schritte getan, um durch die Theater den „Bauern“ die Kunst zuzuführen und die ungarische Kommune ließ es als eine ihrer ersten Sorgen sein, noch vor der Zahlungseinstellung die Theater zu requirieren. Man applaudiert füglich zu allem.

             Das Theater wieder braucht die Tendenz wie wir die Lebensmittel. Aus der sprühendsten Comédie wird ein nüchternes Lustspieltheater, wenn die Coquelins ausgehen. Wir müssen gar nicht so weit gehen – war es doch alltäglich, daß ein Theater mit guten literarischen Anlagen plötzlich zur Operette abbog, weil die einzige Tendenz einer gewissen geduldigen Stadt die seidenbestrumpften Beine der Choristinnen waren. Unsäglich viel ist über den Rück//gang der ersten deutschen Bühne geredet und geschrieben worden und alles waren nur Glossen zu der alten Weisheit, daß man keine Bühne der Welt mit wehmütigen Erinnerungen allein speisen kann, sondern nur mit der Tendenz, mit dem Gedanken, der auf das Leben gestellt ist. Umgekehrt hat so mancher vor Jahren dem schlichten, alten Haus in der Schumannstraße in Berlin ein unrühmliches Ende geweissagt. Aber siehe da – ein eifriger Direktor holte sich Material aus der mächtig aufsteigenden Moderne, scheute sich nicht, mit Kühnheit zu verblüffen, seine Leute zu dressieren, jenes Geschimpf zu erregen, das beim Theater immer die Vorbedeutung des Erfolgs ist, übertrieb maßlos um wenigstens etwas zu retten – und landete wohl oder übel dort, wo von Rechts wegen die „erste deutsche Bühne“ hätte sein sollen; ein einer stark tendenziösen Stilkunst, der sich kein Theater, aber auch kein Zuschauer der Welt mehr entschlagen konnte.

             Absichtlich ist hier vermieden, die Namen zu nennen, die allerdings auch so deutlich sind, weil es ja nicht um Lob und Tadel geht, sondern um die Kräfte, die aus diesen Häusern hervorgehen und die wir in sie hineintun. Und man sieht, es ist immer noch ein bißchen so, wie in den alten Zeiten der Karren mit den grüngestrichenen Rädern. Man zahlt sein Geld und geht hinein. Man lacht oder weint, klatscht oder pfeift, je nachdem. Daß es aber zweierlei ist, den Geschmack des Publikums glatt zu befriedigen oder die große Tendenz zu bestätigen, hat schon bei Goethe Direktor und Dichter entzweit. Man kann aber, gewitzigt durch mehr als ein weiteres Jahrhundert, hinzufügen: Wehe dem Herren der Gaukler, der Lieb und Hassen, der die Tendenzen seines Gottes Publikum nicht ebensogut verstünde wie die leichtbewegliche Seele seiner Komödianten und der nicht entschlossen wäre, in beiden in gleichem Streben zu modellieren. Es wäre Shakespeare übel gestanden, inmitten seines von allen Kräften der Renaissance durchbebten Zeitalters bei den Untiefen der Marlow und Chapman zu verharren und keine Truppe von heute kann daran vorbeispielen, doch diese Zuhörer, wenn sie auch willig zu allem kommen, innerlich doch durchbebt sind von Leiden, Entbehrungen, Mühsalen, Gefahren – von Gewalten, die wiederum Ernst verlangen und sich nichts vorspiegeln lassen, sozusagen Schattentänze und Fahrten ins Blaue. Und wehe auch dem Publikum, das solche Spiegel für rein hält und das Theater, das nicht seines Geistes ist, nämlich seines besseren, freiheitlichen Geistes, nicht sofort und nachdrücklichst ablehnt, nicht eben mittels Referendum, aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des Geschmackes, das älter ist als jenes andere.

In: Der Merker H. IV (1919), S. 668-670.

Oskar Maurus Fontana: Wille und Weg der Volksbühne

Vorbemerkung der Redaktion. Die interessanten Ausführungen Fontanas werden sicherlich nicht ohne Widerspruch bleiben, der im Einzelnen ja schon durch andere Aufsätze in dieser Nummer vorausgenommen ist. Aber die Bemerkungen Fontanas sind wichtig, und sie tragen viel zur notwendigen Diskussion und Klärung des ganzen Problems bei.

