N.N. [Friedrich Austerlitz]: Der Parteitag des Parteiprogramms (1926)

Der Parteitag ist geschlossen. Er ist beendet worden in Begeisterung und Ergriffenheit. Die Ver­trauensmänner des deutschösterreicchischen Proletariats sind auseinandergegangen im Bewußtsein, daß das ein ganz außergewöhnlicher Parteitag, ein Parteitag von ganz außerordentlicher Bedeutung gewesen ist.

Denn dieser Parteitag hat uns unser neues Parteiprogramm geschaffen, das Programm, das fortan als das Linzer Programm in der Geschichte unserer Partei leben und wirken wird — wirken als die Richtschnur der Erziehung unserer Jugend, wirken als das geistige Band, das die Hunderttausende unserer Parteigenossen zu enger Gemeinschaft des Denkens, Wollens, Handelns verknüpft, wirken als der Weg­weiser zu den großen, begeisternden Zukunftszielen des Sozialismus, die kleinen Kämpfe unseres Alltags einordnend dem geschichtlichen Ringen der Arbeiterklasse der Welt um eine neue Menschheit.

Aus ernstem, schwerem Ringen um die großen Gegenstände des Sozialismus ist unser neues Pro­gramm hervorgegangen. Aber der Parteitag hat das Ringen der Meinungen geführt zur Einheitlichkeit des Wollens. Er hat den ursprünglichen Entwurf unseres neuen Parteiprogramms an vielen Stellen wesentlich abgeändert. In dieser neuen Fassung ist das neue Programm einstimmig, ist es von allen in heller Begeisterung beschlossen worden.

Es ist, wie Otto Bauer sagte, ein gut demo­kratisches und doch zugleich ein gut revolutionäres Programm, das wir uns gegeben haben. Klar, unzweideutig sagt dieses Programm: Wir wollen mit den Mitteln der Demo­kratie die Macht erobern; wir wollen, wenn erst die Macht unser ist, unter voller Aufrechterhaltung der demokratischen Verantwortung der Regierung vor der Volksmehrheit, unter voller Wahrung der demokratischen Freiheitsrechte die Macht ausüben. Aber so demokratisch unser Wollen, so revolutionär bleibt unsere Bereitschaft. Wir wissen: wir werden mit den Mitteln der Demo­kratie die Macht nur erobern können, wenn wir wehrhaft genug bleiben, die Demokratie ver­teidigen zu können. Wir wissen: wir werden die er­oberte Staatsmacht nur dann zum Aufbau des Sozialismus gebrauchen können, wenn wir die Kraft haben werden, jede gewaltsame Auflehnung der Bourgeoisie gegen die Staatsmacht des Proletariats gewaltsam niederzuwerfen. Entschlossen, den Weg der Demokratie zu gehen, aber auch bereit, uns mit revolutionärer Tatkraft zu wehren, wenn es die Bourgeoisie wagen sollte, uns den Kampfboden der Demokratie, uns dereinst das Machtwerkzeug der von uns eroberten Demokratie zu sprengen, so führen wir den Kampf um die Herrschaft des Proletariats in der Republik — die Klassenherrschaft des Prole­tariats, die selbst uns nur das Mittel ist, die Kapitalsherrschaft über die Produktionsmittel zu überwinden, die Scheidung der Gesellschaft in Kapitalisten und Besitzlose, in Reiche und Arme auf­zuheben und damit erst die wahre, die soziale Demo­kratie zu begründen, in der es keine Klassen mehr, also auch keine Klassenherrschaft mehr geben wird.

