Stefan Zweig: Das Feuer (1917)
Dem Erfolg der Stunde, dem höchst zufälligen, zu vertrauen, bedeutet Gefahr, aber Gefahr auch, ihn zu mißachten. Jede Wirkung hat zumindest den Wert, ihre Ursache erkenntlich zu machen, und so drückt immer ein sensationeller Erfolg schon durch seine bloße Existenz eine immaterielle Tatsache aus: irgend ein seelisches Bedürfnis, das er erfüllt, eine ungesprochene Frage, die er beantwortet, eine nationale Stimmung, die er formuliert. Als sichtbare sinnliche Symptome der seelischen Verwandlungen sind die großen Erfolge darum für die Diagnose der Zeitpsychologie unschätzbar und besser als aus allen Dokumenten und Berichten werden spätere Generationen aus den Auflagenziffern und Jahreszahlen der Erfolgsbücher einmal die Bluttemperatur Europas und alle ihre Schwankungen in den drei Kriegsjahren ablesen können. Aber schon heute wird es für die Erkenntnis der Stunde, ja selbst als politischer Behelf, uns nicht ganz gleichgültig sein dürfen, wie das Erfolgsbuch seelisch beschaffen ist, das jetzt in Frankreich gleichsam im Sturm alle anderen Kriegsbücher überrannt hat, denn aus den repräsentativen Männern einer Nation erkennen wir am besten ein Land, aus den Erfolgen einer Zeit sie selber, die Zeit. So wie in Rousseaus Contrat social die Revolution, in Goethes Werther die Romantik, in Turgenjews Väter und Söhne der Nihilismus in prophetischem Vorgefühl zusammengeballt war — so verkündet uns Henri Barbusses Le feu die französische Besinnung von heute und vielleicht die europäische Verbrüderung von morgen. Es kann, es darf bei uns die Tatsache nicht übersehen werden, daß der stärkste Erfolg eines Kriegsbuches in Frankreich heute der eines leidenschaftlichen Friedensbuches geworden ist.
Henri Barbusse — der Gebildete muß sich nicht schämen, diesen Namen bislang nie gehört zu haben, auch derjenige nicht einmal, der in französischer Literatur recht bewandert zu sein vermeinte. Man kannte den jungen Dichter in der engsten Pariser Gesellschaft als den Schwiegersohn Catulle Mendès, kannte ihn auch ein wenig durch Verse und einen Roman L‘enfer, der Talent verriet, aber Talent, wie kleingemünzt und abgegriffen ist heute das Wort geworden, das einst in Rom und Griechenland als Goldbarren zugewogen wurde! Hätte eine deutsche Granate den Infanteristen Barbusse bei Crouy oder Sonchez statt seines Nebenmannes zerschmettert, so wäre das kleine Bläschen seines Ruhmes rasch vertrocknet. Die Kameraden im Felde hätten ein paar Erdschollen über seinen Körper, die Zeitungen ein paar Zeilen über sein Gedächtnis geschüttet, und einer der stärksten Verkünder unserer Zeit wäre (wie so viele, deren Namen, deren Werke wir nicht ahnen) spurlos im riesigen Mörser der Vernichtung zerstampft worden. Heute aber, kaum ein halbes Jahr nach seinem Erscheinen, trägt dies Buch Le feu auf dem Umschlag schon den erstaunlichen// Vermerk „Hundertstes Tausend“. Und eine Jugend in Frankreich und weit darüber hinaus, eine ganze Welt sieht in Henri Barbusse den berufenen Verkünder ihres innersten Gefühls.
Dieses Welterfolgsbuch, das mit einer explosiven Kraft wie seit Nana kein französisches Werk sich in die Zeit geschleudert hat, ist es ein Roman? Fast wäre man geneigt, zu sagen: das Gegenteil eines Romans. Denn Roman meint doch eigentlich Erfindungswerk, Phantasieprodukt, verwandeltes, gesteigertes, umgestaltetes Leben — „fiction“ nennt der präzise englische Sprachgeist kurzweg alle schöngeistige Prosa — dieses Buches Wert dagegen ist in erster Linie seine Nichtbindung, seine nackte, unmittelbare Wahrhaftigkeit und Tatsächlichkeit. Barbusse versucht nicht das Blut rosenrot zu färben und den Krieg in ein bravouröses Jugendspiel umzulügen, er verschmäht patriotisches Pathos als Steigerung und den berühmten Schützengrabenhumor, von dem die im Hinterland so viel zu faseln wissen, als Milderung der tragischen Geschehnisse. Er dichtet nicht zu, er harmonisiert nicht den Widersinn, er schildert das Leben, und mehr noch als dies den Tod im Kriege, die Existenz des französischen Infanteristen in Dreck und Feuer, der teuflischen Sphäre, der irdischen Hölle.
Ein Tagebuch also aus dem Krieg, eines von Tausenden, das erste nicht und gewiß nicht das letzte aus unserer, in ein Hüben und Drüben zerrissenen Welt. Aber warum trifft gerade dieses so mitten ins allgemeine allmenschliche Gefühl, warum entlockt es, ähnlich einem antiken Drama, zugleich mit unendlichem Grauen auch jene geheimnisvolle schreckhaft-schöne Erregung der gepreßten Brust, die das Gräßliche zum Tragischen, das Sinnlose zum Symbol, das bloß Schmerzhafte zur seelischen Erschütterung erhöht? Warum dies Buch von allen so sehr und für eine ganze Welt? Es ist immer schwer, bei einem großen Kunstwerk die einheitliche Norm seiner Wirkung zu finden, denn unendlich viele unterirdische Kräfte kristallisieren seine wirkende Kraft, aber ich glaube, hier beruht der unvergeßliche Wert des Werkes vor allem auf seiner einzigartigen Optik, seiner doppelten Perspektive: daß es einerseits aus dem tiefsten menschlichen Abgrund des Leidens, aus der dumpfen Erdhöhle des Schützengrabens vom französischen Infanteristen Barbusse und
gleichzeitig aus freiester moralisch-menschlicher Höhe vom ‚allweltlichen Dichter Barbusse gesehen ist. Der Schauende, der Leidende ist als Atom in dem Chaos der Millionen verloren und doch gleichzeitig ihm entwunden durch seine geistige Freiheit, die selbst in dieser Hölle des Hasses und der befohlenen Zerfleischung die Fähigkeit der Liebe und Versöhnung nicht für einen Augenblick preisgibt. Darum zeigt dies sein Buch ebensoviel Meisterschaft der Kunst wie der Menschlichkeit.
Schon die rein literarische Technik ist in Le feu eine ganz erstmalige und persönliche. Nichts wird Eigenschicksal darin, alles nur kollektives Erlebnis. Nicht das Tagebuch eines einzigen Soldaten bietet er dar, sondern das Journal d‘une escouade, das Erlebnis einer Gruppe, das Schicksal seines Infanteriezuges. Zwischen den beiden bisherigen Möglichkeiten der dichterischen Darstellung, der von außen oder innen, der objektiven oder der subjektiven, hat Barbusse hier die dritte gewählt: die kollektive. Der Krieg ist nicht wie bei Tolstoi mit allgegenwärtiger Eindringlichkeit in allen seinen Formen, aus allen seinen Stockwerken zugleich gesehen, in der Stube des Feldherrn, im Gemach des Kaisers, in der Seele des Bauern oder des Offiziers, unter dem unendlichen Horizont der Weltgeschichte; nicht aber auch wie bei Liliencron und Stendhal bloß aus der Optik des eigenen Auges, des persönlichen Gesichtsfeldes. Hier ist das erlebende, schauende Ich zu einer neuen Einheit verzehnfacht, hier spricht und schildert statt des einzelnen die Kameradschaft der siebzehn Mann, die in diesen hundert Wochen in der feurigen Esse gemeinsamen Leidens zu einer einzigen Einheit zusammengeschmolzen ist. Der Infanteriezug, die kleinste militärische Einheit des Weltkrieges, sie erzählt in dem Buche den gigantischen Krieg.
Barbusse, ihn selbst, den Dichter, ihn spürt man vorerst gar nicht. Er ist gleichsam nur Trichter des Grammophons, in den diese siebzehn Stimmen sprechen und stöhnen, der anonyme Horcher und Künder ihrer Leiden, er ist unsichtbar wie der Maler vor dem Bilde, das er von außen mit dem Innersten seines Wesens füllt. Aufgelöst in brüderliche Gemeinschaft erlebt er nichts abgesondert und persönlich mehr, aber was er erlebt, lebt er mit siebzehn Seelen. Er ist der Horchende und darum der Schweigende, er läßt die Stimmen um sich aus dem Leben in sein Buch hineinsprechen, wie sie sprechen, und fälscht die Worte der Kameraden nicht um. Er läßt ihnen das Eckige und Brockige ihrer Bauernsprache und damit die Unmittelbarkeit des Ausdruckes, er poliert den rauhen Dialekt nicht ab und lackiert ihre Rede nicht mit Aphorismen und Reflexionen. Im Pariser Welsch, im Argot ist drei Viertel dieses Buches geschrieben und darum kaum für jene verständlich, die ihr Französisch aus Grammatiken und von braven Gouvernanten lernten, aber selbst der seinen Sprachenschatz auf dem Montmartre ergänzte, stolpert über manches Wort, das die Akademie im Jahre 1914 noch nicht kannte und erst der Schützengraben gestanzt hat. Meisterhaft ist diese neue Technik der Gruppendarstellung und vor allem: sie ist mehr als Technik, weil sie nicht dem Kunstgriff eines geschmeidigen Literaten entwuchs, sondern einer menschlichen Notwendigkeit, dem treu-dankbaren Gefühl einer hundertwöchigen Gemeinschaft unter dem gleichen nächtlichen Zelt aus Segeltuch, und jenem anderen, feurig gesponnenen der deutschen Granaten. Losgerissen von der eigenen heimatlichen Welt, eingeschüttet in die unendliche des Krieges, wird diese Handvoll Menschen ihm seine Heimat, seine Familie, sein Volk. Was er lebt, lebt er mit ihnen und durch sie, sie haben ein Leben und einen Tod. Wie in der Barke des Odysseus vor Scylla und Charybdis die Ruderer sich zusammendrängen und wissen, daß in der nächsten Minute die unsichtbare grausame Hand in ihre Reihe greifen und zwei von ihnen schlingen wird, und keiner weiß es noch wen, so kauern diese siebzehn hier tagelang, nächtelang zusammen in ihrer Deckung, und die Urangst preßt ihnen die letzten Worte aus der Seele. Und diese Worte der Angst vor dem Tode und anderseits die dumpfen tierischen Schreie der ewigen Ekstase vor dem täglich neugeschenkten Leben — stärker als all die schönen Worte, mit denen die rückwärts heimischen Dichter und die Pariser Zeitungen den Krieg „verklären“ — sie sind die unbeschreiblichen unvergeßlichen im Werke des Henri Barbusse, diese Gespräche im Dunkel des Lebens vor dem Dunkel des Todes.
Und der ganze Krieg, der unübersichtliche, breite, vielfältige, massige, gigantische Krieg, er ist in diese Gespräche einfacher und eben in ihrer Schlichtheit ergreifender Menschen ganz klein zusammengeballt wie in einen winzigen Knäuel. Aber die Stunden, die langen unzählbaren Stunden des Wartens — Warten ist ja die Haupttätigkeit dieses Krieges, Warten auf Befehle, auf Entscheidungen, auf Ablösung, auf Urlaub, auf Tod, auf Frieden, auf Menschlichkeit — sie rollen ihn allmählich auf. Gleichsam mit kindlich spielender Hand lockern die Gespräche Masche um Masche dieses ungeheure stählerne Netz, mit dem Frankreich und unser ganzes tragisches Europa überspannt ist, sein ganzes phantastisches Nervengewebe wird deutlicher sichtbar in diesen bäurischen Bemerkungen als es jemals kalte erklärende Darstellung zu veranschaulichen vermöchte. Ich will an Beispielen zu zeigen versuchen, wie diese Technik des Gespräches bei Barbusse im Spiel den ganzen Mechanismus des Krieges auseinanderlegt. Es ist Ruhe-//pause. Kameraden rüsten in müßiger Stunde ihre Rucksäcke und schütten sie vergleichend aus. Stück um Stück sieht man darin das ganze befohlene Rüstzeug des Infanteristen, seine militärische Notdurft und zugleich in dem heimlich zugepackten jedes Tornisters den individuellen Charakter jedes einzelnen. Der holt die Photographie seiner Frau mit den beiden Kindern heraus, der zweite ein Andenken, der dritte ein Kartenspiel, der vierte ein handliches Stoßmesser und sie betasten ihre kläglichen Kostbarkeiten gegenseitig Stück um Stück. Sie vergleichen, wie man praktischer anordnen könnte und packen gleichsam vor den Äugen des Lesers ihre Tornister aus, sie sprechen und vergleichen, sie erinnern sich an diesen winzigen Gegenständen an Vergessenes zu Hause und im Krieg und allmählich rollt die ganze Heimat, die ganze Ferne aus den geöffneten Rucksäcken in das Buch hinein. Oder einer kommt zurück von der Heimat; eine „bonne blessure“, wie dort drüben die französischen Infanteristen zärtlich den Schuß nennen, der statt des Todes dem Glücksvogel ein paar Wochen Urlaub bringt, hat ihm Gelegenheit gegeben, sich rückwärts aufzuhalten, und nun schildert er den Weg vom Spital zur Etappe, von der Etappe ins Hinterland, schildert die Vexationen der französischen Bureaukratie, den Hochmut der Offiziere, all die bitteren und süßen Erfahrungen mit den verschiedenen Samaritern. Die Kameraden mengen ihre Erfahrungen ein und aus Rede und Widerrede erwächst allmählich eine (wenig freundliche) Schilderung des französischen Hinterlandes. Mit ein paar losen Einzelbildern ist blitzschnell so die geschlossene Vision des komplizierten Gefüges sinnfällig gemacht, auf dem die vorderste kämpfende Front elastisch ruht. Oder eine rasche Lektion über Artillerie! Sie wachen auf vom Donner einer Kanonade und beschreiben gegenseitig nach den Tönen der Geschosse die Kaliber und ihre Wirkung. Wie der Jäger die Stimmen der Tiere, so erkennen diese Höllenbewohner am bloßen Geräusch die Geschosse, sie unterscheiden genau, bloß nach dem Schall, auf Zentimetergröße die schweren Granaten und agnoszieren mit ganz besonderem Grauen die zerschmetternden österreichischen Mörsergeschosse, die sie vor Verdun zuerst kennengelernt. Sie schildern mit ihren Rufen und Schreien und Scherzen unbewußt die Flugbahn, die Wirkung, die Schnelligkeit der Geschosse und unmerklich wird aus dem bäuerisch und banal geführten Gespräch ein ungeheuer anschauliches Bild der fürchterlichsten Waffe dieses Krieges, der Artillerie.
Aus solchen kleinen Darstellungen, Episoden und Anekdoten ist das ganze Buch gestaltet. Einzelne sind unvergeßlich in ihrer Schönheit oder ihrem Grauen. Da ist die des Fliegers, der Sonntag morgens über den Stellungen kreist und zu beiden Seiten der Schützenlinie je eine dunkle, viereckige, gleichartige Masse wahrnimmt. Er schraubt sich nieder, dies Seltsame zu erkunden, und sieht zur Rechten und zur Linken eine gleichzeitige Feldmesse, die deutsche und die französische. Von beiden Seiten tönt zu gleicher Stunde zum gleichen Himmel und zum gleichen Gott Gesang und Gebet zweier Sprachen, zweier Völker empor, aber ehe noch die frommen Warte zu ihm aufrauschen, splittern schon die Schrapnelle der Abwehrgeschütze um seinen Apparat. Oder jene andere Geschichte, die des Soldaten aus Souchez, der in der Wüstenei des früheren Ortes, im zerschmetterten Nichts des Heimatsortes wie ein Blinder umhertappt und sein eigenes Haus nicht mehr zu erkennen vermag, so gänzlich um und um ist seine Heimat verwüstet. Oder die des Soldaten, der die Leiche seines Bruders — des letzten von sechs — sucht und nicht weiß, daß sie eine Armspanne von seinem Lager hinter dem Erdwall liegt, und die Uhr, die er die ganze Nacht ticken hörte, die des Gesuchten ist, die mit ihrem kalten Mechanismus sein warmes junges Leben überdauert. Unvergeßlich durch Grauen, unvergeßlich durch Wirklichkeit, unvergeßlich durch Kunst der Darstellung sind diese Episoden, und doch, und doch: immer und immer stöhnt der einzelne der französischen Soldaten, klagt der Dichter aus ihnen verzweifelnd: „Qu ne peut pas se figurer!“ Man kann es sich nicht vorstellen: das wird der immerwährend wiederkehrende Rhythmus, das Leitmotiv des Werkes. Entsetzlichstes stellt Blatt um Blatt der Dichter dar und fühlt doch immer, er sagt nicht genug, nicht genug des Leidens, nicht genug der Qual. Denn selbst wenn er alle Höllen dieses Krieges schildert, das Grauen das entsetzliche, wie dies darstellen, die unsichtbarste und grausamste aller seiner Qualen, seine Unendlichkeit, die Zeit, die langsame, allzu langsam fließende Zeit? Sekunden und Minuten, die kann man mitdenken, aber die Monate, die Jahre, wie sie fassen, diese Dauer, diese Monotonie, diese Ewigkeit? Sie verzweifeln, die französischen Infanteristen, und er verzweifelt mit ihnen, sie an der Welt, er an der Kunst. Das äußerste Leiden der Menschen wird hier zugleich zur höchsten Not, zur Verzweiflung des Künstlers.
