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Karl Tschuppik: Das republikanische Wien (1918)

Wien, 13. November 1918.

Wien hat rasch wieder sein altes Gesicht bekommen. Von dem Sturm des gestrigen Tages ist heute morgens nichts mehr zu merken. Die Menschen gehen ihrer Arbeit nach, der Verkehr wickelt sich ruhig ab, die Bürger spazieren in der Sonne. Man sieht es ihnen nicht an, daß sie über Nacht Republikaner geworden sind. Sie scheinen überrascht und froh zu sein, daß alles noch auf seinem alten Platze steht. Unpolitisch wie das Wiener Bürgertum ist, hat es gestern an die wildesten Gerüchte geglaubt und einen regelrechten Weltuntergang erwartet. Heute konnte es sich überzeugen, daß die Phantasien des gestrigen Abends zerstört sind. Eine helle Herbstsonne hat die grauen Nebel verjagt und scheint mild und freundlich auf das republikanische Wien. Die Wiener Revolution wäre die unblutigste, sanfteste Erhebung der Geschichte geworden, wenn nicht die Wichtigtuerei unklarer Köpfe und ein Mißverständnis die Schießerei beim Parlament veranlaßt hätten. Heute, bei Licht besehen, stellte es sich heraus, daß die Urheber der Panik ein paar aufgeregte Jünglinge sind, die sich Kommunisten nennen, aber eigentlich nichts anderes wollen, als sich von der großen Welle emportragen zu lassen. Die meisten von ihnen haben während der ganzen Kriegszeit die Kourage sorgfältig versteckt und an Alles eher gedacht als an Sozialismus und Kommunismus. So mancher dieser jungen Leute war Patriot, Kriegsberichterstatter, Feuilletonist für altösterreichische Angelegenheiten. Die Angst, den Anschluß zu versäumen, hat ihnen große Worte und revolutionäre Phrasen in den Mund gegeben. Der alberne Einfall, den Staatsrat gefangen zu nehmen und das Parlament zu besetzen, war typische Wichtigtuerei literarischer Gehirne. Die Stürmer und Dränger wußten ganz gut, daß es nichts niederzuringen gab, da das alte Österreich kampflos abgetreten war. Sie wußten auch, daß im Staatsrat die Sozialisten die Führung haben. Sie mußten auch wissen, daß die organisierten Arbeiter mit einem solchen Dilettantismus nichts zu tun haben wollten. Aber es kam ihnen nicht auf das Wesen der Revolution, sondern auf die Revolutionsspielerei, auf den äußeren Knalleffekt, an. Darum stürmten und schossen sie. Das eitle, frevle Spiel hat zwei Menschenleben und das Auge eines braven Menschen, des Pressechefs im Staatsrat Ludwig Brügel, gekostet. Den übrigen Schaden trägt Hansens Parlamentsgebäude.

Den ganzen Tag über standen heute hunderte Menschen auf dem Franzensring, um das beschädigte Parlamentshaus zu betrachten. Die Kugeln der Roten Garde, die kopflos hin- und herschoß, haben die Façade recht arg hergenommen. Viele Fenster sind zertrümmert, die hohen Säulen beschädigt, das große Tor zeigt hunderte Löcher. Schaden litt auch die schöne Giebelfüllung des Hauses, das große Halbrelief mit dem alten Kaiser in der Mitte. Franz Josef verlor gestern die rechte Hand. Die Schießerei hatte übrigens auch ein kleines komisches Nachspiel zur Folge. Als das Parlament gestern unter Feuer genommen wurde, lief das Küchenpersonal des Hauses, Köchinnen, Köche, Kellner, Waschfrauen und Buffettdamen angstvoll zusammen und suchte sich durch einen Seitenausgang zu retten. Sie stießen dabei auf Rote Gardisten, die im Scherz riefen, ein Entweichen sei unmöglich, Mitgefangen, mitgehangen, alle müßten sterben. Darauf verkrochen sich Köchinnen und Dienstmädchen in den Keller, wo sie spät nachts halb tot vor Angst aufgefunden wurden. Sie alle haben heute ihre Büchel verlangt und waren nicht zu halten. Das republikanische Parlament ist also ohne Küche.

