Das hohe Drama der Gegenwart erhebt wie das jeder Sturmzeit mit vollem Recht Anspruch darauf, mehr zu sein wie Literatur. Georg Kaiser, der bedeutendste Dramatiker unter den Expressionisten, spricht (in seiner Vorrede zu Ywan Golls „Methusalem“) von einer Dramatat und prägt damit den bezeichnenden Ausbruch, der das Wesen unserer heutigen dramatischen Dichtung am schärfsten umreißt. Das moderne Drama will und muß aus innerer Notwendigkeit mehr sein als eine auf Buch oder Bühne eingeengte geistige Kombination. Es kann nicht daran Genüge finden, zu schildern, Probleme zu konstatieren, Themen zur Diskussion zu stellen. Es steht mitten drin im pulsenden Leben, darf daher nicht bei Kritik des Heute haltmachen, es muß Wegweiser in die Zukunft sein. Diese besonders dem Drama der Umsturzjahre, in denen Tollers Werke entstanden, eigene Tendenz erhebt über den ersten Teil aller Fortschrittsarbeit, das Niederreißen des Alten, den bedeutenderen schwereren zweiten, den Aufbau des Neuen. Es versteht sich von selbst, daß ein von derartigen Bestrebungen erfülltes Drama weder am Einzelfall haften bleiben, noch in erster Linie Formkunst sein kann. Die bewegenden Probleme der Zeit springen auf und verlangen gebieterisch noch Entfaltung. Primär ist der Stoff, sekundär die Formung. (Früher, und besonders in ruhigen, beschaulichen, ästhetisch formal gerichteten Epochen, sucht der Dichter den Stoff, um seine Gestaltungskraft zu erproben. Der Moderne hat den Stoff und sucht die Form, in die er ihn gießt, damit er, losgelöst von der eigenen Seele, die ihn aus tausend Erscheinungen der Umwelt sammelte, der Menschheit sichtbar werde.) Das heiße, explosive Erleben, in dem das Problem aufbrennt, heischt eine ebenso eruptive, elementare Form. Der Dichter kombiniert daher nicht mehr so sehr Einzelfälle, die gleichnishaft sein sollen, sondern läßt meist die kämpfenden Gewalten als solche, abstrakt, aufeinanderstoßen. Wo es sich nicht um eine zeit- und raumgebundene Einzelwirklichkeit, sondern um die letzten Fragen der Menschheit handelt, stellt sich die Abstraktion als naturnotwendig ein.
Diese Form der
Erschöpfung eines Kunstwerks durch Abstrahierung konkreter Eigenerlebnisse gilt
für die ersten Dramen Ernst Tollers. Ihre Entstehung ist eng mit dem Schicksal
des Dichters verknüpft und ihr Problem in seiner ganzen Tiefe ohne Kenntnis des
Lebensganges des Dichters kaum erfaßbar.
Ernst Toller
wurde am 1. Dezember 1893 als Sohn eines Kaufmannes geboren, ging durch den
militärischen geisttötenden Drill des preußischen Realgymnasiums und wird dann
von Neugier und Unrast in die Welt hinausgetrieben, studiert in Frankreich, bis
die Nachricht vom Kriegseinbruch ihn nach Deutschland zurückführt. Er meldet
sich als Kriegsfreiwilliger, durchdrungen vom Bewußtsein der Pflicht, sein
Leben und seine Kraft in den Dienst des Vaterlandes stellen zu müßen. Das
bürgerlich-militärische Vaterlandsideal beherrscht ihn, wenn er auch durchaus
in das Haßgeheul der chauvinistischen Tournaille nicht einstimmt. Und im Grauen
des Waffenmordens, im Stöhnen der Niedergemetzelten, zwischen den
Schreckbildern der Totengrippe an dem Stacheldrahtzäunen, unter den Aufschreien
der geschändeten Kreatur, wächst ein neuer Mensch in Toller. Wie Schuppen fällt
es von seinen Augen. Als er einen Leichenhaufen erblickt, eine schauerliche
Verkrampfung französischer und deutscher Menschenopfer, da will sein Sinn
nichts mehr wissen vom Waffen- und Nationalitätsunterschied, der Worten
gebietet. Und er ist bis ins tiefste Gewissen erschüttert, er klagt sich in
wilder Zerrissenheit als Mörder an, dessen Schuld niemals gesühnt werden kann.
