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Ernst Fischer: Das große Welttheater. Von Hugo Hofmannsthal

In dieser Zeit der Skepsis und der Regie, der entfesselten Technik und der geknebelten Seele, der großen Maschinen und der kleinen Herzen, in dieser Zeit, die wie eine schreckliche Pause zwischen dem zu Ende gespielten Gestern und dem noch wenig erprobten Morgen ist, treten die Gaukler vor die Rampe, die Schlangenbeschwörer der toten Kultur, die wunderlichen Fakire des Geistes, die letzten Artisten der Alten Welt. Sie haben die Kunst der Steinzeit, die Plastik der Neger, die Malerei der Südseevölker, die Geheimlehren der Inder, die Gifte aller Mysterien und den Katholizismus entdeckt. Sie haben alle Gräber geplündert und von den Tafeln der Toten betäubende, erregende, nervenbeklemmende Dinge mitgebracht. Sie füllen die Pause, die schreckliche Pause zwischen gestern und morgen mit ihren grellen und müden Künsten.

            Einer von diesen Gauklern und Schlangenbeschwörern ist Hugo von Hofmannsthal. Er hat uns die zarte und süße Musik empfindlicher Nerven gegeben, er hat mit kühlen, zuckenden Händen Elemente der Renaissance, der Antike, chinesische Märchen und barocke Geschichten, seltsame Anekdoten und katholische Mysterienspiele in leise Krankheit verwandelt und die große Skepsis und Müdigkeit zu sanften Ekstasen verführt. So hat der Meister des kleinen Welttheaters das große Welttheater des Katholizismus zu schattenhaftem Leben erweckt und ein geistliches Schauspiel Calderon de la Barcas, des genialen katholischen Dichters, durch eine ästhetische Injektion vergewaltigt. Reinhardt hat in den Salzburger Festspielen das Stück zur jüdischen und christlichen Sensation gemacht und der internationalen Halbwelt des Geistes und der Finanz zwischen Börse und Fußball die zauberhafte Regie der katholischen Kirche verabreicht.

            Helmut Ebbs, der das Stück in Graz inszenierte, hat die Dichtung, in der Vergangenheit sich wunderlich mit Gegenwart paart, in der die Revolution und der Sozialismus neben dem christlichen Dogma lyrisch über die Bühne geistern, in der neben künstlicher Einfalt allzu kluge Worte vieldeutig aufleuchten, entkatholisiert und Hofmannsthals Flirt mit der Kirche weise gedämpft. Was unter seiner Regie sich formte, war wirkliches, starkes und buntes Theater. Es wurde kein Hochamt zelebriert, es wurde Theater gespielt, es wurde nicht in Katholizismus gemacht, es wurde eine Dichtung in Bild und Gebärde geformt. Nichts erinnerte an eine gotische oder barocke Kirche, in weite, mystische Landschaft öffnete sich die Bühne. Der Gott, der sein Werk, die Schöpfung, vollendet hat und nun, da alle Rollen verteilt und alle Stellen besetzt sind, nicht weiß, wie er sich die Zeit, die tolle Tochter der Ewigkeit, vertreiben soll, war keine körperlose Stimme aus dunklem Gewölbe, sondern ein Greis mit bronzenem Antlitz und strotzenden Muskeln, der christlicher, jüdischer oder heidnischer Konfession sein konnte und sich nicht in dogmatischen Abstraktionen aufgelöst hatte. Seine Musikantin, die „Welt“ der Dichtung, die das Menschenmaterial für die Spiele zu liefern hat, war zur braunen Erde und heidnischen Mutter geworden, die fahl und magisch beglänzt, in einer Höhle kauert und Lieder von Tod und Leben singt (ein Bühnenbild von ungewöhnlicher Schönheit), der Tod selber, der Bühneninspizient des Welttheaters, trat nicht als christliches Knochengerippe auf, sondern als einer „aus des Dionysos, der Venus Sippe,“ wie der junge Hofmannsthal ihn einst, als er noch bei Goethe, Nietzsche und der Antike zu Gaste saß, gestaltet hat. Ebbs spielte den Tod in grauer Seide, rot umblutet von seidenem Bande, mit weichem, lockenden Bariton und seltsamer Anmut der Bewegung.

            Der Bettler, die eigenartigste und modernste Gestalt der Dichtung, wurde von Theodor Grieg dargestellt, der in der leidenschaftlichen, aus edlen Versen auflodernden Anklage gegen die Welt der Könige, der Händler und der Bauern zu wenig metallisch, in der heiteren Resignation und hohen Verklärung des Schlusses aber sehr wirkungsvoll war. Dieser Bettler ist mir behutsamer Überlegenheit du großer Klugheit gestaltet; der Ästhet Hofmannsthal berauscht sich an der erregenden Kraft der Revolution, wie er sich an der Antike oder am Katholizismus berauscht. Aber der Dichter denkt, doch dunkles Menschenschicksal lenkt seine Hand; der Bettler mußte, über die kühle Ruhe dessen hinaus, der ihn schuf, die stärkste Figur in diesem Welttheater werden. Sie alle sind meisterhaft aus der Zeit auf die Bühne gestellt, der Bauer, „ein Laib mit Brot mit zwei Füß“, der Reiche, der die Macht, und der König, der ihren Schein besitzt. aber sie alle sind fest und klar charakterisiert und begrenzt, nur der Bettler flammt über sich selber ins Grenzenlose hinaus. Er hebt das Beil gegen alle und einen Augenblick lang weiß niemand, weiß weder der König auf der Bühne noch das Publikum, der Engel und die Heiligen, ob das noch zur Rolle gehört oder ob das rebellische Improvisation ist. Das Stück, das zur Ehre und zur Lust Gottes aufgeführt wird, ist in Frage gestellt – dann aber geschieht das Wunder, das die Weisheit, die das traditionelle Gewand der Nonne trägt, das Herz des Rebellen erschüttert, weil sie nicht gegen ihn, sondern für alle Kreatur ist. Und die Weisheit schenkt ihm das Beil, da der Bettler sich weigert, ein Werkzeug zu führen, das nicht ihm gehört. Ist es des klugen Dichters Absicht, habe nur ich aus dieser Szene herausgehört, daß die Weisheit dem alten Besitzer den Produktionsapparat nimmt und ihn in die Hände des Proletariers legt, und daß nur so das Unheil und die Gewalt von dieser Welt abgewendet werden? Ist die Dichtung Hofmannsthals mehr als ein Zwischenspiel, grüßt der große Könner die Kommenden oder -?