Die wirklichen Träger der Revolution, die Wiener Arbeiter, haben den gestrigen Putsch sehr unsanft beurteilt. In den großen Massenversammlungen am Abend wurde die Spielerei der kommunistischen Knaben auf das schärfste verurteilt und die Auflösung der Roten Garde gefordert. Das Kriegsministerium wird diesem Wunsche wahrscheinlich entsprechen müssen und es täte sehr gut daran, da diese seltsame Truppe keine Existenzberechtigung hat. Nachdem der tüchtige Feldmarschall Boog, der Kommandant der Wiener Division, den Aufbau der nationalen Armee in die Hand genommen hat, ist es wirklich nicht notwendig, eine bewaffnete Schar zu dulden, die undisziplinierter, unkontrollierbar wie Schillers Libertiner, haust. Auch unter ihnen sind Idealisten und brave Burschen, und ihr Hauptmann, Egon Erwin Kisch aus Prag, hat es sicherlich gut gemeint. Aber die Mariahilferstraße gehört vorläufig noch nicht zu den böhmischen Wäldern. Es geht daher nicht gut an, Privatautos anzuhalten und andere Requisitionen zu unternehmen, auch dann nicht, wenn im Auto zufällig der Baron Rothschild sitzt.

Man muß sich übrigens wundern, daß nach dem beispiellosen Zusammenbruch der Armee die Unordnung sich auf diese kleine Episode beschränkt. Der neuen Regierung ist es gelungen, die Tausende zurückflutender Soldaten in ordnungsmäßige Bahnen zu lenken und man muß gestehen, daß die Mannschaft dabei mehr Disziplin bewahrt hat als so mancher Offizier. Er wird noch einmal darüber zu sprechen sein, wie namentlich viele höhere Offiziere die Front verlassen und dabei ganz an den Unterschied von Mein und Dein vergessen haben. Die Wachsoldaten am Hütteldorfer Bahnhof und auf den Straßen des Wiener Waldes haben wirklich ernstlich zu tun, um etwas von dem gestohlenen Staatsgut zu retten. Ein größerer Teil des Inhalts der Regiments- und Bataillonskassen belebt jetzt die Wiener Nachtlokale. Da fließt Champagner und Wein, Mädchen und Musiker werden beschenkt, und wenn nicht die Sperrstunde wäre, die der neue Staat genau so einhält wie der alte, gäbe es hier lustige Nächte bis zum Morgen. An diesem Wien ist die Weltgeschichte spurlos vorübergegangen; es scheint entschlossen, auch im republikanischen Kleid dasselbe zu bleiben.

In: Prager Tagblatt, 14.11.1918, S. 1.

Georg Bittner: Die „Wiener Rote Garde“. Eine Gründung der Prager Kaffeehausliteraten (1918)

                Herr Egon Erwin Kisch, gebürtig aus Prag – nicht umsonst bisher das „Schmockkästchen“ Böhmens genannt – vor dem Kriege Feuilletonist des „Berliner Tageblattes“, Verfasser des mehr pornographischen als erotischen Romans Der Mädchenhirt, rückte zu Beginn des Krieges ein, war ein tapferer und guter Soldat (wie man dem jungen Manne denn überhaupt zubilligen muß, daß er in allem, was er tut, durchaus ehrlich, wenn auch vielleicht etwas unklare Absichten hat) und wurde nach längerem Frontdienste als Oberleutnant dem Kriegspressequartier zugeteilt. Hier scheint nun Herr Kisch von einem Drange erfaßt worden zu sein, der beim Literaten begreiflich ist und in diesem Falle nur deshalb sehr getadelt werden muß, weil Herr Kisch beschloß, diesem Drange in seiner Eigenschaft als Offizier und, wie er behauptet, Sozialrevolutionär zu frönen. Herr Kisch liest nämlich seinen Namen außerordentlich gern in der Zeitung. Bei der Gründung der „Roten Garde“ lagen ihm sicherlich alle selbstischen und gar unlauteren Absichten ferne und er folgte damit nur dem unklaren und phantastischen Drange seiner jugendlichen Literatenphantasie. Im Kriegspressequartier, das in der letzten Zeit zum Zwecke der Abfassung patriotischer Propagandaschriften eine Reihe von jüngeren federgewandten Leuten an sich gezogen hat, fand nun Kisch einige Gesinnungsgenossen, die ihn bei den Vorarbeiten und bei der Propaganda für die „Rote Garde“ unterstützten.