Als Kriegsbeschädigter kehrt er nach München zurück, ein anderer, als er zur
Front furch: Ein „Rebell im Blut“. Aber die Erkenntnis der namenlosen
Verbrechen, die an zahllosen Kriegsschauplätzen täglich und stündlich am
Menschen geschehen, konnte sich selbst nicht genügen. Sie drängte nach
Abhilfsversuchen. Die Jugend soll aufstehen, die revolutionäre Jugend allein
kann dem Menschenschlachten Einhalt gebieten. Eine von utopisch-sozialistischen
Ideen getragene Verschwörung wird beraten, von der deutschen revolutionären
Jugend soll die Brücke zur revolutionären Jugend der „feindlichen Länder
geschlagen werden. Schriften sollen verbreitet, Licht unter die im Dunkel
irrende Menschheit gestrahlt werden. Aber die Schergen des deutschen
Militarismus wittern die Empörung und sprengen das Häuflein selbstloser
Idealisten auseinander. Toller flieht nach Berlin, wo er unter anderem mit Kurt
Eisner Verbindungen anknüpft. Hier studiert er emsig, informiert sich über die
Kriegsschuldfrage, erkennt das Verbrechen der Herrschenden an ihren betrogenen
Untertanen. Hier wird ihm sein Weg klar, der ihn zum Proletariat führt. Anfang
1918 ist er wieder in München, nimmt am Munitionsarbeiterstreit teil und wird
wegen „Landesverrats“ verhaftet. Im Militärgefängnis beginnt wieder die Arbeit
an sich selbst. Der Revolutionär aus Gefühl wird revolutionärer Sozialist aus
Erkenntnis. Und hier, im Kerker, entsteht sein erstes Drama, die „Wandlung“.
Der Ausbruch der Revolution öffnet seine Zelle. Die Unabhängige Sozialistische
Partei in München wählt ihn im März 1919 zum Vorsitzenden. Obwohl überzeugter
Räterepublikaner, will er die Ausrufung der Diktatur des Proletariats
verhindern, weil die Zeit dazu noch nicht reif ist. Als die Räteregierung aber
eingesetzt ist und es nur mehr gilt, die revolutionären Errungenschaften zu
bewahren, tritt er ihr bei. Seine Rolle war eine mäßigende, sein ganzes Streben
ging dahin, Gewaltaten* zu verhüten, Todesurteile aufzuheben. Als die Revolution
zusammenbrach, wurde er mit anderen vor das Münchner Standesgericht gestellt
und Mitte Juli 1919 zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Er sitzt seither im
Kerker der Festung Niederschönfeld, der man nicht mit Unrecht den Namen einer
„bayrischen Bastille“ gegeben hat. Die größten Geister Deutschlands haben an
die Machthaber der Reaktion appelliert, es war vergebens. Wie sollten auch die
Befehlshaber einer Mordbande, die Vertreter eines Systems, dem Handgranaten und
Gummiknüttel die einzigen Argumente sind, Verständnis haben für das Martyrium
eines Künstlers, den eine unmenschliche Hand fern von der Welt und seinen
Brüdern in die trostlose Enge eines dumpfen, lichtarmen Kerkers verbannt. Die
Mörder sozialistischer Führer gehen frei herum und werden durch Triumphbogen
geehrt. Für den Dichter, dessen einziges „Verbrechen“ es ist, sich zur Sache