Endlosigkeit. Zermürbung, Müdigkeit, Unabsehbarkeit dreier Jahre, diesen letzten Höllenkreis des französischen Infanteristen von heute, den Zola in seinem Débacle noch nicht kennen konnte, ihn schildert heute Barbusse seinen Landsleuten und der Welt. Als Drohung hält er den politischen Patrioten und hinterländlerischen DurchHaltern diese letzte Qual ihrer Opfer entgegen, kein Leiden schildert er, der Soldat und Kämpfer war, ein makelloser Zeuge, so grausam als dieses der unermeßlichen Dauer, vor der es keine Rettung gibt. Denn auch die Pause, der Urlaub, die angebliche Rast, auch sie ist den Heloten des rasend gewordenen Nationalismus, den Infanteristen vergiftet, eine grausame Farce grinst sie aus diesem Buche der Qual. Barbusse schildert den ersten Besuch der Urlauber in Paris. Noch klebt der Schmutz des Erdloches an ihren Kleidern, noch gellen ihnen die Ohren vom Donner der Geschütze, noch krampft sich ihnen die Seele von den Bildern des Grauens. Und sie kommen über die Boulevards, die von Müßigen strotzen, die Automobile sausen geputzte Menschen hin, die Geschäfte funkeln Lockung, die Frauen mit den Blicken. Nichts, niemand weiß von Krieg, allen diesen Menschen ist er fern wie der strahlende Himmel über den Dächern. Aber doch: hier ist ein Zeichen. Vor einem Geschäft sammeln sich Leute und bestaunen hinter der Glasscheibe ein sonderbares Ding. Was ist es? Sie drängen sich mit und sehen die lebensgroße Wachsfigur eines deutschen Offiziers in echter deutscher Uniform mit dem eisernen Kreuz aus Pappe, die um Gnade kniend, ihre beiden Wachsarme bettelnd zu der ebenfalls wächsernen Figur eines französischen Offiziers emporhebt, dessen karminrote Kinderaugen und blöde Glasaugen verdreht auf ihn niederstarren. Unter dieser einfältigen Spielerei steht groß angeschrieben „Kamerad, das Spottwort für die Deutschen. Die Soldaten sehen hin, Grauen und Ekel faßt sie an: so denken sich also hier diese Müßiggänger die Deutschen, so denken sie sich hier im Hinterlande den Krieg! Eine elegante Dame streift sie parfümiert an und fragt: „Nicht wahr, meine Herren, sie, die sie wirklich Soldaten sind, sie müssen das auch gesehen haben?“ Und die beiden, gewürgt von Ekel, stammeln ein furchtsames „Ja.. ja…“ und die anderen glänzten vor Freude. Sie gehen weiter in ein Cafe, Plauderer reihen sich ihnen an, rühmen sie als echte Soldaten, ein Herr erzählt, wie gern er, der Begeisterte, in den Krieg gegangen wäre, aber das böse Ministerium gebe ihn nicht frei, ein anderer erklärt ihnen, daß er hier eben so wichtig für den Staat sei, als sie draußen. Wieder sagen sie: „Ja…, ja…, ja…“ gutwillig und scheu zu allem, aber sie spüren tief innen, zwischen ihnen und jenen ist eine Grenze, sie sprechen verschiedene Sprachen. Und sie irren wieder weiter, die Armen, namenlos vergessen fühlen sie sich in der Großstadt, in diesem Paris, das nur an sich selbst und// sein Vergnügen denkt, und Plötzlich sagte der eine: „Weißt du, es gibt kein Land heute mehr, sondern zwei Länder im Land, und die sind einander zu fremd. Dort draußen ist man zu unglücklich und hier ist man zu glücklich.“ Verloren fühlen sie sich in der Hauptstadt Frankreichs, die sie mit ihrem Blut in tausend Tagen verteidigten, und gesenkten Hauptes wandern sie aus der steinernen Fremde zurück in ihre andere, in die furchtbare Heimat, in ihre Schützengräben.
Sie sind wieder zu Haufe, sind wieder Familie, die „escouade“. Nun aber hebt der letzte Akt dieser menschlichen Tragödie an. Sie wachen nachts auf vom Alarm und werden aus dem Schlaf in den Sturm geschickt. Die Schilderung dieser Apokalypse unserer modernen Menschheit hat Barbusse so grausam, so entsetzlich lebendig — oder besser: so entsetzlich mörderisch — gestaltet, daß man sie nicht wieder erzählen vermag. Die Seele verbrennt einem, daß es solche Stunden auf unserer Erde gibt, und der Atem wird nicht mehr frei für das Wort, davon zu sprechen.
Dann kommt die Nacht nach dem Sturm, nach dem Gemetzel. Es ist vorbei. Die letzten Zwei von den einstmals Siebzehn der Escouade streifen über das von den Granaten zerhämmerte Feld. Sie suchen die Kameraden, die vor einer Stunde mit ihnen beim Kartenspiel saßen, und finden als zerfetzte Leichname die einzelnen Brüder, die sie geliebt, mit denen sie durch diese zwei Jahre verwachsen waren wie Muskel und Haut. Aber doch: in ihr menschliches Grauen, ihre brüderliche Trauer vermengt sich unaufhaltsam die dämonische urweltliche Ekstase der eigenen Existenz, der rasende Triumph: „Ich lebe noch! ich lebe noch!“ Sie haben selber getötet, sie sehen den Tod um sich mit blutenden Schädeln und grinsenden Fratzen und wissen doch nur das eine, daß sie selbst noch leben. Sie irren weiter von Leiche zu Leiche. Immer wieder, immer verzweifelter klingt vor den furchtbaren Bildern des Grauens das Leitmotiv des Buches auf „on ne peut pas se figurer“, man kann es sich nicht vorstellen. Und sie verstummen, sie kriechen zurück mit ihren blutigen Händen durch den Stacheldraht und kauern sich wieder hin in ihre Winkel.
Und nun beginnt ganz leise Stimme um Stimme aus dem Dunkel zu sprechen. Ganz namenlos sind sie schon, diese Stimmen der Übriggebliebenen, und manchmal tönen sie dumpf, als sprächen die Toten, die neuen Zehntausend, die neuen Hunderttausend mit, die jetzt vor der deutschen Linie wertlos liegen wie Kot. Sie sprechen, die namenlosen Stimmen, vom Kriege und suchen seinen Sinn. Aber nicht von Elsaß-Lothringen reden die Infanteristen und von Marokko und Syrien wie ihre Minister, sondern nur von dem Leiden und seinem Ende. Einer wagt noch die Phrase, die angelesene, man müsse Deutschland zerstören, damit der Militarismus vernichtet sei. Aber die anderen glauben der Phrase nicht mehr. „Würde Deutschland auch geschlagen, so würde der Militarismus in einem anderen Lande neu erstehen,“ so sagen sie. Nicht Deutschland müsse im Kriege besiegt werden für immer, sondern er selber, der Krieg; nicht Deutschland ist der Feind des Volkes, sondern der Krieg. Zwei Armeen, die sich bekriegen, das ist ja eine einzige große Armee, die Selbstmord begeht!“ ruft einer aus und alle stimmen stürmisch ihm zu. Kein Wort des Hasses haben diese französischen Kämpfer für Deutschland, und die eben noch mit den Handgranaten in ihre Linie gestürmt waren und mit den Messern wie die Bestien gewütet, sie haben Mitleid mit den Opfern des Krieges und Haß nur gegen den Krieg und all diejenigen, die sie hineingetrieben. Nie dürfe ein solches Leiden mehr über die Menschheit kommen, so schreien sie aus ihrer Not, und nur wenn dies der letzte Krieg der Menschheit gewesen, könne ihr Leiden sinnvoll sein. Keine Provinzen könnten ihr Leiden bezahlen, nur dieser eine letzte Gedanke, daß vor diesem Übermaß ihres Leidens die Menschheit zurückschrecken würde, noch einmal das Kreuz des Krieges freiwillig auf sich zu nehmen. „Guerre à Ia guerre!“ gellt es aus den französischen Reihen über das Leichenfeld wie die Posaune des Gerichtes.
Und das ist Trost für sie, unendlicher Trost, daß sie alle als namenlose Heillande mit ihrer Qual die ganze Zukunft vom Kriege erlösen, daß dies Beispiel alle Generationen für immer ernüchtern wird. Aber nur eine Sekunde lang beruhigt sie dieses Idol. Denn wer, so fragen sie sich, wird dieses unser unermeßliches Leiden der Menschheit schildern, wer weiß es denn? Kein Dichter kann es sich von heimwärts erdenken, und, die Kriegsberichterstatter, die „touristes des tranchées“, die Spazierreisenden des Schützengrabens, auch sie haben nur einen Teil ihres Leidens gesehen und nicht den fürchterlichsten gefühlt: den Zwang, die Dauer, die Unendlichkeit. Wer weiß es, wer kennt es, dies Schicksal des Infanteristen? „Wir! Wir allein!“ antworten die Stimmen. „Wir! Wir allein, die wir es erlebten!“ Aber wie ein Hammer fällt das Bedenken eines auf ihr Herz. „Auch wir nicht, auch wir nicht!“ schreit er auf. „Wir vergessen! Es ist zu viel. Man kann es nicht behalten: Auch wir, auch wir werden unser eigenes Leiden vergessen.“
Wie ein Feuerbrand fährt dieser Gedanke, der fürchterlichste des fürchterlichen Buches, durch sie hin. „Ja, wir vergessen!“ schreit der eine. „Wenn ich nach Hause komme und die eigenen Briefe lese, die ich aus dem Felde geschrieben, so erkenne ich mich, so erinnere ich mich nicht mehr.“ Und ein anderer: „Es ist zu viel, um alles zu behalten. Man vergißt die Dauer dieser Nächte, die Qual der Entbehrung, nichts bleibt, als Orte und Namen wie im amtlichen Communiqué.“ O Durchlässigkeit des Gefühls, o Unbeständigkeit des Erinnerns, o Mattigkeit des Gedenkens! Wie Verzweifelte klagen sie sich selber an. „Wir sind „machines à oublier“, Maschinen des Vergessens. Der Mensch ist nur ein Wesen, das ein wenig denkt und viel vergißt.“ Auch sie, die einzigen wahrhaften Zeugen, werden stumm sein, vor dem Tribunal der Menschheit, auch sie nur stammeln können, statt zu sprechen! Als Helden wird man sie schildern, die sie sich als Märtyrer fühlen, als die maßlos schuldlos Leidenden, ihre Taten wird man kennen, die aneifernden, und nicht ihr Leiden, das allein die Generationen der Zukunft erlösen kann. Wozu dann diese Qual, dieses Leid? Verloren ist ihre Hoffnung: „Tout le malheur est perdu!“ Alles Leiden ist -vergeblich, wenn es die Menschheit nicht weiß, wenn niemand es wahrhaft bezeugt.
Dieser Zeuge, diese Stimme zu sein, die das Leiden des Infanteristen, des französischen, für alle Zeiten der Menschheit zur Warnung kündet, hat Henri Barbusse versucht. Wie ein gigantisches Grabdenkmal, gequadert aus Qual, gemörtelt mit Tränen und Blut, ist es über dem Gedächtnis seiner gefallenen Kameraden getürmt, wie ein Fanal der Warnung flammt die erhobene Flamme seiner Leidenschaft in die Zeit hinein. Es wird dauern als Schutzwall gegen die trübe Flut der Gedichte und Traktate der Maulhelden, die eilig aus der Enthobenheit ihrer Stellung eine Erhabenheit des Gefühls gemacht, als Warnung und ewiger Hohn der vorsichtigen Patrioten, die so beredt das große Stahlbad gerühmt und sich selbst gehütet, nur die Fersenspitze darin zu netzen – es wird dauern, weil sein Gefühl aus Erlebnis gestaltet ist und weil dies Gefühl keine Grenzen und Völker mehr kennt, nur seinen heiligen Ursprung: die Menschlichkeit. Inmitten der Kämpfe um Entscheidungen der Kraft und des Besitzes ist es schon ein Sieg, der einzige, der im letzten Sinne zählt: der Sieg des klaren Geistes über den Widersinn der Erscheinung, der Sieg der Wahrheit über die Phrase und ihren erbärmlichen Knecht: das Wort.
In: Neue Freie Presse, 8.7.1917, S. 1-3.
Josefine Widmar: Preisträger des Ungeistes. Thomas Mann und sein »Bekenntnis«
J.[osefine] W.[idmar]: Preisträger des Ungeistes. Thomas Mann und sein »Bekenntnis« (1933)
Wien, am 21. Februar
In den Berliner Krollsälen gab es letzten Samstag einen großen Skandal. Dort wurde unter lebhaftem Rummel von der Polizei eine Versammlung der sozialistischen Vereinigung „Das freie Wort“ aufgelöst. Vorher hatte im Rahmen dieser Versammlung der frühere preußische Kultusminister Grimme eine Zuschrift des gegenwärtig in Paris weilenden Schriftstellers und Nobelpreisträgers von 1929 Thomas Mann verlesen. Der Inhalt dieses Manifestes ging schon vorher durch die sozialistische Presse und lautet im Eingang also:
„— —Ich will das Bekenntnis erneuern, das ich schon vor zwei Jahren in einem schwierigen und kritischen Augenblick öffentlich, und seitdem noch das eine und andere Mal abgelegt habe: das Bekenntnis zur sozialistischen Republik und zur Überzeugung, daß der geistige Mensch bürgerlicher Herkunft an die Seite des Arbeiters und der Sozialdemokratie gehört.“
„Sozialismus“, so führte dann Thomas Mann in seiner Zuschrift weiter aus, „ist nichts anderes als der pflichtgemäße Entschluß, den Kopf nicht mehr vor den dringendsten Anforderungen der Materie, des gesellschaftlichen Kollektivs, in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern sich auf die Seite derer zu schlagen, die der Erde einen Sinn geben wollen – einen Menschensinn.“
„Die deutsche Republik“, so hieß es zum Schluß, „muß den Glauben an ihre Kraft und ihr Recht lernen. Sie soll wissen, wie stark sie im Grunde ist und welche moralischen und geistigen Kräfte ihr auch heute zur Seite stehen, wo scheinbar das ihr Feindliche triumphiert. Das ist Episode. Das demokratische und sozialistische Deutschland darf vertrauen, daß die gegenwärtige Konstellation vorübergehend ist, daß die Zukunft trotz allem ihm gehört. — —“
Dieses Bekenntnis des Verfassers der Buddenbrooks und des Zauberberges zur sozialistischen Republik und zum sowjetrussischen Kollektivismus wird nicht verfehlen, in weitesten Kreisen Aufsehen zu erregen, auch in Schweden, wo, wie man hörte, seinerzeit viele Maßgebende mit der Preiszuerkennung der Stockholmer Akademie nicht durchaus einverstanden waren. Das Bekenntnis, an offizieller Stelle und weithin hörbar abgelegt, ist auch sonst sehr wertvoll. Es zieht zu einem Zeitpunkt, da so viele weittragende Entscheidungen vor der Türe stehen, auch eine reinliche Scheidung zwischen dem echten deutschen Geist und jener pseudodeutschen Ungeistigkeit, als deren typischen Vertreter sich Herr Mann durch seine Confessio in den Krollsälen für alle Zeiten manifestiert hat.
Es war höchste Zeit, daß diese Scheidung nun endlich erfolgte. Wer in den letzten 10 oder 15 Jahren die Entwicklung der deutschen Literatur beobachtete – und das ist gerade bei uns in Österreich stets besonders aufmerksam und liebevoll geschehen –, der konnte nur mit tiefster Sorge das beständige Abgleiten eines Schrifttums feststellen, das durch die Namen Walters und Wolframs, Schillers und Goethes, Grillparzer und Raimunds und vieler anderer zur Unsterblichkeit erhöht worden war. Von diesem Erbe waren die Siedler auf dem deutschen Parnaß seit 1918 so weit wie nur irgend möglich abgefallen. Von den Wogen der deutschen Spießerrevolution emporgetragen, schwamm auf der Oberfläche der deutschen Kunst eine Clique von Literaten, die mit teilweise starker Begabung eine vollkommene innere Richtungs- und Hemmungslosigkeit verbanden. Wo Begabung nicht als metaphysische Begnadung empfunden und in Demut und Verantwortungsgefühl in den Dienst höherer Aufgaben gestellt wird, verwandelt sie sich leicht zum Wuchergeld in der Hand des ungetreuen Verwalters.