            Da ist vor allem Herr Franz Werfel, Sohn eines Kommerzialrates, auch aus Prag, auch Sozialrevolutionär, auch Literat. Während des Krieges hielt er sich längere Zeit auf Kosten des österreichisch-ungarischen Armeeoberkommandos in der Schweiz auf, um dort österreichische Propaganda zu betreiben. Jetzt ist er, wie gesagt, Revolutionär, und wenn er es auch schon damals war, als er in der Schweiz auf militärische Kosten lebte, dürfte man ihm billig den Vorwurf machen, daß er dieser Art der militärischen Dienstleistung jede andere hätte vorziehen müssen. Gewiß hätte ihn niemand davon abgehalten.

            Damit ist aber die Runde der geistigen Väter der Wiener „Roten Garde“ noch nicht vollkommen geschildert. Zu ihnen gehörte auch der ebenfalls im k.u.k. Kriegspressequartier eingeteilte Schriftsteller Franz Blei. Er gehörte in seiner Jugend ganz kurze Zeit der sozialdemokratischen Partei an. In den langen Jahren, die seither verflossen sind, hat er mannigfache Wandlungen durchgemacht. Unter anderem gab er eine pornographische Zeitschrift Der Amethyst heraus. Zu Beginn des Krieges gründete er in Berlin mit dem Gelde eines dortigen Finanzmannes eine Zeitschrift Der Kleiderkasten, welche die Abschaffung der Pariser Mode propagierte, und sich natürlich heftig gegen alles wagte, was nicht deutsch war bis ins Mark. Dieser deutschnationalen Periode des Herrn Franz Blei folgte eine katholische, als er zum Militärdienst nach Wien eingezogen wurde. Er kam hier in die Umgebung eines bekannten Finanzmannes, als dessen Sekretär er längere Zeit lebte und der ihm auch, obwohl selbst keineswegs katholisch, die finanziellen Mittel zur Gründung der katholischen Zeitschrift Summa zur Verfügung stellte. Nebenbei wirkte die ganze Familie Bleis eine Zeitlang auf ärarische // Kosten bei den Aufnahmen für einen militärischen Propagandafilm mit.

            Der vierte in diesem Bunde ist Herr Kühtreiber, der sich in seiner Eigenschaft als expressionistischer Maler und Schriftsteller Paris von Gütersloh nennt.  

            Das Werk dieser einigermaßen gemischten Gesellschaft ist also die Wiener „Rote Garde“, die, wie aus dem Berichte der Arbeiter-Zeitung hervorging, am Tage der Proklamierung der Republik die Schießerei vor dem Parlament verschuldet hat. Daß sie in dieser Form gegründet werden konnte, muß als ein schwerer Fehler der sozialdemokratischen Parteileitung bezeichnet werden. Dieser wurde wiederholt und nachdrücklich darauf aufmerksam gemacht, daß Oberleutnant Kisch, wenn auch von bestem Willen beseelt, doch sicherlich nicht die Persönlichkeit sei, der man es zutrauen dürfe, daß sie im gegebenen Falle eine Schar radikalst gesinnter Männer in der Hand behalten werde. Kurze Zeit lang schien man darum in der Parteileitung der Bildung der „Roten Garde“ auch ablehnend gegenüber zu stehen, von der einzig richtigen Ansicht ausgehend, daß eine derartige Institution innerhalb einer Volkswehr überflüssig sei. Leider ließ man sich dann aber von der Versicherung der besonnenen Elemente, die auch in der „Roten Garde“ sicherlich in nicht geringer Zahl vertreten sind, es handle sich nur um die Bildung eines Musterbataillons, überreden. Der Unterstaatssekretär Dr. Deutsch glaubte dieser Versicherung leider so sehr, daß er der „Roten Garde“ am kritischen Tage sogar die Bewachung des Parlaments überantwortete. Natürlich bekamen dort rasch, wie immer, die unklaren und unbesonnenen Elemente die Oberhand, die glaubten, sich mit einem Handstreich der Herrschaft über die gesamte übrige Bevölkerung bemächtigen zu können.

            Es ist kein Zweifel, daß die sozialdemokratische Parteileitung das, was sich vor dem Parlament und im Redaktionsgebäude der „Neuen Freie Presse“ zugetragen hat, auf das Entschiedenste mißbilligt. Schon deshalb, weil es ja unser aller gemeinsame Pflicht ist, die Umgestaltung des Staates in Ruhe und aus eigener Kraft zu vollziehen und den Ententetruppen keinerlei Anlaß zur Besetzung Wiens zu bieten. Man darf aber die Wahrung solch ungeheurer Staatsinteressen nicht den Fähigkeiten einiger unklarer oder nicht vertrauenswürdiger Köpfe aus der Kaffeehausliteratur überlassen. Dessen dürfte sich die sozialdemokratische Parteileitung bewußt geworden sein und wird jetzt hoffentlich nicht daran zweifeln, wie sie gegen die literarische „Rote Garde“ vorzugehen hat.