der Arbeiterschaft bekannt zu haben, gibt es keine Erlösung. Sie wissen, was
sie tun, die Hitler und Ludendorff. Der Dichter, Mensch und Künstler schert sie
nicht. Den Führer wollen sie der Waffe rauben, den Mann, dessen machtvolles
Wort Ansporn und Aufruf ist. Sie lassen ihn nur durch das Buch in seine Mitwelt
wirken – und auch das nur unter ihrer Kontrolle, ihrer Zensur. Nicht eine Zeile
des gesamten Kunstwerts Ernst Tollers ist außerhalb des Kerkers
niedergeschrieben. Das wird, wenn die Schmutzwelle der Reaktion verebbt sein
wird, die Kerkermeister Ernst Tollers richten, die idiotischen Krautjunker,
denen die berühmtesten Dichter Deutschlands nicht einen Tag abringen konnten,
an dem es Toller ermöglicht wäre, einer Aufführung eines seiner Dramen
beizuwohnen. Was wissen, was ahnen sie von der Qual eines Künstlers, dessen
Nächte von Geschichten erfüllt sind und der die Fleischwerdung seines Traumes
nicht erleben darf, weil die Rotte hirn- und herzloser, stumpfsinniger Büttel
der Großindustrie seinen Kerker nicht für ein paar Stunden öffnen will. So
bleibt ihm nur das Schaffen, der unermüdliche Aufruf seiner Brüder. Rastlos ist
er am Werk, sendet Buch um Buch in die Welt, um den Muttergrund aufzuackern,
auf den dereinst das Saatkorn der befreienden Tat fallen soll.
Millionen
Menschen haben in ihrer Seele den Umschwung vom patriotischen Hochgefühl, von Nationalhaß
und Kriegsbegeisterung zur Erkenntnis des Kriegsverbrechens, zur übernationalen
Menschenliebe und zum Pazifismus durchgemacht. Ernst Toller, der diese Umkehr
der verirrten und verführten Bestie zum Menschen intensiver erlebte als je
einer, konnte sie formen, prägnanter und deutlicher als die anderen Dichter. Er
mußte, wollte er die „Wandlung“ zeigen, die sich in Millionen Menschenherzen
vollzog, nur an Stelle der konkreten Gegenkräfte, mit denen er rang, das letzte
nackte Wesen, das Abstrakte, setzen. Wie der Dichter nur einer unter Millionen
ist, die überwältigt und durchwühlt ein Gleiches erleben, so ist auch der Held
sein einmaliger Mensch, nur Träger Wandlung. Er darf deshalb in Variationen
auftreten, wie die Unzähligen verschiedene Gestalt hatten, an denen die gleiche
Wandlung geschah. Kein Einzelfall rollt ab, gewaltiges, stürmendes
Zeitgeschehen erfüllt das Drama. Daher der hinreißende Pulsschlag, daher die
weiten Horizonte. Ein Wortspiel, das in seiner grausigen Genialität einzig
dasteht, umreißt die seelische Grundlage, auf der das Problem wächst und zeigt die
Gewalten, deren Überwindung Inhalt des Dramas ist. Das Drama selbst ist ein
Wechsel von realen und überrealen Szenen, von Szenen, die zwischen dem Helden
und anderen Menschen, und traumferne Geschichte, die in der Seele des Helden
selbst spielen. Mit kühnem Griff ist das Wesen des Problems zu höchster
Deutlichkeit erhoben. Die Wandlung vom verlogenen Ideal der Vaterlandsliebe zu
