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Max Adler: Der Krieg ist aus, der Kampf beginnt (1918)

            Der Krieg ist aus, – und er hat anders geendet als es die militärstolzen Mittelstaaten gewähnt hatten, aber eigentlich auch anders, als es die Entente erwartet hatte. Denn wenn auch die Zentralstaaten eine so zerschmetternde Niederlage erlitten, wie es die Entente  kaum je in ihren kühnsten Hoffnungen für möglich halten konnte, so liegt das Entscheidende und geschichtlich in seiner Tragweite noch gar nicht Auszu-//schöpfende in dem Umstand, daß dieser Sieg der Entente gar nicht so sehr durch ihre militärische Überlegenheit, als durch den Willen der Völker in den Mittelstaaten ermöglicht wurde. Nicht eigentlich der Siegt der Entente, sondern die Revolution der Mittelstaaten, die mit der Meuterei ihrer Fronten begann, hat den Krieg beendet; die Entente siegte, weil die Völker Österreichs, Ungarns und Deutschlands nicht länger mehr kämpfen wollten. Das große Beispiel, das zuerst die russischen Soldaten in der letzten Offensive 1917 gegeben hatten, das sich dann im Oktober 1918 an der bulgarischen Front weiderholte, das befolgten nun auch die Soldaten der Mittelmächte im Westen und im Süden, wo sie lange unter unerhörten Opfern „siegreich“ ausgehalten hatten. Sie warfen die Waffen weg, sie verließen die Stellungen, sie ließen das „Vaterland“ im Stich, das ihnen stets ein Stiefvaterland gewesen war. Konnte man sich darüber wundern, daß der Soldat endlich müde geworden war, seine Haut zu Markte zu tragen für Interessen, die doch nicht die seinen waren? Was hätte er verteidigen sollen, da ihm doch an diesem „Vaterland“ nichts gelegen war, das ihn im Frieden ausbeutete, ihn und seiner Familie stets nur ein kümmerliches Dasein und ein freudloses Heim bereitete und ihn schließlich, ohne ihn zu befragen, auch noch in die Hölle des Krieges gezwungen hatte! Was hätte er für einen inneren Anlaß gehabt, sich noch länger für dieses ganz furchtbare Gewaltsystem des Kapitalismus und Militarismus aufzuopfern, statt dessen durch das Vordringen der feindlichen Heere bewirkte Schwächung zu benützen, um sich ihm ganz zu entziehen!

So empfand zunächst der Soldat die Niederlage auf dem Schlachtfelde, das er freiwillig verließ, eher wie eine Befreiung von dem Banne einer unerhörten Vergewaltigung. Und diese Welle der Befreiung ergoß sich mit ungestümer Kraft über das ganze Hinterland. War erst einmal der ungeheuerliche Druck, mit dem der Militarismus allen wahren Volkswillen erstickte, behoben, so machte sich dieser in elementarer Weise geltend, und vor seiner entfesselten Energie sanken überall die Throne in den Staub, die so lange ihr unbegreifliches anachronistisches Dasein behauptet hatten. Nun war es mit einem Male offenbar geworden, daß der Glanz der Habsburger, daß der stolze Trotz der Hohenzollern gar nichts gemein hatten mit der wirklichen Kraft und Anteilnahme „ihrer“ Völker, als deren bestes Teil sie sich immer ausgegeben hatten, sondern daß sie nur dank der nackten Schwertgewalt existiert hatten, die sie aufzubieten imstande waren. Gegen den brausenden Unwillen der Völker, welche ihre Dynastien als die an dem Kriege nicht am wenigsten Schuldtragenden in lächerlich kurzer Zeit wegfegten, erhob sich auch nicht eine Hand, und auf dem Boden der stolzesten Militärmonarchien der // Erde besteht jetzt ein Kranz von Republiken, von Freistaaten, in denen die gärende Kraft des Volkes darangeht, nach der politischen auch die soziale Umwälzung herbeizuführen, und damit uns erkennen läßt, daß ein neues Kapitel in der Geschichte der europäischen Kultur, ja der Menschheit aufgeschlagen ist.

            So erklärt es sich, daß diese Niederlage trotz der ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen, welche der noch ungebrochene Enteneimperialismus den Zentralstaaten auferlegt hat, doch bei den Völkern derselben nirgends als eine solche empfunden wurde. Ja im Gegenteil – und dies ist nur ein Beweis mehr für die wahnsinnige Unnatur, in welche der Zwang des Imperialismus und Militarismus seine Völker daniedergehalten hat – diese Niederlage wurde geradezu als eine Bedingung der eigenen Befreiung und der demokratischen Fortentwicklung der Welt überhaupt erhofft. Es wiederholte sich die geschichtliche Situation, die schon einmal in der Geschichte Deutschlands da war, als nach der französischen Revolution alle wirklich freiheitsdurstigen deutschen Patrioten den Siegeszügen der Franzosen innerlich zujubelten und, so sehr sie die Herrschaft Napoleons als Säbelrasselherrschaft haßten, sie doch als Bahnbrecherin einer neuen Zeit dem verrotteten Absolutismus ihrer angestammten Dynastien vorzogen. Am besten für die freie Fortentwicklung der Demokratie und für die allgemeine Abrechung der Sozialismus mit der alten Gesellschaft wäre es freilich gewesen, wenn der Krieg so ausgegangen wäre, wie es vor dem Eintritt Amerikas möglich schien, daß er enden würde, ohne Sieger und Besiegte. Aber da dies nun einmal nicht mehr möglich war, so wurde die Niederlage der Mittelmächte geradezu zu einer Bedingung jeglicher Volksfreiheit. Wie anders hätte man mit dem preußischen Militarismus und mit dem habsburgischen Absolutismus fertig werden können? Es ist nicht auszudenken, welches Übermaß von Reaktion über die Welt gekommen wäre, welche politische und soziale Knechtung, wenn Kaiser Wilhelm seinem Siegerwillen hätte frönen können, wenn die preußische Militär- und Junkerkaste die herrschende Klasse der Welt geworden wäre.

            Dieser Alpdruck ist bereits von uns hinweggenommen, und es war die Revolution, die ihn hinwegwälzte. Das Gewaltsystem des Militarismus hat aus sich selbst heraus seine Aufhebung gezeitigt. Und damit hat das schicksalsschwere Wort aus dem Kommunistischen Manifest, daß der Kapitalismus seine eigenen Tote erzeuge, auch seine Anwendung auf das gewaltigste Schutzmittel des Kapitalismus erfahren, auf den Militarismus. Auch der Militarismus erzeugt seine eigenen Totengräber. Indem der Kapitalismus gezwungen war, um seinen Eroberungsgelüsten zu genügen, immer mehr // Männer in den Dienst seiner Armeen hineinzupferchen, ist er schließlich dazu gelangt, das Volk zu bewaffnen. Aber die Waffen in der Hand des Volkes haben die verhängnisvolle Eigenschaft, daß sie nicht bloß dorthin gerichtet werden können, wohin sie die Herrschenden gerichtet sehen möchten, sondern daß sie in plötzlicher Wendung auch dorthin zielen, wo das Volk endlich seinen wirklichen Feind erblickt. Und hat das Volk erst erkannt, daß dieser wirkliche Feind gar nicht notwendig außerhalb der Landesgrenzen steht, daß es vielmehr die kapitalistisch-imperialistische Herrenkaste ist, die es in Krieg und Feindschaft mit dem äußeren Feinde verwickelt hat, um nur desto besser und sicherer ihre eigene Herrschaft und Ausbeutung erhalten und vergrößern zu können – hat erst einmal das bewaffnete Volk diesen Feind erkannt, dann ist es mit der Herrschaft desselben für immer vorbei. Dann mag der Staat durch das Versagen seiner Wehrkraft und durch die Invasion des äußeren Feindes eine Niederlage erlitten haben. Dies bedingt unter den heutigen Verhältnissen bloß eine vorübergehende Fremdherrschaft. Das Volk des besiegten Staates selbst aber feiert einen großen und entscheidenden Sieg über seine dauernden Feinde, über die Fremdherrschaft seiner unterdrückenden und ausbeutenden Klassen. Schon steht verheißungsvoll die deutsche sozialistische Republik vor den staunenden Augen der Mitwelt da, und im stürmischen Drang bereitet das Proletariat auch bei uns sich vor, diesem leuchtenden Beispiel zu folgen.

