N.N.: Die Flucht des geistigen Deutschland nach Wien

N.N.: Die Flucht des geistigen Deutschland nach Wien (1933)

Namen als Anklagen gegen das „Dritte Reich“

2 Uhr früh. In den grellen Lichtschein eines Kaffeehauses nächst dem Stephans­platz, in dem sich um diese Zeit die Nacht­schwärmer zu treffen pflegen, treten zwei Gestalten, zerlumpt, zerschunden, abgehetzt, mit irren, suchenden Augen. Bald erfährt man, wer sie sind: Flücht­linge aus Deutschland, deren Na­men in politisch informierten Kreisen be­kannt sind. Als der braune Terror in Berlin einsetzte, die S. A.-Banden in den Privatwohnungen politischer Gegner einbrachen, ergriffen die beiden im letzten Augenblick die Flucht. Ohne in die Wohnung zurückzu­kehren, förmlich von der Straße weg, setzten sie sich in den Zug und überschritten nach aller­lei Abenteuern die österreichische Grenze. Nun sind sie hier, mittellos, werden von Freunden unterstützt, näch­tigen bald da, bald dort.

„Um Gotteswillen, nur nicht unsere Namen in der Zeitung nennen, nur nicht schreiben, was wir über Berlin erzählt haben“.

Einmal, über kurz oder lang, so hoffen sie, muß sich doch die furchtbare Haßwelle, die augenblicklich über Deutschland geht, legen, über kurz oder lang muß es doch wieder möglich sein, nach Berlin zurückzukehren …

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Diese Hoffnung haben sie alle, die in den letzten Tagen nach Wien flüchteten. Es sind viele unter ihnen, wie jener junge Journalist etwa, der heute nicht weiß, wo er in der Nacht schlafen, wovon er morgen essen wird, die zur „Konjunkturzeit“ nach Berlin fuhren, von denen es hieß, daß sie draußen Karriere gemacht hätten. Nun sind sie wieder da, in demselben Literatur-Café, von dem sie ge­startet waren, um es mit dem „Romanischen“ zu vertauschen, nun sind sie wieder da, elender denn je.

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Jeden Tag sieht man neue — be­kannte — Gesichter auftauchen, jeden Tag werden neue Namen von Flüchtigen kolportiert. Viele sind noch da, die kurz nach dem Umsturz der Verhältnisse in Berlin nach Wien gekommen waren und erklärt hatten, sie führen in den nächsten Tagen nach Berlin zurück. Die Greuel­nachrichten, die aus Deutschland kommen, lassen jeden Versuch, dort persönlichen Heldenmut zu beweisen, als Irrsinn, als selbstmörderische Dummheit erscheinen. So trifft man

Anton Kuh

noch immer in irgend einem Schanklokal der Inneren Stadt bei einem Schnitt Pilsner sitzend an, so sieht man Leo Lania noch immer im Kaffeehaus er­scheinen. Auch Rudolf Olden, den langjährigen politischen Leitartikler des Berliner Tageblatt, begegnet man in diesen Tagen.

Theodor Tagger (Ferdinand Bruckner)

, der zur Premiere seiner „Marquise von O“ nach Wien gekommen war, ist gleichfalls noch hier, und

die Wien-Reise Max Reinhardts

sieht bedenklich einer Flucht ähnlich.

Leopold Schwarzschild ist auch schon da“

, wird einem bedeutungsvoll zugerufen, Schwarzschild, der Herausgeber und Chef­redakteur des Tagebuch. Er war von Berlin nach München gefahren, und als sich jetzt auch dort die Verhältnisse geändert haben, verlängerte er seine Reise bis nach Wien.

Und dort in der Kaffeehausloge sieht man schon seit einigen Tagen

Bert Brecht

, während der expressionistisch-nervöse Dich­ter Stefan Ehrenzweig die Nächte durch von Lokal zu Lokal wandert.

„Heute oder morgen soll Alfred Polgar hier eintreffen“, sagt einer.

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Und in der Tschechoslowakei, so heißt es, soll es noch ganz anders zugehen als in Wien. In Karlsbad und in Marienbad soll man nicht einmal eine Sommerwohnung mehr zu mieten bekom­men. Im Prager Café Passage soll ein „Betrieb“ herrschen, wie man ihn seit Jahren nicht erlebt hat.

Wo sich

Egon Erwin Kisch

augenblicklich aushält, wird geheim ge­halten, aber Fritz Grünbaum, Felix Bressart, Siegfried Arno sind schon eingetroffen. Auch von

Theodor Wolff,

dem Chefredakteur des Berliner Tage­blatt, heißt es, daß er nach Prag ge­fahren sei.

Der Chef des S. Fischer- Ver­lages soll auf der Rückfahrt von seinem Erholungsurlaub in Paris „stecken ge­blieben“ sein, und der Operettenkomponist Paul Abraham dürfte auch bald Berlin verlassen, da man die Verfilmung einer seiner Operetten plötzlich abgebrochen hat.

Die Liste derjenigen, die vor dem Dritten Reich flüchten, ließe sich noch be­trächtlich erweitern. Und es erweitert sie jeder neue Tag — — —

In: Wiener Allgemeine Zeitung, 14.3.1933, S. 2.