dem reinen der Menschlichkeitsliebe ist ja kein Konflikt zwischen zwei, sondern
in einem Menschen. Der Held ist nicht so sehr Kämpfer wie Schauplatz des
Kampfes. Die in ihm ringenden Mächte, das absterbende bürgerliche
Nationalgefühl und das fliegende proletarisch-revolutionäre internationale
Menschheitsgefühl, müssen nach außen projiziert und in Gestalten aus der
Umwelt, die nur Verkleidungen des Abstrakten sind, verkörpert werden. So ist
das Drama mit seinen Geschehnissen zwischen verschiedenen Personen nur der
Spiegel der unerklärt gewaltigen Ereignisse in der Seele eines Menschen, des
Menschen schlechthin, der, aus dem Irrsinnstaumel des Weltblutbades mit
schaudernden Sinnen erwacht, die Statue des „siegreichen Vaterlandes“, die er
schaffen wollte, zertrümmert (wie kristallklar und eindrucksstark ist dieses
Symbol) und die Welt nun mit anderen Augen betrachtet. Er hatte sehen müssen,
wie wahnsinnig die Lebenskraft der Menschheit im Kampf gegeneinander vergeudet
wird, statt daß sie im Kampf für- und miteinander nutzbringend, mühebringend
und schmerzlindernd wirkte. Er hatte erkannt, daß über dem Vaterland die
Menschheit steht, und er hatte, Ernst Toller, der Dichter, Friedrich, der Held
der „Wandlung“, den größten Teil der Menschlichkeit, das Proletariat, von
falschen Schlagworten verführt, vom Gift des Militarismus planmäßig durch eine
habgierige Bourgeoisie verscheucht, und von eben derselben Bourgeoisie, die die
Arbeiterschaft so freigiebig mit „Idealen“ belieferte, wirtschaftlich,
geknechtet gefunden. Nationalhaß wird Klassenhaß, Nationalliebe Klassenliebe.
Aber der Mensch, der in unsagbarem, inneren Zerrissensein diese Wandlung
erfuhr, darf nicht schweigen, nicht die neue Erkenntnis für sich behalten, er
muß unter die Brüder hinausgehen und die Botschaft verkünden, die große
Botschaft von der Rückkehr zum Menschen. In grandioser Steigerung baut Toller
im letzten Bild der „Wandlung“ diese Rede auf, dieses Manifest an die
Menschheit, endlich den Schutt von Unlust und Gram, Verbitterung, Elend, Haß
und Neid, die den Geist ersticken, wegzuschaufeln, den Geist, den geschändeten
unter Kommissstiefeln zertretenen und von Offiziersschranzen verhöhnten Geist
zu befreien. In seinem Zeichen soll der Kampf gegen die Unterdrücker beginnen,
das Ringen ums Licht, die Abschüttelung des Vampirs Kapital. Romain Rolland hat
in seinem „Clerambalt“ dieselbe Wandlung gestaltet, aber mit tragischem Ausgang,
weil dem großen französischen Dichter mit seinem schärferen Zukunftsbild die
Dinge nicht so zuversichtlich erschienen, wie dem jungen Toller, der in diesem,
dem aufwühlendsten Werk der Revolutionszeit nicht nur eine befreiende Beichte
ablegte, sondern ekstatisch zukunftssicher ein neues Evangelium der
zerrütteten, zermalmten, nach Erlösung lechzenden Menschheit verkündete.