Dafür bieten die Brüder Mann und ihre Schule ein typisches Beispiel. Was so viele dieser „Meister“ hervorbrachten, war nicht schöpferischer Dienst am Volksgeist und an der Volkskultur, sondern ein literarisches Dezernententum im Dunstkreis der Parteiklüngel. Die revolutionäre Geste lohnte sich reichlich, denn hinter den Papierbarrikaden, auf denen diese Stürmer und Dränger für eine längst schon verwirklichte und übertrumpfte Freiheit fochten, brachten sie ein bürgerlich recht wohlgenährtes und vollgestopftes Schäfchen ins Trockene. Die deutsche Dichtkunst aber, die diese Leute zu verwalten und zu vertreten sich anmaßten, zeigte der erschrockenen Welt ein wahres Medusenantlitz. Was die deutschen Verlage und Bühnen bis in die allerletzte Zeit beherrschte, was Massenauflagen und Massenaufführungen erzielte, ist mit wenigen Ausnahmen eine Kaschemmen- und Spelunkenliteratur. Das klingt hart und beleidigend, ist aber an den literarischen Tatsachen gemessen, eine traurige Wahrheit. Der erhabene Bau der deutschen Dichtung, den der Romantiker Novalis mit einem gotischen Dom verglich würde, wenn es so weiter ginge, zu einem Wirtshaus dritten Ranges herabsinken, einem internationalen „Alexanderplatz“, auf dem Volksverräter, Sprachverhunzer und Kaffeehausschmocks der Welt verkünden, daß es im „Westen nichts Neues gibt“.
Daß es soweit kommen konnte, daran trägt auch ein Teil der deutschen Presse von Hamburg bis Wien leider ihr vollgerüttetes Maß an Schuld. In ihren radikalen Abschattierungen, nach Maßgabe größeren oder geringeren Intimität mit den revolutionären Parteizellen, hat sie dieses Literatentum genährt, großgezogen und seine abwegigsten Produkte mit allen Mitteln ihres Reklameapparates als „repräsentative Leistungen“ des neuen deutschen demokratischen Geistes dem Ausland vorgezeigt. Diese neue deutsche demokratische Geistigkeit hatte nun in Wahrheit mit echtem deutschen Geist und freiem deutschen Volkstum so wenig gemeinsam, wie etwa Fritz Reuters seinen berühmten „Swinsigel“ mit seiner „Nachtigall“ verwechselt wissen wollte. Immerhin hat diese Irreführung dem Ansehen der deutschen Kunst und der deutschen Literatur in der Welt unermeßlich geschadet. Gelegentliche internationale Anbiederungsversuche, die von diesen Kreisen versucht wurden, blieben für die Sache der Völkerversöhnung völlig wirkungslos und wurden von der anderen Seite gewöhnlich nur mit einem – Fußtritt quittiert. Ging einer von diesen literarischen Übermenschen auf Reisen, so wurde seine Domiziländerung von einem Stab publizistischer Trabanten begleitet, jede noch so belanglose Äußerung des Gefeierten in ungeheuren Interviews aufgemacht. Und so lange hämmerte die Reklametrommel auf das deutsche Publikum los, bis es, verwirrt und betäubt, seine sauer verdienten Groschen für Machwerke hinlegte, in denen es selbst, deutsche Art und deutsches Wesen, verhonigelt und lächerlich gemacht wurde, bis es seiner wirklichen Meister und damit seiner guten Geister vergaß und auch auf geistigem Gebiet zum Hiob unter den Völkern wurde.
Es ist ein glückverheißendes Zeichen, daß heute ein Großteil des deutschen Volkes, vor allem die deutsche Jugend, gegen die literarische Verknechtung des deutschen Volksgeistes aufsteht. Wenn sie dabei mit ungeistigen Mitteln zu Werke geht, so ist dies in letzter Linie Schuld derjenigen, die ihren eigenen Ungeist dem Volke aufzuzwingen versuchten. Die deutsche Jugend will nicht länger dulden, daß ihre und ihrer Väter Blutopfer für das Vaterland als Mord verunglimpft werden, während die Greuel der bolschewikischen Henkersknechte unangefochten bleiben, sie will nicht länger deutsche Liebe, deutsche Treue, deutsche Frauenwürde zugunsten eines internationalen Prostituierten- und Gangstertums ausgespottet sehen. Sie will in dem Dichter, dem Künstler überhaupt, wieder den geistigen Führer der Nation erkennen, der ihr in Not und Wirrnis den Fahnenspruch göttlicher Berufung prägt, nicht den kühlschnauzigen Tantiemenverdiener oder gar den Beauftragten einer Parteifraktion. Echtes Weltbürgertum wächst auch in der Kunst stets nur aus der Liebe und Verbundenheit mit der eigenen Scholle und die Achtung fremder Nationen erwirbt in Wahrheit nur der Künstler, der sein eigenes Volkstum achtet und seine Würde hochhält. Solche Achtung und Würde hat natürlich mit der Unduldsamkeit gegen die geistigen Leistungen anderer Rassen nichts gemein. Sie ist gerade uns Österreichern und Katholiken immer ferne gelegen und mit der Idee der geistigen Gotteskindschaft unvereinbar. Wer innerhalb unseres Volkstums ehrliche Arbeit leistet, wer sich, wenn auch fremdrassig, aus innerer Überzeugung zu deutschem Geist und zu deutscher Seele bekennt, dessen Mitarbeit soll willkommen sein, weil auch von ihr, wie die Beispiele bedeutender Männer zeigen, wertvolle Impulse für das ganze Volkstum ausgehen können. Wer aber dieses Volkstum, seine großen geschichtlichen und heldischen Traditionen und die zartesten und reinsten Äußerungen seiner Seele als „Untertanentum“, als „Butzenscheibenlyrik“ und „Unrat“ verleugnet, der möge von allen Ehren und Würden dieses Volkes ausgeschlossen sein. Eine katholische Dichterin, die österreichische Meisterin Enrica v. Handel-Mazzetti, der der Deutsche Reichspräsident mit einem ehrenden Handschreiben die Medaille des Goethefahres zusandte, hat in einer Zeit der tiefsten Erniedrigung von der Donau her dem deutschen Volke ihren Weckruf zugesandt: „— — Laß das Morsche ruhen in Grüften, singe Deutschlands Morgenrot, sing die Kraft aus Hermanns Hüften —!“
Und so mögen denn der Preisträger des deutschen Ungeistes, Herr Thomas Mann und sein Gefolge, die schon längst an der äußersten Peripherie des deutschen Wesens hausten, ihren Umzug auch völlig zur Tatsache machen. Mögen sie in letzter Konsequenz ihrer verschiedenen Bekenntnisse, sich gänzlich in jenen Gebieten ansiedeln, wo das „gesellschaftliche Kollektiv der Erde einen Sinn gibt“, nämlich den Sinn der Massenvernichtung, den Sinn der Tscheka. Mögen sie dort mit Gorki und Henri Barbusse die Zahl der Moskauer Hofdichter komplettieren. Das deutsche Volk in seiner überwiegenden Mehrheit wird ihnen gerne die Reisepässe ausstellen.
In: Reichspost, 22.2.1933, S. 4.
Stefan Zweig: Das Feuer
Dem Erfolg der Stunde, dem höchst zufälligen, zu vertrauen, bedeutet Gefahr, aber Gefahr auch, ihn zu mißachten. Jede Wirkung hat zumindest den Wert, ihre Ursache erkenntlich zu machen, und so drückt immer ein sensationeller Erfolg schon durch seine bloße Existenz eine immaterielle Tatsache aus: irgend ein seelisches Bedürfnis, das er erfüllt, eine ungesprochene Frage, die er beantwortet, eine nationale Stimmung, die er formuliert. Als sichtbare sinnliche Symptome der seelischen Verwandlungen sind die großen Erfolge darum für die Diagnose der Zeitpsychologie unschätzbar und besser als aus allen Dokumenten und Berichten werden spätere Generationen aus den Auflagenziffern und Jahreszahlen der Erfolgsbücher einmal die Bluttemperatur Europas und alle ihre Schwankungen in den drei Kriegsjahren ablesen können. Aber schon heute wird es für die Erkenntnis der Stunde, ja selbst als politischer Behelf, uns nicht ganz gleichgültig sein dürfen, wie das Erfolgsbuch seelisch beschaffen ist, das jetzt in Frankreich gleichsam im Sturm alle anderen Kriegsbücher überrannt hat, denn aus den repräsentativen Männern einer Nation erkennen wir am besten ein Land, aus den Erfolgen einer Zeit sie selber, die Zeit. So wie in Rousseaus Contrat social die Revolution, in Goethes Werther die Romantik, in Turgenjews Väter und Söhne der Nihilismus in prophetischem Vorgefühl zusammengeballt war — so verkündet uns Henri Barbusses Le feu die französische Besinnung von heute und vielleicht die europäische Verbrüderung von morgen. Es kann, es darf bei uns die Tatsache nicht übersehen werden, daß der stärkste Erfolg eines Kriegsbuches in Frankreich heute der eines leidenschaftlichen Friedensbuches geworden ist.
Henri Barbusse — der Gebildete muß sich nicht schämen, diesen Namen bislang nie gehört zu haben, auch derjenige nicht einmal, der in französischer Literatur recht bewandert zu sein vermeinte. Man kannte den jungen Dichter in der engsten Pariser Gesellschaft als den Schwiegersohn Catulle Mendès, kannte ihn auch ein wenig durch Verse und einen Roman L‘enfer, der Talent verriet, aber Talent, wie kleingemünzt und abgegriffen ist heute das Wort geworden, das einst in Rom und Griechenland als Goldbarren zugewogen wurde! Hätte eine deutsche Granate den Infanteristen Barbusse bei Crouy oder Sonchez statt seines Nebenmannes zerschmettert, so wäre das kleine Bläschen seines Ruhmes rasch vertrocknet. Die Kameraden im Felde hätten ein paar Erdschollen über seinen Körper, die Zeitungen ein paar Zeilen über sein Gedächtnis geschüttet, und einer der stärksten Verkünder unserer Zeit wäre (wie so viele, deren Namen, deren Werke wir nicht ahnen) spurlos im riesigen Mörser der Vernichtung zerstampft worden. Heute aber, kaum ein halbes Jahr nach seinem Erscheinen, trägt dies Buch Le feu auf dem Umschlag schon den erstaunlichen// Vermerk „Hundertstes Tausend“. Und eine Jugend in Frankreich und weit darüber hinaus, eine ganze Welt sieht in Henri Barbusse den berufenen Verkünder ihres innersten Gefühls.
Dieses Welterfolgsbuch, das mit einer explosiven Kraft wie seit Nana kein französisches Werk sich in die Zeit geschleudert hat, ist es ein Roman? Fast wäre man geneigt, zu sagen: das Gegenteil eines Romans. Denn Roman meint doch eigentlich Erfindungswerk, Phantasieprodukt, verwandeltes, gesteigertes, umgestaltetes Leben — „fiction“ nennt der präzise englische Sprachgeist kurzweg alle schöngeistige Prosa — dieses Buches Wert dagegen ist in erster Linie seine Nichtbindung, seine nackte, unmittelbare Wahrhaftigkeit und Tatsächlichkeit. Barbusse versucht nicht das Blut rosenrot zu färben und den Krieg in ein bravouröses Jugendspiel umzulügen, er verschmäht patriotisches Pathos als Steigerung und den berühmten Schützengrabenhumor, von dem die im Hinterland so viel zu faseln wissen, als Milderung der tragischen Geschehnisse. Er dichtet nicht zu, er harmonisiert nicht den Widersinn, er schildert das Leben, und mehr noch als dies den Tod im Kriege, die Existenz des französischen Infanteristen in Dreck und Feuer, der teuflischen Sphäre, der irdischen Hölle.
Ein Tagebuch also aus dem Krieg, eines von Tausenden, das erste nicht und gewiß nicht das letzte aus unserer, in ein Hüben und Drüben zerrissenen Welt. Aber warum trifft gerade dieses so mitten ins allgemeine allmenschliche Gefühl, warum entlockt es, ähnlich einem antiken Drama, zugleich mit unendlichem Grauen auch jene geheimnisvolle schreckhaft-schöne Erregung der gepreßten Brust, die das Gräßliche zum Tragischen, das Sinnlose zum Symbol, das bloß Schmerzhafte zur seelischen Erschütterung erhöht? Warum dies Buch von allen so sehr und für eine ganze Welt? Es ist immer schwer, bei einem großen Kunstwerk die einheitliche Norm seiner Wirkung zu finden, denn unendlich viele unterirdische Kräfte kristallisieren seine wirkende Kraft, aber ich glaube, hier beruht der unvergeßliche Wert des Werkes vor allem auf seiner einzigartigen Optik, seiner doppelten Perspektive: daß es einerseits aus dem tiefsten menschlichen Abgrund des Leidens, aus der dumpfen Erdhöhle des Schützengrabens vom französischen Infanteristen Barbusse und
gleichzeitig aus freiester moralisch-menschlicher Höhe vom ‚allweltlichen Dichter Barbusse gesehen ist. Der Schauende, der Leidende ist als Atom in dem Chaos der Millionen verloren und doch gleichzeitig ihm entwunden durch seine geistige Freiheit, die selbst in dieser Hölle des Hasses und der befohlenen Zerfleischung die Fähigkeit der Liebe und Versöhnung nicht für einen Augenblick preisgibt. Darum zeigt dies sein Buch ebensoviel Meisterschaft der Kunst wie der Menschlichkeit.
Schon die rein literarische Technik ist in Le feu eine ganz erstmalige und persönliche. Nichts wird Eigenschicksal darin, alles nur kollektives Erlebnis. Nicht das Tagebuch eines einzigen Soldaten bietet er dar, sondern das Journal d‘une escouade, das Erlebnis einer Gruppe, das Schicksal seines Infanteriezuges. Zwischen den beiden bisherigen Möglichkeiten der dichterischen Darstellung, der von außen oder innen, der objektiven oder der subjektiven, hat Barbusse hier die dritte gewählt: die kollektive. Der Krieg ist nicht wie bei Tolstoi mit allgegenwärtiger Eindringlichkeit in allen seinen Formen, aus allen seinen Stockwerken zugleich gesehen, in der Stube des Feldherrn, im Gemach des Kaisers, in der Seele des Bauern oder des Offiziers, unter dem unendlichen Horizont der Weltgeschichte; nicht aber auch wie bei Liliencron und Stendhal bloß aus der Optik des eigenen Auges, des persönlichen Gesichtsfeldes. Hier ist das erlebende, schauende Ich zu einer neuen Einheit verzehnfacht, hier spricht und schildert statt des einzelnen die Kameradschaft der siebzehn Mann, die in diesen hundert Wochen in der feurigen Esse gemeinsamen Leidens zu einer einzigen Einheit zusammengeschmolzen ist. Der Infanteriezug, die kleinste militärische Einheit des Weltkrieges, sie erzählt in dem Buche den gigantischen Krieg.
Barbusse, ihn selbst, den Dichter, ihn spürt man vorerst gar nicht. Er ist gleichsam nur Trichter des Grammophons, in den diese siebzehn Stimmen sprechen und stöhnen, der anonyme Horcher und Künder ihrer Leiden, er ist unsichtbar wie der Maler vor dem Bilde, das er von außen mit dem Innersten seines Wesens füllt. Aufgelöst in brüderliche Gemeinschaft erlebt er nichts abgesondert und persönlich mehr, aber was er erlebt, lebt er mit siebzehn Seelen. Er ist der Horchende und darum der Schweigende, er läßt die Stimmen um sich aus dem Leben in sein Buch hineinsprechen, wie sie sprechen, und fälscht die Worte der Kameraden nicht um. Er läßt ihnen das Eckige und Brockige ihrer Bauernsprache und damit die Unmittelbarkeit des Ausdruckes, er poliert den rauhen Dialekt nicht ab und lackiert ihre Rede nicht mit Aphorismen und Reflexionen. Im Pariser Welsch, im Argot ist drei Viertel dieses Buches geschrieben und darum kaum für jene verständlich, die ihr Französisch aus Grammatiken und von braven Gouvernanten lernten, aber selbst der seinen Sprachenschatz auf dem Montmartre ergänzte, stolpert über manches Wort, das die Akademie im Jahre 1914 noch nicht kannte und erst der Schützengraben gestanzt hat. Meisterhaft ist diese neue Technik der Gruppendarstellung und vor allem: sie ist mehr als Technik, weil sie nicht dem Kunstgriff eines geschmeidigen Literaten entwuchs, sondern einer menschlichen Notwendigkeit, dem treu-dankbaren Gefühl einer hundertwöchigen Gemeinschaft unter dem gleichen nächtlichen Zelt aus Segeltuch, und jenem anderen, feurig gesponnenen der deutschen Granaten. Losgerissen von der eigenen heimatlichen Welt, eingeschüttet in die unendliche des Krieges, wird diese Handvoll Menschen ihm seine Heimat, seine Familie, sein Volk. Was er lebt, lebt er mit ihnen und durch sie, sie haben ein Leben und einen Tod. Wie in der Barke des Odysseus vor Scylla und Charybdis die Ruderer sich zusammendrängen und wissen, daß in der nächsten Minute die unsichtbare grausame Hand in ihre Reihe greifen und zwei von ihnen schlingen wird, und keiner weiß es noch wen, so kauern diese siebzehn hier tagelang, nächtelang zusammen in ihrer Deckung, und die Urangst preßt ihnen die letzten Worte aus der Seele. Und diese Worte der Angst vor dem Tode und anderseits die dumpfen tierischen Schreie der ewigen Ekstase vor dem täglich neugeschenkten Leben — stärker als all die schönen Worte, mit denen die rückwärts heimischen Dichter und die Pariser Zeitungen den Krieg „verklären“ — sie sind die unbeschreiblichen unvergeßlichen im Werke des Henri Barbusse, diese Gespräche im Dunkel des Lebens vor dem Dunkel des Todes.