            Und das ist der Punkt, in welchem der Krieg, der sonst die größten Hoffnungen der Entente erfüllt hat, doch so ganz anders ausgegangen ist, als sie es erwartet hat und ihr recht sein kann. Die Heere der Entente ziehen zwar in ein geschlagenes Land, aber in ein revolutioniertes Volk ein. Sie finden keine niedergeworfenen Staaten: denn diese existieren nicht mehr, sie sind von dem jäh erstarkten Volkswillen hinweggefegt worden. Das alte Österreich, dieses Zuchthaus seiner vielsprachigen Völker, die übermächtige Adelsrepublik des alten Ungarn, die preußisch-deutsche Militärmonarchie – sie alle sind gewesen und an ihre Stelle sind neue Staaten getreten, in denen zwar noch nicht überall das Proletariat die Herrschaft anzutreten vermochte, was aber dadurch wettgemacht ist, daß dies in dem mächtigsten und größten dieser neuen Staaten, in der deutschen Republik, der Fall ist. Die Tatsache der deutschen sozialistischen Republik gibt der geschichtlichen Situation, die nun nach Beendigung des Krieges eingetreten ist, viel mehr das Gepräge als der Sieg der Entente.

            Denn allerdings steht der Ententekapitalismus noch ungebrochen da und zeigt seine ganze hemmungslose Raubtiernatur in den Waffenstillstandsbedingungen, die er den einzelnen Teilen der ehemaligen Zentralstaaten aufgezwungen hat. /780/ […]

An der Macht des deutschen Proletariats wird sich die Kraft der sozialistischen Bewegung in den Ententestaaten ebenso entzünden, wie sich die unsrige an der Revolution Rußlands entzündet hat. Auch der großmächtige Imperialismus der Entente wird daran glauben müssen und den lebendigen Sinn des alten Wortes an sich erfahren: Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen. Und der Gott, der sie in Gang bringt, das wird die wieder erstehende Internationale sein. //

            Nun halten wir selbst in Deutschösterreich allerdings erst bei einer bloß politischen Revolution. Wir haben erst nur die bürgerliche Republik aufgerichtet. Aber wer sich von dieser Einschätzung der bei uns vollzogenen Umwälzung allein leiten ließe, ginge mächtig an ihrer eigentlichen geschichtlichen Bedeutung vorbei. Für Österreich und ebenso für Ungarn liegt das eigentlich Revolutionäre in diesem ersten Abschnitt in der Zertrümmerung des alten alten Habsburgerreiches und damit in der endlichen Befreiung von der würgenden Fessel des Nationalitätenstreites, der jede politische und noch mehr soziale Entwicklung unmöglich gemacht hat. Hier mußten also zuerst die neuen, national einheitlichen Staaten aufgerichtet werden, was zunächst nicht anders möglich war als in der Form der bürgerlichen Republik, das heißt in der Form eines einheitlichen Vorgehens aller Klassen der Nation. Diese nationale Konstituierung hat aber, soweit die Sozialdemokratie in Betracht kommt, die sich ja zur Hauptträgerin dieser Forderung gemacht hat, ganz und gar nichts mit Nationalismus zu tun. In der Forderung nach einem deutschösterreichischen Staat ist die deutsche Sozialdemokratie in Österreich nicht etwa auf einmal deutschnational geworden. Sondern diese Forderung nach nationaler Trennung und staatlicher Konstituierung der einzelnen Völker des alten Österreich ist nur die Verwirklichung der revolutionären Forderung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. […] Das ist fürwahr kein Nationalismus, sondern die einfache Vorbedingung jeder wirklichen Demokratie. Weil sie aber das deutsche Volk in Österreich zugleich befreit von dem unfruchtbaren Streit mit Tschechen, Polen und Südslawen, weil sei endlich die Möglichkeit schafft, nunmehr statt des Nationalitätenstreites der ganzen Völker den Klassenkampf des deutschen Proletariats gegen die deutsche Bourgeoisie auf die Tagesordnung zu setzen, darum ist diese bis jetzt nur erst bürgerliche Revolution zugleich ein großer und bleibender Gewinn für das Proletariat.

            Und das gleiche gilt von von der Erringung der Demokratie. Kein Zweifel: für uns ist die Demokratie kein Selbstzweck, nicht sie ist das Ziel, sondern die sozialistische Gesellschaft. Aber die Demokratie ist dazu das unerläßliche Mittel, weil erst sie dem Emanzipationskampf des Proletariats jene Bewegungsfreiheit verschafft, die es braucht, um zur Macht zu gelangen. Die Vorgänge und das Schicksal des Sozialismus in Rußland// beweisen, wie verhängnisvoll der Weg in die Irre führt, welcher meint, die Demokratie durch die Diktatur ersetzen zu können, die sich zwar Diktatur des Proletariats nennt, aber, weil Diktatur bloß einer kleinen Gruppe desselben, eher eine Diktatur gegen das Proletariat ist. […]