            Das ist es, was mir an dieser Inszenierung so gut gefiel: daß sie aus dem Scheine der Vergangenheit in das Sein der Gegenwart eine Brücke schlug, daß sie aus dem katholischen Mysterium den menschlichen Mythos schälte. Abgesehen von kleineren Störungen, die schwer zu vermeiden sind (der fatale Sprechchor, die Unzulänglichkeit der weiblichen Stimmen, die dem großen Raum nicht gewachsen sind), war die Aufführung ein Maximum des an unserer Bühne Möglichen, dank der wundervollen Regie, dank den Schauspielern, unter denen außer den schon genannten vor allem Hugelmann als meisterhaft gestalteter Bauer und Kreidemann als vortrefflicher Widersacher auffielen. Allerdings war die optische Wirkung stärker als die akustische, die Sinfonie der Farben bezwingender als die Sinfonie der Worte: so vollendete Bühnenbilder wie den Tanz der Glücklichen, das Lied der Erde, den rhythmisch gelösten Totentanz und die weiße Verklärung des Schlusses haben wir selten gesehen. Das Wort litt manchmal unter den Dimensionen des Opernhauses.

In: Arbeiterwille (Graz) 11.3.1925, S. 3-4.

An das Proletariat Ungarns!

Genossen und Genossinnen!

Zur Sitzung des Reichsvollzugsausschusses der Arbeiterräte Deutschösterreichs versammelt, erreicht uns euer Aufruf: An alle!

Ihr habt die Staatsgewalt in eure Hand genommen, dem Imperialismus der Entente  die Unerschrockenheit und Kampfbegeisterung des geeinigten ungarischen Proletariats  entgegengestellt. Mit euch sind wir der Meinung, daß heute, nach dem Zusammenbruch des deutschen und österreichisch-ungarischen Imperialismus, der Hauptfeind der imperialistische Sieger ist [fett = gesperrt gedr. im Orig]. Die Konferenz der Sieger in Paris soll, wenn sie ganze Völker vergewaltigen und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen beugen will, auf den entschlossenen Widerstand der Arbeiter stoßen.

Ihr an uns den Ruf gerichtet, eurem Beispiel zu folgen. Wir täten es vom Herzen gern, aber zur Stunde können wir das leider nicht. In unserem Lande sind keine Lebensmittel mehr. Selbst unsere karge Brotversorgung beruht nur auf den Lebensmittelzügen, die die Entente uns schickt. Wenn wir heute eurem Rate folgen würden, dann würde uns der Entente-Kapitalismus mit grausamer Unerbittlichkeit die letzte Zufuhr abschneiden, uns der Hungerkatastrophe preisgeben. Wir sind überzeugt davon, daß die russische Räterepublik nichts unversucht lassen würde, uns zu helfen. Aber ehe sie uns helfen könnte, wären wir verhungert. Wir sind daher in einer noch wesentlich schwierigeren Lage als ihr. Unsere Abhängigkeit von der Entente ist eine vollständige.

Wohl aber ist es unsere heilige Pflicht, für alle Fälle gerüstet zu sein. Darum hat die Reichskonferenz unserer Arbeiterräte von drei Wochen den Ausbau der Räteorganisation beschlossen. Wir haben an das arbeitende Volk den Appell gerichtet, überall Arbeiterräte einzusetzen, die Gründung von Bauernräten zu fördern sowie Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte mit den bestehenden bewährten Organisationen zusammenzufassen, um alles vorzubereiten, was die Stunde gebietet.

Neuerdings ergeht der Ruf an die Arbeiter aller Orte, die Räteorganisation schleunigst auszubauen. Wir haben auch bereits gefordert, daß der in den Beschlüssen der Reichskonferenz vorgesehene Zentralrat in den nächsten Tagen zusammentrete.

All unsere Wünsche sind bei euch. Mit heißem Herzen verfolgen wir die Ereignisse und hoffen, daß die Sache des Sozialismus siegen wird. Kampbereit stehen auch wir, gewillt zu erfüllen, was die geschichtliche Notwendigkeit fordern wird.

Es lebe die internationale Arbeitersolidarität!

Es lebe der Sozialismus!

Für den Reichsvollzugsausschuß der Arbeiterräte

                                Deutschösterreichs:

Josef Benisch,                                                Friedrich Adler,

Schriftführer                                                  Vorsitzender

In: Arbeiter-Zeitung, 23.3.1919, S. 1.

Fritz Rosenfeld: Ernst Toller

Das hohe Drama der Gegenwart erhebt wie das jeder Sturmzeit mit vollem Recht Anspruch darauf, mehr zu sein wie Literatur. Georg Kaiser, der bedeutendste Dramatiker unter den Expressionisten, spricht (in seiner Vorrede zu Ywan Golls „Methusalem“) von einer Dramatat und prägt damit den bezeichnenden Ausbruch, der das Wesen unserer heutigen dramatischen Dichtung am schärfsten umreißt. Das moderne Drama will und muß aus innerer Notwendigkeit mehr sein als eine auf Buch oder Bühne eingeengte geistige Kombination. Es kann nicht daran Genüge finden, zu schildern, Probleme zu konstatieren, Themen zur Diskussion zu stellen. Es steht mitten drin im pulsenden Leben, darf daher nicht bei Kritik des Heute haltmachen, es muß Wegweiser in die Zukunft sein. Diese besonders dem Drama der Umsturzjahre, in denen Tollers Werke entstanden, eigene Tendenz erhebt über den ersten Teil aller Fortschrittsarbeit, das Niederreißen des Alten, den bedeutenderen schwereren zweiten, den Aufbau des Neuen. Es versteht sich von selbst, daß ein von derartigen Bestrebungen erfülltes Drama weder am Einzelfall haften bleiben, noch in erster Linie Formkunst sein kann. Die bewegenden Probleme der Zeit springen auf und verlangen gebieterisch noch Entfaltung. Primär ist der Stoff, sekundär die Formung. (Früher, und besonders in ruhigen, beschaulichen, ästhetisch formal gerichteten Epochen, sucht der Dichter den Stoff, um seine Gestaltungskraft zu erproben. Der Moderne hat den Stoff und sucht die Form, in die er ihn gießt, damit er, losgelöst von der eigenen Seele, die ihn aus tausend Erscheinungen der Umwelt sammelte, der Menschheit sichtbar werde.) Das heiße, explosive Erleben, in dem das Problem aufbrennt, heischt eine ebenso eruptive, elementare Form. Der Dichter kombiniert daher nicht mehr so sehr Einzelfälle, die gleichnishaft sein sollen, sondern läßt meist die kämpfenden Gewalten als solche, abstrakt, aufeinanderstoßen. Wo es sich nicht um eine zeit- und raumgebundene Einzelwirklichkeit, sondern um die letzten Fragen der Menschheit handelt, stellt sich die Abstraktion als naturnotwendig ein.