Im Zeichen des
Geistes sollte die Erhebung gegen Kapital und seinen Trabanten Militarismus
geschehen – die Revolution kam, und ging nicht ohne Blutvergießen, ohne
Menschenmord ab. Toller selbst steht in ihrem Zentrum. Wirklichkeit und
früheres Phantasiebild wollen nicht übereinstimmen. Bei dem Gegensatz zwischen
der Notwendigkeit des Augenblicks, der Blut forderte, und der utopisch-pazifistischen
Erneuerungsabsicht von ehedem wächst ein Konflikt, der Tollers Seele tief
durchwühlt. Revolution und Evolution stehen gegeneinander. Ohne Gewalt und ohne
Wort sollte der Aufstieg des Proletariats erfolgen. Jetzt ballen sich ringsum
Gefahren, denen man nur mit der blanken Waffe begegnen kann. Wild, zerstörend
mag dieses Ringen im Dichter gewesen sein. Als die Revolution verflammt, der
Befreiungsversuch niedergeschlagen und der Dichter eingekerkert war, beherrscht
ihn dieses Problem so stark, daß er es zweimal formt, in der „Waffe Mensch“, in
den „Maschinenstürmern“. „Waffe Mensch“, dem Stil nach der „Wandlung“ sehr
ähnlich, Traumszenen und Realität vermengend, gestaltet die Tragödie des
Individuums, des geistigen idealistischen Menschen, der im reinen Streben, der
gefesselten Arbeiterschaft zu helfen, einen Streit anzettelt, die Erhebung
vorbereitet und schürt, aber in dem Augenblick, da die Empörung Blut fordert,
Einhalt gebietet und nun von der vorwärtsstürmenden Waffe als Hindernis
empfunden wird. Der Befreiungsversuch des einzelnen, hier eines
Intellektuellen, hat die Lawine ins Rollen gebracht, die nun unaufhaltsam
niederbricht und die Ursache des Ausbruchs angestauter Kräfte, den
einzelnen, unter sich begräbt, einfach,
weil er im Wege steht. Aus dem Streit wird Aufruhr, aus dem gütlichen Begehren
nach Wohlfahrt für alle wird Kampf mit blutiger Waffe. Hier muß der
Einzelmensch sich der losgeketteten Urmacht entgegenwerfen. Als Anstifterin des
Aufstandes verhaftet, könnte die Intellektuelle von der Waffe befreit werden,
sie lehnt es aber ab. Denn auch sie hat eine Wandlung durchgemacht. Sie hat
erkannt, daß das noch so edle utopische Streben des einzelnen die Waffe nicht
zur Befreiung führen kann. Auch die Waffe findet hier ihr Golgatha, erlebt ihre
Tragödie; überwältigt vom Erlebnis „Revolution“, fortgerissen und gebannt von
den Gewalten, die aus ihr brechen, tötet sie die, die ihr Gutes wollten. Da die
Wut, die Brandung der Empörung abgeflaut ist, erkennt die Waffe, im
„Namenlosen“ personifiziert, das sittlich-hohe Wollen des Individuums, das sich
Blut und Waffen widersetzte, weil das die Machtmittel eben jener
Gesellschaftsordnung sind, die überwunden werden soll. In dem Ausspruch des
Namenlosen: „Du lebst zu früh“, liegt die Perspektive auf die Lösung des
Problems, auf die Zeit, in der der Aufstieg des Proletariats ohne Bajonett und
Kanone aus Furcht der Entwicklung sich ereignen wird.
Hier ist die
Tragödie der Waffe und die des Individuums im unmittelbaren Eindruck der
Revolution als Ringen der Prinzipien, als Aufeinanderrasen der abstrakten
Kräfte geformt, wieder in Abwehr vor allem Gebunden und Einmaligen, wieder im
Aufstieg ins Zeit- und Raumlose. Der Mikrokosmus des Dramas ist nichts als eine
Sichtbarwerdung seelischer Vorgänge, die sich abertausendmal abgespielt haben
mögen.
In den
„Maschinenstürmern“ ist das Problem Revolution-Evolution im Gewand des
Ludditenaufstandes aus dem England des Jahres 1815 nochmals gestaltet. Die
Linienführung ist hier die denkbar einfachste, alles Phantastische
ausgeschaltet, so daß sich ein Monumentalaufbau ergibt, der von der ersten bis
zur letzten Szene das Interesse bei sorgfältiger Verteilung der
Spannungselemente in ansteigender Richtung erhält. Ungeheuer deutlich die
Explosion, die Sitzung im englischen Oberhaus. Die durch Aufkommen mechanischer
Webstühle verschlechterte Lage der Arbeiterschaft ist Gegenstand der Debatte,
in der die Weltanschauung der Parteien scharf gekennzeichnet wird. Das
heuchlerische, egoistische, „Die Armut ist ein gottgewolltes, ewiges Gesetz“
des Geldsacks und der Ruf des einzigen Arbeiterfreundes, Lord Byrons: „Natur
will, daß alle leben“. In knappen Bildern wird die furchtbare Lage der
Arbeiterschaft erschütternd geschildert, ein Märchen vom „Immerelend“ und
„Sorgenlos“ hält die sozialen Gegensätze mit elementarer Prägnanz fest. Die
zwei Prinzipien gewaltsamer Selbsthilfe und langsamen Reifens geraten
aneinander, der Apostel, der, weiterbildend als die im Ausbruch der Erbitterung
erblindete Waffe, die Erlösung nicht im gewaltsamen Umsturz, sondern im
Zusammenschluß der Werktätigen aller Länder sieht, wird überhöht und
erschlagen. Die Gewalt triumphiert, aber ihr Erfolg ist Blendwerk, ist
Erfüllung für den Augenblick. Denn es ist nur die eine Maschine zerstört, und
nicht das System gebrochen. Im Rasen der Empörung den großen Zusammenhang
vergessen und in der vorübergehenden Lösung eines örtlichen Konfliktes Genüge
finden, das ist die Tragödie der Waffe, die Tragödie der Revolution.