Und der ganze Krieg, der unübersichtliche, breite, vielfältige, massige, gigantische Krieg, er ist in diese Gespräche einfacher und eben in ihrer Schlichtheit ergreifender Menschen ganz klein zusammengeballt wie in einen winzigen Knäuel. Aber die Stunden, die langen unzählbaren Stunden des Wartens — Warten ist ja die Haupttätigkeit dieses Krieges, Warten auf Befehle, auf Entscheidungen, auf Ablösung, auf Urlaub, auf Tod, auf Frieden, auf Menschlichkeit — sie rollen ihn allmählich auf. Gleichsam mit kindlich spielender Hand lockern die Gespräche Masche um Masche dieses ungeheure stählerne Netz, mit dem Frankreich und unser ganzes tragisches Europa überspannt ist, sein ganzes phantastisches Nervengewebe wird deutlicher sichtbar in diesen bäurischen Bemerkungen als es jemals kalte erklärende Darstellung zu veranschaulichen vermöchte. Ich will an Beispielen zu zeigen versuchen, wie diese Technik des Gespräches bei Barbusse im Spiel den ganzen Mechanismus des Krieges auseinanderlegt. Es ist Ruhe-//pause. Kameraden rüsten in müßiger Stunde ihre Rucksäcke und schütten sie vergleichend aus. Stück um Stück sieht man darin das ganze befohlene Rüstzeug des Infanteristen, seine militärische Notdurft und zugleich in dem heimlich zugepackten jedes Tornisters den individuellen Charakter jedes einzelnen. Der holt die Photographie seiner Frau mit den beiden Kindern heraus, der zweite ein Andenken, der dritte ein Kartenspiel, der vierte ein handliches Stoßmesser und sie betasten ihre kläglichen Kostbarkeiten gegenseitig Stück um Stück. Sie vergleichen, wie man praktischer anordnen könnte und packen gleichsam vor den Äugen des Lesers ihre Tornister aus, sie sprechen und vergleichen, sie erinnern sich an diesen winzigen Gegenständen an Vergessenes zu Hause und im Krieg und allmählich rollt die ganze Heimat, die ganze Ferne aus den geöffneten Rucksäcken in das Buch hinein. Oder einer kommt zurück von der Heimat; eine „bonne blessure“, wie dort drüben die französischen Infanteristen zärtlich den Schuß nennen, der statt des Todes dem Glücksvogel ein paar Wochen Urlaub bringt, hat ihm Gelegenheit gegeben, sich rückwärts aufzuhalten, und nun schildert er den Weg vom Spital zur Etappe, von der Etappe ins Hinterland, schildert die Vexationen der französischen Bureaukratie, den Hochmut der Offiziere, all die bitteren und süßen Erfahrungen mit den verschiedenen Samaritern. Die Kameraden mengen ihre Erfahrungen ein und aus Rede und Widerrede erwächst allmählich eine (wenig freundliche) Schilderung des französischen Hinterlandes. Mit ein paar losen Einzelbildern ist blitzschnell so die geschlossene Vision des komplizierten Gefüges sinnfällig gemacht, auf dem die vorderste kämpfende Front elastisch ruht. Oder eine rasche Lektion über Artillerie! Sie wachen auf vom Donner einer Kanonade und beschreiben gegenseitig nach den Tönen der Geschosse die Kaliber und ihre Wirkung. Wie der Jäger die Stimmen der Tiere, so erkennen diese Höllenbewohner am bloßen Geräusch die Geschosse, sie unterscheiden genau, bloß nach dem Schall, auf Zentimetergröße die schweren Granaten und agnoszieren mit ganz besonderem Grauen die zerschmetternden österreichischen Mörsergeschosse, die sie vor Verdun zuerst kennengelernt. Sie schildern mit ihren Rufen und Schreien und Scherzen unbewußt die Flugbahn, die Wirkung, die Schnelligkeit der Geschosse und unmerklich wird aus dem bäuerisch und banal geführten Gespräch ein ungeheuer anschauliches Bild der fürchterlichsten Waffe dieses Krieges, der Artillerie.
Aus solchen kleinen Darstellungen, Episoden und Anekdoten ist das ganze Buch gestaltet. Einzelne sind unvergeßlich in ihrer Schönheit oder ihrem Grauen. Da ist die des Fliegers, der Sonntag morgens über den Stellungen kreist und zu beiden Seiten der Schützenlinie je eine dunkle, viereckige, gleichartige Masse wahrnimmt. Er schraubt sich nieder, dies Seltsame zu erkunden, und sieht zur Rechten und zur Linken eine gleichzeitige Feldmesse, die deutsche und die französische. Von beiden Seiten tönt zu gleicher Stunde zum gleichen Himmel und zum gleichen Gott Gesang und Gebet zweier Sprachen, zweier Völker empor, aber ehe noch die frommen Warte zu ihm aufrauschen, splittern schon die Schrapnelle der Abwehrgeschütze um seinen Apparat. Oder jene andere Geschichte, die des Soldaten aus Souchez, der in der Wüstenei des früheren Ortes, im zerschmetterten Nichts des Heimatsortes wie ein Blinder umhertappt und sein eigenes Haus nicht mehr zu erkennen vermag, so gänzlich um und um ist seine Heimat verwüstet. Oder die des Soldaten, der die Leiche seines Bruders — des letzten von sechs — sucht und nicht weiß, daß sie eine Armspanne von seinem Lager hinter dem Erdwall liegt, und die Uhr, die er die ganze Nacht ticken hörte, die des Gesuchten ist, die mit ihrem kalten Mechanismus sein warmes junges Leben überdauert. Unvergeßlich durch Grauen, unvergeßlich durch Wirklichkeit, unvergeßlich durch Kunst der Darstellung sind diese Episoden, und doch, und doch: immer und immer stöhnt der einzelne der französischen Soldaten, klagt der Dichter aus ihnen verzweifelnd: „Qu ne peut pas se figurer!“ Man kann es sich nicht vorstellen: das wird der immerwährend wiederkehrende Rhythmus, das Leitmotiv des Werkes. Entsetzlichstes stellt Blatt um Blatt der Dichter dar und fühlt doch immer, er sagt nicht genug, nicht genug des Leidens, nicht genug der Qual. Denn selbst wenn er alle Höllen dieses Krieges schildert, das Grauen das entsetzliche, wie dies darstellen, die unsichtbarste und grausamste aller seiner Qualen, seine Unendlichkeit, die Zeit, die langsame, allzu langsam fließende Zeit? Sekunden und Minuten, die kann man mitdenken, aber die Monate, die Jahre, wie sie fassen, diese Dauer, diese Monotonie, diese Ewigkeit? Sie verzweifeln, die französischen Infanteristen, und er verzweifelt mit ihnen, sie an der Welt, er an der Kunst. Das äußerste Leiden der Menschen wird hier zugleich zur höchsten Not, zur Verzweiflung des Künstlers.
Endlosigkeit. Zermürbung, Müdigkeit, Unabsehbarkeit dreier Jahre, diesen letzten Höllenkreis des französischen Infanteristen von heute, den Zola in seinem Débacle noch nicht kennen konnte, ihn schildert heute Barbusse seinen Landsleuten und der Welt. Als Drohung hält er den politischen Patrioten und hinterländlerischen DurchHaltern diese letzte Qual ihrer Opfer entgegen, kein Leiden schildert er, der Soldat und Kämpfer war, ein makelloser Zeuge, so grausam als dieses der unermeßlichen Dauer, vor der es keine Rettung gibt. Denn auch die Pause, der Urlaub, die angebliche Rast, auch sie ist den Heloten des rasend gewordenen Nationalismus, den Infanteristen vergiftet, eine grausame Farce grinst sie aus diesem Buche der Qual. Barbusse schildert den ersten Besuch der Urlauber in Paris. Noch klebt der Schmutz des Erdloches an ihren Kleidern, noch gellen ihnen die Ohren vom Donner der Geschütze, noch krampft sich ihnen die Seele von den Bildern des Grauens. Und sie kommen über die Boulevards, die von Müßigen strotzen, die Automobile sausen geputzte Menschen hin, die Geschäfte funkeln Lockung, die Frauen mit den Blicken. Nichts, niemand weiß von Krieg, allen diesen Menschen ist er fern wie der strahlende Himmel über den Dächern. Aber doch: hier ist ein Zeichen. Vor einem Geschäft sammeln sich Leute und bestaunen hinter der Glasscheibe ein sonderbares Ding. Was ist es? Sie drängen sich mit und sehen die lebensgroße Wachsfigur eines deutschen Offiziers in echter deutscher Uniform mit dem eisernen Kreuz aus Pappe, die um Gnade kniend, ihre beiden Wachsarme bettelnd zu der ebenfalls wächsernen Figur eines französischen Offiziers emporhebt, dessen karminrote Kinderaugen und blöde Glasaugen verdreht auf ihn niederstarren. Unter dieser einfältigen Spielerei steht groß angeschrieben „Kamerad, das Spottwort für die Deutschen. Die Soldaten sehen hin, Grauen und Ekel faßt sie an: so denken sich also hier diese Müßiggänger die Deutschen, so denken sie sich hier im Hinterlande den Krieg! Eine elegante Dame streift sie parfümiert an und fragt: „Nicht wahr, meine Herren, sie, die sie wirklich Soldaten sind, sie müssen das auch gesehen haben?“ Und die beiden, gewürgt von Ekel, stammeln ein furchtsames „Ja.. ja…“ und die anderen glänzten vor Freude. Sie gehen weiter in ein Cafe, Plauderer reihen sich ihnen an, rühmen sie als echte Soldaten, ein Herr erzählt, wie gern er, der Begeisterte, in den Krieg gegangen wäre, aber das böse Ministerium gebe ihn nicht frei, ein anderer erklärt ihnen, daß er hier eben so wichtig für den Staat sei, als sie draußen. Wieder sagen sie: „Ja…, ja…, ja…“ gutwillig und scheu zu allem, aber sie spüren tief innen, zwischen ihnen und jenen ist eine Grenze, sie sprechen verschiedene Sprachen. Und sie irren wieder weiter, die Armen, namenlos vergessen fühlen sie sich in der Großstadt, in diesem Paris, das nur an sich selbst und// sein Vergnügen denkt, und Plötzlich sagte der eine: „Weißt du, es gibt kein Land heute mehr, sondern zwei Länder im Land, und die sind einander zu fremd. Dort draußen ist man zu unglücklich und hier ist man zu glücklich.“ Verloren fühlen sie sich in der Hauptstadt Frankreichs, die sie mit ihrem Blut in tausend Tagen verteidigten, und gesenkten Hauptes wandern sie aus der steinernen Fremde zurück in ihre andere, in die furchtbare Heimat, in ihre Schützengräben.
Sie sind wieder zu Haufe, sind wieder Familie, die „escouade“. Nun aber hebt der letzte Akt dieser menschlichen Tragödie an. Sie wachen nachts auf vom Alarm und werden aus dem Schlaf in den Sturm geschickt. Die Schilderung dieser Apokalypse unserer modernen Menschheit hat Barbusse so grausam, so entsetzlich lebendig — oder besser: so entsetzlich mörderisch — gestaltet, daß man sie nicht wieder erzählen vermag. Die Seele verbrennt einem, daß es solche Stunden auf unserer Erde gibt, und der Atem wird nicht mehr frei für das Wort, davon zu sprechen.
Dann kommt die Nacht nach dem Sturm, nach dem Gemetzel. Es ist vorbei. Die letzten Zwei von den einstmals Siebzehn der Escouade streifen über das von den Granaten zerhämmerte Feld. Sie suchen die Kameraden, die vor einer Stunde mit ihnen beim Kartenspiel saßen, und finden als zerfetzte Leichname die einzelnen Brüder, die sie geliebt, mit denen sie durch diese zwei Jahre verwachsen waren wie Muskel und Haut. Aber doch: in ihr menschliches Grauen, ihre brüderliche Trauer vermengt sich unaufhaltsam die dämonische urweltliche Ekstase der eigenen Existenz, der rasende Triumph: „Ich lebe noch! ich lebe noch!“ Sie haben selber getötet, sie sehen den Tod um sich mit blutenden Schädeln und grinsenden Fratzen und wissen doch nur das eine, daß sie selbst noch leben. Sie irren weiter von Leiche zu Leiche. Immer wieder, immer verzweifelter klingt vor den furchtbaren Bildern des Grauens das Leitmotiv des Buches auf „on ne peut pas se figurer“, man kann es sich nicht vorstellen. Und sie verstummen, sie kriechen zurück mit ihren blutigen Händen durch den Stacheldraht und kauern sich wieder hin in ihre Winkel.
Und nun beginnt ganz leise Stimme um Stimme aus dem Dunkel zu sprechen. Ganz namenlos sind sie schon, diese Stimmen der Übriggebliebenen, und manchmal tönen sie dumpf, als sprächen die Toten, die neuen Zehntausend, die neuen Hunderttausend mit, die jetzt vor der deutschen Linie wertlos liegen wie Kot. Sie sprechen, die namenlosen Stimmen, vom Kriege und suchen seinen Sinn. Aber nicht von Elsaß-Lothringen reden die Infanteristen und von Marokko und Syrien wie ihre Minister, sondern nur von dem Leiden und seinem Ende. Einer wagt noch die Phrase, die angelesene, man müsse Deutschland zerstören, damit der Militarismus vernichtet sei. Aber die anderen glauben der Phrase nicht mehr. „Würde Deutschland auch geschlagen, so würde der Militarismus in einem anderen Lande neu erstehen,“ so sagen sie. Nicht Deutschland müsse im Kriege besiegt werden für immer, sondern er selber, der Krieg; nicht Deutschland ist der Feind des Volkes, sondern der Krieg. Zwei Armeen, die sich bekriegen, das ist ja eine einzige große Armee, die Selbstmord begeht!“ ruft einer aus und alle stimmen stürmisch ihm zu. Kein Wort des Hasses haben diese französischen Kämpfer für Deutschland, und die eben noch mit den Handgranaten in ihre Linie gestürmt waren und mit den Messern wie die Bestien gewütet, sie haben Mitleid mit den Opfern des Krieges und Haß nur gegen den Krieg und all diejenigen, die sie hineingetrieben. Nie dürfe ein solches Leiden mehr über die Menschheit kommen, so schreien sie aus ihrer Not, und nur wenn dies der letzte Krieg der Menschheit gewesen, könne ihr Leiden sinnvoll sein. Keine Provinzen könnten ihr Leiden bezahlen, nur dieser eine letzte Gedanke, daß vor diesem Übermaß ihres Leidens die Menschheit zurückschrecken würde, noch einmal das Kreuz des Krieges freiwillig auf sich zu nehmen. „Guerre à Ia guerre!“ gellt es aus den französischen Reihen über das Leichenfeld wie die Posaune des Gerichtes.
Und das ist Trost für sie, unendlicher Trost, daß sie alle als namenlose Heillande mit ihrer Qual die ganze Zukunft vom Kriege erlösen, daß dies Beispiel alle Generationen für immer ernüchtern wird. Aber nur eine Sekunde lang beruhigt sie dieses Idol. Denn wer, so fragen sie sich, wird dieses unser unermeßliches Leiden der Menschheit schildern, wer weiß es denn? Kein Dichter kann es sich von heimwärts erdenken, und, die Kriegsberichterstatter, die „touristes des tranchées“, die Spazierreisenden des Schützengrabens, auch sie haben nur einen Teil ihres Leidens gesehen und nicht den fürchterlichsten gefühlt: den Zwang, die Dauer, die Unendlichkeit. Wer weiß es, wer kennt es, dies Schicksal des Infanteristen? „Wir! Wir allein!“ antworten die Stimmen. „Wir! Wir allein, die wir es erlebten!“ Aber wie ein Hammer fällt das Bedenken eines auf ihr Herz. „Auch wir nicht, auch wir nicht!“ schreit er auf. „Wir vergessen! Es ist zu viel. Man kann es nicht behalten: Auch wir, auch wir werden unser eigenes Leiden vergessen.“
Wie ein Feuerbrand fährt dieser Gedanke, der fürchterlichste des fürchterlichen Buches, durch sie hin. „Ja, wir vergessen!“ schreit der eine. „Wenn ich nach Hause komme und die eigenen Briefe lese, die ich aus dem Felde geschrieben, so erkenne ich mich, so erinnere ich mich nicht mehr.“ Und ein anderer: „Es ist zu viel, um alles zu behalten. Man vergißt die Dauer dieser Nächte, die Qual der Entbehrung, nichts bleibt, als Orte und Namen wie im amtlichen Communiqué.“ O Durchlässigkeit des Gefühls, o Unbeständigkeit des Erinnerns, o Mattigkeit des Gedenkens! Wie Verzweifelte klagen sie sich selber an. „Wir sind „machines à oublier“, Maschinen des Vergessens. Der Mensch ist nur ein Wesen, das ein wenig denkt und viel vergißt.“ Auch sie, die einzigen wahrhaften Zeugen, werden stumm sein, vor dem Tribunal der Menschheit, auch sie nur stammeln können, statt zu sprechen! Als Helden wird man sie schildern, die sie sich als Märtyrer fühlen, als die maßlos schuldlos Leidenden, ihre Taten wird man kennen, die aneifernden, und nicht ihr Leiden, das allein die Generationen der Zukunft erlösen kann. Wozu dann diese Qual, dieses Leid? Verloren ist ihre Hoffnung: „Tout le malheur est perdu!“ Alles Leiden ist -vergeblich, wenn es die Menschheit nicht weiß, wenn niemand es wahrhaft bezeugt.
