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Joseph Roth: Das Jahr der Erneuerung (1918)

                Mit Geklirr und Geschepper verzieht sich dieses Jahr in die Annalen der Geschichte: mit seinem Zipfel schleppt es eine Menge metallener Straßentafeln nach. Als das Jahr einzog, gab man ihm eine Erkennungsmarke: das Jahr der Erneuerung. Aus den Tiefen heraus wollte sich der Mensch der Revolution erneuert haben. Er tat sein schwarzgelbes Portepee ab und wickelte um das Bajonett, das er behielt, ein rotweißes. Dann fiel er auf die Knie und sang beim Hochamt der Demobilisierung sein: De Befundis. Der Fortschritt setzte sich in die Automobile der Generalstäbler und in die Equipagen des Hofes. Autos und Equipagen entführten den Fortschritt. Das weibliche Geschlecht rückte aus der Kategorie der „Hilfskraft“ in die Region der Gleichberechtigung empor und durfte durch Versammlungsbesuch und Stimmabgabe bei den Wahlen in die Nationalversammlung seine politische Überzeugungslosigkeit ebenso geltend machen wie der Mann. Der „Umsturz“ hatte sich so vollzogen, als ob er durch einen Erlaß des Chefs für Ersatzwesens fürsorglich vorgeregelt worden wäre. Er stürzte eigentlich gar nichts: der Thron verfiel wie eine morsche Sitzbank in einem vernachlässigten Park; die Monarchie löste sich auf wie ein Zuckerwürfel im Wasserglase. Als kein Kaiser mehr da war, entdeckte man die Republik. Da man nicht mehr loyal sein konnte, wurde man revolutionär.

Dennoch war die Revolution eine Notwendigkeit. Die Geschichte ging schon lange schwanger mit der Revolution. Hinter den Goldtressen des Byzantinismus stank die Verderbtheit. Kulissen aus Phrasen und Lakaien verbargen den Dreck, der sich durch Jahrhunderte im Augiasstall des „Hofes“ aufgehäuft hatte. Die Revolution mußte geboren werden. Aber da stolperte die Geschichte über die Drahthindernisse des Weltkrieges. Durch die Erschütterung geschah die Frühgeburt der Revolution.

Diese, ein frühgeborenes Kind, muß in Wärmestuben und Kliniken mühsam aufgepäppelt werden. Denn wir, wir, das erbärmlichste Geschlecht, haben sie gezeugt. Jedes Geschlecht hat die Revolution, die es verdient. Die unserige, schwach, engbrüstig, kam in die Kinderklinik der Koalition. Und selbst das wäre noch nicht einmal so schlecht. Aber wir haben in jener Klinik keine Ärzte. Und die Revolution stirbt zwar nicht, aber sie lebt auch nicht, sie ist ein gutes österreichisches Kind und „wurschtelt sich fort“.

                                               *

Erneuerung! Erneuerung! Wo, frage ich, seht ihr Erneuerung? Ist das Erneuerung, wenn die Burgmusik um die Mittagsstunde statt zur Burg, zum Staatsamt für Heerwesen zieht? Wenn ein Minister Staatssekretär heißt? Wenn der Briefträger nicht „Diener“ mehr, sondern „Unterbeamter“ ist? Reißt ihm doch die Knechtseligkeit aus seiner armen, gemarterten Brust und er mag heißen wie er will, er wird kein Diener sein! Gebt dem armseligen Hirn des Staatssekretärs Weitsichtigkeit und Vernunft und laßt ihn nur Minister heißen! Laßt ab vom öden Geschepper der militärischen Tschinellen, laßt Beethoven spielen und verwendet eure Janitscharenkapelle zu Türstehern in Kunsttempfeln! Aber die Kesselpauke ist mächtiger als der Fiedelbogen. Im Lärm und Gepolter der Gosse, der ihr dient, geht die Stimme der Kultur verloren, der ihr zu dienen vorgebet!

Erneuerung! Ist der Befundmensch in Euch schon verloren gegangen? Ihr habt keine Furcht mehr vor dem General? Ihr steht nicht mehr beim Rapport? Ihr seid die Befreier vom Militarismus? Ihr prediget Menschenrechte?

Oh, der Streit um die Auslieferung von Kun und Levien, Fremdenrazzien und Abreisendmachungen, sind das die Erfolge Eurer Predigten über Menschenrechte? Militarismus der Geister, ist er nicht schändlicher, als der der Leiber? Habt Ihr keine Angst vor dem Arbeiterrat? Steht Ihr nicht täglich beim Rapport vor der Partei?

                                                           *

Es ist keine Erneuerung, so lange nicht Einkehr ist! Wir müssen uns befreien vom Schwert des Militarismus, das über uns hängt. Die Waffe hat Gewalt gewonnen über die Faust. Werfen wir sie weg, die Waffe. Der Polizist hat seinen Helm abgelegt, aber Polizei ist noch da. Den Bösen sind wir los, die Bösen sind geblieben. Der Zweck heiligt nicht die Mittel! Die Mittel profanieren den Zweck!

So ist es denn kein Jahr der Erneuerung gewesen. Höchstens ein Jahr der Neuerungen. Gerngroß hat seine weiße Woche. Der Kramladen der Geschichte hat zuweilen sein Jahr der Novitäten.

In: Der neue Tag, 12. 11.1919, S. 3.

Karl Tschuppik: Das republikanische Wien (1918)

Wien, 13. November 1918.

Wien hat rasch wieder sein altes Gesicht bekommen. Von dem Sturm des gestrigen Tages ist heute morgens nichts mehr zu merken. Die Menschen gehen ihrer Arbeit nach, der Verkehr wickelt sich ruhig ab, die Bürger spazieren in der Sonne. Man sieht es ihnen nicht an, daß sie über Nacht Republikaner geworden sind. Sie scheinen überrascht und froh zu sein, daß alles noch auf seinem alten Platze steht. Unpolitisch wie das Wiener Bürgertum ist, hat es gestern an die wildesten Gerüchte geglaubt und einen regelrechten Weltuntergang erwartet. Heute konnte es sich überzeugen, daß die Phantasien des gestrigen Abends zerstört sind. Eine helle Herbstsonne hat die grauen Nebel verjagt und scheint mild und freundlich auf das republikanische Wien. Die Wiener Revolution wäre die unblutigste, sanfteste Erhebung der Geschichte geworden, wenn nicht die Wichtigtuerei unklarer Köpfe und ein Mißverständnis die Schießerei beim Parlament veranlaßt hätten. Heute, bei Licht besehen, stellte es sich heraus, daß die Urheber der Panik ein paar aufgeregte Jünglinge sind, die sich Kommunisten nennen, aber eigentlich nichts anderes wollen, als sich von der großen Welle emportragen zu lassen. Die meisten von ihnen haben während der ganzen Kriegszeit die Kourage sorgfältig versteckt und an Alles eher gedacht als an Sozialismus und Kommunismus. So mancher dieser jungen Leute war Patriot, Kriegsberichterstatter, Feuilletonist für altösterreichische Angelegenheiten. Die Angst, den Anschluß zu versäumen, hat ihnen große Worte und revolutionäre Phrasen in den Mund gegeben. Der alberne Einfall, den Staatsrat gefangen zu nehmen und das Parlament zu besetzen, war typische Wichtigtuerei literarischer Gehirne. Die Stürmer und Dränger wußten ganz gut, daß es nichts niederzuringen gab, da das alte Österreich kampflos abgetreten war. Sie wußten auch, daß im Staatsrat die Sozialisten die Führung haben. Sie mußten auch wissen, daß die organisierten Arbeiter mit einem solchen Dilettantismus nichts zu tun haben wollten. Aber es kam ihnen nicht auf das Wesen der Revolution, sondern auf die Revolutionsspielerei, auf den äußeren Knalleffekt, an. Darum stürmten und schossen sie. Das eitle, frevle Spiel hat zwei Menschenleben und das Auge eines braven Menschen, des Pressechefs im Staatsrat Ludwig Brügel, gekostet. Den übrigen Schaden trägt Hansens Parlamentsgebäude.