Wie Rolland in
der gigantischen Sinfonie seines Werkes ein heiteres Intermezzo einfügt, dein
„Meister“, so unterbricht Toller die Reihe der Zeittragödien durch ein galantes
Puppenspiel, die „Rache des verhöhnten Liebhabers“, in dem er eine Novelle Bandellos
dramatisiert hat, eine derb-fröhliche Geschichte vom geprellten Ehemann, der
selbst mitlacht, weil er einen anderen für den Betrogenen hält. Aber des
Dichters Sinn will nicht bei Scherz und Liebesgetändel verweilen. Aus dem
Venedig des sechzehnten Jahrhunderts eilt er zurück in unsere Schreckenszeit
und schafft im „Hinkemann“ die düsterste, verbittertste und erschütterndste
Tragödie der letzten Jahre. Es ist die Lebenstragödie des Kriegskrüppels, das
Martyrium des Menschen, der für Gott, Kaiser und Vaterland ins Feld gejagt
wurde, entmannt zurückkehrt und nun, neben der Qual im Verhältnis zu seinem
jungen, lebenslustigen Weib noch den brutalen Sohn einer völlig entmenschten
Umwelt erleben muß. Diese Kriegskrüppeltragödie, deren Tragik nicht darin
liegt, daß ein Mensch zugrunde geht, sondern wie er zugrunde geht, ist aber nur
der Anlaß, das scheußliche Antlitz unserer Zeit zu enthüllen, die Geilheit und
Unmenschlichkeit einer Epoche darzustellen, die aus dem Delirium des
Weltkrieges nichts gelernt hat, auf dem Blutweg weitereilt und zum Gipfel menschlicher
Brutalität gelangt: die „unter Gelächter mordet“. Im höllischen Taumel dieser
Dämonen ist der Mensch, der eine Seele sein eigen nennt, zum Leid verdammt;
leben kann nur, wer der Vernichtung von Gefühl und Gewissen, die unsere Zeit
systematisch vornimmt, seinen Widerstand entgegensetzt. Hinkemann, die
„elementarische Seele“, muß in dieser Welt des Schreckens und Gelächters
verderben, weil man ihm die Kraft zum Ideal geraubt hat, und „wer keine Kraft
zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben“. Hier ist wohl der letzte und
stärkste Ausdruck für das Wesen unserer Zeit gefunden. Nicht mehr zwei Willen
stoßen aufeinander, sondern zwei Existenzen. Gut und Böse, Ohnmacht und
Brutalität, Mensch und Bestie stehen einander gegenüber. Darum leidet der Held
nur, darum handelt er nicht. Sein Dasein in dieser Welt bedingt schon seine
Tragödie. Jede Auflehnung würde die Katastrophe beschleunigen, statt sie zu
verhindern. Dieses Drama ist von so plastischer Deutlichkeit, daß jeder Mensch
Sinnbild wird, jeder Satz Allgemeingültigkeit erhält. Es wächst so weit über
die Gattung „Drama“, daß es den ganzen grasen Inhalt einer scheußlich grausen
Zeit restlos zu fassen vermag. Wenn je Kunst das Gewissen der Menschheit war,
so ist es hier.