Dieser Zeuge, diese Stimme zu sein, die das Leiden des Infanteristen, des französischen, für alle Zeiten der Menschheit zur Warnung kündet, hat Henri Barbusse versucht. Wie ein gigantisches Grabdenkmal, gequadert aus Qual, gemörtelt mit Tränen und Blut, ist es über dem Gedächtnis seiner gefallenen Kameraden getürmt, wie ein Fanal der Warnung flammt die erhobene Flamme seiner Leidenschaft in die Zeit hinein. Es wird dauern als Schutzwall gegen die trübe Flut der Gedichte und Traktate der Maulhelden, die eilig aus der Enthobenheit ihrer Stellung eine Erhabenheit des Gefühls gemacht, als Warnung und ewiger Hohn der vorsichtigen Patrioten, die so beredt das große Stahlbad gerühmt und sich selbst gehütet, nur die Fersenspitze darin zu netzen – es wird dauern, weil sein Gefühl aus Erlebnis gestaltet ist und weil dies Gefühl keine Grenzen und Völker mehr kennt, nur seinen heiligen Ursprung: die Menschlichkeit. Inmitten der Kämpfe um Entscheidungen der Kraft und des Besitzes ist es schon ein Sieg, der einzige, der im letzten Sinne zählt: der Sieg des klaren Geistes über den Widersinn der Erscheinung, der Sieg der Wahrheit über die Phrase und ihren erbärmlichen Knecht: das Wort.
In: Neue Freie Presse, 8.7.1917, S. 1-3.
Grete Urbanitzky: Der wilde Garten
Als ich ein kleines Mädchen war und in das Lyzeum ging, damals, als ich mich weder gegen die Quälereien einer machtlüsternen Lehrerin noch gegen das so bitter empfundene Unverständnis der „Großen“ wehren konnte, damals, als ich in flüsternden, heimlichen Gesprächen mit Gleichaltrigen erfuhr, daß es keiner besser ging, damals, als jeder unsere eckigen Glieder, unseren unreinen Teint belächelte und keiner etwas mit uns anzufangen wußte, da tat ich einen Schwur. Erinnert ihr euch noch daran, liebe, scheue Mitverschworene, mit denen ich damals in dem verstecktem Winkel von meines Vaters Garten saß? Erinnert ihr euch? Wir hatten ein Buch der Marlitt — oder war es die Eschstruth? vor uns liegen und waren wild empört über die Schilderungen junger Mädchen. So sind wir nicht! riefen wir durcheinander. Weiß denn niemand etwas von uns? Damals schwor ich euch, nicht zu vergessen wie alle anderen, nicht wie alle anderen, groß geworden und selbst zur Macht über Unerwachsene gelangt, unsre Wirrnis und unsre Not an jenes verlegene Lächeln der Erwachsenen zu verraten: ach, damals waren wir töricht! Und damals schwor ich euch, einmal ein Buch zu schreiben, in dem dies alles gesagt würde, was die Bücher, die wir kannten, verschwiegen, was uns aber so sehr verwirrte und beschäftigte, von unserem Kampf gegen jene Großen, die uns allein ließen in jener Zeit, da diese Macht auf uns einstürmte, mit der auch die Erwachsenen nicht immer fertig werden: Eros.
Und so habe ich denn dieses Buch geschrieben und mein Versprechen gehalten. Ich habe das Buch Der wilde Garten genannt, weil jede Jugend ihm gleicht und jede der Freude und Liebe bedarf wie der Garten der Sonne. Und getreu meinem Schwur habe ich nichts verschwiegen und maskiert, woran sich Erwachsene sonst nicht immer gerne erinnern, von unseren törichten Träumen und Vorstellungen bis zu den Dingen, die wir einander nur im Dunkel erzählten und beichteten. Und vieles noch ist in dem Buche aufgezeichnet, was die Reifen und Erwachsenen nicht wissen oder nicht wissen wollen und was mir manche anvertraut, die noch dem wilden Garten angehört. So soll dieses Buch Schwester sein jener Bücher, die Männer, groß und reif geworden, eines Tages über die Wirrnisse ihrer Knabenzeit schreiben, nicht nur zum Gedächtnis, sondern mehr noch für jene, denen als Eltern oder Erziehern Jugend anvertraut wurde. Und so habe auch ich meinen Schwur nicht nur für euch gehalten, liebe, kleine Mitverschworene von einst, die ihr aus dem wilden Garten sicherlich schon in Heirat und sicheres Sein gefunden habt und voll lächelnder Nachsicht der wirren Zeiten der Pubertät gedenkt, sondern für sie, denen heute Töchter heranwachsen, die sich ebenso unverständlich rebellisch gegen manches geheiligte Gesetz der Sitte gebärden, wie wir es taten und wie es jede Jugend immer wieder tun wird. Die Erwachsenen vergessen so leicht, „wie es damals war“. Und doch sind auch wir nicht schlechter oder unmoralischer gewesen als die Altersgenossinnen unserer Mütter, die uns immer als leuchtendes Beispiel vorgehalten wurden. Nur anders. So wie jede Jugend eben anders ist…
In: Die Bühne, Nr. 159, 1927, S. 54.
Hans Tietze: Richtlinien für ein Kunstamt (1919)
Die „Richtlinien für ein Kunstamt“, die Adolf Loos in der letzten Nummer des Frieden veröffentlicht hat, sind weniger Gesetze als Gebote; sie erstreben keine erschöpfende Behandlung des großen Themas, aus dem nur einzelne Punkte zu aphoristischer Stellungnahme herausgerissen werden; sie kümmern sich nicht um die verwaltungstechnische, finanzielle oder politische Durchführbarkeit der aufgestellten Forderungen, sondern wollen dem verantwortlichen Leiter eines einstigen Kunstamtes, in welchem Rahmen immer dieses gebildet und von wem immer es verwaltet werde, den richtigen Weg weisen und noch mehr ihn hindern, von diesem Wege abzuweichen. Diese Richtlinien sollen ein Stacheldraht sein; eine erbitterte Kenntnis der uns umstrickenden kulturfeindlichen Kräfte spricht aus ihnen und verrät den mahngebenden Einfluß des Mannes, der ihnen die Fassung gab; das beste von ihnen ist mehr die Summe seiner Lebenserfahrungen als das Ergebnis der wochenlangen Erörterungen, zu denen er Gleichstrebende um sich versammelt hatte. Adolf Loos stellt sein Programm auf, das weniger als Grundlage einer Kunstreform denn als der in ästhetische Thesen formulierte Ausdruck einer Weltanschauung zu verstehen ist; auch der paradox oder scheinbar beiläufig hingesetzte Satz hat tieferreichende Wurzeln und dichte Verbindungsfäden zu allem Übrigen.
Darin liegt die Schwierigkeit, sich mit den die bildende Kunst allein betreffenden Teilen gesondert auseinanderzusetzen; immer ist es der ganze Loos, der einem gegenübersteht; sein Programm spiegelt alle Einseitigkeit und allen Widerspruch wieder, der das Merkmal einer menschlichen Persönlichkeit ist; es enthält aber auch Sätze, die man in der Tat im Amtszimmer des künftigen Kunstverwesers eingerahmt hängen sehen möchte. Vor allem müßte der Leitsatz: „Der Staat hat sich zu entscheiden, ob er den Künstlern helfen will oder der Kunst“ sein Morgen- und Abendgebet sein. Alles was bisher auf dem Gebiete der öffentlichen Kunstpflege getastet und geleistet worden ist, alles was zu ihrer Schlimmbesserung für die Zukunft gefordert und geplant wind, krankt an der unreinlichen Scheidung zweier möglichen Prinzipien; wie sehr auch mir gerade hier der Kern der ganzen Frage gelegen zu sein scheint, habe ich erst vorgestern an dieser Stelle — „Die Demokratie und die Künstler“ — darzulegen versucht. Aber ich glaubte auch andeuten zu sollen, wie eine Überleitung aus den jetzigen widersinnigen Verhältnissen zu einem gedeihlicheren Zustand angestrebt werden könnte; Loos‘ Richtlinien, die ja eine bewußte Zukunftskonstruktion sind, verzichten aus diesen Kompromiß.
Eine allgemeine Volkserziehung zur Empfänglichkeit für Kunst oder wenigstens gegen das Widerstreben gegen sie muß in der Schule beginnen; sie darf nicht darin bestehen, daß das Kind zur Kunstübung oder zum Kunstgenuß angeleitet wird, wodurch es nur einem neuen heuchlerischen Tyrannen ausgeliefert würde, sondern beschränkt sich auf eine Gewöhnung des jugendlichen Organismus an physische und psychische Natürlichkeit. Ob aber aus diesem vom wüsten Gestrüpp unserer jetzigen Schulerziehung gereinigten Boden eine gesunde Saat aufgehen wird, ist eine Frage in erster Linie sozialer Lebensreform; in den Paragraphen „Speisesäle“ will Loos wohl in dieser Richtung deuten, denn die sonst von ihm empfohlene Ausstattung der Schulräume mit Reproduktionen alter Kunst — was im Prinzip ja auch heute vielfach geübt wird — ist eine wertlose Maßregel, wenn sich die sonstige Existenz des Kindes in greulicher Kunstwidrigkeit abspielt.
Die Anregungen zur Ausgestaltung der Museen bewegen sich im wesentlichen auf den Bahnen, die auch die Fachleute seit Jahren zu schreiten begonnen haben; die Schwierigkeiten, auf die sie dabei stießen, sind durch die allgemeine Umwälzung zum Teil behoben, aber die wichtigste bleibt bestehen: das mangelnde Interesse eines breiteren Publikums, das nur sehr allmählich und vorsichtig gewonnen werden kann. Zu gleicher Skepsis verpflichtet die Erfahrung auch gegenüber der zur Kunstpflege und Kunstberatung gemachten Vorschläge; sie enthalten die Gefahr einer ästhetisierenden Bevormundung, für die weder eine Aufnahmsfähigkeit noch auch die richtigen Persönlichkeiten zur Vermittlung vorhanden sind. Auch für die Kunsthistoriker will ja der Staat nicht sorgen, sondern für die Kunst.
Die Erziehung zum Künstler zu regeln, ist eine der wenigen Formen, in denen der Staat dieses Ziel fördern kann. Hier begegnet sich Loos mit so vielen anderen, die ähnliche Reformen fordern, daß diese in künstlerischen Fragen so seltene Einmütigkeit vielleicht gerade in diesem Punkt eine baldige praktische Lösung erhoffen läßt; mit der vorgeschlagenen Rückkehr zur handwerklichen Schulung allein ist aber nicht gedient, sondern hier muß man den Mut haben, was Loos auf dem ihm genauer bekannten Felde des Bauwesens fordert, auch auf die bildenden Künste zu übertragen. Wie der Anwärter auf die Ausbildung zum Architekten das Maurer-, Zimmermanns- oder Steinmetzgewerbe erlernt haben muß, so ist dem angehenden Maler oder Bildhauer eine solche Erziehung zu geben, die ihn befähigt, zu einem seiner künstlerischen Betätigung verwandten Handwerk — Zimmermaler oder Lithograph, Restaurator, Steinmetz, Drechsler, Ziseleur ecc. — übe[r]zugehen. Nicht daß die künstlerische Ausbildung ein bißchen gebessert wird — was für das Genie ganz ohne Belang ist — ist wesentlich, sondern daß der Durchschnitt der Kunstbegabten den Ausweg aus einer verbitternden Proletarisierung finden könne.
Konsequenter sind die Vorschläge über die Erziehung zum Handwerker und die Anmerkungen zur Denkmalpflege; auch hier wurde manches — und viel weitergehendes — in Fachkreisen längst gefordert, ist manches erst jetzt ins Bereich der Möglichkeit getreten. Anderes könnte ansehbar erscheinen; z. B. daß bei Industrialisierung der Wasserfälle dafür zu sorgen sei, daß zeitweilig der Wasserfall durch die Ausschaltung des Betriebes seine natürliche Gestalt erhält. Hier hat Loos den richtigen Standpunkt verlassen, den er in einem früheren Paragraphen gegen die künstliche Erhaltung alter Trachten und ähnliche Bestrebungen eingenommen hat; gewiß, der Bauer ist kein Spielzeug, aber auch die moderne Arbeit ist es nicht. Wenn ihre Stätten mit Ernst und Sachlichkeit — ohne Schielen nach künstlerischen Nebenwirkungen — geschaffen werden, werden sie sich der Landschaft schmerzlos einfügen Als Schaffender würde gerade Adolf Loos hier seinen Weg sicherer gehen denn als reformierender Theoretiker.
In: Der neue Tag, 30.3.1919, S. 9.
A. F. Seligmann: Kunst und Erotik
Vor einiger Zeit übergab mir ein bekannter Arzt, Leiter eines bedeutenden hiesigen orthopädischen Instituts, ein Mann von vielseitigen Interessen, der einer alten Wiener Künstlerfamilie entstammt, einen Aufsatz, um meine Ansicht darüber zu hören. (Er ist inzwischen als Feuilleton in der Kunstbeilage der Neuen Freien Presse vom 10. März erschienen.) Darin wurde auseinandergesetzt, der eigentliche „Zweck“ der Kunst, über den so viel philosophiert und geschrieben worden, sei „Psychotherapie“. Wenn auch Freud erst diesen Terminus technicus in Mode brachte, so haben, sagt der Verfasser, die Künstler auf Grund ihrer Intuition praktisch Psychotherapie getrieben, solange die Welt steht. „Zweck der Kunst ist nämlich die Entladung“, und ein begeisternder Künstler ist der, „dem es gelungen ist, solcherlei aus dem Dämmer klar an die Sonne zu bringen, das im Unterbewußtsein seiner nichtkünstlerischen Nebenmenschen wogt, ohne je von selber aus dem Chaos Schöpfung werden zu können“.— „Die untätig Reichen und die in ihrem Beruf Unbefriedigten, in deren Leben Bilder, Romane, Theaterstücke erst Lebensinhalt bringen, alle diese Unzähligen, die das große Kunstpublikum ausmachen, haben einen Anflug von Hysterie; was sie im Alltag erleben, genügt ihnen nicht, und sie hören daher umso lauter die Stimmen ihres eigenen Inneren; sie gleichen dem Menschen, der sich beide Ohren fest zuhält und nun das Rauschen des eigenen Blutes hört.“
Ein Dichter wird bei seinen Zeitgenossen um so mehr Erfolg haben, je besser es ihm gelingt, diese chaotischen Empfindungen, die der Weltanschauung und Lebensauffassung seiner Epoche entspringen, aber von den meisten nur im Unterbewußtsein, daher als Verstimmung, als Mißbehagen empfunden werden, gleichsam „als psychischer Athlet aus der Tiefe ans Tageslicht zu heben, so daß es sich zu Worten gestaltet, allgemein verständlich wird und bei seinen Lesern eine psychische Entladung ermöglicht“. Er spricht aus, was seinen Zeitgenossen — oder doch den meisten von ihnen — auf der Zunge liegt, er „schreibt ihnen aus der Seele“, wie man zu sagen pflegt, und verschafft ihnen dadurch ein Gefühl der Befreiung.
In diesen Auseinandersetzungen liegt ohne Zweifel viel Wahres. Indessen wird man gut tun, solche Befreiung oder Entladung nur insofern für den „Zweck“ der Kunst anzusehen, als es sich um die psychologische Wirkung der künstlerischen Darstellung handelt, um den Effekt, den der Stoff, das Gegenständliche dieser Darstellung bewirkt. Man kann sich sehr wohl denken, daß ein höchst bedeutendes Kunstwerk einen Gegenstand behandelt, der an sich gar keine Assoziationen der obigen Art hervorruft — z. B. der berühmte ausgeweidete Ochse, den Rembrandt gemalt hat, bloß weil ihn das Motiv als Komplex von Form und Farbe, Licht und Schatten interessierte. Umgekehrt kann auch irgendein künstlerisch wertloses — ich meine als Formgebilde wertloses, also dilettantisches oder kitschiges — Gemälde, Drama oder Musikstück den bewußten empfindlichen Punkt in der Seele des Beschauers oder Hörers treffen und die erwähnten Wirkungen im höchsten Maße hervorbringen. Das ist ja das Geheimnis des Erfolges gewisser Modewerke, die den enthusiastischen Beifall des Publikums erwecken, aber sobald die aktuellen, in der Zeitgelegenen psychologischen Voraussetzungen nicht mehr vorhanden sind, abfallen und gar keinen Eindruck mehr hinterlassen.