Den ganzen Tag über standen heute hunderte Menschen auf dem Franzensring, um das beschädigte Parlamentshaus zu betrachten. Die Kugeln der Roten Garde, die kopflos hin- und herschoß, haben die Façade recht arg hergenommen. Viele Fenster sind zertrümmert, die hohen Säulen beschädigt, das große Tor zeigt hunderte Löcher. Schaden litt auch die schöne Giebelfüllung des Hauses, das große Halbrelief mit dem alten Kaiser in der Mitte. Franz Josef verlor gestern die rechte Hand. Die Schießerei hatte übrigens auch ein kleines komisches Nachspiel zur Folge. Als das Parlament gestern unter Feuer genommen wurde, lief das Küchenpersonal des Hauses, Köchinnen, Köche, Kellner, Waschfrauen und Buffettdamen angstvoll zusammen und suchte sich durch einen Seitenausgang zu retten. Sie stießen dabei auf Rote Gardisten, die im Scherz riefen, ein Entweichen sei unmöglich, Mitgefangen, mitgehangen, alle müßten sterben. Darauf verkrochen sich Köchinnen und Dienstmädchen in den Keller, wo sie spät nachts halb tot vor Angst aufgefunden wurden. Sie alle haben heute ihre Büchel verlangt und waren nicht zu halten. Das republikanische Parlament ist also ohne Küche.

Die wirklichen Träger der Revolution, die Wiener Arbeiter, haben den gestrigen Putsch sehr unsanft beurteilt. In den großen Massenversammlungen am Abend wurde die Spielerei der kommunistischen Knaben auf das schärfste verurteilt und die Auflösung der Roten Garde gefordert. Das Kriegsministerium wird diesem Wunsche wahrscheinlich entsprechen müssen und es täte sehr gut daran, da diese seltsame Truppe keine Existenzberechtigung hat. Nachdem der tüchtige Feldmarschall Boog, der Kommandant der Wiener Division, den Aufbau der nationalen Armee in die Hand genommen hat, ist es wirklich nicht notwendig, eine bewaffnete Schar zu dulden, die undisziplinierter, unkontrollierbar wie Schillers Libertiner, haust. Auch unter ihnen sind Idealisten und brave Burschen, und ihr Hauptmann, Egon Erwin Kisch aus Prag, hat es sicherlich gut gemeint. Aber die Mariahilferstraße gehört vorläufig noch nicht zu den böhmischen Wäldern. Es geht daher nicht gut an, Privatautos anzuhalten und andere Requisitionen zu unternehmen, auch dann nicht, wenn im Auto zufällig der Baron Rothschild sitzt.

Man muß sich übrigens wundern, daß nach dem beispiellosen Zusammenbruch der Armee die Unordnung sich auf diese kleine Episode beschränkt. Der neuen Regierung ist es gelungen, die Tausende zurückflutender Soldaten in ordnungsmäßige Bahnen zu lenken und man muß gestehen, daß die Mannschaft dabei mehr Disziplin bewahrt hat als so mancher Offizier. Er wird noch einmal darüber zu sprechen sein, wie namentlich viele höhere Offiziere die Front verlassen und dabei ganz an den Unterschied von Mein und Dein vergessen haben. Die Wachsoldaten am Hütteldorfer Bahnhof und auf den Straßen des Wiener Waldes haben wirklich ernstlich zu tun, um etwas von dem gestohlenen Staatsgut zu retten. Ein größerer Teil des Inhalts der Regiments- und Bataillonskassen belebt jetzt die Wiener Nachtlokale. Da fließt Champagner und Wein, Mädchen und Musiker werden beschenkt, und wenn nicht die Sperrstunde wäre, die der neue Staat genau so einhält wie der alte, gäbe es hier lustige Nächte bis zum Morgen. An diesem Wien ist die Weltgeschichte spurlos vorübergegangen; es scheint entschlossen, auch im republikanischen Kleid dasselbe zu bleiben.

In: Prager Tagblatt, 14.11.1918, S. 1.

N.N.: [O. Bauer]: Rätediktatur oder Demokratie.

(Teil 4) Der Weg der Demokratie.

            Die Revolution hat der deutschösterreichischen Arbeiterschaft die demokratische Republik, die Selbstregierung des Volkes im Staate, im Lande und in der Gemeinde gebracht und damit ihre Macht wesentlich erweitert. Aber der große politische Sieg konnte das wirtschaftliche Elend nicht bannen. Unsere Lebensmittelvorräte sind erschöpft; wir leben nur von den allzu kargen Zuschüben der Entente. Die Zufuhr der ausländischen Kohle, auf die wir angewiesen sind, stockt; daher ist unser Eisenbahnverkehr gedrosselt, unsere Fabriken können infolge des Mangels ausländischer Rohstoffe und Kohlen nicht arbeiten; Hunderttausende sind arbeitslos. Die Kriegskosten sind mit Milliarden Banknoten, die in den Umlauf gepreßt wurden, gezahlt worden; dadurch sind unsere Geldzeichen entwertet, die Preise steigen ins Unerhörte, die leeren Staatskassen und die Krise der Industrie machen es unmöglich, Löhne und Gehalte in gleichem Ausmaß zu erhöhen. Die Entente verweigert uns immer noch den Frieden, die Rückkehr unserer Gefangenen, die freie Einfuhr von Rohstoffen und Lebensmitteln. An all dem kann keine Regierung etwas ändern, Aber die Massen, die hungern und leiden wie nie zuvor, sind verzweifelt und erbittert. Die Leidenschaft, durch die Not entfesselt, droht über besonnene Erwägung zu obsiegen. Das Vorbild Rußlands und Ungarns lockt Tausende. Die Bourgeoisie sieht, daß die Versuchung zu neuer Revolution, zur Proklamierung der Rätediktatur die Massen lockt, Die Bourgeoisie zittert davor, daß die Massen der Versuchung erliegt, So klammert sich die Bourgeoisie jetzt selbst an die Demokratie, gegen die sie sich vor wenigen Monaten noch mit Händen und Füßen gewehrt, die sie nur unter unwiderstehlichem Zwange hingenommen hat. Die Bourgeoisie sucht die Demokratie zu retten, indem sie den arbeitenden Volksmassen ihre Fruchtbarkeit beweist. So ist die Bourgeoisie unter dem Drucke der Furcht vor der Rätediktatur zu weit größeren Zugeständnissen bereit, als sie sonst bei gleichen Machtverhältnissen bereit wäre. Ist die Macht des Proletariats zunächst vergrößert worden durch den Sieg der Demokratie, so wird sie jetzt neuerlich vergrößert dadurch, daß die Bourgeoisie die Demokratie bedroht sieht durch die Werbekraft des Gedankens der Rätediktatur.

            So können wir heute im Rahmen der demokratischen Republik ohne neuen gewaltsamen Umsturz sehr viel durchsetzen. Wir können die alten monarchischen, feudalen und militaristischen Institutionen von der Wurzel aus ausrotten. Wir können durch eine Reihe mutiger Reformen das Unterrichtswesen neu gestalten, um für die Erziehung einer selbstbewußten, denkenden, mutigen Generation die Grundlagen zu schaffen. Wir können das Arbeiterrecht und die Arbeiterversicherung unvergleichlich schneller und unvergleichlich großzügiger, als es jemals zuvor möglich war, ausbauen. Wir können die ersten Schritte auf dem Wege zur Sozialisierung der Industrie und des Bergbaues, der Forstwirtschaft und des Handels zurücklegen. Wir können durch eine energische Vermögensbesteuerung das Volk von dem Tribut an die Staatsgläubiger befreien. All das ist heute möglich auf der Grundlage der Demokratie. Und all das ist im Zuge, im Werden. Die Demokratie wird diese Aufgaben erfüllen, wenn ihr nur Zeit zur Erfüllung dieser Aufgaben gelassen wird.

            Aber freilich, all das genügt den breiten Massen des Proletariats nicht mehr. Aufgewühlt durch das furchtbare Erlebnis des Krieges, aufgerüttelt durch die Stürme der Revolution in Rußland, in Deutschland, in Ungarn, fordert das Proletariat die volle Macht, die Alleinherrschaft. Sie kann es freilich in // der deutschösterreichischen Nationalversammlung nicht erlangen, denn in ihr halten die Kräfte der klerikalen Bauernschaft und der sozialistischen Arbeiterschaft einander das Gleichgewicht. Aber müssen wir darum die Demokratie aufgeben? Gibt es nicht auch auf demokratischer Grundlage einen Weg zur Macht?