Diese Form der Erschöpfung eines Kunstwerks durch Abstrahierung konkreter Eigenerlebnisse gilt für die ersten Dramen Ernst Tollers. Ihre Entstehung ist eng mit dem Schicksal des Dichters verknüpft und ihr Problem in seiner ganzen Tiefe ohne Kenntnis des Lebensganges des Dichters kaum erfaßbar.

Ernst Toller wurde am 1. Dezember 1893 als Sohn eines Kaufmannes geboren, ging durch den militärischen geisttötenden Drill des preußischen Realgymnasiums und wird dann von Neugier und Unrast in die Welt hinausgetrieben, studiert in Frankreich, bis die Nachricht vom Kriegseinbruch ihn nach Deutschland zurückführt. Er meldet sich als Kriegsfreiwilliger, durchdrungen vom Bewußtsein der Pflicht, sein Leben und seine Kraft in den Dienst des Vaterlandes stellen zu müßen. Das bürgerlich-militärische Vaterlandsideal beherrscht ihn, wenn er auch durchaus in das Haßgeheul der chauvinistischen Tournaille nicht einstimmt. Und im Grauen des Waffenmordens, im Stöhnen der Niedergemetzelten, zwischen den Schreckbildern der Totengrippe an dem Stacheldrahtzäunen, unter den Aufschreien der geschändeten Kreatur, wächst ein neuer Mensch in Toller. Wie Schuppen fällt es von seinen Augen. Als er einen Leichenhaufen erblickt, eine schauerliche Verkrampfung französischer und deutscher Menschenopfer, da will sein Sinn nichts mehr wissen vom Waffen- und Nationalitätsunterschied, der Worten gebietet. Und er ist bis ins tiefste Gewissen erschüttert, er klagt sich in wilder Zerrissenheit als Mörder an, dessen Schuld niemals gesühnt werden kann. Als Kriegsbeschädigter kehrt er nach München zurück, ein anderer, als er zur Front furch: Ein „Rebell im Blut“. Aber die Erkenntnis der namenlosen Verbrechen, die an zahllosen Kriegsschauplätzen täglich und stündlich am Menschen geschehen, konnte sich selbst nicht genügen. Sie drängte nach Abhilfsversuchen. Die Jugend soll aufstehen, die revolutionäre Jugend allein kann dem Menschenschlachten Einhalt gebieten. Eine von utopisch-sozialistischen Ideen getragene Verschwörung wird beraten, von der deutschen revolutionären Jugend soll die Brücke zur revolutionären Jugend der „feindlichen Länder geschlagen werden. Schriften sollen verbreitet, Licht unter die im Dunkel irrende Menschheit gestrahlt werden. Aber die Schergen des deutschen Militarismus wittern die Empörung und sprengen das Häuflein selbstloser Idealisten auseinander. Toller flieht nach Berlin, wo er unter anderem mit Kurt Eisner Verbindungen anknüpft. Hier studiert er emsig, informiert sich über die Kriegsschuldfrage, erkennt das Verbrechen der Herrschenden an ihren betrogenen Untertanen. Hier wird ihm sein Weg klar, der ihn zum Proletariat führt. Anfang 1918 ist er wieder in München, nimmt am Munitionsarbeiterstreit teil und wird wegen „Landesverrats“ verhaftet. Im Militärgefängnis beginnt wieder die Arbeit an sich selbst. Der Revolutionär aus Gefühl wird revolutionärer Sozialist aus Erkenntnis. Und hier, im Kerker, entsteht sein erstes Drama, die „Wandlung“. Der Ausbruch der Revolution öffnet seine Zelle. Die Unabhängige Sozialistische Partei in München wählt ihn im März 1919 zum Vorsitzenden. Obwohl überzeugter Räterepublikaner, will er die Ausrufung der Diktatur des Proletariats verhindern, weil die Zeit dazu noch nicht reif ist. Als die Räteregierung aber eingesetzt ist und es nur mehr gilt, die revolutionären Errungenschaften zu bewahren, tritt er ihr bei. Seine Rolle war eine mäßigende, sein ganzes Streben ging dahin, Gewaltaten* zu verhüten, Todesurteile aufzuheben. Als die Revolution zusammenbrach, wurde er mit anderen vor das Münchner Standesgericht gestellt und Mitte Juli 1919 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Er sitzt seither im Kerker der Festung Niederschönfeld, der man nicht mit Unrecht den Namen einer „bayrischen Bastille“ gegeben hat. Die größten Geister Deutschlands haben an die Machthaber der Reaktion appelliert, es war vergebens. Wie sollten auch die Befehlshaber einer Mordbande, die Vertreter eines Systems, dem Handgranaten und Gummiknüttel die einzigen Argumente sind, Verständnis haben für das Martyrium eines Künstlers, den eine unmenschliche Hand fern von der Welt und seinen Brüdern in die trostlose Enge eines dumpfen, lichtarmen Kerkers verbannt. Die Mörder sozialistischer Führer gehen frei herum und werden durch Triumphbogen geehrt. Für den Dichter, dessen einziges „Verbrechen“ es ist, sich zur Sache der Arbeiterschaft bekannt zu haben, gibt es keine Erlösung. Sie wissen, was sie tun, die Hitler und Ludendorff. Der Dichter, Mensch und Künstler schert sie nicht. Den Führer wollen sie der Waffe rauben, den Mann, dessen machtvolles Wort Ansporn und Aufruf ist. Sie lassen ihn nur durch das Buch in seine Mitwelt wirken – und auch das nur unter ihrer Kontrolle, ihrer Zensur. Nicht eine Zeile des gesamten Kunstwerts Ernst Tollers ist außerhalb des Kerkers niedergeschrieben. Das wird, wenn die Schmutzwelle der Reaktion verebbt sein wird, die Kerkermeister Ernst Tollers richten, die idiotischen Krautjunker, denen die berühmtesten Dichter Deutschlands nicht einen Tag abringen konnten, an dem es Toller ermöglicht wäre, einer Aufführung eines seiner Dramen beizuwohnen. Was wissen, was ahnen sie von der Qual eines Künstlers, dessen Nächte von Geschichten erfüllt sind und der die Fleischwerdung seines Traumes nicht erleben darf, weil die Rotte hirn- und herzloser, stumpfsinniger Büttel der Großindustrie seinen Kerker nicht für ein paar Stunden öffnen will. So bleibt ihm nur das Schaffen, der unermüdliche Aufruf seiner Brüder. Rastlos ist er am Werk, sendet Buch um Buch in die Welt, um den Muttergrund aufzuackern, auf den dereinst das Saatkorn der befreienden Tat fallen soll.