Die heutigen „Verdrängungserscheinungen“ (d. h. Erscheinungen, die darauf beruhen, daß gewisse Vorstellungen oder Vorstellungsreihen als störend empfunden und daher ins Unterbewußtsein „abgedrängt“ werden, wo sie mehr oder minder starkes Mißbehagen, ja gelegentlich schwere Erkrankungen des Seelenlebens hervorrufen können) sind, wie der Autor des zitierten Aufsatzes weiterhin bemerkt, zum großen Teil erotischer Natur, „denn dieses Gebiet ist dasjenige, auf welchem die Wolke des Unausgesprochenen, des Unfreien noch am meisten lastet“. Wir stehen tatsächlich diesen Erscheinungen nicht so unbefangen gegenüber, wie das in früheren Epochen der Fall war, in denen man dergleichen entweder als etwas ganz Natürliches betrachtete oder als derbkomisches Motiv behandelte, z. B. in der antiken Komödie, aber auch noch im christlichen Mittelalter (wie wir an den Canterbury tales, den Erzählungen der Königin von Navarra oder dem Decamerone sehen). Als tragisches Motiv wurden damals meist die rein seelischen Konflikte der Liebe, nicht selten sogar der unerwiderten, der platonischen, verwendet (Dantes Verhältnis zu Beatrice, die Fiametta des Boccaccio und zahllose andere Werke aus diesen, aber auch noch, aus späteren Jahrhunderten). Erst nach und nach machte die Zote der Pikanterie Platz, die Derbheit dem feineren Humor oder einer raffinierten Mischung von Sentimentalität und Lüsternheit. In der galanten Kunst des 18. Jahrhunderts ist in dieser Richtung wohl das Äußerste geleistet — aber immer noch mit dem Rest einer gewissen Naivität, die solche Dinge dem Leser und Beschauer vorführt, um ihm eingestandenermaßen Vergnügen zu bereiten. Die Stürmer und Dränger, die Shakespearomanen vom Ende des 18. wie die Romantiker vom Beginne des 19. Jahrhunderts haben dann solche Motive auch im tragischen Sinne verwendet (man denke an die berühmte Entkleidungsszene in Kleists Familie Schroffenstein). Inzwischen hatten sich die Ansichten von gesellschaftlichem Anstand immer strenger entwickelt, ja bis zur Prüderie gesteigert, der Begriff des Verbotenen, Unsittlichen heftete sich in der allgemeinen Meinung immer merklicher an diese Dinge, und selbst heute, wo die Ansichten über das, was einem Publikum im Theater, in Kunstausstellungen u. dgl. in dieser Hinsicht geboten werden darf, weiß Gott, sehr liberale geworden sind, ist ein Rest dieses Gefühls geblieben, so daß man sich bewogen fühlt, solchen Schilderungen oder Darstellungen, wofern sie als echte Kunst gelten sollen, ein Mäntelchen umzuhängen, sie als geniale Kühnheit, als wissenschaftlich wertvollen Beitrag zur Seelenkunde oder gar als „moralisches“ Abschreckungsmittel zu drapieren, wodurch natürlich ihre „psychotherapeutische“ Wirkung nur gesteigert wird. Was früher mit breitem
zynischem Lachen oder mit verständnis-//vollem Augenzwinkern vorgebracht oder entgegengenommen wurde, genießt man heute mit ernster Miene, hochgezogenen Augenbrauen und gesenkten Mundwinkeln als „psychologisches Dokument“ und als „reine Kunstform“, ohne sich das Vergnügen an dem Sinnenkitzel eingestehen zu wollen. — Dies zeigt schon das erst seit neuerer Zeit so gebräuchlich gewordene Wort „Erotik“, ein höchst „wissenschaftlich“ klingender Ausdruck, der der Mythologie entnommen ist, während man früher dafür einen solchen zu verwenden pflegte, der aus der Zoologie geholt war. Es ist ein Eingeständnis der Hemmungen, die nach – oder trotz – den heutigen Anschauungen von Sittlichkeit und öffentlicher Moral mit der Behandlung solcher Themen noch immer verbunden sind, und aus diesen Hemmungen erklären sich auch die „Verdrängungserscheinungen“, von denen der Autor des erwähnten Aufsatzes spricht, und ihre starken seelischen Wirkungen.
Durch den Wegfall der Zensur und durch die Lockerung der gesellschaftlichen Anstandsbegriffe ist eine Situation geschaffen worden, die begreiflicherweise entsprechend ausgenutzt wird. Echte Künstlertemperamente, Reine, denen alles rein ist, die nur ihrem inneren Antrieb folgen, können nun manches frei von der Leber weg sagen, was ihre Seele belastet, können, ohne damit Anstoß zu erregen, manches vor die große Öffentlichkeit bringen, was sie bisher in ihrem Pult verschlossen oder in einem Winkel ihrer Werkstatt aufgestellt hatten. Daß anderseits auch findige Köpfe von dieser Konjunktur Gebrauch machen, indem sie auf die niedrigen Instinkte des Publikums spekulieren, ist selbstverständlich. Die Grenze zwischen diesen beiden Kategorien ist gar nicht leicht zu ziehen und, – so sonderbar es klingt – es wäre damit auch kein Kriterium des Kunstwertes gegeben. Es kommt schließlich nicht so sehr auf die Absicht an, die der Künstler seinem Publikum gegenüber hat, sondern darauf, ob das, was er bietet, ein wirkliches Kunstwerk ist oder nicht. Boucher und Fragonard haben, allerdings in vielen Fällen den Wünschen ihrer privaten Auftraggeber entsprechend, die alleranstößigsten Dinge gemalt, und zwar in einer Art, die das Sinnlichreizende der Darstellung absichtlich hervorhebt. Trotzdem gehören ihre
Werke, auch die geradezu pornographischen, zu den bedeutendsten Kunstleistungen ihrer Zeit und ihres Landes. Daß sie sich so ganz als graziöse Cochonnerien geben, daß sie die Tendenz, durch das Sujet im Beschauer psychologische, wo nicht gar physiologische Wirkungen zu erzielen, ganz unverhüllt zur Schau tragen, macht sie eher sympathisch! Viel weniger ist dies der Fall etwa bei den seinerzeit vielgelesenen und berühmten Romanen J. J. W. Heinses, in denen die nämlichen Absichten, nur schlecht maskiert, zutage treten: es wird darin die Philisterei bekämpft, die Rückkehr zur göttlichen Nacktheit der Antike gepredigt, und laszive Schilderungen erscheinen von mehr oder minder gelehrten Diatriben über Malerei, Musik u. dgl. unterbrochen, wie z. B. im Ardinghello […]
Daß diese Romane weniger wegen ihrer oft scharfsinnigen Kunstbetrachtungen gelesen wurden, als wegen der darin geschilderten pikanten Situationen, läßt sich denken. […]
Im allgemeinen fasste die galante Kunst des Rokokos die Liebe als eine vergnügliche Sache auf. Das änderte sich im 19. Jahrhundert gründlich. Schon die Stürmer und Dränger hatten angefangen, erotische Darstellungen mit allerlei grausigen, ja perversen Elementen zu vermengen; die Romantiker setzten das fort; auch mit der Lupe der Wissenschaft wurden solche Dinge nun betrachtet; späte Repräsentanten dieser beiden Richtungen sind etwa Felicien Rops und Emile Zola. In der neueren Kunst hat sich das noch gesteigert, wie man etwa an Klimt und Schiele sieht, und in der Literatur sind die Beispiele so zahlreich und bekannt, daß wir gar keine Namen anzuführen brauchen. Indessen findet sich gelegentlich auch einmal einer, der sich der früheren Auffassung nähert; so bewegt sich z. B. Franz v. Bayros, von dem wir in dieser Nummer mehrere Blätter bringen, auf einer mittleren Linie zwischen den erwähnten Extremen.
Das Charakteristische erotischer Kunst liegt nun aber gar nicht so sehr im Sujet; die Beziehungen der Geschlechter waren immer ein ergiebiges Motiv für die Kunst, ohne daß man darum solche Darstellungen ohne weiteres erotische nennen dürfte. Vielmehr liegt es in der Art, wie diese Dinge gebracht werden. Man hat von den Frauengestalten Makarts gesagt, daß sie nicht nackt, sondern ausgezogen seien, und das ist ganz richtig. Auch Schwind oder Cornelius haben nackte Frauen gemalt, die aber durchaus unerotisch wirken, und es gibt anderseits Bilder von Klimt, die vollkommen gleichgültige Gegenstände behandeln und aus denen uns ein schwüler Hauch von lasterhafter Sinnlichkeit entgegenweht. In diesem Sinne ist ein Künstler, der vielfach als Erotiker gilt, Arthur Schnitzler, gar kein solcher. Die zahlreichen, dem Liebesleben entnommenen Motive, die er behandelt, sind ihm eigentlich nur Anregungen// für seine künstlerische Gestaltungskraft. In einigen seiner meisterlichsten Werke spielt die Liebe gar keine oder nur eine ganz nebensächliche Rolle, z. B. in Leutnant Gustl, in Professor Bernhardi, im Freiwild, in Literatur, in den Letzten Masken. Ja selbst der Reigen hat bei aller Gewagtheit des Themas seinen Schwerpunkt gar nicht im Erotischen — oder doch nur für diejenigen, die nichts von Kunst verstehen und die allerdings die kompakte Majorität ausmachen; vielmehr in der witzigen und kunstvollen Verflechtung und Führung der Motive, in der außerordentlichen Feinheit der psychologischen Beobachtung, in der sparsamen und dabei unglaublich frappanten Art, in der uns da Typen und Milieus vorgeführt werden. Es ist ja bezeichnend, daß der Autor das vor einem Vierteljahrhundert entstandene Werk damals als unverkäufliches Manuskript drucken ließ und an seine Freunde verschickte mit einer kurzen Vorrede, in der er sagte, er glaube, der Wert dieser Szenen liege „anderswo, als darin, daß ihr Inhalt den geltenden Begriffen nach die Veröffentlichung zu verbieten scheine“. Und er hat damit tausendmal recht! Die Kunst ist ihrem Wesen nach — wie die Natur— weder moralisch noch unmoralisch; sie ist amoralisch. Wenn die Wirkungen, die von dem Gegenstand einer Darstellung ausgehen, stärker sind als diejenigen, die lediglich vom Formalen dieser Darstellung ausgehen, so ist dies ein Beweis dafür, daß entweder der Künstler nicht stark genug war, den Stoff zu bewältigen, oder daß derjenige, der dieser Darstellung gegenübersteht, nicht imstande ist, die künstlerischen Werte zu erfassen. Beide Fälle sind nichts Seltenes.
Trotzdem wäre es unrichtig, die psychologischen Wirkungen, die vom Stofflichen einer Darstellung ausgehen, als unkünstlerisch überhaupt abzulehnen (wie es seinerzeit die Impressionisten getan haben). Vielmehr wird sich der Künstler ihrer sehr wohl als Hilfe zu seinen künstlerischen Zwecken bedienen können. Und es ist sicher, daß die „psychotherapeutischen“ Wirkungen, von denen wir anfangs gesprochen haben, auch von den meisten großen und berühmt gewordenen Kunstwerken ausgehen, weil es eben für jeden großen Künstler, der zu gleich ein bedeutender Mensch ist, als charakteristisch gelten darf, daß er Gegenstände wählt, die von allgemeinem menschlichem Interesse sind und bleiben.
In: Moderne Welt, H. 12/1922, S. 16-18.
A. F. Seligmann: Die Kunststadt Wien
A. F. S.[eligmann]: Die Kunststadt Wien (1919)
Hinunter muß der Erde Pracht
Zum düstern Grabeshügel!
Das Echte rettet aus der Nacht
Die Kunst auf ew‘gem Flügel.
Gustav Schwab
Wahrheiten können nicht oft genug gesagt werden; und so wollen wir uns denn auch nicht abhalten lassen, immer wieder darauf hinzuweisen, daß die Stellung, welche die ehemalige Kaiserstadt in Zukunft einnehmen kann und wird, zum großen Teil, vielleicht sogar ausschließlich davon abhängen dürfte, in welcher Weise sie ihren alten Kunstbesitz erhält, verwaltet und ausbaut. Es ist ja beispielsweise möglich, daß Wien als Grenzstadt an der Donau sich zu einem Umschlagplatz, zu einem Knotenpunkt des Handels zwischen West- und Südosteuropa entwickelt; aber diese und auch andere Entwicklungsmöglichkeiten sind an Vorbedingungen geknüpft, die vorläufig noch nicht erfüllt sind und von denen es auch gar nicht sicher ist, daß sie jemals erfüllt werden. Was aber Wien nicht erst zu werden braucht, was es schon ist und durchdrei Jahrhunderte war: Sitz und Denkmal einer alten, feinen und ganz und gar eigenartigen Kultur, in einer wundervollen Landschaft gelegen, und dadurch ein Anziehungspunkt für Reisende und für solche, die in einer vom Duft vornehmer Vergangenheit durchwehten Umgebung angenehm und behaglich leben wollen — das kann es auch bleiben, wenn es die Quellen dieser bescheidenen, aber darum keineswegs minder wertvollen Existenz nicht selber verschüttet.
Als Residenz und Mittelpunkt eines großen Kaiserreiches hat sich Wien in den letzten 50 Jahren mit erstaunlicher Schnelligkeit sozusagen zur Großstadt entwickelt. Sozusagen; denn eine wirkliche ist es doch nicht geworden und hat dabei viel Wertvolles aus seiner früheren Zeit eingebüßt; prächtige Denkmäler alter Baukunst sind gefallen, die landschaftliche Umgebung ist vielfach entstellt worden. Hand in Hand damit ist aber auch ein Verfall der gesellschaftlichen Kultur gegangen. Durch das Anwachsens eines unsauberen Nachtlebens. durch protzige Geselligkeit und widerwärtigen Snobismus ist um die Reste des alten Wien eine Art von 27-Kreuzer-Newyork entstanden, das den Anschein einer Großstadt erweckt, aber den Sinn für edlere geistige Genüsse abgestumpft hat. Ein ungeheures Publikum ist jetzt vorhanden, das die Operettentheater, die Varietés und Kinos füllt; aber auch in die Schaustätten der klassischen Kunst, in- die vornehmen Konzertsäle und dergleichen eindringt, sich in modernen Kunstausstellungen breitmacht und die feiner organisierten Zuschauer, Hörer oder Betrachter zu einer kaum bemerkbaren Minderzahl herabdrückt. Wer sich erinnert, wie vor 40, 30, ja noch vor 20 Jahren das // Publikum des Burgtheaters, der Oper; der Philharmonischen Konzerte auf seine künstlerische Nuancen reagiert hat und damit dass Publikum von heute vergleicht, wird wissen, was wir meinen. Im übrigen will ich durchaus kein Lobredner des Vergangenen sein. Auch damals war nicht alles, was geboten wurde, gut; manches sogar herzlich schlecht. Auch damals standen Schauende und Hörende wertvollen neuen, aber fremdartigen Erscheinungen (wie etwa Feuerbach, Ibsen, Brahms, Bruckner, Wolf) oft genug verständnislos und feindselig gegenüber – wie das überall und zu allen Zeiten der Fall ist – allein für das Technische der Ausführung im Schauspielerischen wie im Musikalischen fand sich, ähnlich wie etwa beim italienischen Publikum für die Kunst des Gesangvortrags, immer der feinste Sinn. Eine diskrete Bewegung, ein mit halblauter Stimme gesprochener Satz, eine mit vollendetem Geschmack vorgetragene musikalische Phrase konnte jenes leises Murmeln des Beifalls erregen, das, wie der Wind über ein Kornfeld streicht, sich wellenartig durch Parterre und Ränge fortpflanzt und dem wahren Künstler mehr gilt als das laute Klatschen der Menge, die auch den bloßen Kulissenreißer, den brutalen Effekthascher leicht mit derartigen Ausbrüchen lohnt. Von diesem Verständnis für das wesentlich Künstlerische, von dieser, ich möchte sagen, instinktiven Kennerschaft sind heute im Wiener Publikum, namentlich im Publikum der ehemaligen Hoftheater, kaum mehr Spuren zu finden; Teilnahmslosigkeit wie Beifall sind zumeist gleich kompromittierend für das Auffassungsvermögen und den Standpunkt einer „kompakten Majorität“, neben der eine Minderzahl von wirklich kunstempfindenden Zuschauern und Hörern sich nicht zur Geltung bringen kann.