In: Neues 8-Uhr-Blatt, 16.11.1918, S. 1-2.

e.d. [Egon Dietrichstein]: Bei der Roten Garde

In der Stiftskaserne.

             Im Hofe der Stiftskaserne ist eine Grabschrift der altösterreichischen Tradition erhalten, eine Marmortafel, in die mit Goldlettern folgende Inschrift eingraviert ist: „Kriegs Pflanz Schul aus allerhöchsten Gnaden Ihrer kaiserlichen und königlichen Majestäten Francisci und Maria Theresiae für Adelige der Erblandesjugend Offizieren und Söhne zu den künftigen Kriegsdiensten unter der General-Oberdirektion Seiner Excellenz Herrn Feldmarschall Leopold Grafen von und zu Daun errichtet 1754.“ Es wird nichts übrig bleiben, als dies stolze Dokument der franciscischen Zeit zur ewigen Ruhe auf den Friedhof des Heeresmuseums zu überführen, wo der Herr Feldmarschall Graf von und zu Daunsich neben den Handschuhen und der Perücke seines Kriegskollegen Radetzky behaglich fühlen wird als gegenwärtig im Hof der Stiftskaserne. Denn vor der alten Erziehungsanstalt für Adelige der Erblandjugend stehen die roten Gardisten vergattert. Und keine Erinnerung ist hier unzeitgemäßer als jene an die Fürsorge der Kaiserin um einen standesgemäßen militärischen Nachwuchs. Denn die Rote Garde erkennt nicht einmal einen dienstführenden Feldwebel als Gott an, ein Hauptmann ist ihr nicht mehr als ein Zugführer und ein Zugführer so viel wie ein Rekrut. Sie hat die Autorität der Sterne, Abzeichen und Litzen, der goldenen und silbernen Auszeichnungen abgeschafft und der Herr Feldmarschall Graf Leopold von und zu Daun müßte seine Menageschale höchstpersönlich tragen…

             Die Rote Garde ist gegenwärtig etwa 4000 Mann stark und man begreift, daß ihr freiheitliches Programm Zulauf hat. Der Werbetrommel folgen Männer jeden Alters, aller sozialen Kreise und Stände, Proletarier und selbst Adelige. Ein Graf Lamezan (alter österreichischer Beamtenadel) ist in ihre Reihen getreten. Die Lamezans, die in den Ministerien und Kanzleien als Hofräte rechtschaffen Akten verwalteten, wären, hätten sie den mißratenen Enkel geahnt, aus Gram und Kummer dreißig Jahre früher in Pension gegangen. Sogar ein leibhaftiger Fürst, dessen Rang der Gotha nachweist, wollte – hört, hört – Gardist werden und wurde abgelehnt, weil seine wenig demokratische Vergangenheit bekannt war. Man wußte, daß er, als er noch mit Durchlaucht angesprochen wurde, dieses Vorrecht zu Schikanen der Mannschaft mißbrauchte. So wird es den Adeligen der Erblandsjugend schwer gemacht, den Anschluß an die neue Zeit zu finden und sich von den traditionellen Geburtsfehlern zu befreien. Es wird doch nichts übrig bleiben, als die – Kriegs-Pflanz-Schul.

             Das sind die roten Gardisten, ihr Hauptmann ist der romantische Oberleutnant Egon Erwin Kisch… Er ist nun mit derselben Begeisterung, mit demselben agilen Temperament, mit dem er seinen Roman und die Aufsätze für Zeitungen schrieb, bei der Führung der Roten Garde. Er hat das tintenklecksende Säkulum satt und will diese neue Zeit nicht nur als Zuschauer miterleben, sondern mitagieren. Und die ersten Taten des jungen Gardekommandanten und Werbeoffiziers der Volkswehr sind wirklich sehr vielversprechend: Er hat ein Lebensmittelmagazin in der Kaserne ausgehoben und dem Amt für Volksernährung zur Verfügung gestellt, Plünderungen auf dem Matzleinsdorfer Bahnhof verhütet, vier Bataillone formiert, die Akten des Kriegsarchivs vor brutalen Eingriffen bewahrt. Der Prager Dichter hat ein ganz unlyrisches Organisationstalent gezeigt und die Rote Garde, die so leicht in den Ruf einer Truppe von Desperados und Abenteurern geraten könnte, zu einem disziplinierten Körper ausgestaltet, der nicht vergessen hat, daß Ruhe und Ordnung die ersten Pflichten des Bürgers sind. Und die Pflichten der Roten Garde, sie zu erhalten… Oberleutnant Kisch wird in seinem anstrengenden Dienst von Herrn Rothziegel, dessen rote politische Überzeugungen öfter mit den Gesetzesparagraphen in Widerspruch gerieten, unterstützt.