Millionen Menschen haben in ihrer Seele den Umschwung vom patriotischen Hochgefühl, von Nationalhaß und Kriegsbegeisterung zur Erkenntnis des Kriegsverbrechens, zur übernationalen Menschenliebe und zum Pazifismus durchgemacht. Ernst Toller, der diese Umkehr der verirrten und verführten Bestie zum Menschen intensiver erlebte als je einer, konnte sie formen, prägnanter und deutlicher als die anderen Dichter. Er mußte, wollte er die „Wandlung“ zeigen, die sich in Millionen Menschenherzen vollzog, nur an Stelle der konkreten Gegenkräfte, mit denen er rang, das letzte nackte Wesen, das Abstrakte, setzen. Wie der Dichter nur einer unter Millionen ist, die überwältigt und durchwühlt ein Gleiches erleben, so ist auch der Held sein einmaliger Mensch, nur Träger Wandlung. Er darf deshalb in Variationen auftreten, wie die Unzähligen verschiedene Gestalt hatten, an denen die gleiche Wandlung geschah. Kein Einzelfall rollt ab, gewaltiges, stürmendes Zeitgeschehen erfüllt das Drama. Daher der hinreißende Pulsschlag, daher die weiten Horizonte. Ein Wortspiel, das in seiner grausigen Genialität einzig dasteht, umreißt die seelische Grundlage, auf der das Problem wächst und zeigt die Gewalten, deren Überwindung Inhalt des Dramas ist. Das Drama selbst ist ein Wechsel von realen und überrealen Szenen, von Szenen, die zwischen dem Helden und anderen Menschen, und traumferne Geschichte, die in der Seele des Helden selbst spielen. Mit kühnem Griff ist das Wesen des Problems zu höchster Deutlichkeit erhoben. Die Wandlung vom verlogenen Ideal der Vaterlandsliebe zu dem reinen der Menschlichkeitsliebe ist ja kein Konflikt zwischen zwei, sondern in einem Menschen. Der Held ist nicht so sehr Kämpfer wie Schauplatz des Kampfes. Die in ihm ringenden Mächte, das absterbende bürgerliche Nationalgefühl und das fliegende proletarisch-revolutionäre internationale Menschheitsgefühl, müssen nach außen projiziert und in Gestalten aus der Umwelt, die nur Verkleidungen des Abstrakten sind, verkörpert werden. So ist das Drama mit seinen Geschehnissen zwischen verschiedenen Personen nur der Spiegel der unerklärt gewaltigen Ereignisse in der Seele eines Menschen, des Menschen schlechthin, der, aus dem Irrsinnstaumel des Weltblutbades mit schaudernden Sinnen erwacht, die Statue des „siegreichen Vaterlandes“, die er schaffen wollte, zertrümmert (wie kristallklar und eindrucksstark ist dieses Symbol) und die Welt nun mit anderen Augen betrachtet. Er hatte sehen müssen, wie wahnsinnig die Lebenskraft der Menschheit im Kampf gegeneinander vergeudet wird, statt daß sie im Kampf für- und miteinander nutzbringend, mühebringend und schmerzlindernd wirkte. Er hatte erkannt, daß über dem Vaterland die Menschheit steht, und er hatte, Ernst Toller, der Dichter, Friedrich, der Held der „Wandlung“, den größten Teil der Menschlichkeit, das Proletariat, von falschen Schlagworten verführt, vom Gift des Militarismus planmäßig durch eine habgierige Bourgeoisie verscheucht, und von eben derselben Bourgeoisie, die die Arbeiterschaft so freigiebig mit „Idealen“ belieferte, wirtschaftlich, geknechtet gefunden. Nationalhaß wird Klassenhaß, Nationalliebe Klassenliebe. Aber der Mensch, der in unsagbarem, inneren Zerrissensein diese Wandlung erfuhr, darf nicht schweigen, nicht die neue Erkenntnis für sich behalten, er muß unter die Brüder hinausgehen und die Botschaft verkünden, die große Botschaft von der Rückkehr zum Menschen. In grandioser Steigerung baut Toller im letzten Bild der „Wandlung“ diese Rede auf, dieses Manifest an die Menschheit, endlich den Schutt von Unlust und Gram, Verbitterung, Elend, Haß und Neid, die den Geist ersticken, wegzuschaufeln, den Geist, den geschändeten unter Kommissstiefeln zertretenen und von Offiziersschranzen verhöhnten Geist zu befreien. In seinem Zeichen soll der Kampf gegen die Unterdrücker beginnen, das Ringen ums Licht, die Abschüttelung des Vampirs Kapital. Romain Rolland hat in seinem „Clerambalt“ dieselbe Wandlung gestaltet, aber mit tragischem Ausgang, weil dem großen französischen Dichter mit seinem schärferen Zukunftsbild die Dinge nicht so zuversichtlich erschienen, wie dem jungen Toller, der in diesem, dem aufwühlendsten Werk der Revolutionszeit nicht nur eine befreiende Beichte ablegte, sondern ekstatisch zukunftssicher ein neues Evangelium der zerrütteten, zermalmten, nach Erlösung lechzenden Menschheit verkündete.