            Im Staate ist die Macht der Arbeiter begrenzt durch die Macht der Bauern. Anders in lokalen Selbstverwaltungskörpern. In der Nationalversammlung haben wir nicht die Mehrheit; aber in der Gemeindevertretung von Wien, im Landtag von Niederösterreich, in den zu schaffenden Kreisvertretungen des Viertels unter dem Wienerwald oder des obersteirischen Kreises kann die Arbeiterschaft unschwer die Mehrheit erringen. Und wenn nun all diesen Selbstverwaltungskörpern eine breite Autonomie zugewiesen, wenn ihnen insbesondere auch das Recht zur Enteignung und Sozialisierung dazu geeigneter Betriebe zugestanden wird, dann kann die Herrschaft über die lokalen Selbstverwaltungskörper zur gewaltigsten Machtquelle des Proletariats werden. Im Staate sind die Bauern zu zahlreich, als daß die Arbeiterschaft allein herrschen könnte; in den Großstädten und Industriebezirken aber ist die Arbeiterschaft die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, da kann sie auf demokratische Weise, durch den Stimmzettel, die Herrschaft in den lokalen Vertretungskörpern erringen und die Autonomie der Gemeinden und Kreise kann so zu einem wichtigen Herrschaftsmittel des Proletariats werden. Darum brauchen wir vor allem eine demokratische Lokalverwaltung mit breiten Kompetenzen.

            Andererseits aber brauchen wir den Anschluß an das Deutsche Reich. Denn wie immer sich die Klassenkämpfe des reichsdeutschen Proletariats vorübergehend gestalten, schließlich sind in der großen deutschen Republik die Voraussetzungen für die Herrschaft des Proletariats doch unvergleichlich günstiger als in unserem kleinen, industriell viel weniger entwickelten Deutschösterreich. Dort bildet die Arbeiterklasse einen viel größeren, die Bauernschaft einen viel kleineren Teil der Bevölkerung als hier. In Deutschland wird das Proletariat die Herrschaft erobern; also wird auch Deutschösterreich unter proletarischer Herrschaft stehen, sobald es ein Teil des Deutschen Reiches wird.

            Unser deutschösterreichischer Staat ist ein Notgebilde, zu vorübergehender Leistung bestimmt. Wenn es erst in dem großen Deutschland aufgegangen sein wird, dann werden unserer Nationalversammlung keine wichtigen Aufgaben mehr bleiben. Das Schwergewicht der Gesetzgebung und der Verwaltung wird dann fallen einerseits an das Reich, andererseits an die lokalen Selbstverwaltungskörper, an Gemeinden, Kreise und Länder. Im Reiche aber kann die Arbeiterschaft auf demokratischem Wege die Herrschaft erlangen und in den Stadtgemeinden und industriellen Kreisen wird sie mit demokratischen Mitteln die Herrschaft erobern. So können wir ohne Rätediktatur, mit den Mitteln der Demokratie die Macht gewinnen.

            Die Rätediktatur würde in Deutschösterreich keineswegs die Diktatur des Proletariats bedeuten; denn die Arbeiterräte müßten mit den Bauernräten die Macht teilen. Die Rätediktatur würde aber bei den heutigen Verhältnissen neuen Krieg gegen die Entente, die Gefahr einer Besetzung unseres Landes durch fremde Heere, die vollständige Einstellung der Lebensmittel- und Kohlenzufuhr, die ungeheuerlichste Steigerung des Massenelends bedeuten und in einer Hungerkatastrophe enden, aus der es keinen anderen Ausweg mehr gäbe als die Konterrevolution. Es gibt einen anderen, sichereren und schmerzloseren Weg zur Macht. Das ist der Weg der Demokratie. Wenn wir uns einerseits dem großen roten Deutschland eingliedern und andererseits in Gemeinden und Kreisen starke Burgen roter Herrschaft schaffen, führen wir das Proletariat auf sichererem Weg zur Macht.

In: Arbeiter-Zeitung, 28.3.1919, S. 1-2.

 [Parteivorstand]: Genossen und Genossinnen! (1919)

Einige tausend Arbeitslose und Heimkehrer haben gestern eine Demonstration veranstaltet, die damit ge­endet hat, daß Menschen, die ebenso Proletarier sind wie die Demonstranten selbst, getötet und verwundet worden sind, daß Volkseigentum in Brand gesteckt worden ist.

Wir kennen die Not der Arbeitslosen und be­greifen ihre Erregung. Wir kennen das Elend der Heimkehrer und begreifen ihre Erbitterung. Aber gewalttätige Demonstrationen sind nicht das Mittel, Not und Elend zu lindern.

Was soll durch Gewalttätigkeiten erreicht werden? Will die Arbeiterschaft das gegenwärtige Regierungssystem ändern, so bedarf es dazu nicht der Gewalt. Unsere Genossen in der Regierung werden ihr auf­reibendes und sorgenvolles Amt keine Stunde länger behalten, als die Arbeiterschaft es will. In der Stunde, in der die Mehrheit eurer von euch selbst gewählten Vertrauensmänner beschließt, daß unsere Genossen aus der Regierung scheiden sollen, werden sie das selbst­verständlich tun. Die deutschösterreichische Arbeiterschaft hat es also selbst in der Hand, durch ihren bloßen Beschluß, ohne jede Gewaltanwendung das Regierungssystem zu ändern. Aber freilich, nur der Gesamtheit der organisierten Arbeiterschaft steht dieses Recht zu! Ein paar tausend Demonstranten haben nicht das Recht, ihren Willen der Gesamtheit der organisierten Arbeiterschaft gewaltsam aufzuzwingen!

Was heute geschehen ist, ist also sinnlos! Aber mehr als das! Es ist zugleich höchst gefährlich! Längst schon ruft die Bourgeoisie nach der Besetzung Deutschösterreichs durch Truppen der Entente! Unter dem Schutze der Bajonette der Entente möchte sie ihre Herrschaft wieder aufrichten! Bisher haben wir diese Gefahr abgewehrt, indem wir die Vertreter der Entente überzeugt haben, daß Deutschösterreich, trotz dem furchtbaren Massenelend, aus eigener Kraft Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten kann! Daß wir das wirklich können, hat auch der heutige Tag bewiesen: Mit musterhafter Disziplin hat unsere Volkswehr die Ordnung wiederhergestellt, sobald sie auf den Schauplatz der Demonstration gerufen wurde. Aber trotzdem ist die Gefahr groß. Die Entente will sich die Verkehrswege von Italien zu ihren tschechischen und polnischen Bundesgenossen nicht stören lassen; wenn sie befürchten wird, daß unser Land zum Schauplatz größerer Unruhen werden könnte, dann droht uns die Gefahr, daß Wien und unsere anderen großen Industriegebiete von Ententetruppen besetzt werden. Dann würde die Gegenrevolution triumphieren! Unsere Hoffnungen für die Zukunft wären bedroht, das schon Errungene wäre gefährdet!

Es ist unsere Pflicht, Genossen und Genossinnen, eine solche Katastrophe zu verhindern! Klärt eure Arbeitsbrüder und Arbeitsschwestern darüber auf, daß Gewalttätigkeiten und Unruhen uns fremde Truppen ins Land bringen und damit alles, was wir schon errungen haben, in Gefahr bringen, alles, worauf wir hoffen, gefährden können! Klärt die ganze Arbeiterschaft darüber auf, daß jeder, der heute durch sinn- und zwecklose Gewalttätigkeit die republikanische Ordnung stört und die proletarische Disziplin verletzt, nur den alten Mächten hilft, unter dem Schutze fremder Waffen ihre Herrschaft wieder aufzurichten!

Genossen und Genossinnen! Wir brauchen revolutionären Mut und revolutionäre Tatkraft! Aber wir brauchen auch — heute dringender denn je! — Besonnenheit, Einsicht und Selbstzucht!

Der Parteivorstand der deutschösterreichischen Sozialdemokratie.