            Unser Ziel aber, das nicht etwa als ein fernes zu betrachten ist, sondern als eine Sache, die heute unsere unmittelbare politische Tätigkeit praktisch zu bestimmen hat, ist die sozialistische Republik; und deren Verwirklichung gilt die von der Sozialdemokratie als treibende Kraft durchgesetzte Forderung des Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich. Auch der Sinn dieser vielfach von dem Proletariat noch gar nicht in seiner revolutionären Bedeutung erfaßten Forderung ist kein in erster Linie nationaler. Wir unterschätzen durchaus nicht auch die nationale Seite unserer Forderung. Im Gegenteil, es erfüllt uns mit hoher Genugtuung, daß gerade die sozialistische Politik des Proletariats dazu ausersehen ist, den Traum so vieler deutscher Generationen zu erfüllen und das Ideal zum Besten unseres Volkes zu verwirklichen: die politische Einheit des deutschen Volkes. Aber dieses nationale Interesse ist nicht das Entscheidende für unsere Stellungnahme, so verscheiden es selbst in diesem Falle von dem der Deutschnationalen wäre. Denn nicht das Deutschland des Imperialismus, das Deutschland des „herrlichen Kriegsheeres“ und der der Flottenbegeisterung ist es, zu dem wir Sozialdemokraten stoßen wollen. Dieses ist vielmehr dem Arbeiter bei uns ebenso verhaßt gewesen, wie es den Haß der ganzen Welt auf sich gezogen hatte. Was der Gegenstand der Begeisterung studentischer und „völkischer“ Deutschprotzerei war, das Deutschland Bismarcks mit seinem Sozialistengesetz, das Deutschland der Hohenzollern mit seinem persönlichen Regiment und seiner Junkerherrschaft, dem waren wir stets aus ganzer Seele feind. Aber wir liebten und bewunderten stets das Deutschland der Dichter und Denker, das Deutschland der // Erfinder und Entdecker, des werktätigen Fleißes und der zielbewußten Organisation. Und darum schätzen wir dieses Deutschland als das Land der höchstentwickelten produktiven Arbeit und zugleich der höchsten geistigen Kultur, als das Land, in welchem, wenn überhaupt irgendwo, alle objektiven und subjektiven Bedingungen für die Verwirklichung des Sozialismus bereits gegeben sind. Wenn daher die Begeisterung für den Anschluß an Deutschland  hier zuerst beim Bürgertum recht hoch stieg, während die Arbeiter noch eher zurückhielten, so bemerken wir bereits jetzt, unter dem Einfluß der Aufrichtung der sozialistischen Republik in Deutschland, wie wenig echt diese bürgerliche nationale Begeisterung war, da sie schon bedeutend abzuflauen beginnt, seitdem es klar wird, daß es nicht die schwarz-rot-goldenen Fahnen und schon gar nicht die schwarz-weiß-roten Fahnen sind, zu denen wir stoßen werden, sondern die roten Fahnen. Für die Arbeiter aber wird es im selben Maße klarer, daß unser Anschluß an Deutschland keine deutschnationale Politik ist, so wenig, als die rote Fahne eine nationale Fahne ist, sondern daß dieser Anschluß eine direkte Folge unserer sozialistischen Politik ist und eine unbedingte Forderung für ihre Fortentwicklung.

            Denn Deutschösterreich, das für sich allein keine wirtschaftliche Selbständigkeit behaupten kann, ist heute auch noch nicht imstande, den Sozialismus für sich allein zu verwirklichen. Dem stehen noch der überwiegend agrarische Charakter unseres Landes entgegen. Als ein Teil des großen Deutschen Reiches aber entscheidet sich unser Schicksal mit dem des ganzen deutschen Volkes. Als ein Teil der deutschen sozialistischen Republik ist der Fortbestand einer bloß bürgerlichen Republik bei uns unmöglich. Indem wir unseren Anschluß an das deutsche Volk vollziehen, werden wir durch seine soziale Kraft mit einem Male auf eine Entwicklungsstufe hinaufgerissen, die wir allein erst beträchtlich später zu erreichen vermöchten.

[…] //

            Der Krieg ist aus und er endet mit einer Weltenwende. Ja, jetzt wird erst vollends klar, was wir Sozialisten schon immer während des Krieges von ihm sagten, daß er selbst schon der Beginn dieser Weltenwende war, der Beginn des Zusammenbruches der bürgerlichen Welt.

In: Der Kampf, H. 12/1918, S. 776-784.

Otto Koenig: Der Geist ist los! (1919)

„Erscheinungen wie die als Expressionismus bezeichnete, sind niemals Gebilde einer bestimmten Gegenwart, ihre Existenz erreicht vielmehr kometenhaft aus ferner Dunkelheit in großgeschwungener Ellipse unser Sehfeld, Spur und Eindruck hinterlassend, ehe sie aufgeht im Allgemeinen.“

Max Krell

Wäre der Expressionismus nichts anderes und nicht mehr als eine Kunstrichtung, die, im Gegensatz zu Naturalismus und Impressionismus, die den äußeren Eindruck, den die Erscheinungswelt  auf den einzelnen macht, in Wort, Ton und Bildwerk festzuhalten versuchten, nach dem Ausdruck innerlicher, geistiger – wie viele meinen ‚absoluter’ – Wesentlichkeit ringt, so wäre wenig Veranlassung, uns mit solchem reinen Kunststreben an dieser Stelle auseinanderzusetzen, Der Expressionismus ist aber mehr als eine bloße Kunstrichtung. Ja er ist in seines Wesens innerstem Kern überhaupt keine neue ästhetische Richtung, sondern eine alte ethische. Dies wäre nicht nur durch die analytische Betrachtung expressionistischer Kunstwerke, sei es Dichtung, Malerei oder Skulptur, sondern auch durch Hunderte von Zitaten aus Werfel und Leonard Frank, aus Hasenclever und Georg Kaiser zu belegen. Doch mögen hier allein die zwei kräftig illustrierenden Worte von Max Krell und Alfred Wolfenstein genügen, die Worte: „Religiöse Ekstatik nach innerer Genesung geht neu durch alle“ und „Wenn Seele lacht, muß Körper heulen.“

Bei genauerer Betrachtung zeigt der Expressionismus mit seinem Kult der eigenen Seele, seinem Streben nach innerer Reinheit bei Gleichgültigkeit gegen äußerliche Unappetitlichkeit (Anachoretismus), Abkehr von Wirklichkeit und Sinnlichkeit, Hinneigung zu spiritualistischen, zeitlosen und absoluten Idealen (Askese), mit seinem Bußwillen und Bekehrungseifer (Exorzismus, Flagellantismus) sehr deutlich die Züge jener ebenfalls zum Kunststil zusammenkristallisierten Geistesrichtung, die man die Gotik (13. und 14. Jahrhundert) nennt.

Auf diese charakteristische Eigentümlichkeit hat meines Wissens zum erstenmal ausdrücklich Hermann Bahr, seiner gegenwärtigen Denkweise entsprechend natürlich mit Genugtuung hingewiesen. Gegenwärtig erkennen die Expressionisten – und solche, die es eben werden – die Beziehung zur Gotik bewußt an. „Die Kunst ist eine Etappe zu Gott!“ erklärt Kasimir Edschmidt. Was man nur im Anblick eines gotischen Spitzbogens nachzufühlen vermag. Max Krell spricht von den „gotischen Rippen“ der neuen Geistesrichtung und Hermann Kesser gibt unzweideutig den Feldruf: „Befreit die religiöse Inbrunst aus den gotischen Türmen!“

Also Gotik im 20. Jahrhundert!

Der historisch geschulte Blick macht angesichts solch seltsamer Wiederkehr keineswegs erstaunte Augen; diese Art von Revenant ist ihm nicht gespensterhaft. Ein Blick auf die durch die Wirtschaftsform des Kapitalismus bedingte, technisch-naturwissenschaftliche letzte Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ eine spiritualistische Reaktion mit Sicherheit seit langem erwarten. Daß der nun „los“ gewordene Geist („Der Geist ist los“ ist der Kampfruf der Gotik von 1918, wie „Gott will es“ die Parole der Kreuzfahrer war) in einer an mittelalterlichem Geschmack gemahnenden Gewandung einhertritt, ja daß er Feuer vom ewigen Licht gotischer Dome gezündet hat, ist ein auffälliger, aber nicht überraschender geschichtlicher Parallelismus […]

Aber hat nicht der Krieg und der endliche Zusammenbruch vergreister politischer Systeme…?

Gewiß hat der Krieg und der Zusammenbruch die neue Begeisterung – gekräftigt, rasch gereift, ihr Ziel und Richtung gewiesen, nicht jedoch hat er die erst geschaffen. Wer die Literaturgeschichte der Vergangenheit kennt, weiß, daß der landläufige Lehrsatz der Schulliteratur: „Der Dreißigjährige Krieg hat den Niedergang der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert verschuldet“, unrichtig ist. Dieser Niedergang war schon vor Beginn des Krieges merkbar.