Im Zeichen des Geistes sollte die Erhebung gegen Kapital und seinen Trabanten Militarismus geschehen – die Revolution kam, und ging nicht ohne Blutvergießen, ohne Menschenmord ab. Toller selbst steht in ihrem Zentrum. Wirklichkeit und früheres Phantasiebild wollen nicht übereinstimmen. Bei dem Gegensatz zwischen der Notwendigkeit des Augenblicks, der Blut forderte, und der utopisch-pazifistischen Erneuerungsabsicht von ehedem wächst ein Konflikt, der Tollers Seele tief durchwühlt. Revolution und Evolution stehen gegeneinander. Ohne Gewalt und ohne Wort sollte der Aufstieg des Proletariats erfolgen. Jetzt ballen sich ringsum Gefahren, denen man nur mit der blanken Waffe begegnen kann. Wild, zerstörend mag dieses Ringen im Dichter gewesen sein. Als die Revolution verflammt, der Befreiungsversuch niedergeschlagen und der Dichter eingekerkert war, beherrscht ihn dieses Problem so stark, daß er es zweimal formt, in der „Waffe Mensch“, in den „Maschinenstürmern“. „Waffe Mensch“, dem Stil nach der „Wandlung“ sehr ähnlich, Traumszenen und Realität vermengend, gestaltet die Tragödie des Individuums, des geistigen idealistischen Menschen, der im reinen Streben, der gefesselten Arbeiterschaft zu helfen, einen Streit anzettelt, die Erhebung vorbereitet und schürt, aber in dem Augenblick, da die Empörung Blut fordert, Einhalt gebietet und nun von der vorwärtsstürmenden Waffe als Hindernis empfunden wird. Der Befreiungsversuch des einzelnen, hier eines Intellektuellen, hat die Lawine ins Rollen gebracht, die nun unaufhaltsam niederbricht und die Ursache des Ausbruchs angestauter Kräfte, den einzelnen,  unter sich begräbt, einfach, weil er im Wege steht. Aus dem Streit wird Aufruhr, aus dem gütlichen Begehren nach Wohlfahrt für alle wird Kampf mit blutiger Waffe. Hier muß der Einzelmensch sich der losgeketteten Urmacht entgegenwerfen. Als Anstifterin des Aufstandes verhaftet, könnte die Intellektuelle von der Waffe befreit werden, sie lehnt es aber ab. Denn auch sie hat eine Wandlung durchgemacht. Sie hat erkannt, daß das noch so edle utopische Streben des einzelnen die Waffe nicht zur Befreiung führen kann. Auch die Waffe findet hier ihr Golgatha, erlebt ihre Tragödie; überwältigt vom Erlebnis „Revolution“, fortgerissen und gebannt von den Gewalten, die aus ihr brechen, tötet sie die, die ihr Gutes wollten. Da die Wut, die Brandung der Empörung abgeflaut ist, erkennt die Waffe, im „Namenlosen“ personifiziert, das sittlich-hohe Wollen des Individuums, das sich Blut und Waffen widersetzte, weil das die Machtmittel eben jener Gesellschaftsordnung sind, die überwunden werden soll. In dem Ausspruch des Namenlosen: „Du lebst zu früh“, liegt die Perspektive auf die Lösung des Problems, auf die Zeit, in der der Aufstieg des Proletariats ohne Bajonett und Kanone aus Furcht der Entwicklung sich ereignen wird.

Hier ist die Tragödie der Waffe und die des Individuums im unmittelbaren Eindruck der Revolution als Ringen der Prinzipien, als Aufeinanderrasen der abstrakten Kräfte geformt, wieder in Abwehr vor allem Gebunden und Einmaligen, wieder im Aufstieg ins Zeit- und Raumlose. Der Mikrokosmus des Dramas ist nichts als eine Sichtbarwerdung seelischer Vorgänge, die sich abertausendmal abgespielt haben mögen.

In den „Maschinenstürmern“ ist das Problem Revolution-Evolution im Gewand des Ludditenaufstandes aus dem England des Jahres 1815 nochmals gestaltet. Die Linienführung ist hier die denkbar einfachste, alles Phantastische ausgeschaltet, so daß sich ein Monumentalaufbau ergibt, der von der ersten bis zur letzten Szene das Interesse bei sorgfältiger Verteilung der Spannungselemente in ansteigender Richtung erhält. Ungeheuer deutlich die Explosion, die Sitzung im englischen Oberhaus. Die durch Aufkommen mechanischer Webstühle verschlechterte Lage der Arbeiterschaft ist Gegenstand der Debatte, in der die Weltanschauung der Parteien scharf gekennzeichnet wird. Das heuchlerische, egoistische, „Die Armut ist ein gottgewolltes, ewiges Gesetz“ des Geldsacks und der Ruf des einzigen Arbeiterfreundes, Lord Byrons: „Natur will, daß alle leben“. In knappen Bildern wird die furchtbare Lage der Arbeiterschaft erschütternd geschildert, ein Märchen vom „Immerelend“ und „Sorgenlos“ hält die sozialen Gegensätze mit elementarer Prägnanz fest. Die zwei Prinzipien gewaltsamer Selbsthilfe und langsamen Reifens geraten aneinander, der Apostel, der, weiterbildend als die im Ausbruch der Erbitterung erblindete Waffe, die Erlösung nicht im gewaltsamen Umsturz, sondern im Zusammenschluß der Werktätigen aller Länder sieht, wird überhöht und erschlagen. Die Gewalt triumphiert, aber ihr Erfolg ist Blendwerk, ist Erfüllung für den Augenblick. Denn es ist nur die eine Maschine zerstört, und nicht das System gebrochen. Im Rasen der Empörung den großen Zusammenhang vergessen und in der vorübergehenden Lösung eines örtlichen Konfliktes Genüge finden, das ist die Tragödie der Waffe, die Tragödie der Revolution.