In: Arbeiter-Zeitung, 18.4.1919, S. 1.

N.N.: Die Jungfront (1932)

Schuster (Wien): Die Jungfront will keine selbständige Organisation sein, sie will mit arbeiten im Namen der Partei. (Leb­hafter Beifall.) Die Jungfront hat nicht nur große organisatorische Aufgaben unter der Jugend unserer Partei, sondern auch politische Aufgaben. Es ist notwendig, gerade von Jugend zu Jugend politisch aufrüttelnd zu wirken, zu diskutieren und zu debattieren, nicht nur über die Fragen des politischen Alltags, son­dern vor allem auch über den großen Kampf des Sozialismus. Deshalb mögen die führenden Genossen nicht nervös werden, wenn manchmal irgendwo etwas heftig diskutiert wird. Über die organisatorischen Fragen der Jungfront, die der von Deutsch besprochene Antrag der Parteiver­tretung über die Wahl der Jungfrontfunktionäre behandelt, hat sich seit einiger Zeit unter der Jungfront ein heftiger Kampf entwickelt. Wir stehen auf dem Standpunkt der funktionellen Demokratie. Wir sagen: die eine besondere Funktion unter der Jugend haben, sollen ein Mitbestimmungrecht haben, wen sie als Führer wählen. Der Antrag des Parteivorstandes trägt diesem Wunsche Rechnung und ich glaube, im Namen der Mehrheit der Wiener Jungfrontler sagen zu dürfen, daß es uns freut, daß der Parteivorstand unserem Wunsche Rechnung getragen hat. Die Jugend soll nicht allein bestimmen, sondern sie hat im Rahmen der gesamten Partei mitzubestimmen, wir glauben aber, daß die Jungfront die Möglichkeit haben soll, ihre Vorschläge zu erstatten, wen sie wünscht. Haben Sie Vertrauen zu dieser Jugend und nehmen Sie vor allem diese Jugend ernst, denn dieser Jugend ist es auch ernst um die Sache der Partei und des Sozialismus.

Der Kern der Jugend ist gut; denn er ist revolutionär. Und wer diese Jugend wirklich hat, der hat die Zukunft. (Starker Beifall.)

Piperger (Wien): Es hieße, die Aufgabe der Jungfront völlig verkennen, wenn man meinen wollte, ihre Aufgabe sei lediglich eine organi­satorische oder administrative. Die Aufgabe, innerhalb der jungen Generation zu wirken, kann nur verstanden werden vor allem als politische Aufgabe von außerordentlicher Wichtigkeit. Der Streit der Meinungen hat sich an der Frage entzündet, ob die Jungfrontvertrauensleute ihre Funktionäre zunächst selbst bestimmen sollen und die Partei sie nachträglich bestätigen soll, oder umgekehrt, wie die Parteivertretung es dem Parteitag heute vor­schlägt, ob nicht die Gesamtheit der Partei, die Jungfrontreferenten in ihren Konferenzen wählen soll— natürlich im Einvernehmen mit den jungen Vertrauensleuten selbst. Ich glaube, wenn man alles Für und Wider abwägt, daß man schließlich doch dazu kommen wird, zuzu­geben, daß der zweite Weg der richtigere und zweckmäßigere ist. Die Lösung, die die Partei­vertretung dem Parteitag vorlegt, dient vor allem auch einem möglichst reibungslosen Generationswechsel in der Partei.

Es ist in den Diskussionen, die in Wien ins­besondere über diese Fragen geführt wurden, das Problem mit Recht einmal auf die Formel ge­bracht worden: bei dem Streit komme es darauf an, ob man an die Frage herangehe als Junger oder als Sozialdemokrat. Ich glaube, wenn man diese Frage durchdenkt, wird man zugeben müssen, daß sie gar nicht anders betrachtet werden kann als vom Gesichtspunkt der gesamten Partei. Erst Sozialdemokrat und dann Jungfrontler muß die Formel sein! (Leb­hafter Beifall.)

In: Arbeiter-Zeitung, 14.11.1932, S. 5.

N.N.: Die Gründung des deutschösterreichischen Soldatenrates (1918)

            Gestern abend fand in den Drehersälen die konstituierende Versammlung des zu schaffenden Soldatenrates für Deutschösterreich statt, die einen überaus stürmischen Verlauf nahm und schließlich infolge der turbulenten Szenen vorzeitig endete, ohne daß es zur eigentlichen Konstituierung und zur Verlesung der bereits vorbereiteten Resolution gekommen wäre. In der Versammlung machten sich im Verlaufe der Reden unter den Soldaten Gegensätze bemerkbar, die stellenweise hart aufeinanderprallten und zu Auseinandersetzungen führten, welche die geordnete Fortführung der Versammlung unmöglich machten. Panikartig wurde die Situation, als plötzlich während der Rede eines Soldaten aus dem Saale der – wie sich herausstellte – unbegründete Ruf ertönte: „Vor dem Kriegsministerium wird geschossen!“ Minutenlang dauerten der ungeheure Lärm und die fast unbeschreibliche Aufregung, die dieser Ruf auslöste. Nur mit Mühe gelang es den Ordnern, die Ruhe unter den Soldaten, von denen ein großer Teil sofort zum Kriegsministerium ziehen wollte, wiederherzustellen und den Rednern Gehör zu verschaffen.

            Schon lange vor Beginn der Versammlung, der für 6 Uhr angesagt war, war der große Hof vor dem Riesensaale von Offizieren und Mannschaftspersonen dicht besetzt, und als der Saal geöffnet wurde, herrschte geradezu beängstigendes Gedränge. Es mochten sich ungefähr 3000 Soldaten eingefunden haben, die den Saal und die Seitengänge bis auf das letzte Plätzchen füllten.

            Namens des gegründeten provisorischen Soldatenrates eröffnete Zugsführer Gabriel vom Deutschmeisterregiment, der schon gestern vor dem Kriegsministerium eine leidenschaftliche Ansprache gehalten hatte, die Versammlung mit einer stellenweise von minutenlangem Beifall unterbrochenen Rede. Er entbot allen Kameraden, die herbeigeeilt waren, nun an dem Bau des neuen Deutschösterreich werktätig Hand anzulegen, den Brudergruß und sagte unter anderem: Das alte Österreich hat ein Ende gefunden. Wir sind nun ein Volk, deutsch an Leib und Seele, deutsch und treu bis ins Grab (lebhafter Beifall). Niemand vermag uns zu knechten, niemand soll uns das Recht nehmen, das Recht der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Arbeiter, Soldaten, Bürger und Bauern, reichen wir uns die Hände und seien wir einig, was immer auch kommen mag. Wir wollen fortan in Eintracht und Brüderlichkeit zusammenleben, und so lange wir leben, soll nie mehr so schreckliches Unheil unsre Heimat treffen, wie in diesem Kriege, An einem denkwürdigen Tage, dem Geburtstage unserer Freiheit, wurde der Soldatenrat gegründet. Er soll euer Berater sein, eine Institution, die auch eure Rechte geben soll, sie soll euch aber auch schützen, diplomatisch nach außen und nach innen. Ihr kennt alle den „Verbrecher“, der sich für uns geopfert hat, diesem Manne sind wir unseren Dank schuldig, so lange wir leben. (Die Versammlung brach in minutenlang andauernde Hochrufe auf Friedrich Adler aus.) Diesem Manne müssen wir den ersten Platz an der Sonne verschaffen. (Stürmischer Beifall.)