Tollers Dramen
sind ein Abbild der Bewußtseinswandlung seit 1918, der großen seelischen
Vorgänge. Im ersten Stück der ekstatische Pazifismus, die schwärmerische
Allmenschenliebe und der Hymnus auf die rote Zukunft. In den folgenden beiden
der Revolutionsskeptizismus, Ernüchterung, ja Enttäuschung. Im „Hinkemann“ die
letzte Vernichtung des Menschentums, das 1919 so herrlich aufflammte. Hier aber
werden die Gewalten schon zu Höllenfratzen, hier sind sie Ungetüme, deren
Scheußlichkeit nicht mehr von dieser Welt zu sein scheint. „Hinkemann“ hielt
dem Deutschland der Nachkriegszeit den Spiegel vor und ist ein Trauerspiel. Die
letzte Abrechnung mit dem geblähten
neumilitaristischen, nationalistischen Deutschland, „Der entfesselte Wotan“ ist
eine Komödie. Ein Werk, das die Gestalten abzeichnet, die heute auf der
politischen Bühne Deutschlands agieren, muß zur Posse werden. Ernst zu nehmen
sind ja die völkischen Maulhelden nicht, die Phrasenjongleure, deren Reden von
Kriegsbegeisterung überließen und die beim ersten Schuß auf den Bauch fallen
und sich angstschlotternd tot stellen. Es ist nötig, den Hausierern mit
abgebrauchten Lügenidealen ihre Erbärmlichkeit und Lächerlichkeit zu beweisen.
Aber diese Auseinandersetzung kann nicht tragisch enden. Tragisch wurde der
Welt eine Gestalt wie Wilhelm der Letzte, dessen Lieblingsgebärde durch dieses
Stück geistert; er hatte die Macht, er wußte was er wollte, er war gefährlich.
Die Wortführer von heute, die ihn kopieren, sind lächerlich, weil ihre Gewalt
ein Phantasiegebilde ist, wie die brasilianische Farm in Tollers Komödie. In
einer anspruchslosen, aber geistreichen Handlung wird nun hier das
nationalistische Deutschland von heute verspottet. Mit Sternheimscher Schärfe
sind die Gestalten gezeichnet, die schnoddrigen, selbstgefälligen,
beschränkten, sensationslüsternen, geldgierigen Bierbankspießer, die
abgetakelten Generale, die in teutschen Idealen machen, der schwammige
Merkantilgeist, das Krämertum, die ach so gefühlstiefen himmelblauen adeligen
Fräuleins. Um ein Hirngespinst, ein Gut in Brasilien, dreht sich die Bosse, um
ein großzügiges Unternehmen, dessen Anbeginn und Ende die Ausplünderung dummer,
den Schlagworten aufsitzender Philister ist. Als alles zusammenkracht und der
Schwindler Wotan ins Gefängnis muß, wird ihm versichert, daß ihm nichts
geschehen wird. Treuteutsche Richter werden dem [recte: den]
treuteutschen Mann nicht unsanft behandeln. Er wird, wie Wilhelm der
Wahnsinnige, seine Memoiren schreiben, ein unverstandener Erlöser, er hat noch
eine Mission, sein Volk aufzurufen, und dieses Volk hat die Mission, Europa, ja
die Welt zu retten, denn es ist der einzige berufene Schützer der Kultur, der
Menschlichkeit, der Zivilisation. Es hat sich ja nie, niemals an seinen
Dichtern vergangen und nie aus dem Leben reiner, unschuldiger Menschen mit
teuflischer Faust fünf Jahre einfach weggestrichen.
Wenn auch Ernst
Toller vor allem Dramatiker ist, darf man den Lyriker Toller nicht vergessen.