             Das Theater ist – soziologisch betrachtet – eine Gruppenbildung. Eine Gruppe kann nur von Ähnlichen gebildet werden. Unsere bürgerlichen Theater aber sind Versuche von Gruppenbildungen zwischen ganz und gar Unähnlichen. Jeder will was anderes: der Direktor, der Schauspieler, der Dichter und jeder im Publikum. Wie kann da eine Form entstehen und wachsen? Sie muß zerfallen. Ihr fehlt jede Bindung der Einheitlichkeit im Willen, im Geist. Alle großen Theaterepochen hatten diese Geschlossenheit. Warum zum Beispiel war das alte Burgtheater möglich? Das Publikum wollte durch feine Unterhaltung über die politischen Miseren eines wankenden Reiches gebracht werden und das Theater wollte das Publikum durch feine Unterhaltung über die politischen Miseren eines wankenden Reiches bringen. Dafür war Geld vorhanden. Mit Recht. Mit ebensolchem Recht ist es schwer, für das disparate Gebilde, welches sich heute Burgtheater nennt, auch nur bescheidene Mittel aufzubringen. Und wiederum: warum begibt sich jetzt das Entscheidende des Theaters in Rußland? Weil hier die Einheitlichkeit da ist, weil hier »Ähnliche« gruppenbildend wirken und so das Schöpferische entfesseln. Und dann, bei geglückter Gruppenbildung – das ist das Geheimnis – hat das Theater immer Geld.

             Unser Theater hat kein Geld. Schon das zeigt, wie sehr es aus dem »Lebensnotwendigen« in eine Sphäre des überflüssigen »Nur-Theaters« gerutscht ist. Wie aber kommen wir Westeuropäer zu einer Einheitlichkeit und damit wieder zu einem Beginn der Theaterkultur? Durch die Volksbühne, durch den Zusammenschluß des Publikums, das sich durch seinen Vereinigungswillen schon als »Ähnliche« zu erkennen gibt. Die Volksbühne ist die Theaterform von heute, weil dieser Theatertyp dem Stand unserer in Umbildung begriffenen Gesellschaft entspricht. Es ließen sich radikalere Formen denken, aber ihnen müßte eine radikalere Gesellschaftsumschichtung entsprechen. Die Volksbühne ist eine Gruppenbildung zwischen Demokratie und Prolet-Diktatur. Genau dort steht unsere Gesellschaft. Die Gesundheit des Volksbühnengedankens zeigt sich schon darin, daß der größte Trust der Theatergeschichte, der Reinhardt, Barnowsky, Robert in Berlin, zum Abonnentensystem zurückkehrt, zum »Stammpublikum« der früheren Bildungs- und Stadttheater. Nur freilich ist ein großer Unterschied: Der Trust sucht nur einen äußeren, einen rein wirtschaftlichen Zusammenschluß mit seinem Publikum, um sein altes Theater zu sichern – die Volksbühne will über die ökonomische Bindung hinaus, seinem Publikum innere, geistige Verschmelzung und Erneuerung geben. Das entscheidet.

             Darum wird die Volksbühne dem großen Kampf der Geister, der Europa durchschüttelt, nicht ausweichen können, sie wird ihn aufsuchen müssen, weil nur aus geistiger Klarheit uns wieder fester Boden kommen kann. Eine herrschende Geistigkeit mit ihren Machtmitteln geriet wie aufgelockerter Schnee ins Rutschen, vieles stürzte talab, manches hält sich noch an Vorsprüngen. Ganze Klassen verschwanden, andere wuchsen riesenhaft. Ein neuer Inhalt, eine neue Form werden gesucht. Nichts blieb unberührt. Das Soziale, das Sittliche, das Sinnliche, das Künstlerische, das Religiöse – alles hat seine alten Grenzgebiete verlassen – eine Völkerwanderung der Ideen.

             Dieses Ganze muß man in der Volksbühne spüren. Sie kann nicht mehr Besucherorganisation allein sein wie früher, sie kann auch der »Bildung« nicht mehr nur dienen, sie muß uns aufrufen, sie muß ein Theater der Lebendigen für Lebendige sein.