            Ein Trainsoldat erstattete Bericht über die bisherige Tätigkeit des vorbereiteten Soldatenratskomitees und kündigte an, daß am Freitag in allen Wiener Kasernen Soldatenversammlungen abgehalten werden, um Delegierte zu wählen, die dann den eigentlichen Soldatenrat zu bilden hätten. „Wir müssen,“ sagte er, „die Zustimmung der ganzen Wiener Garnison haben, und dann wird es unsre wichtigste Aufgabe sein, die Disziplin zu halten, die wir als Soldaten gelernt haben, und Institutionen bringen, die die Ruhe und Ordnung in unsrer Heimat verbürgen. Wir müssen die blutige Umwandlung vermeiden, Plünderungen um jeden Preis hintanhalten![1] Wir haben erst jetzt erfahren, wofür wir Krieg geführt haben, für Preistreiber und Kriegswucherer haben wir uns nicht geopfert. Fritz Adler, den Sie hier gefeiert haben, will, wie uns mitgeteilt wird, nicht begnadigt werden. Er will nicht das Gefängnis verlassen als Begnadigter, er will vor ein Schwurgericht kommen, das ihn freispricht oder verurteilt. Was jetzt not tut, ist, die Anarchie und die blutige Revolution von unsern hartgeprüften Brüdern um jeden Preis fernzuhalten.“

            Der nächste Redner Oberleutnant Berger entwickelte das Programm der sofort zu schaffenden Nationalgarde und forderte alle selbstdisziplinierten Kameraden ohne Unterschied ihres Parteibekenntnisses auf, sich zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Ruhe zur Verfügung zu stellen. Er teilte mit, daß in allen Bezirken Wiens Werbebureaux für diese Garde errichtet werden, das Zentralbureau sei bereits im 4. Bezirk, Mittersteig Nr. 15, errichtet, das Stadtbureau befindet sich Singerstraße Nr. 8. „Helfet uns, Kameraden,“ schloß er seinen Appell, „die Ruhe und Ordnung aufrechterhalten, damit wir einem gedeihlichen Frieden entgegengehen!“

            Der nächste Redner, ein Infanterist, verlangte die Immunität des Soldatenrates.

            Stürmischen Beifall fanden die Ausführungen eines Rittmeisters vom Schützenregiment in Stockerau, der es als wichtigste Aufgabe der zu schaffenden Garde bezeichnet, die Ordnung aufrechtzuerhalten und den Lebensmitteltransport zu sichern. Wir müssen uns bewußt sein, daß hinter uns unsre Frauen und Kinder stehen, die genug gelitten haben.

In: Neues Wiener Tagblatt, 1.11.1918, S. 8.


[1] Diese Passagen aus der Rede des namentlich unbekannten Trainsoldaten spiegelt die ideologisch ungewöhnliche Gesinnungslage jener frühen Protagonisten, die ungeachtet ihres revolutionären Elans und Selbstverständnisses zugleich die sozialdemokratische Linie des geordneten Umsturzes bzw. Übergangs in eine demokratische und sozialistische Republik zu unterstützen trachteten. 

Lajos Kassák: An die Künstler aller Länder!

Die in ihren Gedanken unverstandenen, in ihren Handlungen allein handelnden Künstler einer Klasse, die sich zum Menschentum erlösen will, rufen wir mit brüderlichen Worten an. Höret uns! Aus unseren Stimmen empören sich blutfarbene Frage- und Rufzeichen und was sich davon zum Sinn verdichtet, ist unser unwandelbarer Glaube an die ewige Revolution. Für uns gibt es nur ein Gesetz: Ein fortwährendes Vorwärtsdrängen im großen Leben, alles andere wäre ein Verkriechen vor dem feigen Selbst oder ein entsagungsvolles Warten auf den Tod. Und wir fürchten uns nicht vor uns und wollen nicht auf unser Leben verzichten. Unser Leben ist die Revolution, unsere Revolution ist das heiligste Bekenntnis zur Liebe.

1920 sind wir bereits über das romantische Emporsehnen hinausgewachsen, mit allen blutenden Wurzeln sind wir zum Absoluten herausgerissen worden, wir haben ein Recht auf das gestenlose Wort.

Wir haben das Leben erkannt, in uns ist das Gesetz.

Wir haben keine Wurzeln in der Vergangenheit, keine Zügel, die in die Zukunft führen.

Unser einziger Weltruf ist das unserem Leben entströmende Blut: Mensch, wo bist du?

Das Wesen der neuen Kunst ist das Aufspüren der tragischen Gegenwart und ihr Aufleuchten in der kreißenden Zeit. Die Bestimmung des neuen Künstlers ist das Zu-sich-Erwecken der Menschheit, [die] einerseits der Dummheit der Unterdrückten, andererseits der Krämerspekulation der Herrschenden verfallen ist.

Also keine individuelle Verklärung und keine Massenkunst im Sinne der Volkstribunen. Darüber müssen wir uns im klaren sein. Denn nur durch diese Erkenntnis führt der Weg zur Wahrheit der Gegenwart, zur einzigen Wahrheit, zum Leben, zu mir, zu dir, zur Einheit.

Das ist unsere Forderung sowohl an die Schöpfer, wir auch an die Empfänger der Kunst. Und dadurch machen wir mit einem Handgriff den Gebenden und den Nehmenden gleich. Denn wie einst die Bedienenden und die Bedienten verschwinden werden, sollen auch die Verklärten und die Erniedrigten verschwinden. Die Parole heißt: Der Mensch. Und wir sind Menschen in unserer Kunst und wie wir in der der Vergangenheit nicht die Diener der Bourgeoisie waren, wollen wir auch in der Zukunft keiner Klasse dienen, – auch dann nicht, wenn diese Klasse „Proletariat“ heißt. Wir glauben, daß die Dienstbarkeit für irgendeine Klasse nur eine neue Variante der heutigen sklavenhaften Gesellschaftsform vorbereitet. Wir wollen keiner neuen Klasse an die Stelle // der alten Klasse emporhelfen. Wir verkünden im Gegensatz zu jeder Klassenherrschaft die siegreiche menschliche Gemeinschaft, im Gegensatz zu jeder Staatsmoral die kollektive Ethik. Und von da aus strahlt die Wärme und der Glanz unserer Bruderworte. Unsere Wege führen in das Reich der Brüderlichkeit und unsere Fahne ruft die Verkündigung der Tat aus. Nicht die des Hasses, sondern die der Erlösung.

Nur diese kann die gerechte Stimme des Heute sein.

Brüder! Wenn wir von historischem Boden euch Signale zurufen, dann suchen wir in euch zu Revolutionen mit Streitäxten bewaffneter Vernichter und Baumeister mit erhellten Köpfen. Wir werben aus den von Bitternissen überschäumenden Massen die Pioniere des befreienden Gedankens. Aus diesen Massen, die noch immer nichts als ihren Magen werten, und an welchen wieder alle gute Hoffnung zu zerschellen scheint. Die Energien des sich empörenden Proletariats sind für Leben und Tod an das Geleise gebunden und über der bremsenden Welt erschallen die Glocken der Todesstunde.

Klar sollen die Sehenden sehen!

Die Revolution kann nicht zur Lösung einer einzigen Frage, eines einzigen Motivs dienen. Die die Revolution ist nicht ein Mittel zur Eroberung des Lebens: die Revolution ist das Ziel selbst: Das Leben.

Verstehen wir uns: das gegenwärtige Beben bedeutet noch nicht den Beginn einer neuen Welt, vielmehr nur den Abschluß der alten. Es bedeutet nicht das gemeinsame und individuelle Leugnen der Herrschaft, sondern die Eroberung dieser durch Kraftgenossenschaften. Nicht die sinnvolle Überentwicklung der bürgerlich gefärbten Sozialdemokratie, sondern bloß deren Entwicklung zur vollkommenen Form: der terroristischen Sozialdemokratie.

Doch das alles ist immer noch Politik.

Kampf einzelner Parteien um die Macht durch das Bewegen der Massen.

Positionswechsel mit Positionseifersucht.

Doch schon klaffen uns die Perspektiven entgegen!

Die tragischen Individuen, wie verwunschene Engel der Mythologie tragen schon in ihrer Seele und heben wie eine Monstranz über uns die einzig sichere Bürgschaft der Revolution: das aktive Selbstbewußtsein.

Und jetzt ist unsere und eure Zeit gekommen, Brüder, die wir auf der Basis des historischen Materialismus die Seele des Menschen in Brand stecken wollen. Im Gegensatz zu jeder Klassenmoral heben wir jetzt die ewige Stabilität der Ethik ans Licht. Denn sie ist der Sinne aller Kräfte. Die Betonung der materiellen Umgestaltung genügt nicht zur Lösung der menschlichen Lebensmöglichkeiten. Die Massen haben genügend gedarbt, um zu einer Meuterei immer bereit zu sein, dadurch ihr Schicksal momentan zu verbessern; – jetzt heißt es aber, wie vorher noch niemals, die instinktive Meuterei zu einer bewußten Revolution zu vertiefen und zu stabilisieren. Mit der Befreiung der realen Kräfte müssen auch die abstrakten Begriffe umgewertet werden.