Wie Rolland in der gigantischen Sinfonie seines Werkes ein heiteres Intermezzo einfügt, dein „Meister“, so unterbricht Toller die Reihe der Zeittragödien durch ein galantes Puppenspiel, die „Rache des verhöhnten Liebhabers“, in dem er eine Novelle Bandellos dramatisiert hat, eine derb-fröhliche Geschichte vom geprellten Ehemann, der selbst mitlacht, weil er einen anderen für den Betrogenen hält. Aber des Dichters Sinn will nicht bei Scherz und Liebesgetändel verweilen. Aus dem Venedig des sechzehnten Jahrhunderts eilt er zurück in unsere Schreckenszeit und schafft im „Hinkemann“ die düsterste, verbittertste und erschütterndste Tragödie der letzten Jahre. Es ist die Lebenstragödie des Kriegskrüppels, das Martyrium des Menschen, der für Gott, Kaiser und Vaterland ins Feld gejagt wurde, entmannt zurückkehrt und nun, neben der Qual im Verhältnis zu seinem jungen, lebenslustigen Weib noch den brutalen Sohn einer völlig entmenschten Umwelt erleben muß. Diese Kriegskrüppeltragödie, deren Tragik nicht darin liegt, daß ein Mensch zugrunde geht, sondern wie er zugrunde geht, ist aber nur der Anlaß, das scheußliche Antlitz unserer Zeit zu enthüllen, die Geilheit und Unmenschlichkeit einer Epoche darzustellen, die aus dem Delirium des Weltkrieges nichts gelernt hat, auf dem Blutweg weitereilt und zum Gipfel menschlicher Brutalität gelangt: die „unter Gelächter mordet“. Im höllischen Taumel dieser Dämonen ist der Mensch, der eine Seele sein eigen nennt, zum Leid verdammt; leben kann nur, wer der Vernichtung von Gefühl und Gewissen, die unsere Zeit systematisch vornimmt, seinen Widerstand entgegensetzt. Hinkemann, die „elementarische Seele“, muß in dieser Welt des Schreckens und Gelächters verderben, weil man ihm die Kraft zum Ideal geraubt hat, und „wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben“. Hier ist wohl der letzte und stärkste Ausdruck für das Wesen unserer Zeit gefunden. Nicht mehr zwei Willen stoßen aufeinander, sondern zwei Existenzen. Gut und Böse, Ohnmacht und Brutalität, Mensch und Bestie stehen einander gegenüber. Darum leidet der Held nur, darum handelt er nicht. Sein Dasein in dieser Welt bedingt schon seine Tragödie. Jede Auflehnung würde die Katastrophe beschleunigen, statt sie zu verhindern. Dieses Drama ist von so plastischer Deutlichkeit, daß jeder Mensch Sinnbild wird, jeder Satz Allgemeingültigkeit erhält. Es wächst so weit über die Gattung „Drama“, daß es den ganzen grasen Inhalt einer scheußlich grausen Zeit restlos zu fassen vermag. Wenn je Kunst das Gewissen der Menschheit war, so ist es hier.

Tollers Dramen sind ein Abbild der Bewußtseinswandlung seit 1918, der großen seelischen Vorgänge. Im ersten Stück der ekstatische Pazifismus, die schwärmerische Allmenschenliebe und der Hymnus auf die rote Zukunft. In den folgenden beiden der Revolutionsskeptizismus, Ernüchterung, ja Enttäuschung. Im „Hinkemann“ die letzte Vernichtung des Menschentums, das 1919 so herrlich aufflammte. Hier aber werden die Gewalten schon zu Höllenfratzen, hier sind sie Ungetüme, deren Scheußlichkeit nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint. „Hinkemann“ hielt dem Deutschland der Nachkriegszeit den Spiegel vor und ist ein Trauerspiel. Die letzte Abrechnung  mit dem geblähten neumilitaristischen, nationalistischen Deutschland, „Der entfesselte Wotan“ ist eine Komödie. Ein Werk, das die Gestalten abzeichnet, die heute auf der politischen Bühne Deutschlands agieren, muß zur Posse werden. Ernst zu nehmen sind ja die völkischen Maulhelden nicht, die Phrasenjongleure, deren Reden von Kriegsbegeisterung überließen und die beim ersten Schuß auf den Bauch fallen und sich angstschlotternd tot stellen. Es ist nötig, den Hausierern mit abgebrauchten Lügenidealen ihre Erbärmlichkeit und Lächerlichkeit zu beweisen. Aber diese Auseinandersetzung kann nicht tragisch enden. Tragisch wurde der Welt eine Gestalt wie Wilhelm der Letzte, dessen Lieblingsgebärde durch dieses Stück geistert; er hatte die Macht, er wußte was er wollte, er war gefährlich. Die Wortführer von heute, die ihn kopieren, sind lächerlich, weil ihre Gewalt ein Phantasiegebilde ist, wie die brasilianische Farm in Tollers Komödie. In einer anspruchslosen, aber geistreichen Handlung wird nun hier das nationalistische Deutschland von heute verspottet. Mit Sternheimscher Schärfe sind die Gestalten gezeichnet, die schnoddrigen, selbstgefälligen, beschränkten, sensationslüsternen, geldgierigen Bierbankspießer, die abgetakelten Generale, die in teutschen Idealen machen, der schwammige Merkantilgeist, das Krämertum, die ach so gefühlstiefen himmelblauen adeligen Fräuleins. Um ein Hirngespinst, ein Gut in Brasilien, dreht sich die Bosse, um ein großzügiges Unternehmen, dessen Anbeginn und Ende die Ausplünderung dummer, den Schlagworten aufsitzender Philister ist. Als alles zusammenkracht und der Schwindler Wotan ins Gefängnis muß, wird ihm versichert, daß ihm nichts geschehen wird. Treuteutsche Richter werden dem [recte: den] treuteutschen Mann nicht unsanft behandeln. Er wird, wie Wilhelm der Wahnsinnige, seine Memoiren schreiben, ein unverstandener Erlöser, er hat noch eine Mission, sein Volk aufzurufen, und dieses Volk hat die Mission, Europa, ja die Welt zu retten, denn es ist der einzige berufene Schützer der Kultur, der Menschlichkeit, der Zivilisation. Es hat sich ja nie, niemals an seinen Dichtern vergangen und nie aus dem Leben reiner, unschuldiger Menschen mit teuflischer Faust fünf Jahre einfach weggestrichen.