             Gewiß, eine Publikumsgenossenschaft, wie sie einmal die Volksbühne ist, kann keinen Geist ausbrüten, aber sie kann dem Kampf des Geistes eine gesunde Ökonomik gewährleisten. Hätten den gleichen Mangel an Vertrauen zur eigenen Kraft die 28 arbeitslosen Flanellweber gehabt, die sich 1843 in Rockdale zur Rettung ihrer Existenz als eine Genossenschaft vereinigten und erst ein Jahr später ein Anfangsbetriebskapital von 28 Pfund zusammenbrachten, so hätten sie nicht 1851 eine mit Dampfkraft betriebene Kornmühle, 1855 eine Baumwollspinnerei und 1863 eine Baugenossenschaft mit einer Million Friedensmark Kapital als Eigentum der Genossenschaft besitzen können.

             Alle Genossenschaften haben klein angefangen, ehe sie die heutige Größe erreichten. Auch die Volksbühne. Wer die Volksbühne in Wien will, darf sich freilich an keine Utopien und Großmachtträume verlieren. Die Wiener Volksbühne darf in ihren Anfängen nicht vom Bühnenreformertum belastet werden. Auch auf der Guckkastenbühne kann sich Wertvolles, Alarmierendes ereignen. Sich heute um den »Bühnenraum der Volksbühne« den Kopf zu zerbrechen, das gleicht der Sorge der Mutter: wie wird das Hochzeitszimmer des noch nicht geborenen Kindes aussehen. Laßt das Kind doch einmal zur Welt kommen. Dann wird sich alles andere schon finden.

             Wir müssen zu arbeiten beginnen. Im kleinen Umfang, so wie die Berliner Volksbühne begann, die ja auch nicht am ersten Tag hundertsechzigtausend Mitglieder und ein großes Haus hatte. So wie schließlich – erinnern wir uns – schon einmal die Wiener Volksbühne begann, ehe der Krieg sie zusammenschlug. Aus den Möglichkeiten heraus, die uns Wien und die ökonomische Situation vorschreiben, müssen wir arbeiten. Aber arbeiten! Und wir dürfen uns nicht unserer Armut schämen. Wir brauchen nicht auf sie stolz sein, aber wir müssen uns sie eingestehen und sie mit ihren eigenen Mitteln zu überwinden suchen. Freilich, wer den Anfängen der Volksbühne Monumentalität sichern will, wird verzagen müssen. Aber Monumente gehören den Toten. Die Volksbühne lebt. Sie hat mehr als dekorative Werte zu vergeben; revolutionäre Leidenschaft.

In: Kunst und Volk 3 (1928), Heft 1, S. 19-21.

e[rnst] f[ischer]: Sprechchor und Drama

Alle, die das Problem des Theaters, des Dramas, der Bühnenkunst prüfen, konstatieren seit Jahren in sämtlichen europäischen Ländern die Krise des Schauspiels. Immer wieder ist es vor allem das eine, dessen Mangel schmerzlich empfunden wird: der unmittelbare Kontakt mit dem Publikum. Einst Megaphon religiöser Erlebnisse, später Tribüne herrschender oder revoltierender Klassen, ist das Theater ein Luxuslokal geworden, in dem zusammengewürfelte Massen sich unterhalten wollen. Einerseits erstarrte das klassische Drama in tönender Langeweile, Anlaß zu Festprologen und billigen Phrasen, andererseits waren Autoren und Regisseure gezwungen, durch Effekte lärmender oder sentimentaler Art die Nerven des Publikums zu dem neuen Werke zu verführen. Zwischen  dem zahlenden Publikum und der Bühne klaffte ein Raum, der nur durch die Sensation überbrückt werden konnte.  Dichtung, Inszenierung, Erfolg waren Zufälle ohne tiefere kulturelle Bedeutung, ohne lebendige Bindung mit der Zeit. Man konnte immer auch anders. –