Und so wie der Parteitag in dieser Frage, alten Streit beendend, alle geeinigt hat zu klarer Bewußtheit des Weges und des Zieles, so sind auch all die andern Streitfragen in voller Einheit beantwortet worden. So hat der Beschluß des Parteitages unsere Stellung zur Religion und Kirche viel glück­licher als der ursprüngliche Entwurf umschrieben. So hat er klar ausgesprochen, daß wir dort, wo die Sach­walter der Arbeiterklasse Betriebe leiten, nicht etwa das Streikrecht wegdekretieren, sondern durch plan­mäßigen Ausbau der Betriebsdemokratie, der Mitbestimmung und Mitverwaltung der Arbeiter und Angestellten dieser Betriebe sie allmählich zu einer sozialistischer Solidarität entsprechenden Einstellung zu ihrem Betrieb, zu den Notwendigkeiten sozialistischen Aufbaues entsprechender friedlicher Schlichtung von //Konflikten in ihren Betrieben führen und erziehen wollen. So hat der Parteitag vor allem das Kapitel des Programms, das von der Internationale handelt, wesentlich verbessert und ausgebaut; sein Beschluß über unsere Stellung zum Völkerbund vor allem wird wohl dazu beitragen, auch außerhalb Österreichs die noch schwankenden Urteile der sozia­listischen Parteien über die Stellung des internationalen Proletariats zum Völkerbund zu klären. Über alle diese Lösungen strittiger Probleme, die der Parteitag im Streite der Meinungen schließlich durch ein­stimmigen Beschluß geklärt hat, werden wir oft, sehr oft noch sprechen müssen.

Denn nun ist, was die Sozialdemokratie in unserer Geschichtsepoche ist und will, in gemeinverständlicher Sprache programmatisch zusammengefaßt. Nun wird es gelten, die Gedankengänge unseres neuen Programms zu den Massen zu tragen, die Massen mit diesen Gedanken vertraut zu machen, die Massen so zu erfüllen mit dem Bewußtsein der großen geschichtlichen Weltaufgabe des Sozialismus!

Der Parteitag hat, wie in jedem Jahre, auch heuer notwendige Gegenwartsarbeit geleistet. Er hat unser Organisationsstatut, die Verfassung der Partei, ausgebaut. Er hat unsere Kampfparolen ausgegeben für den Kampf des Tages. Er hat unseren Entschluß bekräftigt, die Regierung und die bürgerliche Mehrheit vor die Wahl zu stellen: Endlich die Alters- und Invaliditätsversicherung oder sofort Auflösung des Parlaments! Er hat gegenüber der Flut der Beschimpfungen und Verleumdungen, die Rene­gaten und Erpresser im Dienste der kapitalistischen Parteien gegen uns schleudern, den angegriffenen Genossen das Vertrauen der Vertreter unserer ganzen Parteigenossenschaft aus­gedrückt. Aber so wichtig und notwendig alle diese Tagesarbeit war, die wichtigste Leistung des Partei­tages war darum doch nicht die Arbeit für den Tag, sondern die Arbeit für die Zukunft: die Schaffung des Parteiprogramms als der Richtschnur der Erziehung der Generation, die die Macht zu erkämpfen, den sozialistischen Ausbau zu beginnen haben wird, ihrer Erziehung zu klarer Erkenntnis des Zieles, zu verantwortungsbewußter Wahl der Mittel, zu dem ehernen Machtwillen und dem faustischen Kulturwillen, die allein das große Ziel erkämpfen, erreichen können.

 In: Arbeiter-Zeitung, 4.11.1926, S. 1-2.

Max Winter: Die Zukunft Wiens (1918)

Es soll keine Vorhersage sein, kein trübe und keine rosige, nur einige Schlüsse aus dem Heute sollen gezogen werden. Wie wird Wien diesen Wandel der Dinge überstehen? Bisher Reichshaupt- und Residenzstadt, bisher der Mittelpunkt der 28 Millionen Seelen der österreichischen Völker, wirtschaftlich auch die Hauptstadt für die ungarischen Völker, wirtschaftlich der Kopf eines Körpers, den mehr als 50 Millionen Menschen bildeten, und nun die Hauptstadt Deutschösterreichs, heute, in den Tagen der tschecho-slovakischen Besetzungen, ein Staat, der kaum über mehr als sieben Millionen Menschen „gebietet“. Auf einen solchen kleinen Körper einen so riesengroßen Kopf aufzusetzen, den freudigsten Schönsehern muß solches zu denken geben. Gestern 50 zu 2, heute 7 zu 2, nach dem Frieden 10 zu 2. Wie sollen die zwei leben, wenn sie durch ihre Arbeit nun nur mehr für fünf oder höchstens acht alle Behelfe der Arbeit zu liefern haben, nicht mehr für achtundvierzig wie ehedem, und wie sollen die zwei leben, wenn ihnen nicht mehr achtundvierzig wie einst, sondern nur fünf oder höchstens acht den Tisch versorgen? Das ist das Zukunftsproblem Wiens, wie es nun aufgerollt wird.