Wenn auch Ernst Toller vor allem Dramatiker ist, darf man den Lyriker Toller nicht vergessen. Seine Dramen haben dieselbe Rhythmik und Melodie wie seine Gedichte, die knappe, markige Sprache, die Prägung des Ausdrucks, und die Chorwerke Tollers, der Karl Liebknecht geweihte „Tag des Proletariats“ und das „Requiem den gemordeten Brüdern“, das dem Andenken Gustav Landbauers gewidmet ist, sind ja ein Mittelding zwischen Lyrik und Drama, sie haben den Empfindungsüberschwang des lyrischen Gedichts, in Dialog und Waffengespräch ausgelöst, in Explosionen gegeneinandergestellt. Der Sonettenband „Gedichte der Gefangenen“ zeigt in ergreifender Einfachheit die Stimmung Tollers in der Kerkerzeit, die bohrenden Gefühle der Einsamkeit während draußen ein ungestümes Leben vorwärtseilt, in dem der der* Dichter einen Platz auszufüllen hätte. Es stehen hier ein paar Gedichte, die nicht nur zum Größten zählen, was Toller schuf, sondern zum Reinsten, Tiefsten und Erhabensten der modernen Lyrik überhaupt. Tollers letzte Veröffentlichung ist das „Schwalbenbuch“, eine Reihe von Gedichten, die ihm übersommern einen Schwalbenpaares in seiner Zelle eingab. Wer nur wenig empfänglich ist für die Melodie des Mitleids, muß durch diese volkliedhaft-schlichten Gesänge eines Einsamen und doch unermeßlich Reichen, bis in die tiefste Seele durchwühlt werden.

Was uns den gefangenen Dichter so nahebringt, was uns so eng mit ihm verknüpft, ist, daß seine Probleme Probleme der Waffe, Zeithemen, Gegenwartsfragen sind, daß er die ästhetisierenden Tüfteleien und die komplizierte Psychologie angeblich bedeutender Einzelfälle meidet. Seine Welt ist die proletarische Welt, ist die Welt der Waffe. Darum muß er mit anderen Maßstäben gemessen werden, mit neuen Maßstäben. Die bürgerliche Kritik hat an ihm manches auszusetzen, sie kommt mit formal-ästhetischen Gesichtspunkten und stellt die alten Parallelen auf. Gewiß, so mancher Dichter hat auf Toller starken Einfluß genommen. Vor allem Büchner, dessen „Dantons Tod“ dem Problem der „Waffe Mensch“ nahesteht und dessen „Woyzek“ im “Hinkemann“ starke Spuren hinterlassen hat. Aber was beweist es gegen Toller, daß in den „Maschinenstürmern“ die Betrunkenenszene und das Märchen an „Woyczek“* erinnert? Was ist alle Formkunst gegen den Inhalt, gegen das Leben, das hier pulst, und das unser Leben ist! Sie, die ihn einkerkern, können ihn auch nicht verstehen. Aber weder durch gehässige Kritik noch durch körperliche Fessel können sie ihn töten. Sie könnten ihn uns rauben, konnten ihn fünf Jahre von uns trennen. Die fünf Jahre sind um. Wir grüßen ihn, Ernst Toller, unseren Dichter!

Die Werke Ernst Tollers: „Die Wandlung“, „Waffe Mensch“, „Hinkemann“, „Der entfesselte Wotan“, „Das Schwalbenbuch“ (Verlag Gustav Kiepenheuer, Potsdam), „Die Maschinenstürmer“ (Verlag E. P. Tal, Wien,) „Gedichte der Gefangenen“ (Kurt Wolffs-Verlag, München), „Die Rache des verhöhnten Liebhabers“ (Paul Cassirer-Verlag, Berlin,) „Der Tag des Proletariats“ und „Requiem den gemordeten Brüdern“ (Verlagsgesellschaft „Freiheit“, Berlin).

In: Der Kampf 17 (1924), H. 7, S. 293-297.

Lutz Weltmann: Alexander Tairoffs theatralische Sendung

Zum bevorstehenden Wiener Gastspiel des Moskauer Kammertheaters.

Alexander Tairoff, der Direktor und Regisseur des Moskauer Kammertheaters, ist der Max Reinhardt Rußlands. Das klingt paradox. Auf den ersten Blick erscheint er eher als ein Gleichstrebender Jeßners, der Mary Wigman, Charlie Chaplins. Aber schon diese Zusammenstellung zeigt, daß diese Verwandtschaft nichts unbedingt Persönliches, vielmehr Ausdruck eines gemeinsamen Zeitstiles ist. Gliederung des Bühnenbildes, organische Anpassung der Kostüme und der Bewegung der Darsteller dazu – das schlägt alles in die gleiche Kerbe wie eine Jeßnersche Inszenierung. Seiner Mentalität nach und als theatergeschichtliche Erscheinung ist Tairoff der Erbe Reinhardts. (Tairoff verhält sich zu Stanislawsky wie Reinhardt zu Otto Brahm.)