Wer die zeitgenössische Literatur im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts verfolgt hat, weiß, daß das, was heute unter dem Namen Expressionismus in Erscheinung tritt, schon vor dem Krieg auf dem Marsche war […] durch die politischen Ereignisse ist die Bewegung nicht allein gefördert, sondern auch nach der politischen Seite hin umgebogen worden. Von Leonhard Franks politischer Epik, wie sie in seinem Novellenkranz „Der Mensch ist gut“ gewaltig einhertritt, von Göhring, Kaiser und Hasenclever, bei denen die politische Tendenz immer wieder augenfällig zutage tritt, ganz abgesehen! Auch anscheinend rein psychologische Dichtungen wie Hermann Kessers Tragikomödie „Summa Summarum“ sind politisch, sozial eingestellt und sogar in einer anscheinend so individuellen und rein rein innerlich seelischen Tragödie wie Hermann Böttichers ernstem Spiel „Die Liebe Gottes“, weist es sich bei näherer Betrachtung, daß diese unerquickliche Geschichte von der missglückten Bräutigamschaft Achims des Preußen, bei der man sich nur wundert, warum „das Spiel“ ohne augenscheinlichen Zusammenhang mit der Handlung „unter den Schüssen der abendländischen Revolution“ vor sich gehen muß, nichts anderes darstellen soll als die deutsche Revolution, die nach Böttichers Meinung wie die Heldin des Stückes Lili unter den symbolischen Stimmen des Geistes des Aufstiegs und des Geistes des Untergangs, ins Altgewohnte, Hergebrachte und Vergestrigte umkippt.

Die Tendenz des Expressionismus bildet also eine interessante Synthes von Gothik und sozialem Revolutionismus. An Tollers Person ist sie am deutlichsten zu sehen, in Heinrich Vogelers Aufsatz „Expressionismus der Liebe“ am deutlichsten zu lesen.

Die christliche Liebe der Gotiker der Gegenwart erscheint als Pazifismus und Sozialismus, der Glaubens- und Bekehrungseifer als Revolutionismus. Trotzdem wäre es falsch, im Expressionismus etwas wie eine verbündete Macht zu sehen, die Expressionisten der Liebe als Genossen zu begrüßen. So sehr auch ihre Liebe von Sehnsucht überfließt, sie sehen sich nicht um – wer mitgenießt – und neigen in ihrer Abkehr vom Sinnlichen eher zum Askesenwort: „Genießen macht gemein!“ Ihr Sozialismus ist nicht unmittelbar nach Wohlfahrt gerichtet, sondern auf Mitleiden eingestellt, ihr Revolutionismus zielt nicht unmittelbar auf Besserung, sondern vorher auf Reinigung.

Wieder nur eine Zeugnis für viele! In Böttichers schon erwähntem Gedicht „Die Liebe Gottes“ sagt der „Herr von Kerr“ deutlich als Wortführer des Dichters: „Es gibt Menschen, denen ist sichtbar eine Dornenkrone aufgesetzt, aber es muß eine Gnade sein, denn sie leuchtet meist […]

Die gotisch-mystische Basis des Sozialismus und Revolutionismus der Ausdrucksfanatiker ist also die alte asketische Philosophie von der Gottgewolltheit und Erziehungskraft des Leides – nicht umsonst sehen ja manche Expressionisten in Strindberg ihren Vorläufer, nicht umsonst hat ja die katholische Kirche die „religiöse Sehnsucht in der modernen Literatur“ durch den Mund literierender Jesuiten, zum Beispiel des Pater Browe auf der Akademieversammlung zu Tübingen, wenn auch mit der Einschränkung, daß sie doch nicht gottgläubig genug sei, gerühmt – und die Grundlage ihrer mit der urchristlichen , opferwilligen ‚agape’ enger als mit modernem, pflichtbewusstem, Genossenschaftswillen verwandten, revolutionären Tendenzen ist rein spiritualistischer Natur.

So fundierter Wille zur Katharsis (Reinigung) bedeutet für den wirtschaftlichen Sozialismus buchstäblich Ketzerei! Wirklich scheint der tragende Gedankengang der Neugotiker entgegengesetzt dem der materialistischen Geschichtsauffassung zu verlaufen: erwartet diese von einer allgemeinen Hebung wirtschaftlicher Wohlfahrt auch eine automatisch folgende Hebung des geistigen und sittlichen Niveaus, so erklären jene: „Das unaufhörliche menschliche Wandern nach dem geistigen Ziel ist der einzig unumstößliche Inhalt der Geschichte.“  

In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatszeitschrift, 1921, S. 164-167.

Neon  [= Robert Ehrenzweig]: Agitationstheater

             Dem Bürgertum stehen in seinem Kampf um die geistige Beherrschung der Massen zwei wichtige Bundesgenossen zur Seite: die reaktionäre Kunst und der reaktionäre Kitsch. Es sind gefährliche Feinde des sich befreienden Proletariats: die Kunst, weil sie über jede Kritik erhaben zu sein scheint, der Kitsch, weil er unter jeder Kritik ist. Die Kunst, weil man die Bindung an die bürgerliche Klasse nicht erkannt, deren Ausdruck sie ist, der Kitsch erkennt, die durch ihn vollzogen wird. Reaktionäre Kunst und Kitsch des Bürgertums beeinflussen das Gefühlsleben der Massen und ihre geistige Stellungnahme. Sie nehmen Besitz von ihren Nerven, betäuben ihr Denken, verfälschen ihre Instinkte, wirken auf Lachmuskeln und Tränendrüsen – im Dienste der Bourgeoisie. Es sind hinterhältige Feinde: sie verstehen es, sich in proletarische Veranstaltungen einzuschleichen, machen sich als verlogene, reaktionäre Filme breit, als Revuen und Operette, die den Militarismus, die k. k. „gute alte Zeit“ und überhaupt die ganze bürgerliche Gesellschaftsordnung verherrlichen.

             Das erste Gebot bei der Veranstaltung proletarischer Feier ist: nur politisch einwandfreie Werke dürfen geboten werden. Es darf nicht zugelassen werden, daß der Proletariat, der den schweren Kampf gegen die wirtschaftliche und politische Ausbeutung führt, in seinem Vergnügen der geistigen Ausbeutung durch das Bürgertum bedenkenlos ausgeliefert wird. Es gibt eine nicht unbedeutende Anzahl bürgerlicher Kunstwerke, die revolutionären, zumindest politisch neutralen Inhaltes und dem Empfindungsleben des Proletariers nahe sind. Diese gehören in das Programm proletarischer Veranstaltungen – wohlgemerkt, nur dann, wenn sie nicht zu schwierig sind. Sind sie jedoch nicht allgemein verständlich, so muß sogar vor ihrer Aufnahme gewarnt werden; nicht erfaßt, würden sie das proletarische Publikum nur langweilen und abschrecken und erst recht zu reaktionären Kitsch drängen.

             Die Zahl sozialistischer Kunstwerke ist leider noch gering und ein nicht unbeträchtlicher Teil derselben ist der Gefühlswelt des Proletariats fremd. Wie soll nun das Programm proletarischer Veranstaltungen bestritten werden, wenn die geeigneten Werke bürgerlicher und sozialistischer Künstler nicht ausreichen?