             Das Theater der letzten Jahrzehnte war das Theater des altgewordenen Bürgertums, des Bürgertums, das die Klassiker zu Zitatenonkeln entfärbte und sich bei Operetten von ihnen erholte, des Bürgertums, dem die Werte Schillers zur Konvention und Extravaganzen der Kunst zum Bedürfnisse geworden waren, des Bürgertums, das aus der Wirklichkeit in die Romantik floh. Der Naturalismus war der letzte große und einheitliche Versuch, aus verstaubten Kulissen das schwindende Leben zu retten, der Naturalismus, der zugunsten der von den bürgerlichen Epigonen mit Limonade vergifteten Wahrheit auf Stil und Symbol verzichtete und sich daher sehr bald in innere Widersprüche verwickelte, an denen er starb. Dann kamen die teils genialen, teils schwachsinnigen Experimente des einzelnen, auf eigene Faust eine neue Form des Dramas zu finden. Von den gewaltigen Experimenten Strindbergs und Wedekinds bis zu den blutlosen Konstruktionen der Expressionisten oder den Kunststücken Pirandellos wirken nur ein gemeinsames Wissen, ein gemeinsamer Wille in den Dramatikern des interessant verwesenden Bürgertums: „Die alten Formen sind tot, wir müssen neue finden.“

             Es ist charakteristisch für die Zeit der triumphierenden Technik, daß die Regisseure (vor allem die russischen) die Möglichkeiten einer Theatererneuerung viel deutlicher witterten als die Dramatiker, daß die Inszenierung die Voraussetzungen für Kunstwerke schuf, mit denen die Zeit schwanger geht, ohne sie gebären zu wollen. Der Regisseur riß die Herrschaft an sich und wurde zum eigentlichen Schöpfer und Dichter, ohne daß aus der wundervollen Maschinerie ein Gott sich erhob. Aber die Bühnenzauberer unserer Tage, die Meister des Lichtes, der Farbe und der Dynamik, haben Urkräfte des Theaters entfesselt: Sie haben die von Pedanten vertriebene Lust am Spiel zurückgerufen und sie haben künstlerisch das zwanzigste Jahrhundert entdeckt. Das alles gilt freilich nur für die Inszenierung, nicht aber für die Unterwerfung der Darsteller unter einen bestimmten Stil.

             Das Proletariat war von diesen Ereignissen ausgeschlossen, das Theater war eine Angelegenheit der bürgerlichen Gesellschaft – und weil es das war, konnte es nicht mit strotzendem Leben erfüllt werden. Die sterbende Klasse war nicht mehr fähig, kulturproduktiv in die Zukunft zu zeugen. Nun aber erleben wir etwas seltsam Erschütterndes: Während das Bürgertum die technischen Voraussetzungen für eine neue Bühnenkunst improvisierte und das Theater technisch revolutionierte, begann im Proletariat die neue Form des Dramas organisch sich zu entfalten. Kulturelemente werden nicht am Schreibtisch erklügelt, sie wachsen langsam in tausend Herzen und sind auf einmal da.  Und so entstand an vielen Orten zugleich, aus der Schöpfersehnsucht der proletarischen Jugend geboren, der Sprechchor. In namenloser Gemeinschaft, wie es an den Maschinen steht, wie es gegen die Ordnung der Dinge sich aufbäumt, wie es zu schicksalsverkitteter Solidarität sich bekennt, schafft sich das Proletariat seine Kunst. Der Sohn, die Tochter aus bürgerlichen Familie imitieren, wenn sie sich künstlerisch betätigen, den übelsten Typus des bürgerlichen Kunstbetriebes, den Star, der junge Proletarier, die junge Proletarierin symbolisieren in ihrem Verlangen nach künstlerischem Ausdruck das Schicksal der Klasse, der sie angehören, den Dienst an anonymem, an kollektivem, an gemeinsamem Werk. Kunst und Leben sind eins in diesem Tun und das ist entscheidend, jede Kultur entsteht aus dieser Einheit von Kunst und Leben, jede Kultur zerbröckelt, wenn diese Einheit sich auflöst.