            Wie sollen wir leben?

            Die Schwarzseher sagen einen Rückgang unserer Industrie und des Handels, der beiden lebenswichtigsten Nerven des Großstadtkörpers, voraus. Macht euch keine Sorge der augenblicklichen Wohnungsnot wegen, ihr werdet morgen Raum genug haben! Die Industrien, die bisher ganz Österreich-Ungarn, den Balkan, Südrußland, Polen versorgt haben, die werden morgen die große Floridsdorfer Fabrik nicht mehr behaupten können. Sie werden eine Fabrik in Prag, eine in oder bei Budapest, eine dritte in Agram oder Belgrad, eine vierte in Krakau oder Warschau errichten und von diesen Tochterfabriken aus ihre Kundschaft versorgen. Die Banken werden ihre Kapitalien in solchen ausländischen Unternehmungen unterzubringen suchen, die Wiener Zentralbüros großer Unternehmungen, die ihren Betrieb im Bereich der neuen Auslandsstaaten haben, wie etwa die Prager Eisenindustrie oder der Oesterreichische Lloyd, die Bahnen, wie etwa die Südbahn, werden ihren Hauptsitz nicht mehr in Wien haben, ja selbst die Staatsbahnen werden, den geänderten Verhältnissen Rechnung tragend, im nord- und südslavischen Reich große Direktionen haben, in Wien nur das Nötige für Deutschösterreich. Der Kaikaufmann, der heute nach Paris oder Nürnberg, nach der Schweiz oder nach Lyon fuhr, um dort für den österreichisch-ungarischen Markt einzukaufen, wird morgen nur noch die bescheidenen Aufträge für ein Fünftel der Kundschaft von gestern geben können und aus Prag, Krakau, Lemberg, Laibach, Agram und Budapest werden auch die Großkaufleute nach dem Ausland fahren, um Seide und Spielwaren, Hüte und Gewebe, Mode und Sportzeug dort zu kaufen, um die einheimische Kundschaft, die nun nicht mehr in Wien den Mittelpunkt des Handels sehen wird, die sich aus nationalen Gründen von Wien abwenden wird, zu befriedigen.

            Dazu die Rohstoffe. Woher die nehmen? Wieder nur aus dem Ausland. Vor allem die Kohle. Dann aber auch so vieles, was wir zum Fertigmachen brauchen, die Baumwolle, die Gewebe, die feinen Hölzer, die Metalle, ja selbst viele Werkzeuge und Arbeitsmaschinen. Wir sind ein armes Volk. Nichts als Holz, Eisenerz, Salz und ein wenig Kohle.

            Nicht einmal ernähren können wir uns selber, sagen weiter die Schwarzseher. Wie unsere Industrie noch vielfach auf niederer Stufe der Entwicklung ist, noch viel mehr gilt dies von der Landwirtschaft. Wir ringen dem Boden Erträge ab, die oft nur die Hälfte gut bewirtschafteter Böden darstellen. Wir brauchen Dünger, moderne Geräte, moderne Menschen vor allem in der Landwirtschaft. Die Erkenntnis, daß sich eines nicht für alle schickt, Körnerbau nicht auch für den Hörndlbauern, der in hohen Lagen haust, und Viehwirtschaft nicht für den Körndlbauern der Ebene, der keine Weiden hat. Jeder ist da Schuster und Schneider in einer Person. Und die Wirkung: Er bringt weder einen gut passenden Rock noch brauchbare Schuhe zusammen, weder ringt er dem Boden genug hohe Erträge ab, noch vermag er als Viehzüchter Tüchtiges zu leisten. Wie soll da Wien leben? Es wird aus dem ungarischen und polnischen Ausland das Schlachtvieh, aus dem serbischen Ausland die Schweine, aus dem polnischen und tschecho-slovakischen Ausland die Kartoffeln und aus Ungarn, Polen, Böhmen, Südrußland, Rumänien die Brotfrucht beziehen müssen.