Seine Dramen haben dieselbe Rhythmik und Melodie wie seine Gedichte, die
knappe, markige Sprache, die Prägung des Ausdrucks, und die Chorwerke Tollers,
der Karl Liebknecht geweihte „Tag des Proletariats“ und das „Requiem den
gemordeten Brüdern“, das dem Andenken Gustav Landbauers gewidmet ist, sind ja
ein Mittelding zwischen Lyrik und Drama, sie haben den Empfindungsüberschwang
des lyrischen Gedichts, in Dialog und Waffengespräch ausgelöst, in Explosionen
gegeneinandergestellt. Der Sonettenband „Gedichte der Gefangenen“ zeigt in
ergreifender Einfachheit die Stimmung Tollers in der Kerkerzeit, die bohrenden
Gefühle der Einsamkeit während draußen ein ungestümes Leben vorwärtseilt, in
dem der der* Dichter einen Platz auszufüllen hätte. Es stehen hier ein paar
Gedichte, die nicht nur zum Größten zählen, was Toller schuf, sondern zum
Reinsten, Tiefsten und Erhabensten der modernen Lyrik überhaupt. Tollers letzte
Veröffentlichung ist das „Schwalbenbuch“, eine Reihe von Gedichten, die ihm übersommern
einen Schwalbenpaares in seiner Zelle eingab. Wer nur wenig empfänglich ist für
die Melodie des Mitleids, muß durch diese volkliedhaft-schlichten Gesänge eines
Einsamen und doch unermeßlich Reichen, bis in die tiefste Seele durchwühlt
werden.
Was uns den
gefangenen Dichter so nahebringt, was uns so eng mit ihm verknüpft, ist, daß
seine Probleme Probleme der Waffe, Zeithemen, Gegenwartsfragen sind, daß er die
ästhetisierenden Tüfteleien und die komplizierte Psychologie angeblich
bedeutender Einzelfälle meidet. Seine Welt ist die proletarische Welt, ist die
Welt der Waffe. Darum muß er mit anderen Maßstäben gemessen werden, mit neuen
Maßstäben. Die bürgerliche Kritik hat an ihm manches auszusetzen, sie kommt mit
formal-ästhetischen Gesichtspunkten und stellt die alten Parallelen auf. Gewiß,
so mancher Dichter hat auf Toller starken Einfluß genommen. Vor allem Büchner,
dessen „Dantons Tod“ dem Problem der „Waffe Mensch“ nahesteht und dessen
„Woyzek“ im “Hinkemann“ starke Spuren hinterlassen hat. Aber was beweist es
gegen Toller, daß in den „Maschinenstürmern“ die Betrunkenenszene und das
Märchen an „Woyczek“* erinnert? Was ist alle Formkunst gegen den Inhalt, gegen
das Leben, das hier pulst, und das unser Leben ist! Sie, die ihn einkerkern,
können ihn auch nicht verstehen. Aber weder durch gehässige Kritik noch durch
körperliche Fessel können sie ihn töten. Sie könnten ihn uns rauben, konnten
ihn fünf Jahre von uns trennen. Die fünf Jahre sind um. Wir grüßen ihn, Ernst
Toller, unseren Dichter!
Die Werke Ernst Tollers: „Die Wandlung“, „Waffe Mensch“,
„Hinkemann“, „Der entfesselte Wotan“, „Das Schwalbenbuch“ (Verlag Gustav
Kiepenheuer, Potsdam), „Die Maschinenstürmer“ (Verlag E. P. Tal, Wien,)
„Gedichte der Gefangenen“ (Kurt Wolffs-Verlag, München), „Die Rache des
verhöhnten Liebhabers“ (Paul Cassirer-Verlag, Berlin,) „Der Tag des Proletariats“
und „Requiem den gemordeten Brüdern“ (Verlagsgesellschaft „Freiheit“, Berlin).
In: Der Kampf 17 (1924), H. 7, S. 293-297.