             Ich halte den Sprechchor in der Tat für die Urform eines neuen Dramas, wie einst der griechische Chor, wie einst der Chor der ersten Kirchenspiele es war. Und wer vor einigen Tagen im Opernhaus den Sprechchor der sozialistischen Arbeiterjugend sah und hörte, wer die wundervolle Kraft und Erschütterung, die von der Sinfonie ihrer Stimmen und der Reinheit ihres Spieles ausging, erlebte, der wird meinen Glauben und meine Hoffnung teilen. Man könnte vielleicht einwenden: Was soll ein gelungenes Experiment beweisen? Nun, was ursprünglich nur als Experiment gedacht war, wurde zum wesentlichen Ereignis. Es handelt sich nicht so sehr um den Effekt, den man mit einem sorgfältig geschulten Sprechchor erzielen kann, es handelt sich vor allem darum, daß das Publikum wieder mitspielt, daß die Menschheit der Zukunft, die Arbeiterschaft, die bisher im bürgerlichen Theater nur ein geduldeter Gast war, sich selber auf der Bühne erleben kann, und zwar nicht nur inhaltlich (das war schon bei manchen naturalistischen Dramen, man denke nur an „Die Weber“, der „Fall“), sondern auch in seiner ureigenen Form, in der unisono empfindenden und hanselnden Masse.

             Das Drama der Zeit, die Großstadt, die Arbeiterbewegung, die Revolution, mußten stets in die Formelemente des bürgerlich-individualistischen Dramas übertragen werden, damit man es überhaupt darstellen konnte – und an diesem inneren Widerspruch kranken alle revolutionären Bühnendichtungen unserer Tage. Es war wohl möglich, eine Massenaktion äußerliche richtig, in photographischer Natürlichkeit, auf die Bühne zu projizieren, aber die innere Wirklichkeit, das geheimnisvolle Fluidum der Masse mußte geopfert werden. Und da es im Drama vor allem um innere Erlebnisse geht, waren die großen, die mythischen, die göttlichen Dinge des zwanzigsten Jahrhunderts von der Bühne so gut wie verbannt und die erotischen und pathologischen Konflikte des untergehenden Bürgertums beherrschten das Repertoire. Eine Wiedergeburt der Tragödie aus dem proletarischen Sprechchor würde die Dichter zur Überwindung der kleinlichen Psychologie, der medizinischen Spässe, der überspitzten Gehirnschweinerein, würde sie zu Form und Größe erziehen.

             Das heißt natürlich nicht, daß morgen oder übermorgen das neue Drama blank und gepanzert vor uns hintreten wird; aber alle Dramatiker, die unter dem Zwiespalte der Bühnenkunst leiden und um den künstlerischen Ausdruck der Zeit ringen, werden bald zu dem Sprechchor der Arbeiterschaft in die Schule gehen und hier aufatmend, mitten unter Maschinen und Konstruktionen, etwas organisch Bewachsenes, herrlich Lebendiges entdecken, etwas das nur darauf wartet, einem Werke dienen zu dürfen. Die Möglichkeiten sind euch gegeben, und das Zeit, die Techniker der Inszenierung und das Proletariat haben alles für euch getan, ihr müßt nur hineingreifen in diese beginnende Welt und aus ihr ein dramatisches Gleichnis formen. Denn nicht aus euren einsamen Experimenten, nur aus dem Wesen einer neuen Gemeinschaft wird eine neue Kultur und mit ihr ein neues Drama sich bilden. Und tausendmal lebendiger und ergreifender als alle eure persönlichen Konflikte und Probleme ist der Sprechchor, den die Arbeiterjugend sich geschaffen hat.

In: Arbeiterwille, Graz, 18.10.1925, S. 5-6.1

  1. Der Text ist auch abgedruckt bei: Ernst Fischer: Neue Kunst und neue Menschen. Literarische und essayistische Texte aus seinen Grazer Jahren (1918-1927). Hg. von Jürgen Egyptien. Graz: Clio 2016, 219-223.

Fred Heller: Girl-Mast.

Mit Zeichnungen von Alice Reischer

      In London ist man draufgekommen, daß die Revuen auf zu dünnen Beinen stehen. Warum nimmt das Interesse ab?, fragte sich der Direktor. Weil die Girls abnehmen, gab er sich selbst zur Antwort. Und von dem Tag an nehmen seine Girls zu.

      Das geht nicht bloß London an. Das ist ein Weltsymptom. Das geht an den Typ. Schlank soll nicht mehr mager, Girl soll nicht mehr verpatzter Jüngling heißen. Zuerst werden die Girls gemästet und dann – wo sind die Grenzen für das Schönheitsideal von morgen? Werden wir Orientalen? Wird Liebe nach Pfunden gemessen? Werden, je schmächtiger unser Budget, die Frauen um so  üppiger werden?