             Noch ein roter Soldat hat sich aus der Masse der Namenlosen erhoben: Korporal Haller, ein etwa 24jähriger Student aus Bielitz, sozialistisch-radikal, revolutionär, lockenköpfig. Bei der Versammlung im Dreher-Saal hat er zuerst das Wort von der „Roten Garde“ in die Masse gerufen, vor dem Deutschmeisterdenkmal und dem Parlament mitdemonstriert, dann ist er spurlos verschwunden. Unter etwas legendären Umständen: Man sagt, er sei in der Universität angehalten und um seine Legitimation befragt worden. Als er sich nicht ausweisen konnte, habe man ihn in ein Automobil gesetzt und zum Nordbahnhof expediert, von wo er nicht wiederkehrte. Dieses Ende einer kurzen Gardistenkarriere ist romantischer als ihre Figur…

             Im Hofe der Stiftskaserne steht die neue Garde. In einer Zeit, in der sich die alten Garden, die nicht zum Kampfe, sondern zur Repräsentation berufen waren, dem neuen prunklosen Regime ergeben mußten, die einzigen Gardisten Österreichs. Sie bewachen keine aus Babenbergerzeit gesammelten Kostbarkeiten, sondern die idealen Güter, welche dieser junge Staat bereits geboren hat… Das sind die Roten Gardisten, ihr Hauptmann ist Oberleutnant Kisch… Wenn Teufel zu Gegnern sie hätten, ihr Herz fällt nicht in die Schuh.

In: Neues Wiener Journal, 12.11.1918, S. 5.

Otto Bauer: Die deutschösterreichische Republik.

             In den vier Tagen vom 28. bis zum 31. Oktober hatte sich die Auflösung der Habsburgermonarchie vollendet. In diesen vier Tagen war die Armee an der Front zusammengebrochen, hatten sich die neuen nationalen Regierungen im Hinterlande der Regierungsgewalt bemächtigt. Es war eine nationale und eine demokratische Revolution, was sich da vollzog: statt der Dynastie, ihrer ‚übernationalen‘ Bürokratie, Generalität und Diplomatie übernahmen in Deutschösterreich wie in Tschechien, in Galizien wie im südslawischen Gebiet nationale Volksregierungen, aus den Wortführern der Parteien des Bürgertums, der Bauernschaft und der Arbeiterschaft zusammengesetzt, die Regierungsgewalt. Aber der Zusammenbruch der alten Mächte entfesselte zugleich auch die bisher von der Gewalt niedergehaltenen Arbeitermassen. In den täglichen stürmischen Soldatendemonstrationen, die in Wien mit der großen Massenkundgebung am 30. Oktober begonnen hatten, kündigte sich an, daß die national-demokratische Revolution zugleich  auch die soziale Revolution weckte, der Übergang der Regierungsgewalt von der Dynastie  auf die Völker zugleich auch den Klassenkampf innerhalb des Volkes, die Verschiebung der Machtverhältnisse  zwischen den Klassen innerhalb der Nation einleitete. Die Entfaltung dieses dreifachen revolutionären Prozesses der demokratischen, der nationalen und der sozialen Revolution ist die Geschichte des entstehenden deutschösterreichischen Staates vom 30. Oktober bis zum 12. November.