            Reinhardt wie Tairoff lösten das Theater aus den Fesseln der Literatur, proklamierten das théâtre pour le théâtre. Beide zu einer Zeit, als die dramatische Produktion zu stagnieren begann. Shakespeare, Lenz, Büchner, Tolstoj, Beer-Hofmann dienten Reinhardt als Vorwand zur Entfaltung zauberischer Theaterkünste. Aber Ballett, Pantomime und Operette taten es auch. Und programmatisch genug eröffnete er seine beiden letzten Theatergründungen, das Josefstädter Theater in Wien und die Komödie in Berlin, mit Goldonis comedia dell’ arte „Der Diener zweier Herren“. Und was der Berührungspunkte mehr sind. Tairoff verficht im Grunde genommen die gleichen Ideen. (Und scheint im Begriffe, Max Reinhardts europäische Geltung zu erwerben.) Tairoffs Stoßkraft ist stärker. Er ist Programmatiker. Begründet seine Ideen theoretisch und historisch. Und seine Situation ist geklärter, umrissener, als zu den Zeiten von Reinhardts Hervortreten. Zwischen Stanislawsky und Tairoff liegt die russische Revolution. Deren Umwälzung auf literarischem Gebiete nicht minder groß war als auf politischem. Mit der bolschewistischen Idee riß die Verbindung mit der bürgerlichen Tradition ab. Die Gestalten des russischen Dramas hatten ihre Symbolkraft für die Mitglieder der Sowjetrepublik verloren. Den Russen fehlte das Reservoir der Klassiker, aus dem (wie lange noch?) die deutschen Bühnenleiter schöpfen. Der dramatische Nachwuchs ist noch spärlicher als bei uns: Jevreinoff mit seiner pirandellesken „Quintessenz“, Leo Lunz mit seiner – wohl eigens für Tairoffs Bühne erdachten – Regiepartitur „Vogelfrei“ marschieren an der Spitze.

            Nun macht der Theoretiker Tairoff aus der Not eine Tugend. Er entsinnt sich, daß es Zeiten gab, in denen das Theater sehr gut ohne Literatur auskam. Denkt an den Mimus der römischen Kaiserzeit, den Vorläufer der Oper und Operette und – in der äußeren Struktur: den Wechsel von Vers und Prosa, Lied und Tanz – Shakespeares. Tairoff arbeitet am konsequentesten an der Wiedergeburt des Mimus mit, die sich seit den letzten Jahren überall ankündigt: beim Drama im Zug zum Volksstück und zur comedia dell’ arte, beim Theater wenn Barnowsky „Wie es euch gefällt“ ganz auf das Schäferspiel stellt, Jürgen Fehling „Viel Lärm um Nichts“, Ludwig Berger „Der Widerspenstigen Zähmung“ ganz auf das Fastnachtspiel, Reinhardts Offenbachiade „Orpheus in der Unterwelt“ und Jeßners Wedekind-Inszenierungen nicht zu vergessen. (Dramaturgische Bearbeitungen wie sie Kalidasa durch Paul Kornfeld, Goldoni durch Otto Zoff, Calderon durch Hugo von Hofmannsthal erfuhren weisen in die gleiche Richtung.

            Aber Alexander Tairoffs theatralische Sendung ist keine theoretische, sondern eine praktische. Sie ist die Disziplin seines Ensembles. Das sind trainierte Körper, zu jeder Akrobatik und Exzentrik fähig, schmissige Tänzer mit federnden Gelenken und beherrschter Mimik – bis zum Chor voll Musikalität in den Fingerspitzen. Man hat das Gefühl, daß jeder Chorist, jedes Chormädel im nächsten Stück eine Hauptrolle übernehmen kann.

            Vorbildlich ist Tairoff durch die Suggestivkraft seiner Persönlichkeit, die sich bis zum kleinsten Statisten mitteilt und die gleichmäßige Durchdringung von Bühnenraum, Kostüm und Geste mit seiner Phantasie. Wenn Giroflé auf dem Oberschenkel des knienden Liebhabers sitzt und mit ihrem Fuß rhythmisch die Küsse begleitet, wenn Vater Bolero den Kopf mit dem wehenden Haupthaar in seine Halskrause schneckengleich einziehen kann (zwei Beispiele für beliebig viele), so ist der tänzerische Ausdruck dem bewegten Bühnenbild bis ins Letzte angepaßt: eine Klappe öffnet sich und das Zimmer verwandelt sich in ein Schiff, zwei Schiffsluken werden plötzlich zu Fenstern des Hauses – hier ist die Technik so sublimiert, so ganz und gar nicht Apparat, daß sie dienend mitspielt.

            Tairoff fand bereits deutsche Nachahmer. Von Berthold Viertels „Kaufmann von Venedig“-Inszenierung, die aus „Giroflé-Girofla“ den Kopfputz übernahm, bis zu Kieslers „Raumbühne“ und Karlheinz Martins „Franziska“-Aufführung stets äußerlich oder mißverstanden. Vorbild ist Alexander Wesnins Bühnenmodell zu Tairoffs Inszenierung des Mannes der Donnerstag war. Aber es ist ein Irrtum, wenn man aus dieser Bühnenkonstruktion ein Prinzip macht. Tairoffs Bühnenarchitektur zu „Sechs Detektivs suchen einen Anarchisten“ (wie Chestertons bekannter Roman bei Tairoff heißen könnte) ist aus dem Stücke selbst hergeleitet; gleichsam ein Einheitsbühnenbild, das die Atmosphäre der Großstadt wiedergibt, die Vision Großstadt. Nur durch das Inbeziehungsetzen der Spieler zu Raum und Musik bekommt diese Bühnenkonstruktion ihre Berechtigung. Flimmernde Lichtreklame und gehetzte Zeitungsrufer – die Straße. Kämpfende Autohupen – die Verfolgung, während gleichzeitig eine schräge Markise sich senkt und mit Tisch und Stühlen ein Teil der Bühne zum Kaffeehaus wird. Stets variiert bis zur Schlußsteigerung, wenn das Zeitungsblatt den Königsmord verkündet.

            Häufig rankt Tairoff seine Einfälle spielerisch um ein Nichts. Aber er versteht es auch, sie für dramaturgische Regie produktiv zu machen. Er proklamiert die zeitungebundene, voraussetzungslose Schauspielkunst. Aber er macht sie zur Wegbereiterin eines neugeborenen Dramas. Das ist nicht der unbeträchtlichste Teil von Alexander Tairoffs theatralischer Sendung.

In: Die Bühne, Nr. 31/1925, S. 14f.