Man spricht schon seit langem von dem Rückgang unseres Theater- und Musikwesens. Das würde nicht viel beweisen; denn auch zu den Zeiten, wo dieses auf der Höhe stand, hat man gewöhnlich über die Gegenwart geklagt und die Vergangenheit herausgestrichen. Eins ist nun freilich richtig: die Zahl der großen Individualitäten hat sich erheblich vermindert; dafür hat sich das Durchschnittsniveau gehoben. Immerhin gibt es auch unter den jetzt wirkenden Wiener Musikern und Dirigenten, unter Schauspielern und Schauspielerinnen, Sängern und Sängerinnen genug starke Talente. Aber sie können sich unmöglich richtig entwickeln, wenn ein verständnisloses Publikum ihre Unarten großzieht,
ihren echt künstlerischen Qualitäten aber kühl gegenübersteht. Es hat wohl immer und überall ein solches Publikum gegeben, aber, daneben fand sich gerade in Wien stets ein angestammter Kreis feiner Genießer aus allen sozialen Schichten zusammen. Und dieser Kreis gab im großen und ganzen den Ton an; für ihn mühte sich der wahre Künstler, das Beste zu geben, und sein Beifall, für das geschulte Ohr sehr wohl von der Claque oder der der rauhen Menge zu unterscheiden, war ihm der schönste Lohn, Anfeuerung und Richtschnur für sein ferneres Streben und Schaffen. Dieser Kreis ist im Begriffe, zu verschwinden.
Gleichwohl hat sich im Wiener Kunstleben noch eine gewisse Tradition erhalten; eine Tradition, die auf manchen Gebieten nicht nur als lokale Besonderheit wertvoll, sondern geradezu mustergültig ist. Noch ist in einzelnen Erscheinungen der Geist und Stil des alten Burgtheaters lebendig, der einst allen deutschen Bühnen Vorbild war, noch gibt es eine Überlieferung in der Musik – in der ausführenden meine ich – die von großen Lehrern in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts übernommen und gepflegt, bis auf die Klassiker, bis auf Beethoven, Schubert, ja Mozart und Haydn zurückgeht und darin einzigartig dasteht. Selbst in den bildenden Künsten, die hier immer nur auf einen recht kleinen Kreis von verständnisvollen Genießern zählen konnten, hat sich trotz der starken modernen Gegenströmungen manches von der Liebenswürdigkeit, Eleganz und Anmut der früheren Epochen erhalten, die jetzt, nachdem sie geraume Zeit unterschätzt worden sind, wieder zu hohen Ehren gelangten.
Diese Überlieferungen nicht erlöschen zu lassen, ist vor allem unsere Pflicht. Die Kunst ist heute doch schon so sehr mit der Lebensführung breiterer Schichten verbunden und bedeutet rein wirtschaftlich so viel, daß nicht nur einzelne bevorzugte Kreise, sondern ein großer Teil der Bevölkerung, vor allem der Staat selber, ein ebenso starkes Interesse an ihrem Bestande und ihrem Gedeihen hat, als an der Existenz von Betrieben, die den Bedürfnissen des alltäglichen Lebens dienen. Und gerade in den Wirkungskreis staatlicher Fürsorge fällt jene Art von Kunstförderung, durch welche die Überlieferung lebendig erhalten und auf die Nachwelt übergeleitet werden kann: die Verwaltung der zwei ehemaligen Hoftheater und der staatlichen Kunstschulen, ferner die Erhaltung und zweckmäßige Aufteilung des überkommenen Kunstbesitzes der Vergangenheit, der alten Paläste und Kirchen, der öffentlichen Sammlungen usw.
Wir sind arme Leute geworden und werden mit Wasser kochen müssen. Aber kochen werden wir doch! Und wer weiß, ob uns nicht die Wassersuppen gesünder sein werden als der – man verzeihe den wienerischen Ausdruck – Pantsch, den man aus schwindelhaften Surrogaten gebraut und unter französischen und englischen Namen aufgetischt hat.
[…]
Wie immer sich die Verhältnisse entwickeln mögen – so viel läßt sich nach menschlicher Voraussicht heute schon sagen, daß das deutschösterreichische Staatsamt für Kunstpflege in Zukunft gänzlich unpolitisch wird geführt werden können – und müssen, wenn es etwas leisten soll. Es wird so ziemlich das einzige Amt sein dem dies möglich ist; denn selbst die staatliche Pflege der Wissenschaft, die doch auch kein Politikum ist oder doch keines sein sollte, kann sich – man denke an das Mittelschul- und Universitätswesen – von politischen Einflüssen und Erwägungen kaum ganz freihallen. Das Amt für Kunstpflege könnte es; denn erstens ist die Anzahl der Künstler und Kunstschüler im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung eine so kleine, daß sie politisch keine Rolle spielt; dann aber ist der Wert dessen, was in der Kunst geleistet wird, vollkommen unabhängig von dem begrifflichen Inhalt des Werkes. Sollte es sich aber um eine dick aufgetragene, in irgendeiner Hinsicht für schädlich erachtete Tendenz handeln, so kann darüber nie das Kunstamt, sondern nur die — Polizei entscheiden, die ja auch im neuen Staat hie und da nötig sein wird. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich in der Theorie gegen jede Zensur bin, ob sie sich gegen den Fortschritt oder gegen den Rückschritt wendet (die schärfste Unterdrückung des Geistes dürfte gegenwärtig wohl im bolschewistischen Rußland zu finden sein!); aber wenn eine solche aus irgendwelchen Gründen geübt werden müßte; so fällt das eben nicht in den Machtbereich des Kunstamtes.
In: Neue Freie Presse, 16.1.1919, S. 1-3.
Kurt Schuschnigg: Das Kulturprogramm der Vaterländischen Front
Kurt Schuschnigg: Das Kulturprogramm der Vaterländischen Front (1935)
In einer vom Kulturreferat der Vaterländischen Front veranstalteten Kundgebung hielt Bundeskanzler Dr. Schuschnigg vorgestern, nach einleitenden Worten des Kulturreferenten Dr. Rudolf Henz, einen Vortrag über die kulturellen Aufgaben der Vaterländischen Front. Er führte zunächst aus, seine Darlegungen seien nicht der Polemik gewidmet und sagte dann u. a.:
Derjenige, der mit ganzem Herzen und mit Stolz und mit Freude sich als Österreicher bekennt, der läuft bisweilen Gefahr, in historischen Reminiszenzen stecken zu bleiben. Es ist meiner tiefsten Überzeugung nach mit eine Hauptwurzel des ungeheuren geistigen Elends und der geistigen Kümmerlichkeit, der man hierzulande manchmal begegnet, daß man anderthalb Jahrzehnte lang aus Furcht, als Reaktionär verschrien zu werden, nicht den Mut hatte, dieses historische Gedankengut zu pflegen. Es war eine Sensation in Österreich, als der leider zu früh verstorbene Wildgans in seiner großen berühmten Rede daran erinnerte, da wir das viele Große und Schöne, das wir besitzen und dessen wir uns rühmen, Erbgut der Vergangenheit ist, dessen wir mit Stolz und Dankbarkeit zu gedenken haben, und daß wir keine wie immer geartete Ursache haben, es zu verleugnen, und daß dessen volle und konsequente Pflege allein die Brücke schlagen kann in das Heute und Morgen.
Und doch, wer von uns wüßte nicht, daß es zu wenig wäre, nur dem nachzutrauern, was gestern war. Jeder geistige Mensch muß die innere Kraft haben, in aller Objektivität sich ein Urteil bilden zu können über Sinn und Bedeutung des heutigen Staates, des neuen Österreichs, wie er nun einmal ist, in den wir hineingeboren sind, der uns Heimat und Vaterland bedeutet.
Freilich, es ist gerade für den, der sich in seinem Bewußtsein die großen Werte der Bedeutung österreichischer Vergangenheit bewahrt hat, etwas ganz Besonderes um das Wissen der besonderen Bedeutung jenes deutschen Staates österreichischer Prägung, der das neue Vaterland sein will.
Es handelt sich einmal um die Auffassung vom Staat überhaupt:
Das neue Österreich, womit ich immer das Österreich der neuen Verfassung meine, lehnt durch diese Verfassung selbst, durch seine ganze Ideologie den Gedanken ab, daß der Staat der letzte und einzige, der höchste aller Werte sei.
Die Tatsache, daß es versucht, völlig neue Wege der staatlichen Gestaltung zu gehen, die ständische Gliederung — ein unerhört schwieriges Gebiet, Neuland, von niemandem noch bis zu Ende durchgegangen, von niemandem noch zur Gänze gelöst — die ständische Gliederung eben besagt, daß die Auffassung, alle Lasten und alle Verantwortung, die Fülle der Macht und des Rechtes und der Ordnung nur dem Staat aufzulasten, nicht unseren Gedankengängen entspricht, daß vielmehr die Autonomie der Stände dazu bestimmt sei, den Staat von der Fülle seiner Aufgaben zu entlasten und dort, wo dies möglich ist, die autoritäre Ordnung durch organisierte Stände zu ersetzen.
Man sage nicht, das sei vorläufig ein Programm! Gewiß, wer vermöchte im Ernst die Anschauung vertreten, daß dieses ganz große und tiefe Konzept, dessen Gewaltigkeit auch der Gegner anerkennen muß, etwa in einem Jahr praktisch zur Vollendung herangereift und durchgeführt sein könnte? Wir sind am Wege zum Ziel!
Die autoritäre Führung des neuen Staates trägt gleichfalls und soll typisch österreichische Züge tragen. Diese autoritäre Führung soll nach unserem festen Willen und unserer Meinung niemals verwechselt werden können mit Willkürherrschaft. Die autoritäre Führung soll immer einzig und allein bestimmt sein von der Notwendigkeit, von der jeweils zeitgebundenen Notwendigkeit, in ihrem Umfange und ihrem Inhalte. Die autoritäre Führung kann darum auch niemals nach österreichischem Begriff zu jener Toleranz, die mit zum edelsten Verwaltungsgut österreichischen Denkens und österreichischen Lebens gehört, in Gegensatz gebracht werden. Die autoritäre Führung darf und soll niemals dazu mißbraucht werden, dort Freiheit zu mindern oder gar zu erschlagen, wo Freiheit möglich und mit den Interessen des Volkes, mit dem Gemeinwohl vereinbar ist. Es ist daher unserer festen Überzeugung nach etwas durchaus Zeitbedingtes und Elastisches, um diese Führung im Staate.
Eine Schranke muß allerdings gezogen sein: Die Toleranz, auf welchem Gebiete auch immer, auch auf dem Gebiete der Wissenschaft und Lehre, auch auf dem Gebiete der Kunst, kann nur so weit gehen, daß die Gemeinschaft, das Gemeinwohl nicht Schaden leidet.
Die autoritäre Führung, und nur die autoritäre Führung vermag die Garantie dafür zu bieten, daß der Umbau des Staates, die Abkehr von gestern, zum Gelingen geführt wird.
Der deutsche Staat typisch österreichischer Prägung will und kann nicht anerkennen, daß Staats- und Kulturgrenzen gemeinsam seien.
Politische Formungen vergehen, aber der Geist bleibt. Hüter dieses Geistes zu sein, ist Österreichs Ausgabe. In diesem Geist sind die Kulturabkommen zu verstehen, die das neue Österreich teils geschlossen hat, teils zu schließen sich anschickt, deren letzter und tiefster Sinn es ist, daß unsere Kultur hinausgetragen und in ihrer Reichweite vergrößert wird, daß der Geist Goethes und Grillparzers auch andere erfaßt, auf daß sie in Ehrfurcht und Schauer zu ihm aufschauen und es erleben, was es heißt, Dante und Goethe in tiefster geistiger Beziehung — ich wageEine Wiener Wochenschrift. (1898-1925), Begr. u. Hg. von Rudolf Lothar (1898-1902, urspr. R. Spitzer), ferner von Ernst ... es zu sagen — vereint zu sehen im Geiste des Imperiums jenes Reiches, das Österreich vertreten hat und dessen letzte Stunde keineswegs geschlagen hat.
Wenn wir uns zum christlichen Staat bekennen, so meinen wir dies zunächst nicht konfessionell im engeren Sinne, sondern wir verlangen, daß, den Tatsachen der Realität Rechnung tragend, der christliche Geist, die christliche Grundauffassung von jedermann im Lande respektiert werde, und daß jeder, der noch Österreich kommt, von vornherein weiß, hier findet er ein Staatswesen, dessen äußeres Bild und inneres Denken nach den Gesetzen christlicher Weltanschauung geordnet ist.
Die christliche Grundanschauung, die der neue Staat seinem Werden zugrunde legt, bedingt zunächst die Anerkennung einer übernationalen Idee, die Anerkennung der Tatsache, daß diese übernationale Idee dem eigenen Volkstum nicht nur nicht schadet, sondern es unendlich befruchtet, und die Feststellung, daß es eine ungeheuerliche Verkehrung der wirklichen Lage wäre, aus dieser Anerkennung etwa auf Volksverrat oder auch nur aus ein minder intensives oder minder überzeugtes Betonen der Volkstumwerte schließen zu können.
All das bedingt die Anerkennung des Ethos, bedingt allerdings ober auch die Ablehnung einer Unterscheidung etwa von heroischer und duldender Moral. Diese Unterscheidung gibt es nicht. Es gibt vielmehr nur zwei Gruppen von Gesetzen, solche, die zeitgebunden sind, und solche, die jederzeit und überall in allen Kulturen gelten.
Die hohe Aufgabe des neuen Österreichs und der Vaterländischen Front im besonderen ist es, die Ideologie, das Wissen um den tiefsten Grund des Werdens und des Kampfes, des so bitteren Kampfes und Opfers um das Vaterland zutiefst zu verankern und immer weiteren Kreisen zugänglich zu machen.
Die kulturelle Aufgabe des neuen Österreich ist es, dos kostbare Erbgut zu bewahren, aber nicht etwa sich damit zu begnügen, daß es einmal Generationen gegeben hat, die unerhörte geistige und künstlerische Werte schufen, von deren Ruhm wir zehren, sondern fortwirkend dafür zu sorgen, daß auch das neue Österreich auf dieser geistigen Bahn schreite und künstlerische Marke an sich trage. Es wird vielleicht mehr, als es bisher der Fall war, dafür zu sorgen sein, daß auch die geistige Fortbildung außerhalb des engen Schulbereiches Pflege finde, jene geistige Fortbildung, die verhütet, daß die der Schule Entwachsenen trotz der besten Schulbildung, die man ihnen geben konnte, ein Opfer der Propheten des Halbwissens und der Halbbildung werden, jene Fortbildung, die es ermöglicht, eigene Meinung zu haben, die die Schulentwachsenen mehr, als es selbst im alten Österreich manchmal der Fall war, in innere Beziehungen zur Bedeutung der Begriffe Vaterland und Volkstum im Vaterland bringt. Die Mittel, die hierfür aufgewendet werden — auch dazu braucht es der Privatinitiative und privaten Förderung — sind gewiß vom Gesichtspunkt des Gesamtösterreichertums nicht vergeblich ausgewendet. Es wird aller Mühe wert sein, zusammen mit denen, die um diese Dinge wissen und selbst schöpfende Künstler sind, nach Wegen zu suchen, um der modernen bildenden Kunst, lebender Musik in Österreich neue Lebensmöglichkeiten zu schaffen. Eine Voraussetzung allerdings ist, daß alle zusammen, jene, denen das Genie gegeben ist, und jene, die sich auf das Genießen beschränken müssen, sich verständigen und verstehen, und daß es nicht zu lange braucht, daß wir uns auf die neue Kunst einstellen können.
Es kommt nur darauf an, ein bißchen Ehrfurcht vor dem Ewigen im Lande, Liebe zur Seele des Landes und Verantwortungsgefühl gegenüber der Allgemeinheit zu haben. Die Vaterländische Front sei nicht nur ein Instrument der politischen Willensbildung, sondern auch Hüterin und Vorkämpferin österreichischer Kultur. Wir alle aber wollen deren Pioniere sein!
In: Der Tag, 25.5.1935, S. 4.