             Am 30. Oktober hatte die Provisorische Nationalversammlung den Staatsrat beauftragt, die Regierungsgewalt in Deutschösterreich zu übernehmen, und eine deutschösterreichische Regierung einzusetzen. Deutschösterreich war damit, ebenso wie alle anderen entstehenden Nationalstaaten in diesen Tagen, vor das Problem der Regierungsbildung gestellt. Es handelte sich nicht, wie sonst bei Regierungsbildungen, um den Übergang einer bestehenden Staatsgewalt aus den Händen einer Machtgruppe in die einer anderen, sondern um die Schaffung neuer Staaten, um die Organisierung noch nicht bestehender Staatsgewalten. Die Regierungen, die da gebildet wurden, verfügten zunächst über keinerlei materielle Machtmittel, weder über den Verwaltungsapparat noch über eine Militärmacht; sie konnten sich nur durch ihre moralische Autorität durchsetzen, nur durch ihre moralische Autorität sich die Verwaltungsmaschinerie der zerfallenden Monarchie unterordnen und sich eine nationale Wehrmacht schaffen. Sollte die moralische Autorität der neuen Regierung groß genug sein, diese Aufgabe zu bewältigen, sollte sie sich in der Großstadt wie im Dorfe, in den Industriegebieten wie im Landvolk, in den Ämtern wie in den Kasernen durchsetzen, dann mußten die neuen Regierungen aus Vertrauensmännern aller Volksschichten zusammengesetzt werden. So erklärt es sich, daß die neuen Regierungen in all den neuen Nationalstaaten damals aus den Vertretern aller großen politischen Parteien der sich konstituierenden Nationen zusammengesetzt werden mußten. Daß ‚Bürger,// Bauern und Arbeiter‘ gemeinsam die neue Regierung bilden mußten, war das Schlagwort jener Tage.

             Auch der deutschösterreichische Staat war im Grunde aus einem Contrat social, einem staatsbegründenden Vertrage der durch die politischen Parteien vertretenen Klassen des deutschösterreichischen Volkes hervorgegangen. Die Gesamtheit der deutschösterreichischen Abgeordneten hatte sich auf Grund von Vereinbarungen zwischen den Parteien als Provisorische Nationalversammlung proklamiert. Nur diese Gesamtheit konnte jetzt die Regierungsgewalt übernehmen. Der von der Provisorischen Nationalversammlung nach dem Verhältniswahlrecht gewählte, also aus Vertretern aller Parteien zusammengesetzte Staatsrat bildete die eigentliche Regierung. Nur als seine Beauftragten übernahmen die vom Staatsrat ernannten Staatssekretäre die Leitung der einzelnen Staatsämter; nicht ihnen, sondern dem Staatsrat selbst teilte die provisorische Verfassung vom 30. Oktober die Verordnungsgewalt zu. Wie der Staatsrat selbst aus allen in der Provisorischen Nationalversammlung vertretenen Parteien zusammengesetzt war, so wurden auch die von ihm bestellten Staatssekretäre allen Parteien entnommen. […] Dr. Karl Renner wurde zum Leiter der Kanzlei des Staatsrates bestellt. Dem christlichsozialen Staatssekretär für Inneres gaben wir Sozialdemokraten Otto Glöckel, dem deutschnationalen Staatssekretär für Heerwesen den Sozialdemokraten Dr. Julius Deutsch als Unterstaatssekretäre bei. Erst die Ereignisse der folgenden Tage, die die nationale Revolution zur sozialen vorwärtstrieben, verstärkten unser Gewicht in der Regierung. Erst sie machten den Leiter der Staatskanzlei zum Staatskanzler. Erst sie ließen in den beiden wichtigsten Staatsämtern, im Staatsamt des Innern, das über die innere Verwaltung, über Polizei und Gendarmerie verfügte, und im Staatsamt für Heerwesen, das die Demobilisierung zu leiten und eine neue Wehrmacht aufzustellen hatte, die bürgerlichen Staatssekretäre weit hinter die sozialdemokratischen Unterstaatssekretäre zurücktreten. Es war eine Machtverschiebung, die sich durch die Ereignisse selbst vollzog, in der sich der Fortgang der Revolution ausdrückte.