Zur gleichen Zeit, in der der belastende Morast abgestreift wird, muß auch das einzige Ziel beleuchtet werden. Denn nur das ewige Vorwärtsgehen kann uns im Kampfe mit dem Augenblick festigen. Denn nur die befreite Seele allein kann den befreiten Körper vor einer neuen Unterjochung schützen.

Brüder, aus deren traurig-fröhlicher Seele das nach dem gleichen Ziele strebende Leben der Wissenschaft, Technik und Politik emporströmt, ihr wißte es so gut wie wir, – es ist nicht anders möglich! Wir wissen, daß es wirtschaftliche Gründe sind, die den ersten Stoß (den Stoß zur Form) der revolutionären Bewegung geben, aber ihre unwandelbaren, dauernden Stützen sind doch die erwachten seelischen Kräfte, das reine einheitliche Bewußtsein. Und jetzt ruft dieses in unserer Seele neugeborene Bewußtsein euch an. Ihr neuen Künstler! Reicht euch im Chaos der Revolution die Hand, auf daß die Harmonie der Revolution als Blut desselben Blutes in uns zusammenklinge. Hinaus über die Klasseninteressen für die universalen Interessen der gesamten Menschheit. Über die Diktatur der Klasse, – für die Diktatur der Idee.

Und weg mit den auf den Fahnen geschriebenen Namen, mit dem Scheinhumanismus und mit dem individuellen Imperialismus!

Kein Stehenbleiben!

Brüder, verbrüdert euch zum Aufbau des neuen Menschen, des kollektiven Individuums!

Denn unter den Fahnen des Kommunismus, des reinsten Glaubens, kann kein anderes Interesse bestehen, als das mächtige Lebensinteresse der Menschheit, von der sowohl Du als ich gleiche Teile sind ein und desselben Stammes!

Die Verwirklichung dieses Interesses unter der Diktatur der Idee kann einzig und allein durch die Revolutionierung der Seelen geschehen.

Diese Revolution kann nur durch moralische und zweckmäßig kulturelle Erziehung des Proletariats als für die Zukunft einzig gesunden Rohmaterials gesichert werden.

Also Kultur! Und wieder Kultur!

Das Proletariat rüttelt unaufhaltsam an der Macht der unterjochten Väter; – unsere Pflicht ist es gegen die Herrschaft der erstgeborenen Brüder den Kampf aufzunehmen.

Nieder mit der mit Menschenblut kalkulierenden Politik! Nieder mit den Talmudisten der Revolution!

Die Logik der Advokaten, der Mechanismus der Administratoren, die langweiligen Reden der Redner reichen bei weitem nicht aus.

Es lebe die gegen jede Tradition kämpfende Revolution! Es lebe das verantwortliche kollektive Individuum! Es lebe die Diktatur der Idee!

Im Namen der ungarischen Aktivisten

Wien, am 15. April 1920.

In: MA, H. 1/1920, S. 2-4.

Paul Szende: Der Schieber als Sinnbild der heutigen Wirtschaftsordnung.

             Der Schieber ist ein Kriegsprodukt und verdankt sein Dasein der Warenknappheit. Er überdauerte den Zusammenbruch, die Revolution und Gegenrevolution, trug zuletzt einen glänzenden Sieg über die bolschewikische Theorie in Rußland davon. Er behauptet sich trotz Verachtung, Schlagworten und Gesetzen überall. Was sind die geistigen Fähigkeiten dieser Menschengattung? Worin besteht ihre Überlegenheit? Versuchen wir dies festzustellen.

1. Schnelle Anpassungsfähigkeit.

Der Schieber war und ist der Registrierapparat der Konjunktur, der alle Bewegungen des wirtschaftlichen Körpers genauest aufzeichnete und augenblicklich verwertete. Er ist in jeder Branche zu Hause, keine Ware entgeht seiner Aufmerksamkeit. Ebenso blitzartig ist seine politische Anpassungsfähigkeit. Obzwar er für die alte Ordnung schwärmt, das Schwinden der hergebrachten Autorität und Disziplin beklagt, findet er sich in alle politischen Systeme hinein; ob Monarchie oder Republik, Reaktion oder Demokratie, er ist in allen Sätteln gerecht, er liefert ebenso gern für Horthy wie für die russische Sowjetrepublik.

2. Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit.

Doch gleicht diese Anpassungsfähigkeit mehr der des Aasgeiers, der in der höhe schwebend den Kadaver mit Scharfblick erforscht und sich in blitzschnellem Sturzflug auf ihn wirft. Der Schieber war im Kriege der Frontkämpfer des Hinterlandes, und er führt den Stellungskrieg gegen die konsumierende Bevölkerung ohne die Gefahren des Frontdienstes noch immer fort.

3. Intuitive Erfassung der Eigenart der neuen Wirtschaftsordnung.

Der Schieber hat sofort nach dem Kriegsausbruch erkannt, daß die Zurückhaltung der Waren – im Frieden nicht nur ein gegen das öffentliche Wohl verstoßendes, sondern zugleich privatwirtschaftlich unökonomisches Verhalten – die ausgiebigste Quelle großer Gewinne sein kann. Die Störung des Gleichgewichtes zwischen Produktion und Verbrauch, zwischen Einfuhr und Ausfuhr dauert noch heute in den besiegten Ländern unvermindert an. Ebenso intuitiv hat er erschaut, daß seit dem Kriege die Epoche des risikolosen Geschäftsganges hereingebrochen ist; derjenige, der von seinen Skrupeln getrübt ist, kann sein Geschäft ohne Wagnis führen. Das ist eben der springende Punkt, denn das geschäftsmäßige Risiko liebt der Schieber ebensowenig wie der Teufel den Weihrauch.

4. gründliche Kenntnis der staatlichen Machtverteilung und des politischen Getriebes.

Die Schieber wurden sich sofort dessen bewußt, daß in dem bestehenden Klassenstaat das System der Zentralisation, der Höchstpreise und der Rationierungen naturnotwendig zur Korruption führen wird. Sie wußten, daß alle diese Gesetze und Verordnungen auf dem Papier bleiben müssen, da ihre ehrliche und rücksichtslose Durchführung in erster Linie die Interessen derjenigen mächtigen Faktoren schädigen müßte, die in jedem Staat über die Gesetzgebung oder die Verwaltung verfügen. Sie legten daher ein sorgfältig durchdachtes, sogar geniales Kanalnetz der Korruption an, in welches von allen Seiten die Waren hineinströmten.

5. Gefühl der Sicherheit.

Dieses Gefühl stammt von der Feststellung, daß alle führenden Schichten an der Kriegskonjunktur in vollstem Maße teilgenommen haben. Die Schieber hätten niemals ihr Werk verrichten können, wenn nicht die „legitimen“ Agrarier, Industriellen und Kaufleute ihnen die Waren zugeschoben, zur Verfügung gestellt hätten. In dieser Gesellschaft hatten sie nichts zu befürchten.

6. Gefühl der Unentbehrlichkeit

Ohne den Schieber wären diese vornehmen Klassen nicht imstande gewesen, die Kriegs- und Nachkriegskonjunktur gehörig auszunützen. Ihre Tätigkeit ist mehr kontrollierbar, die öffentliche Aufmerksamkeit ist zu sehr auf sie gelenkt. Das Schiebertum ward in ihren Händen zu einem willkommenen Instrument, das sie den Heiligenschein wahren ließ und doch die Teilnahme an der Konjunktur gewährte.