            Selber wird es aber nichts zu geben haben als seinen Überschuß an Menschen. So reden sie: Nur keine Sorge wegen der Wohnungsnot. Es werden viele Fabriken stillstehen, der Kai wird veröden, die Büros werden entvölkert sein, der Überschuß an öffentlichen Gebäuden, an Amtshäusern aller Art, an Ministerien, an Kasernen, an Palästen der Reichen, die neue Vaterländer suchen, wird da sein – Wien wird bald einen Überschuß an Wohnungen haben, wie keine zweite Großstadt. In dem einzigen Kriegsministerialgebäude können alle Staatsmänner untergebracht werden, deren der neue kleine deutschösterreichische Staat wirklich bedürfen wird. Ihre räumliche Zusammenlegung wäre sogar ein Gewinn für die sparsame Wirtschaft, die uns so not tut. Sie würde Beamte, Papier und Tinte sparen, Kraftwagen und Arbeit der staatlichen Post. Wenn wir richtig wirtschaften, werden wir manche Sorge verringern. So die Schwarzseher.

            Ihnen stehen die anderen gegenüber, die mit dem felsenfesten Vertrauen zu Wien und seiner ihm innewohnenden Urkraft, die, die gern alles rosig sehen. Es wird schon gehen. Über das Wie denken sie nicht viel nach, aber sie sind überzeugt, daß es gehen wird. Wir haben die Donau, sagen sie, sie gilt es zu beleben, wir haben den Wienerwald, ihn gilt es in den Dienst der Allgemeinheit zu stellen, wir haben zur Not Kohle, aber Deutschösterreich hat nicht Wasserkräfte und wir haben vor allem kunstfertige Menschen, ein glückliches Gemisch – Schneiderinnen, die die schönsten Blusen bauen, Köchinnen, die böhmische Dalken, einen italienischen Risotto oder eine französische Tunke gleich gut treffen, wir bringen Künstler aller Art, Maler und Bildhauer, Schauspieler und Tonsetzer hervor, unsere Gelehrtenschulen genießen Ansehen, Schriftsteller von Rang wachsen auf Wiens Boden – Wien ist die geborene Kunst- und Fremdenstadt und Modestadt dazu. Ausgangspunkt für die Alpenreise, wichtigster Rastpunkt für die Balkanreise, nur nicht verzagen, wir werden bald über den Damm sein und dann wird ein neues Leben beginnen.

            Auch die, die so reden, haben recht, so recht wie die Schwarzseher. Es wird nicht alles gleich verloren sein. Das Beharrungsvermögen wird die Industrie für ihre Burgen kämpfen lehren, für die großen Fabriken, der große eigene Bedarf der Stadt und Deutschösterreichs, den der lange Krieg geschaffen hat, wird zunächst genug Arbeit für den eigenen Gebrauch bringen, die Übergangszeit wird verlängert und indes für Industrie und Handel doch wieder Zeit, abgerissene Fäden von neuem zu knüpfen oder solche, die zu reißen drohen, zu verstärken. Wer Zeit gewinnt, hat viel gewonnen. Was brauchen wir alles? Sehen wir uns heute unsere zerlumpten Eisen- oder Straßenbahnwagen an, die ausgefahrenen Geleise, den Bekleidungszustand der Menschen, ihren Wäschemangel, betrachten wir den Zustand unserer Straßen und allen Fuhrwerks, schauen wir in die Häuser und Wohnungen, in die Schulen, in die Spitäler und denken wir an den Wiederaufbau der eigenen Gesundheit – was gibt es da nicht alles für unendliche Arbeit für ein tüchtiges Volk? Sollen wir warten, bis andere diese Arbeit machen? Diese Arbeit schafft Werte, die Werte, auf die wir unsere Zukunft bauen können.