             Aus dem Krieg entstanden, ist die soziale Revolution nicht so sehr von der Fabrik als vielmehr von der Kaserne ausgegangen. Als an der Massenkundgebung des 30. Oktober auch Soldaten und Offiziere in großer Zahl teilnahmen; als an diesem Tage auf den Soldatenklappen die roten, auf den Offizierskappen die schwarzrotgoldenen Kokarden aufzutauchen begannen;// als am Abend des 30. Oktober Soldatenhaufen den Offizieren auf der Straße die Rosetten mit den kaiserlichen Initialen von den Kappen rissen, war es klar, daß die militärische Disziplin in den Wiener Kasernen vollends zusammengebrochen war.  Die furchtbare Allmacht, die die militärische Organisation im Kriege dem Offizierskorps gegeben hatte, schlug mit einem Schlage in völlige Ohnmacht um; vierjährige Unterdrückung der Menschenwürde des Soldaten rächte sich nun in wild aufloderndem Haß des Mannes gegen den Offizier. Wo bisher der stumme Gehorsam gewaltet hatte, setzte nun die elementare, instinktive, anarchische revolutionäre Bewegung ein. Soldatenhaufen, von Heimkehrern aus Rußland geführt, versammelten sich nächst der Roßauer Kaserne und berauschten sich an wilden Reden. Sie versuchten die Bildung einer „Roten Garde“, sie zogen bewaffnet durch die Stadt, sie „expropriierten“ Kraftwagen und „beschlagnahmten“ Lebensmittelvorräte. Die Offiziere selbst wurden von der Bewegung erfaßt, Reserveoffiziere aus den Reihen der Intelligenz beteiligten sich, von der Revolutionsromantik des Bolschewismus mitgerissen, an der Bildung der Roten Garde, während sich deutschnationale Offiziere im Parlamentsgebäude als „Soldatenräte“ auftaten. Die überwiegende Mehrheit der Soldaten aber packte unwiderstehlicher Drang, nach Hause, zu Weib und Kind zurückzukehren. Die slawischen Soldaten eilten ungeordnet nach Hause, sobald sie von der Bildung der Nationalstaaten in ihrer Heimat erfuhren; ihr Beispiel verbreitete die Desertionsbewegung sofort auch auf die deutschen Soldaten. Niemand tat mehr Dienst, die Kader lichteten sich, die Wachen liefen davon, die wichtigsten Depots und Magazine waren unbewacht. Kriegsverwilderung, Hunger, Verbrechertum nützten diese Selbstauflösung der Garnisonen aus: Plünderungen begannen begannen […] Nur die Aufstellung einer neuen bewaffneten Macht konnte die volle Anarchie verhindern.

             Der Staatsrat versuchte zunächst die Reste der Garnisonen der alten Armee in seinen Dienst zu stellen. Sie wurden auf die provisorische Verfassung beeidigt. Und da die Wiederherstellung der Autorität der Offiziere zunächst aussichtslos erschien, forderte der Staatsrat selbst die Mannschaften auf, Soldatenräte aus ihrer Mitte zu wählen, die Ordnung und Disziplin in den Kasernen herstellen sollten. Aber diese ersten Bemühungen blieben erfolglos. Die Soldaten leisteten den Eid und liefen dennoch auseinander, zu Weib und Kind. Die Reservisten bei den Fahnen zurückzuhalten war unmöglich. Es gab nur einen Ausweg: gegen Sold Freiwillige anzuwerben und aus ihnen eine neue Wehrmacht zu formieren. So ordnete der Staatsrat am 3. November, dem Tage des Abschlusses des// Waffenstillstandes, die Werbung für die Volkswehr an.

In: Otto Bauer: Die österreichische Revolution. Wien 1923, S. 95-97.