8.  Der Schieber ist ein überlegener Lebensphilosoph.

Er durchschaut das ganze wirtschaftlich-politische Gewebe, ihm sind alle Geheimnisse erschlossen. Er nützt die Heuchelei und Doppelmoral der herrschenden Klassen zum eigenen Nutzen aus. Den Vornehmen gegenüber, welche dasselbe Geschäft, nur verschämt, betreiben, empfindet er einen gewissen Stolz. Er weiß, daß diese von ihm durchaus nicht entzückt sind, denn das unverhüllte Treiben des Schiebertums bringt dem Publikum zu sehr vor die Augen, wie die großen Vermögen entstehen, wie unbeschränkt die Ausplünderungen der Wehrlosen vor sich gehen kann. Er lächelt verständnisvoll und duldet, daß er als Sündenbock hingestellt wird, doch läßt er sich dafür hohe Entschädigungsprämien zahlen, selbstverständlich nicht von seinen Dienstgebern, sondern von der konsumierenden Bevölkerung.

In: Arbeiter-Zeitung, 9.5.1922, S. 5.

Robert Müller: Berlin-Wien, zwei Perspektiven.

             In Berlin entbrennt ein neues Rußland. Nicht mit Unrecht ist das Preußen vor dem Zusammenbruche von mancher Seite eine Gründung sarmatischen Geistes gleich dem zaristischen Rußland genannt worden. Wie dieses, muß es in einem inneren Kataklisma erst zusammenbrechen, bevor ihm eine Erholung gegönnt ist.

             Im Fegefeuer der spartakistischen Revolution büßt es seine junkerlichen Sünden. Diese Revolution wird es nicht zu Asche verbrennen; sie wird nur die schwachen Stellen seiner bürgerlichen Ordnung versengen. Die Preußen sind so ganz und gar nicht geschaffen, die Verwilderung ihrer Staatlichkeit aufrechtzuerhalten, daß sich dort oben sehr bald wieder eine recht brave untertanenähnliche Balance herauskrystallisieren wird. Es entbehrt – trotz allem blutigen Ernste – nicht des Humors, daß das Polizeipräsidium in Berlin der Mittelpunkt der letzten Aufregung gewesen ist. Über den Schutzmann kommen sie nicht hinweg, weder in ihrem pro noch in seinem contra.

             Das Polizeipräsidium als letzte Gesellschaftsinstanz ist ebensogut die Utopie der von rechts wie der von links. Der spartakiotische Polizeiminister wird genau so aussehen wie alle Politiker mit Spreewasser getauft. Etwa: „Ich warne Neugierige!“ Wie die Regierenden regieren, soll die jeweils Andern nichts angehen.

             Die Zukunft wird in Berlin nicht so lebensgefährlich sein, wie ihre Vertreter sie jetzt machen. Man muß von allen Programmen, ob U-bootkrieg oder Klassenkampf, die Berliner Schnauze subtrahieren.

             Die Zukunft wird nach wie vor sein: Berliner Tempo, ein kommunistisch ausgewalztes Standardbürgertum mit allen Instinkten desselben, eine sehr breite Basis der grundsatzlosen Tüchtigkeiten, „Unsar Liebknecht“ (tatütata) anstatt „unsar Kaisar“, Siegesallee von zu Bürgern und Bürobesitzern arrivierten Amokläufern der Straße und bannig Amüsemang von Nachtlokal und Sechstagerennen bis zur Rheinhard.

             Das ist die Stadt, an die wir unsere eigene Zukunft verraten sollen!

             Berlin: Wir warnen Neugierige!

             In Wien das Item der vorkriegerisch-vorpreußischen Zeit: Engländer, Amerikaner, Schweizer, Franzosen, Italiener, Rumänen, mit nationalen Epauletten versehene Husarenoffiziere der ehemals k.u.k. Ringstraße, sie alle mit derselben nicht mehr verstellten Neugierde des Wieners empfangen und angeblickt, beleben die Straßen. Die Schweizer sind am populärsten nach den Engländern, die man, noch ein bißchen verschüchtert und kleinbürgerlich, wieder am stärksten respektiert. Die Schweizer werden wie etwas Verwandtes empfunden. Da ist ein kleiner Staat unter anderm von tüchtigen und eigenartigen Deutschen bewohnt, die draußen im unmittelbaren Kontakt mit der großen Welt und mit den lebhaftesten Völkern der Erde ihre Nationalität nicht nur festgehalten, sondern im universellen Sinne verbessert haben. Diese Schweizer leuchten uns jetzt auf einmal als ein Muster ein. Warum streiten wir uns herum, ob wir von Berlin oder von Prag, statt wie früher von Budapest aus regiert werden sollen? Daß es auch ohne Küste geht und daß das Korridorprinzip zugleich mit der amerikanischen „Freiheit der Meere“ uns nicht weniger als Tschechoslawien und die Schweiz zugute kommen wird, wird jetzt sonnenklar. Wir sind der Schnittpunkt von vielen Korridoren durch Europa, ein Umschlagplatz nicht nur der Weltgüter, sondern auch der Weltgüte. Wer hat diese Schicksalsfrage für Wien aufgebracht? Nur wenn wir peripher am Deutschen Reich kleben, das wie Figura zeigt noch lange als St. Helena eines Eroberungsvolkes gescheut werden wird, sind wir diesem Kleinstadttode verfallen.

Uns winkt vielmehr ein Schicksal, das in unserem Blute, unserem Gemüte und unserem Geschmacke vorbereitet ist, und seine Erfüllung ist nur wie eine letzte Konsequenz. Eine Art Internationalisierung! Kein Temperament ist so wie das wienerische für diese hochsoziale Form geschaffen.

Inmitten einer Eidgenossenschaft von Bauernkantonen, die durch praktische Einführung eines religiös unterbauten Agrarsozialismus die wirkliche Bilanz der Revolution und des Monarchiezerfalles ziehen, liegt die Weltstadt Wien als eigener Kanton. Die sozialen Aufgaben sind auch in diesem Falle erleichtert. Mit unserer nächsten Umgebung leben wir föderativ. Wirtschaftlich grenzen wir an alle Staaten der Welt, wir sind Hauptstationen vom Ärmelkanal nach Konstantinopel, einer anderen Weltstadt. Für Tschechoslawien, das nordseewärts längs der Elbe transportiert, wir auch nach der dritten internationalen Stadt Triest, ein Exportweg geschaffen werden müssen, schon um die slawische Verbindung aufrechtzuerhalten.

Es gilt, die neuen politischen Formen zu begreifen. Die Entente unterstützt uns mit Nahrungsmitteln und Krediten. Wir haben sie redlich nötig. Die Kommissionen können sich davon überzeugen. Es ist überflüssig, daß die Zeitungen auch noch ein jammerndes Geschmuse darüber erheben, das nur den Eindruck hervorrufen könnte, wir seien entweder Querulanten oder Simulanten. Wir brauchen den im Verhältnis zu unserer Not noch immer dürftigen Anschub. Können wir da zugleich eine Politik machen, die den stänkernden Urheber dieses ganzen Unheils, der auch jetzt noch nicht aufgehört hat, die Welt mit Blutphrasen zu heizen, durch unsere Mithilfe verstärkt?

Darf man unser sogenanntes Anständigkeitsgefühl mobil machen und unsere nationalen Triebe anmustern, um mit dieser Armee – mehr werden wir in unserer Entblößtheit ohnehin nicht stellen können – den allerdings zu streng bestraften deutschen Brüdern, eigentlich sinds nur die Berliner, aufzuhelfen?

Ist es nicht besser, uns erst selbst zu rangieren, bevor wir Retter spielen wollen?

Märtyrer spielen wir seit fünf Jahren zum Schaden derer, denen unser Opfer gelten sollte. Besinnen wir uns auf uns selber.

Der weltpolitischen Perspektive für Wien entspricht im Sozialen die schon öfters aufgezeigten des sozialen Biedermeiers. Wie in Berlin, muß auch in Wien die extremistische Bewegung in die sozialbürgerliche verflachen. Der Kanton ist die weltpolitische Zukunftseinheit. Dem Kantönligeist aber tritt erfolgreich nur der großzügige Internationalisierungsgedanke entgegen, der Wille zur Föderation, der Marschtakt der güterbeladene Marschkarawanen von West nach Ost, von Nord nach Süd.

Es ist kein Zweifel, dieses introspektive geistige Wien – geistig nur in dem Sinne, daß es überdenkt statt handelt – wird sich bei dieser neuen Größe und Ausdehnung neugierig selbst zusehen.