             Das Agitationstheater ist ein Versuch, dieses Problem wenigstens teilweise zu lösen. Welche unerschöpfliche Möglichkeiten gibt es, die Bühne unserem großen Kampf einzuordnen: Wirrwarr und Folgerichtigkeit der Wirklichkeit im Rampenlicht vorüberziehen zu lassen, Kontraste des Lebens mit photographischer Treue wiederzugeben, zu übersteigern, zu karikieren, alle die Erbärmlichkeiten und Niederträchtigkeiten der Gesellschaft, in die hineingeborenen zu sein wir die Ehre haben, in dem Gelächter der Satire auflösen! Welche Aufgabe, den Mut und den Kampfeswillen der Genossen zu stärken, die Schwankenden mitzureißen, die Uninteressierten zu gewinnen! Was geht denn den Proletarier die Erbschaft an, die dem schönen Leutnant Harry allabendlich nach dem Tode seines Olmützer Onkels die Hand der blonden Mia und damit der Revue das erwartete glückliche Ende bringt? Das Denken, die Probleme des Arbeiters gehören in das Theater, das der Arbeiter besucht! Es ist menschlich verständlich, daß  der Proletarier sich nach der bunten Fabelwelt der bürgerlichen Revue sehnt, in der die drückende Last des Alltags sich löst im leichten Dahinschweben schöner Frauen, im Feuerwerk der Erotik, in der die Träume Seifenblasen sind, die schimmern und nicht zerplatzen, in der allen Wünschen goldene Erfüllung winkt, in der die nackten Beine der Girls die Tretmühle des Lebens vergessen machen und das häßliche Gestern und das häßliche Morgen versinken – weil sich am Schlusse alles glücklich findet. Es ist eine Welt der rosigen Klassenharmonie, der gutmütigen Menschen, über den Kulissen schwebt Versöhnung und im Wortschatz der Revue kommt das Wort „Ausbeutung“ nicht vor. Und das ist die Gefahr der bürgerlichen Revue und Operette (denn sie sollen hier keiner ästhetischen, sondern einer politischen Kritik unterzogen werden): sie täuscht über Klassengegensätze hinweg, schläfert das Klassenbewußtsein ein und wird so, bewußt oder unbewußt, Machtinstrument des Bürgertums, Mittel zur Festigung der bürgerlichen Ideologie.

             Das Leben des Proletariers, die Ideenwelt des Sozialismus – reich genug sind sie an Problemen, Tragödien und Freuden, an Sehnsüchten und Enttäuschungen und starkem Willen, daß daraus dramatischer Stoff in Überfluß geschöpft werden kann. So kann die Bühne dem Proletariat erobert werden, kann Waffe in der Hand des Arbeiters sein, mit Pathos und Satire ihre Macht auf die Geister ausüben. Das Agitationstheater ist nicht gezwungen, Illusionen aus dem Nichts zu zaubern, es wirkt durch die Unmittelbarkeit des Bühnengeschehens, durch die Stoffnähe und die Einheit der Gesinnung, die Spieler und Publikum verbinden, aufpeitschen, bis zur Ekstase erregen, daß die Grenzen zwischen Bühne und Zuschauerraum schwinden, daß Spiel und Wirklichkeit eines werden und die Seelen zusammenschlagen in den Flammen des Erlebnisses. So rissen die großen Spiele der französischen Revolution die Massen mit, so entflammte das revolutionäre Theater Meyerholds das russische Proletariat, so wirken die „Politischen Kabaretts“ und politischen Wanderbühnen in Rußland, Deutschland, Österreich. Da muß nicht viel gedichtet werden; die Weltgeschichte selbst ist Autor, eine Zeitung wird im Handumdrehen zum Politischen Kabarett, das Tagesereignis zur Stehgreifszene und Dilettanten reißen das Publikum zu unerhörtem Gelächter und zu tobender Begeisterung mit. Und wie das Agitationstheater seinen Stoff der Weltgeschichte entnimmt, so greift es selbst in die Weltgeschichte ein: in kleinem gestaltend, ist es ein Teil der größten Geistesbewegung, Dienerin der größten Idee der Menschheit, des Sozialismus.

             Ob das „Kunst“ ist? Das Agitationstheater will nicht ästhetisch gewertet werden. Es will nicht Kunst sein! Es will Leben sein, Teil des Lebens des Proletariats, Waffe in seinem Befreiungskampf.

In: Sozialistische Veranstaltungsgruppe (Hg.): Das Politische Kabarett, Wien 1929, S. 2-4.

Alfons Wallis: Kunst und Sozialismus. Offener Brief an den Herausgeber

                        Sehr geehrter Herr!

            In Ihrer Ansprache an die Fachgruppe der Künstler und Schriftsteller der Sozialistischen Vereinigung geistiger Arbeiter, in der ganzen Diskussion jener Versammlung, schien mir dieses verwirrend vermischt: die neue Einstellung zu einer veränderten Wirtschaftsform, eine Neueinstellung, die der Künstler natürlich wie jeder aus jedem anderen Beruf vornehmen muß: das zweite aber wäre jener Umstand, der mir allein das Recht auf den Titel „sozialistischer Künstler“ zu verleihen scheint; eine sozialistische Geistigkeit, Nerven und Gestaltungskraft, die ihren Motor in einer sozialistischen Kultur haben. Da ich unter den Berühmtesten unserer Zeit so wenige weiß, deren Mentalität sozialistisch ist, fürchte ich, daß Sie auch unter den weniger Berühmten allzu wenige dieser Art finden werden. Diejenigen aber, die eben auch in einem sozialistischen Staat leben wollen, womöglich besser leben wollen, deren Geistigkeit, deren Werk aber etwa aus einer aristokratischen, einer bürgerlichen und namentlich aus gar keiner Kultur stammt, werden offenbar recht zahlreich zu Ihnen gehen. Zum Nutzen des Sozialismus? Keinesfalls zum Nutzen der Kunst.

            So werden wahrscheinlich der Vereinigung sozialistischer Künstler die einzig Wichtigen fehlen: die Künstler, denen Sozialismus innerstes Erlebnis ist, nicht günstige und günstigere wirtschaftliche Tatsache. Erlebnis ist aber ein Metaphysikum, das man wohl schwerlich beschwören kann. So erschien es einigermaßen merkwürdig, als ein Kunsthistoriker in einer Versammlung ernstlichst vorschlug, durch theoretische Vorträge in Vereinigungen von Malern und Musikern Künstler für den sozialistischen Geist zu gewinnen. Wäre es mehr als ein verzweifeltes Wahlmanöver, hätte es etwas mit diesen Menschen in ihrer Eigenschaft als Künstler zu tun? Wer dürfte es wagen, „den Teil der Künstlerschaft, der heute noch dem Sozialismus fernsteht, in unser Lager zu ziehen“? Übrigens wird der Geist der sozialistischen Kultur wie der jeder anderen, seine eigene Kunst schaffen, seinen Künstlern wird er neue Lebensmöglichkeit, neue Vitalität sein, er ist in Gerhart Hauptmann, in Käthe Kollwitz, in manchem anderen Künstler von heute; aber vom Standpunkt der Kunst selbst ist natürlich eine sozialistische keineswegs wertvoller als eine adelige oder bürgerliche. Jede neue Zeit ist der Tod der Kunst des vergehenden Zeitalters: eine Fülle Herrlichkeit versinkt, weil andere Menschen sind, denen sie unnotwendig geworden ist. Die neue Kunst wird aber immer kommen, sobald sie ein Naturbedürfnis ist.