Egon E. Kisch m.p.: Eine Erklärung der roten Garde

Das Kommando der Volkswehrabteilung Stiftskaserne ersucht uns um Aufnahme folgender Zeilen: Die Volkswehrabteilung Stiftskaserne (Rote Garde) ist zu der gestrigen Manifestation mit zwei Bataillonen ausgerückt, um bei der Proklamierung der Republik anwesend zu sein und dem Arbeiterzuge Spalier zu stehen. Die beiden Bataillone wurden im Beisein der Staatsräte Domes und Max W i n t e r aus der der Stiftskaserne abgefertigt. Oberleutnant Kisch und Abg. Domes hielten an die Wehrmänner Ansprachen, die von der Mannschaft mit dem Gelöbnis aufgenommen wurden, unter allen Umständen Ruhe und Disziplin zu bewahren und sich auf keine Weise provozieren zu lassen. Die abmarschierenden Abteilungen erhielten w e d e r  M u n i t i o n noch M a sch i n e n g e w e h r e, die Gewehre ergaben bei der Visitierung, daß sie keine Patronen enthielten. Die Kolonne marschierte in Totenstille, auf keine Ovationen reagierend, zum Parlament, wo sie – Front zur Minervasäule – am Straßenbahngeleise Aufstellung nahm. Hier enthielt sich die Volkswehrabteilung gleichfalls jeden Zurufes; auch als die rot-weiß-roten Flaggentücher aufgezogen wurden und als es beim Schwenken von schwarz-rot-goldenen Fahnen zu Zusammenstößen kam, hielten die Rotgardisten stumm und entschlossen Spalier. Wiederholt vorgebrachte Bitten von zwei bis vier Mann, um inoffiziellen Rednern den Weg zu bahnen, wurden rundweg verweigert. Als nach den ersten aus dem Parlament abgegebenen Schüssen [?] Tumultszenen begannen, sammelte der Kommandant die Rote Garde und sie marschierte im geschlossenen Zuge durch die Stadiongasse über die Lastenstraße zur Stiftskaserne, wo man hinter sich die Tore schloß. Zwei Kompagnien, gemischt mit Volkswehrleuten anderer Kasernen, besetzten das Parlament, um sicherzustellen, wer die Schüsse abgegeben habe. Der dieses Halbbataillon kommandierende Oberleutnant Waller und zwei Infanteristen sprachen beim Präsidenten Seitz vor und stellten im Einvernehmen mit ihm die Ordnung auf Rampe und Straße wieder her. Naturgemäß war es in der ungeheuren Verwirrung nicht möglich, daß alle Rotgardisten sich bei der Formierung um ihren Kommandanten zu sammeln vermochten. Es ist daher keineswegs ausgeschlossen, daß sich Soldaten von der Erregung der Massen zu einer selbständigen Handlung oder zum Gebrauch der Feuerwaffe hinreißen ließen. Wenn dies aber – was die den am Abend in der Stiftskaserne aufgenommenen Protokollen n i c h t  sichergestellt werden konnte – geschehen sein soll, so könnte dies bloß entgegen den erhaltenen Weisungen, ohne jeglichen Befehl und ohne Wissen der gewählten Führer geschehen sein.  

In: Fremdenblatt, 13.11.1918, S. 5.

Albert Paris Gütersloh: Wer ist der Mörder

Auf die Frage, wer die Schuld trüge an dem Blute, das am Tage der Verkündigung des republikanischen Staates vor dem Wiener Parlament geflossen ist, gab eine ungefragte Wiener Abendzeitung die schwere, in ihren Beweggründen gar nicht so leicht zu begreifende Antwort: die Schriftsteller Dr. Franz Blei, P. Gütersloh, Erwin Kisch und Franz Werfel, Soldaten, alle Soldaten des ehemaligen k.u.k. Kriegspressequartiers sogar – ein sozialistischer Katholik, ein dezidierter Christ, ein Sozialdemokrat und ein Weltfreund, diese also seien schuld. Eine Anklage, wie sie schwerer gegen einen Menschen nicht erhoben werden kann, schwer auch dann noch, wenn man mildernd, das heißt der  Wahrheit nur die halbe Ehre gebend meint, dadurch nur, daß wir die sogenannte Rote Garde gegründet hätten – die weder Werfel, noch Blei, noch ich »gegründet« haben – dadurch allein hätten wir auch jene schlimmen Schüsse abgefeuert, in deren Folge zwei Menschen das Leben verloren. Welch unmittelbare Wirkung auf das Böse, auf den Hahn noch einer Büchse – noch immer gesetzt, ich wäre einer der geistigen Urheber des Schießens – traut uns ein Mensch zu, der unsere Wirkung im Guten, eine Einflußsphäre überhaupt zu haben, unter friedlichen Umständen glatt geleugnet hätte! Welchen Einfluß will man jetzt plötzlich der Literatur unterschieben, den Dichtern, deren Weltfremdheit bisher der sicheren Bürger, deren Unverständlichkeit das gönnerhafte Gauidum der ihrer Verständlichkeit sicheren politischen Machthaber jeder Richtung war? Macht man uns nur deswegen um einen einen Kopf größer, um uns köpfen zu können? Denunziert man die Literatur, die Kunst nur deswegen jetzt eines Einflusses überhaupt, um dereinst witzig sagen zu können, man hätte die geistigen Werte nicht unterschätzt. Kann diese Schätzung der geistigen Werte wirklich nur als Denunziation in ängstliche Bürgerköpfe geflüstert werden und als maskierter Aufruf nur zu Bürgerkrieg und Pogrom?

In: Die Rettung, Nr. 2, 13.12.1918 (neuerlich in: J. Adler, Hg.: Allegorie und Eros. Texte von und über A. P. G., München: Piper 1986, S. 69-70)