Daraus aber wird sich spezifisch wienerische Zukunft ergeben: aus Anregung, Zergliederung und Verarbeitung ins Bewußtsein – der Welt.

Wien: wir sammeln Neugierige!

In: Finanz-Presse, 7.1.1919; (KS II, 304-307)

Karl Tschuppik: Wie Österreich zerfiel.

Vor zehn Jahren.

Am 21. Oktober 1918, nachmittags 5 Uhr, versammelten sich im Sitzungssaale des niederösterreichischen Landtags in der Wiener Herrengasse die Abgeordneten der von Österreich übrig gebliebenen Länder. In der kurzen Zeit vom 18. Oktober, an welchem Tag das Manifest Kaiser Karls verlautbart wurde, und dem 21. Oktober, hatten sich die in der Kundgebung apostrophierten Völker verlaufen. Das Manifest versprach, Österreich solle „dem Willen seiner Völker gemäß ein Bundestaat werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiet sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet“. Ehe den Lesern an den Straßenecken Wiens klar geworden, wie des Kaisers Proklamation zu verstehen sei, gab es kein Österreich mehr. Die im Reichsrate zurückgebliebenen Herzogtümer und Länder mußten darüber schlüssig werden, was sie nun beginnen sollten.

Es war ein seltsames Bild, als das auf Wien und die Alpenländer reduzierte Österreich ins eigene Antlitz blickte. Es fröstelte ihm in dem großen Bau auf dem Franzensring; das kleine Häuflein der Männer, die sich im Salle der sechs Völker zusammengefunden hatten, erschrak vor sich selber. Man war vereinsamt. In der griechischen Säulenhalle, wo ehedem das bunte Gemisch des Völkerreichs aus sechs Idiomen widerklang, stand ein Mann, umgeben von ein paar Journalisten: Mendel Singer, das Wahrzeichen versunkener Größe. Es war kein symbolischer Akt der Regie, als man das öde Marmorhaus verließ und in die trauliche Stube des niederösterreichischen Landtages übersiedelte; man floh vor der niederdrückenden Gewalt der eben noch lebend gewesenen Geschichte.

Nebenan, im Hause der Herren, agierten die historischen Gespenster. Das Herrenhaus hielt eine Sitzung ab. Es war die einzige Stätte, wo um diese Zeit noch die Stimmen der abziehenden Nationen erklangen. Die Abgeordneten des Volkshauses hatten es nicht mehr der Mühe wert gefunden, dem zusammenstürzenden Reich eine Anklage ins Grab nachzusenden. Die tschechischen Mitglieder des Herrenhauses erklärten sich mit der eben bekannt gewordenen Erklärung des Prager Nationalrates, mit der Errichtung des selbstständigen, freien tschechoslowakischen Staates solidarisch und wiesen den Gedanken einer Selbstbestimmung der Deutschen in Böhmen als „unhistorische und sachlich unbegründet“ zurück. Graf Clam-Marinitz antwortete im Ramen des konservativen böhmischen Adels. Er sprach von der unverbrüchlichen Treue zur Dynastie; der proklamierte Staatenbund könne nur unter Habsburgs Zepter entstehen. Das Herrenhaus applaudierte, die Peers erhoben sich von den Sitzen. Nach Clam-Martinitz spricht Hussarek, der Ministerpräsident. Lebt Österreich noch? Es funktioniert. Vor Hussarek kauern gespannt die Stenographen des amtlichen Nachrichtendienstes, neben ihm füllt der alte Herrenhausdiener frisches Wasser in die freundlich glänzende Flasche, hinter ihm stehen die zwei Ministerialsekretäre mit den Wappen. Hussarek kommentiert das kaiserliche Manifest: „… die logische Ergänzung des letzten Friedensschrittes …, … Bundesstaat…, …jedem Volksstamm das Seine…“ Zum Schluß ein ins Lyrische gesteigerter Satz: „Nach langer Nacht dürfen wir die aufsteigende Morgenröte als das erste Wahrzeichen eines neuen Tags begrüßen, der Wohlergehen und heitere Lebensfreude verheißt.“ Diese Lyrik war selbst den Peers wider den Geschmack. Eisiges Schweigen, als der hohe Körper Hussareks sich niederläßt.

Zur selben Stunde ungefähr hatten sich die Abgeordneten im Sitzungssaal des niederösterreichischen Landtags zusammengefunden. Die Wiener und, von ihnen auch äußerlich unterschieden, Steirer, Kärntner, Tiroler, Oberösterreicher, Salzburger. Die Versammlung wäre ratlos gewesen ohne den Kopf, den sie barg: Viktor Adler. Er sprach ohne Haß gegen das Alte, ohne Phrasen fürs Neue, das Losungswort in klarer Formulierung: der übriggebliebene Rest der Monarchie verwandelt sich in die deutschösterreichische Republik. Die Grabrede auf das alte Österreich hielt Dr. Steinwender: „Ohne Dank scheiden wir aus diesem Staate, mit dem verkettet gewesen zu sein für uns eine schwere und verzehrende Last war…“ Empfand man’s immer so? Hatten die Deutsche Österreichs ihre eigene Geschichte vergessen? Der Sprecher der Christlichsozialen erhebt sich und verkündet das Bekenntnis zur monarchischen Regierungsform. Der Abgeordnete Wolf schließt sich ihm an: „Wir sind und bleiben überzeugte Anhänger des konstitutionellen monarchischen Staates.“ Viktor Adler, die Versammlung vom Druck solchen Pathosdunstes befreiend, ruft halblaut, ohne Ironie: „Herr Kollege, soll Kaiser Karl etwa Herzog von Kärnten werden?“

Draußen, vor dem Barockportal des Landtags und im dunklen Hof stehen zwei Dutzend Neugierige. Es ist kalt, es regnet. „Was ist denn los?“ fragt ein gänzlich Uneingeweihter eine Gruppe Journalisten, die eben die konstituierende Versammlung der Republik Deutschösterreich verlassen. Da ruft eine schmetternde Stimme (sie gehört einem bekannten Wiener Schriftsteller): „Soeben ist der Gesangverein Deutschösterreich gegründet worden.“

Wien hats nicht bemerkt. Vis-à-vis im Cafè Central sitzen die Buddhisten des Schachspiels über ihren Brettern, im Billardsaal klingt das zarte Geräusch des altertümlichen Spiels, die Literatur erhitzt sich beim Tarock. Es hat sich nichts geändert.

Beim Ministerratspräsidium, dem Palais Modena, begegnet man einigen Herren vom Dienst, darunter dem Ministerialrat Doktor Safarik. „Komisch,“ sagt er, „wie sich die Wiener das Ende Österreichs vorstellen. Eben hat mich eines der großen Wiener Blätter angerufen, was denn die Prager Statthalterei zu dem Manifest des tschechischen Nationalrats sage. Wir konnten nur erwidern, daß wir von der Auflösung noch nicht offiziell in Kenntnis gesetzt sind.“ (Ein andere Herr weiß die Antwort der Prager auf so neugierige Fragen: At‘ nàm ve vidni p…p….)

Am Morgen des 22. Oktober, nach langer Redaktionsnacht, gehen wir, Dr. Walter Rode, der Prophet des Untergangs, und ich, in weitspurige historische Betrachtungen versunken, durch die leeren Gassen des schlafenden Wiens. Bei der Oper: ein Wachmann, der Chauffeur eines ramponierten Taxi und ein Straßenkehrer. Der Straßenkehrer, ein alter Mann mit einem kurios verbogenen Knie, den zu kleinen Hut schief auf dem Kopf, ist ganz bei der Arbeit. Mit zäher Beharrlichkeit jagt er jedem widerspenstigen Papierchen nach. „Sonderbar,“ sage ich, „die Revolution hab’ ich mir ganz anders vorgestellt. Wer heißt dem Mann die Arbeit zu verrichten? Wer kümmert sich noch darum, ob er schläft oder kehrt?“ Worauf Dr. Rode: „Sie kennen nicht die eigentliche Funktion der Straßenkehrer? Die Mistschaufler halten die Kontinuität der Gesellschaft aufrecht.“

In: Der Tag, 21.10.1928, S. 13.