            Während mir dieses Ziel Ihrer Vereinigung, dem Sozialismus fremde Künstler in sozialistische zu verwandeln, weniger gefährlich denn unmöglich erscheint, so sehe ich in der wirtschaftlichen Organisation keine ganz harmlose, übrigens nicht neue Angelegenheit. Unverhältnismäßig viel Gleichgiltiges und Unfähiges wird geschützt, anstatt bekämpft zu werden. Es gilt eben das in diesem Fall Nichtssagendste, rein manuelle: Feder und Pinsel. Was wiegt der Fall auf, daß auf dem Theater zu X ein unerkanntes Genie um 100 Kronen monatlich spielen muß, verglichen mit der Tatsache, daß sich jährlich Hunderte Unfähiger zur Bühne drängen, weil es leichter ist als Postamt und Büro. Und sollte selbst um der wenigen Auserwählten willen der ganzen Masse ein Privileg erteilt werden, so wäre dem Mann, auf den es ankommt, erst recht wenig geholfen: er schriebe noch immer für die Schreibtischlade und wäre unerkannt wie zuvor. Da ist kein Unterschied zwischen einem kapitalistischem und einem sozialistischen Staat, übrigens ist die Not der Künstler wohl durch eine Überproduktion zu erklären. Es ist nicht wahr, daß das Volk nach Mozart schreit und „Torquato Tasso“, nach Schönberg und Spitteler. (Gern nimmt man das als Vorwand bei all den Versammlungen). Wie sollte auch für die Krönung einer Kultur Interesse vorhanden sein, wenn deren Fundamente wanken, wenn nicht ihre primitivsten Voraussetzungen vorhanden sind? Kunst ist das Endprodukt einer Kultur, sie muß aus dem Glück, der Fülle, dem Überfluß einer Klasse, eines Volkes wachsen. So brachte ein reiches Bürgertum kein kleines an Kunst hervor. Was kann der Künstler schon heute fordern vom sozialistischen Staat? (Welch kühnes Vokabel im Feber 1919!) Sein Tag wird kommen, wenn aller Tag kommt. Und bis dahin?

            Es war von einem Kunstministerium die Rede. Einer unserer berühmtesten Musiker sagte in dem Gespräch: „Was könnte ein Staatssekretär für Musik anderes tun, als sich um die bessere Ausnützung der Wasserkräfte für industrielle Zwecke zu kümmern?“

            Wer von den Künstlern dazu Mut und Kraft verspürt, der arbeite mit, nüchtern, sachlich, in der Partei, im täglichen Leben! Die übrigen mögen wie bisher weiterarbeiten: malen, komponieren, dichten. Und schweigen!

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 7, 14.2.1919, S. 160-161.

Max Adler: Die Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung

Aus einem Vortrag, gehalten auf der Landestagung der Arbeiterbildungsausschüsse Sachsens in Dresden am 12. und 13. Mai 1926. Der Vortrag erschien vor kurzem als Broschüre im Verlag des sächsischen Landesausschusses für sozialistische Bildungsarbeit. – In Österreich ist die kleine Schrift durch die Wiener Volksbuchhandlung, Wien VI, Gumpendorferstraße18, zu beziehen. [Anm. d. Red.]

Arbeiterbildung muß gesellschaftliches Wissen sein

            Die Arbeiterbildung hat seit jeher ein Hauptinteresse der sozialistischen Arbeiterbildung ausgemacht, ja man kann sagen, daß die Entwicklung des Sozialismus als proletarische Massenbewegung zusammenfällt mit dem Streben des Proletariats, sich aus eigener Kraft zur geistigen Selbständigkeit und Höherbildung zu entfalten. Und daher gehören ja auch die Arbeiterbildungsvereine überall zu den ältesten Organsationen des sozialistischen Proletariats.

            Hiebei tritt aber gleich von allem Anfang an ein bemerkenswerter Umstand hervor, welcher den Bestrebungen der Arbeiterbildung ihren besonderen Charakter gibt und sie sofort scharf von der bloß bürgerlichen Aufklärung und Volksbildung unterscheidet. Es handelt sich nämlich bei den Bildungsbestrebungen des Proletariats überall nicht bloß um die Ergänzung der nur allzu kärglichen Schulbildung, also nicht bloß um die Ausbildung oder Fortbildung in den allgemeinen Schulfächern, sondern gerade um das, was in dem traditionellen Schulunterricht nicht bloß der Volks-, sondern auch der höheren Schulen gar nicht gelehrt wird. Der gesamte traditionelle und offizielle Unterricht kennt bisher die Wissenschaft lediglich als Naturwissenschaft. Und so ist die wissenschaftliche Bildung, die er vermittelt, auch im wesentlichen eine bloß naturwissenschaftliche. Nur die Gesetze des Naturgeschehens kommen als wissenschaftliche Lehren in Betracht; daß es aber auch Naturgesetze des gesellschaftlichen Lebens und des geschichtlichen Werdens und Vergehens gibt, davon ist in dem bürgerlichen Schulunterricht keine Rede. Gerade aber die Sozialwissenschaft interessiert den Arbeiter am meisten. Denn wenn auch die Gesetze, nach welchen die Körper zu Boden fallen, natürlich auch für den Proletarier interessant und wichtig sind, weil sich auf deren Kenntnis erst das Verständnis der Natur und der menschlichen Technik aufbaut, so knüpft doch noch ein viel tieferes Interesse, nämlich das Interesse seines Lebensschicksals, an die Erkenntnis jener Gesetze, welche die Gestaltung der Gesellschaft und ihre notwendige Entwicklung in die Zukunft bestimmen. Die Arbeiterbildung ist daher von allem Anfang an mehr als bloße naturwissenschaftliche oder geographisch-geschichtliche oder ästhetisch-literarische Bildung gewesen. Sie ist vor allem auf die Erkenntnis der gesellschaftlichen Welt, in der das Proletariat lebt, gerichtet gewesen und hat in erster Linie nach sozialwissenschaftlicher Vertiefung gestrebt. Und sie konnte das, weil die großen Begründer des modernen Sozialismus, Marx und Engels, zugleich auch die großen Schöpfer der modernen Sozialwissenschaft geworden sind. Denn der eigentliche Sinn und das eigentliche Ziel der wissenschaftlichen Arbeiten von Marx und Engels ist die Erforschung der Gesetze des gesellschaftlichen Lebens und seiner Entwicklung. Dies führte in spezieller Anwendung auf die heutige Form der Gesellschaft, das heißt auf die kapitalistische Gesellschaft, zur sozialwissenschaftlichen Darlegung des Wesens der kapitalistischen Wirtschaft und ihrer notwendigen Entwicklung zur sozialistischen Gesellschaft.

So ist die Arbeiterbildung im Sinne der sozialwissenschaftlichen Aufklärung und Schulung zu einer Hauptgrundlage des modernen Sozialismus geworden, und mit vollem Rechte haben Marx und Engels diesen daher den wissenschaftlichen Sozialismus genannt. Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß einer der Hauptfaktoren der revolutionären Einstellung des Proletariats  gegen die bürgerlich-kapitalistische und nicht bloß die gefühlsmäßige Auflehnung gegen die ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung ist, sondern ebenso auch die wissenschaftliche Erkenntnis der notwendigen Mängel und Widersprüche der bürgerlischen Gesellschaft sowie der Mittel ihrer Überwindung. Und daher kommt es, daß die Bildungsorganisationen des Proletariats nicht geringere Mittel seines revolutionären Klassenkampfes sind als die politischen, gewerkschaftlichen und genossenschaftlichen Organisationen. Ja man darf sagen, daß in der gegenwärtigen Lage des Sozialismus die Bedeutung der Bildungsorganisationen immer mehr anwächst und gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann.