Siegfried Schmitz: Upton Sinclair: Jimmie Higgins
S. S.[chmitz]: Upton Sinclair: Jimmie Higgins (1920)
Jimmie Higgins, das ist das sozialistische Individuum, entstanden aus dem brodelnden Chaos des amerikanischen Kapitalismus, das Menschengebilde, das nie ein anderes Erlebnis hatte als Internationalismus und das im Kriege sein kleines Schicksal vollenden muß, in den amerikanischen Nationalmilitarismus hineinzugeraten, da sein Internationalismus die schwersten Enttäuschungen erlebt. Jimmie Higgins, das ist die Verkörperung der namenlosen Proletariermasse, welche gläubig ist, und deren Glaube durch die Schuld des Dogmas, an das sie glauben, zum Märtyrertum wird. Jimmie Higgins, das ist die Arbeitsmaschine, mit dem Fünkchen Menschheitstum, das jeder Kreatur gegeben ist, das Wesen, welches in der Stärke seinen Glauben an die reine Kraft des Sozialismus seine Seele findet, allen politischen Dogmen, Kompromissen und Irrwegen der Macht zu Trotz. Diese Geschichte von Jimmie Higgins, welche die tragische Schuld einer Bewegung darstellt, die berufen ist, das Menschlichste aus den Arbeitsmaschinen herauszuholen, und sie doch in den unmenschlichen Krieg geschleudert hat, diese Geschichte von Jimmie Higgins, der unvergänglich ist, weil das Menschliche im Menschen unvergänglich ist, diese Geschichte von Jimmie Higgins, dem kleinesten Sozialisten, welcher eigentlich der wahre große Sozialist ist, hat ein Sozialist, der wirklich Dichter ist, mit den einfachsten, zwingendsten Mitteln zu einem Schicksalsbuch der sozialistischen Bewegung gestaltet. Upton Sinclair hat hier im Namen des Menschentums die ehrliche sozialistische Abrechnung gehalten. Die Abrechnung wird in der Welt noch einmal von der Menschheit selbst gehalten werden. Das Buch, in seiner Konzeption und in der Herausholung der größten Menschlichkeiten aus dem kleinsten Wesen an Martin Andersen-Nexögeb. als Martin Andersen am 26.6.1869 in Christianshavn, Kopenhagen - gest. am 1.6.1954 in Dresden; Lehrer, Journalist,&... in seinem herrlichen Pelle, der Eroberer gemahnend, gehört zu dem Stärksten, was in dieser Zeit der Literatur geschaffen wurde. Dem Verlag gebührt Dank, daß er die deutsche Übertragung vornehmen ließ. Das Buch soll gelesen werden; es ist keine Unterhaltungslektüre.
In: Wiener Morgenzeitung, 25.7.1920, S. 7.
Siegfried Schmitz: Ein jüdischer Zeitroman.
Es ist möglich, daß die gültige Gestaltung einer im Fluß befindlichen Zeit durch den Roman an den Schwierigkeiten der Distanzierung scheitert; es ist auch möglich, daß dazu, um tatsächlich ein gültiges jüdisches Zeitbild zu geben, eine ganz außerordentliche Persönlichkeit gehört, welche mit naturwissenschaftlich-analytischer Begabung eine sozusagen gottgebundene seelische Intuitionskraft verbindet. Mag diese Charakteristik eines jüdischen Dichters auch übertrieben erscheinen, Mendele Mocher Sforim scheint diese Persönlichkeit gewesen zu sein. Ihm ist es auch gelungen, ein Bild jüdischer Zeit gültig zu gestalten, indem er in seinen Romanen, welche eigentlich im Sinne der europäischen Ästhetik keine Romane find, geradezu unumstößlich das jüdische Leben, wie es sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts im jüdischen Osten abspielte, künstlerisch geformt hat.
Dabei ist zu bemerken, daß Mendele Mocher Sforim diese Gestaltung eines jüdischen Zeitbildes schuf, als eigentlich die Wesenheiten, welche er darstellte, im Fluß der Ereignisse bereits ins Wanken geraten waren. So hat er in einer gewissen distanzierenden Projektion sein künstlerisches Werk — allerdings mit der zauberhaften Kraft einer Persönlichkeit — getürmt. All dies suchen wir bisher in den künstlerischen Darstellungen, welche sich mit dem jüdischen Bilde des Westens befassen, vergebens. Vielleicht liegt es daran, daß im jüdischen Westen die Kulturkontinuität bereits unterbrochen ist und weil die Bemühungen, welche in den letzten zwei Jahrzehnten vom jüdischen Westen gemacht werden, um sozusagen den Anschluß an die jüdische Kulturkontinuität wiederzufinden, bisher etwas Wesenhaftes nicht gezeitigt haben. Daher haben bis jetzt — die vielen kleinen, von etwas Tendenz getragenen Romanproduktchen kommen nicht in Betracht — die Formungen jüdischen Zeitlebens in den Westländern, insbesonderheit in den jüdischen Metropolen Westeuropas, wie etwa die Werke Max Brods oder die Schöpfungen Schnitzlers, welche in das jüdische Gebiet hineinragen, die jüdische Gestaltung in Wassermanns erstem Roman, von den noch kleineren Geisterchen ganz zu schweigen, stets an einer Krankheit gelitten, die wohl am klarsten als Mangel an jüdischer Persönlichkeit und Mangel an distanzfähiger kultureller Einheitlichkeit zu diagnostizieren ist. Dadurch erhalten alle diese Erzeugnisse, selbst die Erzählungen des heute fast vergessenen, jedoch in seiner künstlerischen Reinheit und seinem starken Ethos die schriftstellernden Juden der letzten dreißig Jahre turmhoch überragenden J. J. David, wo sie an Jüdisches rühren, stets etwas Quälendes und Gequältes.
Umso größer daher die Überraschung, in einem jüngst erschienenen jüdischen Zeitroman von Sammy Gronemann*[1]) welcher das jüdische Leben Berlins in einem Spiegel fangen will, Ansätze zu sehen, welche gerade aus dieser quälenden Manier durch irgendetwas Befreiendes hinauszuführen geeignet sind. Der umfangreiche Roman, Tohuwabohu betitelt, deutet mit dieser Bezeichnung schon an, daß es dem Dichter gewissermaßen um die Erfassung des wirren Chaos geht, in welchem das jüdische Leben zwischen Berlin und einem russischen Judenstädtchen flutet, das wie alle die posenschen, westrussischen und westpolnischen Kleinstädtchen ebenso als jüdischer Vorort Berlins zu betrachten ist, wie etwa die mährischen Kleinstädtchen und die galizischen Judenorte als der jüdische Vorort Wiens im Sinne einer stetigen Speisung dieser Großstädte mit jüdischem Wesen aus diesen Vororten anzusehen sind.
Alle möglichen Typen, Getaufte, Baldgetaufte, Schinkenorthodoxe, Orthodoxe mit den neuesten Errungenschaften deutscher Technik, Schnorrer, Schwindler, liberale und feudale Juden, Zionisten und allerlei dem jüdischen Betrieb Deutschlands und seinem stetigen östlichen Zustrom entnommenes Gewese führt einen wirren Reigen auf. Es wird viel mit dem altbewährten Rezept der Schwarz-Weiß-Zeichnung gearbeitet, noch mehr debattiert und manches, was in wenigen Strichen das Schicksal eines Stückes Judenheit prägen würde, wird durch rhetorische Längen und ein wenig sentimentale Problematik verkleinert. Nichtsdestoweniger herrscht in diesem Tohuwabohu doch irgendein Geist, von dem trotz mancher bereits bekannten sozusagen neuwestjüdischen Witzschablone doch manches Anziehende zu verspüren ist. Es ist dsr Geist des Allesbegreifens, aus dem in gerader Linie die Humore fliehen, mit welchen dieses jüdische Chaos, das in Berlin herrscht, begriffen sein muß, soll nicht die Verzweiflung über diese Wirrnis lähmen. Im Hintergrund dieser Humore, die Sammy Gronemann, seit je ein trefflicher Stütze judischen Witzes, in den ein Gran Berlinertum gemischt ist, leuchten läßt, steht ein Bewußtsein: das der unzerstörbaren jüdischen Kraft. Dieser Sinn gibt dem Humor Gronemanns in seinem Buch etwas Befreiendes, was fortführt von den selbstzerfleischenden Quälereien dieser jüdischen Zeit im Westen, einer Zeit, die nicht Übergang zur seelischen Synthese ist wie im Osten, sondern Übergang zur jüdischen Denkanalyse.
Darum ist das Buch Gronemanns, mag es auch in der Konzeption trotz seines Umfanges etwas episodenhaft geraten sein, dennoch ein Werk, das verheißungsvoll ist; es läßt hoffen, daß Gronemann, dessen Humore irgendwie die Möglichkeit zeigen, zu distanzieren, jüdisch-künstlerisch wohl noch etwas zu sagen haben wird. Es ist nie zu spät…
In: Wiener Morgenzeitung, 11.7.1920, S. 4.
[1] Orig. FN: Sammy Gronemann: „Tohuwabohu“, 1920, Welt-Verlag, Berlin.
Siegfried Schmitz: Juden auf Wanderschaft.
Ein Volk mißachten und hassen ist Atavismns. Der Horden- und Sippenmensch kannte die Begegnung mit dem Angehörigen einer anderen menschlichen Horde oder Sippe zumeist nur als Kampf und schrieb daher dem Anderssippigen stets böse Absicht zu, mußte sie ihm auch zuschreiben, um sich selbst für den Kampf, der ja früher oder später einmal erfolgen nußte, gewissermaßen Mut zu machen. Ans diesem atavistischen Hordengefühl sind bis heute alle Höherwertigkeits- und Minderwertigkeitstheorien unter den sogenannten zivilisierten Völkern zu erklären. Sie enthalten natürlich auch den Unterwerfungskomplex — ebenfalls ein Horden- und Sippeninstinkt, da dem Sippenmenschen die Andersartigkeit des Fremdsippigen stets ein Gegenstand der Furcht sein muß, weshalb er sie durch Unterwerfung des Fremden, d. h. durch Eingliederung in die eigene Sippenart beseitigen will.
In der modernen, angeblich hoch zivilisierten Menschheit äußern sich diese Instinkte natürlich in einer sozusagen sublimierten Form, und der Wille nach der physischen Unterwerfung des Fremden ist in den Wunsch nach einer Art zivilisatorischen Unterwerfung, geistigen Uniformierung und Ebnung umgebogen. Wir begrüßen die „Europäisierung“ Japans, beten für das Seelenheil der „heidnischen“ Neger, freuen uns der Levantinisierung des vorderen Orients und setzen unseren Stolz darein, die „primitiven“ Menschenstämme, wie der schöne Ausdruck lautet, zu zivilisieren, in Wirklichkeit sie um ihre entwicklungsbedingte Eigenart zu bringen.
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Besonderer Fall in diesem Schema sind die Juden. Vor undenklich langer Zeit der territorialen Begrenzung beraubt und, im Gegensatz zu anderen Völkern, trotz weitgehender Destruktion dank einem bestimmten geistigen System erhalten geblieben, weckten sie überall, wohin sie kamen, die Urinstinkte der Furcht vor dem Fremden. Jahrhundertelang wurde aus diesem Instinkt heraus gegen die Juden die Methode der Abgrenzung angewendet, die um so näher lag, als in dem erwähnten geistigen System der Jude (das ja eigentlich wiederum wohl als sublimierter Urinstinkt anzusehen ist) gerade die Abgrenzung einen wichtigen Faktor bildet. Als dann wirtschaftliche und soziale Momente eine Lockerung dieser Abgrenzung mit sich brachten, die in einer Reihe von Ländern und Gebieten, wo Juden siedeln, zu ihrer Einfügung in die allgemeine wirtschaftliche und soziale Struktur führte, in der sie bis dahin — und in anderen Gebieten noch heute — bestimmte Funktionen ausgeübt hatten, da entstand — der Ostjude. Es ist dies jene jüdische Massenschichte, welche, aus äußeren und inneren Gründen in ihrer funktionellen und traditionellen Sphäre verharrend, in abgesprengten Teilen und Trupps dann und wann in denjenigen Gebieten auftaucht, wo die Einfügung des Juden in das gesamte wirtschaftliche und soziale Leben der Umwelt bereits einen Judentypus geschaffen hat, der — cum grano salis — als weniger fremd empfunden wird. Und nun setzt gewissermaßen die Reaktion der Furcht ein: den fremdartigen Gestalten, die da und dort auftauchen, um — allerdings in verhältnismäßig kurzer Zeit— ihre äußere Fremdartigkeit abzustreifen, muß wohl drüben, im Osten, irgend eine ähnliche Masse entsprechen, die in geschlossenen Siedlungen und Lebensformen irgend ein unverständliches, also gefährliches Dasein führt, eine Art Kaftangefahr nach dem Vorbild der in den letzten Jahrzehnten zum Modewort gewordenen gelben Gefahr.
So hat sich in Westeuropa eine Wissenschaft vom Ostjudentum gebildet, die eine beklagenswerte und gleichzeitig verächtliche Menschenrasse zeichnet und mit allerhand der furchtsamen Phantasie entsprungenen Eigenschaften ausschmückt. West- und Mitteleuropa haben nach dem Osten erst die Theorie gebracht, daß der dort lebende Jude unbedingt zu „zivilisieren“ ist, in dem üblichen wissenschaftlichen Hochmut daran vergessend, daß Anlehnung und Einfügung in die Umwelt nur dort vollständig erfolgen kann, wo die Werte dieser Umwelt höher sind und stärkere anziehende Wirkung haben als die eigenen. West- und Mitteleuropa haben dem Osten das Ostjudenproblem beschert, durch Vermittlung jener Methoden der gewissermaßen zivilisatorischen Gewalt, die, im Grunde zwecklos, nur geeignet sind, die bösesten Instinkte physischer Gewalt hervorzurufen, und dann, wie es so oft in jüngster Zeit geschehen ist gegenüber einem Volke absoluter Gewaltlosigkeit aus geistiger und seelischer Einstellung, wie es die Juden sind, zum Ärgsten führen müssen. Im gewissen Sinne kann man sagen: an den Pogromen im Osten Europas trägt der Westen mit seiner Unkenntnis des Wesens und Lebens der jüdischen Masse im Osten die Schuld.
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Und nun erscheint ein Buch*) (Wie gleich vorweg genommen werden soll, ein gutes, mit klarem Blick geschriebenes.) Joseph Roth, ein Publizist, hat in seinem schmalen Büchlein ausschließlich Reportage gegeben, also Berichterstattung über Tatsachen, Erscheinungen, Eindrücke. Und aus dieser Reportage kam ihm die Erkenntnis grundlegender Tatsachen des heutigen Judenproblems: das Bestehen der Wanderwelle von Osten nach Westen, die Gleichsetzung des Begriffes „Ostjude“ mit einem bestimmten Kulturkreis eigener Prägung, die Tragik der sogenannten Europäisierung, aber auch die Tragik, die darin besteht, daß das jüdische Städtchen zu eng geworden ist, weil ihm jedes Hinterland fehlt, daß das Reservoir der jüdischen Massen im Osten infolge des darin herrschenden Druckes immer wieder Stücke aus seinem Inhalt auswirft, die dann in zielloser Bewegung durch die Welt geistern — die Tragik der unorganischen jüdischen Wanderung. Aus ihr sind die westlichen Ghetti entstanden, von denen Roth in seinem Buch anschauliche, manchmal vieldeutig lächelnde, manchmal traurig-ernste Schilderungen gibt, jene sonderbar „zivilisierten“ Judenviertel in Wien, Berlin, Paris, London, Newyork, die doch — der Welt mehr gegeben haben, als sie von ihr empfingen. Diese Wanderungen aus dem jüdischen Massenreservoir sind ewiger Grund von Mißverständnissen: das „wissenschaftlich“ fundierte Mißverständnis West- und Mitteleuropas über den Ostjuden ist hier bereits erörtert worden, das Mißverständnis des Ostjuden über die Vorzüge der Fremde, das aus der menschlichenEigenart entsteht, erzwungene Tatsachen (hier die Wanderschaft) durch Illusionen in Willenstatsachen umzubiegen, schildert Roths Buch mit charakteristischen Strichen.
Dieser menschlichen Eigenart, die beim Juden durch eine geradezu elementare Vitalität noch verstärkt wird, verdanken es jene wandernden Teile der jüdischen Masse,
daß sie, wohin sie gelangen, irgendwann und irgendwie immer wieder schöpferische Arbeit verrichten konnten. Von jüdischen Emigranten wurden ganze Industrien geschaffen, neue Wirtschaftsformen geprägt, eigenartige und wertvolle Nuancen des Kulturlebens geformt. Kurz, alles das, was den Juden der sogenannte wissenschaftliche Antisemitismus abspricht, die schöpferische Originalität, ist tausendfach und unter tausenderlei Schwierigkeiten von jenen abgesprengten, durch den Erdenrund irrenden Teilen der Judenheit immer wieder der übrigen Welt vor Augen geführt worden: die schöpferische Kraft. Daraus erklärt es sich auch, daß der Antisemitismus im Gegensatz zu seiner Theorie vom unschöpferischen Judentum, im gleichen Atem vom zerstörenden Judentum spricht; wäre der Blick der Welt nicht durch die atavistische Sippenfurcht getrübt, der Antisemitismus könnte nicht übersehen, daß unschöpferische Elemente nicht zerstören können. Roth setzt am Schlusse seines ehrlichen, klaren Buches die Annahme, daß im neuen Rußland die Judenfrage durch Auflösung liquidiert werden konnte. Sie könnte es, wären die Juden — nicht so schöpferisch wie sie sind. Von außen her kann bei einem von so schöpferischer Lebenskraft durchdrungenen Volk, wie es die Juden sind, sein Volksproblem nicht liquidiert werden, es sei denn, man tötet es Mann für Mann. Das jüdische Problem wird nur von den Juden selbst liquidiert werden. Der Urinstinkt der Sippenfurcht, der in der Menschheit sich am stärksten gegen die Juden austobt, beweist es am besten.
*) [OFN] Joseph Roth: „Juden aus Wanderschaft (Band 4 der Reihe „Berichte aus der Wirklichkeit“), Verlag Die Schmiede Berlin.
In: Wiener Morgenzeitung, 12.5.1927, S. 3-4.