      Die Girlmast hat begonnen, die Manager stehen an der Wage und kontrollieren die Gewichtszunahme. Es läppern sich Rundungen zusammen. Aus den weiblichen Boys werden richtige Frauen mit all den Reizen, die bisher wegmassiert werden mußten, abtrainiert, fortgehungert. Girls dürfen wieder Appetit haben und das Wort appetitlich gewinnt neue Bedeutung.

      Ernst angesehen, bedeutet die Aufpäppelung der Girls einen Beginn der Wiedergesundung unter einem großen Teil der Frauen. Die „Linie“, also der Entfettung, der raschen Abmagerung und der ständigen Drosselung des Appetits haben viele ihre Gesundheit geopfert. Kein Fett, keine Ruhe, keine Kinder, hieß das drakonische Gesetz, das zu übertreten gerade die hübschen Frauen nicht zu verführen waren. Die schönen wurden nervös, sie hatten keine Zeit für Träume, sie legten gereizt jedes Wort auf die Wagschale, wie sie sich ängstlich wogen, so oft sie sich vergessen hatten. Jede Großmama wollte ein Girl sein, also aussehen wie ihr siebzehnjähriger Enkel. In den besseren Häusern wurde eine zweifache Diät gekocht, die Gnädige saß entweder im Entfettungsbad oder lag bei der Masseurin, stand irgendwo am Kopf oder rannte ihr Drei-Kilometer-Pensum ab – alles andere verlernte sie. Ich meine, das gemütliche Plaudern, die trauliche Pflege einer netten Freundschaft, das unbedenkliche Zeitverschwenden bei einer Tasse mit Bäckereien oder einem endlosen Souper. Die Frau war nicht für den Mann da, nicht einmal für sich, bloß für die Erhaltung ihres Untergewichtes. Kein Wunder, daß es in so vielen Ehen und in der Liebe so viele Unterbilanzen gab.

      Darf man schon „gab“ sagen? Revuetheaterdirektoren haben ein empfindliches Gefühl für  weibliche Angelegenheiten, die auch Männer interessieren. Wenn die Girls zunehmen, müssen alle jungen Frauen dem Beispiel folgen. Die Girls der Revuebühnen sind ja die jeweiligen Musterkollektionen der Modeneuheiten für den Männergeschmack. Sogar die Provinzler, die gelegentlich in die Großstadt kommen, vergleichen dann ihren Eigenbesitz mit den Revuegirls. Und natürlich werden die gemästeten Girls sehr auffällig ihre frischgezogenen Reize vorführen und besondere Kostüme werden die Gegenden, auf die es ankommt, heftig betonen. Vielleicht ist die neue üppigere Linie überhaupt nur eine Folge des neuen Zuges nach Bekleidung der Girls. Als nackt die große Mode war, kam es darauf an, bloß andeutungsweise zu erkennen zu geben, daß die lebenden Säulen und Kandelaber Frauen sind. Mit der zunehmenden Bekleidung der Girls mußte man auf die Idee kommen, daß man eigentlich erst mehr Bekleidungswertes schaffen mußte, denn die Kostümierung sollte doch eine Verhüllung darstellen. Was gab es zu verhüllen? So wenig, daß das Publikum im Parkett gar nicht auf seine Kosten kommen konnte. Aus dieser Untugend wurde die Not, und um dieser Not zu steuern, machte man die Revolution der Linie.

      Wer will nicht mit in das revolutionäre Lager? Wer zögert? In wenigen Monaten kann es zu spät sein. Denn wer weiß, wie schwer es sein wird, die gewisse Mindestgrenze zu erreichen, nachdem man sich schon so an die zwei, drei mageren Jahre gewöhnt hatte und den Gürtel so eng geschnallt trug. Es muß sich eine neue Kunst herausbilden, die „Zunehmen“ heißt, damit nicht plötzlich ein allgemeines Wettmästen losgehe. Des Guten zuviel!, haben die Lateiner gesagt und die haben davon etwas verstanden.

In: Die Bühne (1929), H. 232, S. 29.