Deshalb ergibt sich als dringendste Forderung des Tages die marxistische Bildung der Arbeiterklasse zu vertiefen und zu verbreiten. Das ist also die erste große Aufgabe der marxistischen Arbeiterbildung, den Proletarier  in den wissenschaftlichen Geist des Sozialismus einzuführen, hiedurch das proletarische Denken über die eigentlichen Interessen und Ziele der Proletariats  aufzuklären und das proletarische Fühlen zu stärken und damit das revolutionäre Klassenbewußtsein in der Arbeiterschaft allgemein zu machen.

Klassenkampf ist Kulturentwicklung

Es wird eine der großen Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung sein, den weitverbreiteten Vorwurf von Kulturlosigkeit, ja Kulturwidrigkeit des Klassenkampfes als das zu erweisen, was er wirklich ist, ein durchaus bürgerliches Vorurteil und Unverständnis. Freilich, wenn man sich unter Klassenkampf nichts anderes vorstellen mag als bloßes Toben und Wüten gewalttätiger Durchsetzung von Klasseninteressen, bei dem nur der Zufall der brutalen Übermacht entscheidet, dann ist es kein Wunder, daß bei einer solchen Anschauung der Klassenkampf als etwas durchaus Kulturfeindliches erscheinen muß. Aber diese Anschauung ist vom Standpunkt des Marxismus aus einfach lächerlich. Sie haftet bloß an der oberflächlichen Außenseite des Klassenkampfes, die allerdings noch zumeist den Mantel der Gewalt getragen hat.

Aber trotz dieser Unvermeidlichkeit von Gewalt im Klassenkampf bleibt der Klassenkampf selbst doch in seinem Wesen etwas durchaus Geistiges. Es handelt sich in erster Linie bei ihm um einen Bewußtseinsumwälzung bei den Menschen der aufsteigenden Klasse, es handelt sich darum, daß sie zum Träger einer neuen Gesellschaftsordnung, eines neuen gesellschaftlich-moralischen Prinzips werden, wo wie dies bereits ein anderer großer Lehrer des Proletariats, Ferdinand Lassalle, als das eigentliche Wesen der Revolution geschildert hat. Denn Revolution und revolutionärer Klassenkampf bedeuten nicht, wie Lassalle gespottet hat, die Spießbürgervorstellung von Barrikaden, Guillotine und an die Laterne geknüpften Gegnern, sondern diese Worte bedeuten den Einzug eines neuen Prinzips in die Köpfe und Herzen der Menschen , durch welches die alten  Vorstellungen und Zustände von Grund aus verändert werden. So betrachtet und so verstanden – er kann aber gar nicht anders richtig verstanden werden – , verliert also der Klassenkampf ganz und gar seinen brutalen und ungeistigen, ja kulturwidrigen Anschein. Er wird vielmehr jetzt ein Stück ringender Kulturentwicklung selbst und dabei zu einer Gewähr eines sicheren Fortschritts in der Geschichte.

Der proletarische Klassenkampf muß revolutionär sein

Diese Auffassung vom Klassenkampf in den Gemütern des Proletariats lebendig zu machen, wird eine Hauptaufgabe der marxistischen Arbeiterbildung sein. Sie muß die Erkenntnis verbreiten, daß der Klassenkampf ein revolutionärer sein muß, sie muß das Klassenbewußtsein des Proletariats zu einem revolutionären  Bewußtsein ausgestalten. Denn auch das ist wichtig: Nicht schon jeder Klassenkampf des Proletariats, nicht schon jede energische Vertretung seiner Klasseninteressen ist revolutionärer Klassenkampf. Revolutionär wird er erst, wenn eben jenes neue Gefühl des Denkens und Fühlens, von dem Lassalle sprach, also ein neuer Geist des Kampf des Proletariats beherrscht, welcher mit allen den Einrichtungen und Vorstellungen des alten kapitalistischen Welt von Grund aus brechen will.

Der Proletarier, der von solchem revolutionären Geiste durchdrungen ist, der ist selbst bereits innerlich von der alten Gesellschaft losgelöst, in der er äußerlich noch leben muß, er ist ein neuer Mensch geworden, der die alte Gesellschaft haßt und nicht ruhen kann, bis sie vernichtet ist. So bedeutet der Klassenkampf im marxistischen Sinn erst dann etwas Revolutionäres, wenn nicht bloß für die Besserung der Klassenlage des Proletariats gekämpft wird, sondern für die Beseitigung derselben. Und die Freiheitsbewegung des Proletariats beginnt nicht schon dort, wo bloß um politische und gewerkschaftliche Freiheiten gekämpft wird, sondern erst, wo darüber hinaus die Befreiung von dem Joche der Klassengesellschaft und der Aufbau einer neuen sozialistischen Welt erstrebt wird. Den Sinn für diese neue Gesellschaft in den Proletariermassen zu verbreiten, die geistigen und moralischen Energien  in ihnen zu wecken und zu fördern, welche notwendig sind, um das Alte zu überwinden und das Neue aufzubauen, das macht das innerste Wesen des revolutionären Klassenkampfes aus. Er ist, wie wir jetzt zusammenfassend sagen können, der stete Erneuerer der menschlichen Gesellschaft, weil er immer wieder die neuen Menschen schafft, welche die Gesellschaft erneuern wollen und müssen.

Die marxistische Arbeiterbildung schafft neue Menschen

Wenn wir alle die großen Aufgaben der marxistischen Arbeiterbildung in einen Gedanken zusammenfassen wollen, so ergibt sich dafür kein besserer und hinreißenderer Ausdruck als der, den der junge Marx für sein eigenes revolutionäres Gedankenwerk gefunden hat: „Reform des Bewußtseins.“ Schon am Anfang seiner gewaltigen Geistesarbeit schrieb er es nieder, daß das, was uns bitter not tue, eine Reform unseres Bewußtseins sei, das heißt, die Arbeiterklasse müsse sich ein neues Bewußtsein verschaffen, zu welchem sie durch die Erkenntnis von der Gesellschaft und den Gesetzen ihrer Entwicklung gelangen werde. Diese Erkenntnis wird, davon war Marx fest überzeugt, in den Arbeiterköpfen kein totes Wissen bleiben, sondern sich notwendig in zielbewußte, befreiende Tat umsetzen müssen. Eine solche Erkenntnis zu verbreiten und eine solche Tat mögliche zu machen, die kein zufriedenes Ausruhen gestattet auf dem Schatz erworbenen Wissens, sondern unablässig hinaustreibt, die gesellschaftlichen Konsequenzen  dieses Wissens zu ziehen und mit Entschlossenheit zu verwirklichen. Diese Konsequenzen führen zum Sozialismus. Und so wird das Licht des Marxismus nicht nur in unseren Köpfen die Helligkeit verbreiten, die jede Wissenschaft erzeugt, es wird auch in unseren Herzen das Feuer der Begeisterung erwecken und die Kraft entzünden, die immer unwiderstehlicher die alte Gesellschaft hinwegfegen und die neue heraufsteigen lassen wird.

In: Bildungsarbeit, Nr. 1 (Jänner) 1927, S. 1-3.

E. K. Stein: Ansprache an sozialistische Künstler

(Gehalten am 28. d. M. in der gründenden Versammlung der Fachgruppe der Künstler, Schriftsteller der „Soz. Vereinigung geistiger Arbeiter“.)

            So wie der Zusammenschluß der „Geistigen Arbeiter“ zu einer besonderen Organisation innerhalb der Sozialdemokratie keine Scheidung, aus Überhebung etwa, vom Handarbeiter darstellen sollte; vielmehr diese Sonderorganisation eben als wirksamstes Mittel gewählt wurde, um der Sozialdemokratie aus der Gesamtheit der „geistigen Arbeiter“ möglichst großen Zuwachs zu sichern; so führte auch die Künstler nicht Dünkel und Überhebung zur gesonderten Organisierung innerhalb der „geistigen Arbeiter“. Auch wir sehen in solchem engeren Zusammenschluß zunächst nur das geeignetste Werkzeug, auch den Teil der Künstlerschaft, der heute noch dem Sozialismus fernsteht, in unser Lager zu ziehen.

            Als Arbeiter bekennen wir uns alle: das Band, das uns alle eint, ist das Lob der Arbeit; wie es uns scheidet von den Anderen, die den Segen der Arbeit nur in seiner fluchwürdigen Verwandlung, dem goldgemünzten Schweiß und Blut der Arbeiter preisen mögen.

            In zwei große Lager scheint sich so die Menschheit zu scheiden: Die Arbeiter und die Arbeitsscheuen. Da ich zu Künstlern spreche, die so gerne – mit mehr oder weniger Wohlwollen – von ihren „Gönnern“ als das „arbeitsscheue Gesindel“ hingestellt werden, muß ich kaum ausführlicher dartun, daß gerade der Künstler, der – im Geiste – immer Rege, bis zur Besessenheit Rege ist; er wahrhaftig kann die Arbeit nicht scheuen, nicht fliehen, da sie mit ihm verwachsen ist. So ist sein Platz im Lager der Arbeiter, der Regen.

            Diesem feindlich, tut sich drüben das andre Lager, das der Trägen, auf; wollen sie doch von der Regsamkeit der Anderen leben; müssen sie doch darum sich die Herrschaft über die Regen erzwingen und sichern; feindlich darum.

            Wie aber konnte es kommen, daß Trägheit über Regsamkeit die Herrschaft gewann? Die überlegene Masse, wir Alle kennen sie: das Kapital. Denn nicht Arbeit und Schaffen verleiht Herrschaft oder auch nur Freiheit; nicht dem Arbeitenden und Schaffenden selbst dienen diese: immer nur dem Kapital; der Burg der Trägheit; Bürger heißen sie darum, denen unsere Regsamkeit die Sicherheit ihrer Trägheit verbürgt.

            Der Bürger wurde vom Künstler zu allen Zeiten verhöhnt und verulkt; dennoch blieb dieser der geistige Sklave, bestenfalls der Hofnarr des Bourgeois. Und als die Armee der Millionen Arbeitssklaven sich endlich zum Widerstande auflehnte, da blieb der Künstler abseits stehen: seine Abhängigkeit vom Kapital war so endgiltig geworden, daß er allein unter all den Sklaven zitterte, seine Nahrung, sein Lebensunterhalt könne mit dem Untergang der Bourgeoisie und des Kapitals, von deren Brosamen er bisher gelebt, verschwinden.

            Wie aber konnte es dahin kommen, daß der Künstler so allen Zusammenhang mit dem Volke verloren hatte, aus dem allein seine Kunst, sein Schaffen die geistige Nahrung ziehen durften, daß er daran verzweifelte, bei ihm die leibliche Nahrung zu finden?

            Die Kunst hatte immer mehr die Fratze ihrer Brotgeber aufgedrückt erhalten; sie war volksfremd ins Innerste geworden. Der Geist, den Elend und Verfolgung nicht in Banden schlagen konnten, er war der Lockung des Goldes, der Trägheit erlegen. Der Geist, des Blut und Atem Freiheit ist, er hatte sie verkauft; das himmlische Recht der Erstgeburt des Geistes, es war ihm feil, wenn der Kapitalismus ihm den Fraßtrog rüstete.

            Der Kapitalismus hatte den Geist gekauft: oft, um sich damit zu schmücken; dosiert auch, um die Trägheit seiner Verdauung anzuregen; immer aber, um die Regsamkeit in die Fesseln der „gut bürgerlichen Ordnung“ zu schlagen: wehe, wenn sie losgelassen! das war der Bürgerschreck!

            So kam die Weltkatastrophe: der Weltkrieg. Der verratende und gefesselte Geist versagte; die Künstler aller Völker, die berufenen Priester der Menschheit, auch sie segneten wie die Pfaffen die mörderischen Waffen; fast ausnahmslos. Der Stolz dieser Stadt wird es bleiben, daß unter den ganz Wenigen, die dem Geiste treu geblieben waren, der Name eines Wieners, Karl Kraus, steht.

            Aus dem fürchterlichsten Debakel der Menschheit soll die neue Zeit erstehen, der neue Geist sich gebären. Fünfzig Monate bestialischen Mordens sollen vom Frieden abgelöst werden. Was ist Friede? Kann es jener Zustand sein, dem „unser“ Krieg entwuchs, entwachsen mußte? Ist darum Friede auf Erden, weil an die Stelle der 42er Mörser jetzt wieder – im sozialen Kampf, nennts die bourgeoise Phraseologie – die „friedlichen“ Waffen, die Milliarden-Trusts treten? Weil die kriegerische „Hungerblockade“ nun abgelöst wird durch Hungerlöhne?

            Wie die Arbeit das Element des Regsamen ist, so ist der Krieg, der ja immer auf Unterjochung abzielt, der soziale wie militärische, das Element des Arbeitsscheuen. Wir wollen schaffen und arbeiten in Frieden und Freiheit. Deshalb scharen wir uns um die Zeichen des Sozialismus, die Frieden und Freiheit verheißen.

            „Der Geist marschiert!“ tönt uns da höhnend ein Schlagwort entgegen; der Künstler, der Geist könne sich nicht organisieren; das widerstreite seinem innersten Wesen.

            Nun: es scheint mir immerhin einer weitreichenden Abrüstung nahe zu kommen, wenn der „Geist“, der widerspruchslos, wenn nicht antreibend, sich in Reih und Glied der Kriegshorden fügte, oder ärger noch, vom sicheren Pfühl sie zum Marschieren aneiferte: wenn er zunächst einmal, um den Schießprügel in Trümmer zu hauen, eine Vereinigung der Kräfte sucht; wenn er – jetzt ohne Schießprügel – „marschiert“, um sich und seinem Volke den Frieden zu sichern und seiner Arbeit Früchte.

            Wir wollen nichts von Kriegskunst wissen, nichts auch von jener Kunst, die auf den Blutäckern des sozialen Krieges blüht. Wir wollen den Völkerfrieden, aber auch den sozialen, den Menschheitsfrieden; in diesem Tale des Friedens allein kann die wahre Kunst gedeihen; dort erst kann der Geist schaffen und walten; dort wartet des Geistes seine wahre Bestimmung: in friedlichem Wettstreit die Individualität zu pflegen, Führer und Priester seinem Volke zu sein!

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 5, 31.1.1919, S. 97-99.