            Es ist jetzt ähnlich wie zu Beginn des Krieges. Auch damals dachten wir alle an große Arbeitslosigkeit, die lange andauern wird. Dann hat das begonnene und täglich mit neuen Schrecken fortgesetzte Zerstörungswerk alle Kräfte aufgesaugt. Nun gilt es den Wiederaufbau. Wieder Arbeitslosigkeit, wieder von drohend langer Dauer. Und doch ist der Wiederaufbau, wo wir hinsehen, nötig. Wir brauchen mechanische Kräfte. Schaffen wir sie uns, bändigen wir die Wasserkräfte! Wir brauchen Verkehr. Schaffen wir ihn, bauen wir Dampf- und Frachtwagen und Schiffe, walzen wir Schienen, tragen wir Steinbrüche ab und bauen wir Straßen. Wir brauchen Wohnungen. Halten wir Ausschau nach den freiwerdenden Amts- und Kanzlei-, Geschäfts-, Lager- und Kasernenräumen und suchen wir sie in Wohnungen zu wandeln. Nichts brachliegen lassen, alles nützen, sei es auch zunächst nur zur Not. Machen wir Wien zur reinsten Stadt des Weltteils. Lassen wir den Kehricht nicht liegen! Verwerten wir ihn besser als in unseren Lungen. Machen wir aus den Pulverfabriken von gestern heute Kunstdüngerfabriken. Helfen wir selber der Ernährung auf durch Zucht- und Mastanstalten, durch Milchwirtschaft und Feldbau. Beleben wir die Donau und die Teiche, die Alpenflüsse und Alpenbäche! Wo wir einen Schaden sehen, verschieben wir seine Ausbesserung nicht auf morgen und sorgen wir vor allem dafür, daß unsere Jugend durch ein neuaufgebautes Schulwesen, durch Lehrwerkstätten und Kunsthandwerkerschulen Gelegenheit finden zur Ausbildung der reichen natürlichen Gaben, die in dem glücklichen Wiener Gemisch schlummern. Sorgen wir für alles das und noch manches andere und wir werden für Millionen Hände Arbeit geschaffen haben. Wien braucht Arbeit! Lassen wir den Kopf hängen, dann wird es nicht gehen. Wer vorwärts kommen will, darf die Hände nicht im Sack haben oder sie verzweifelnd ringen.

            Zugreifen! Dann wird es gehen!

In: Arbeiter-Zeitung, 25.12.1918, S. 8.

N.N.: Die Jungfront (1932)

Schuster (Wien): Die Jungfront will keine selbständige Organisation sein, sie will mit arbeiten im Namen der Partei. (Leb­hafter Beifall.) Die Jungfront hat nicht nur große organisatorische Aufgaben unter der Jugend unserer Partei, sondern auch politische Aufgaben. Es ist notwendig, gerade von Jugend zu Jugend politisch aufrüttelnd zu wirken, zu diskutieren und zu debattieren, nicht nur über die Fragen des politischen Alltags, son­dern vor allem auch über den großen Kampf des Sozialismus. Deshalb mögen die führenden Genossen nicht nervös werden, wenn manchmal irgendwo etwas heftig diskutiert wird. Über die organisatorischen Fragen der Jungfront, die der von Deutsch besprochene Antrag der Parteiver­tretung über die Wahl der Jungfrontfunktionäre behandelt, hat sich seit einiger Zeit unter der Jungfront ein heftiger Kampf entwickelt. Wir stehen auf dem Standpunkt der funktionellen Demokratie. Wir sagen: die eine besondere Funktion unter der Jugend haben, sollen ein Mitbestimmungrecht haben, wen sie als Führer wählen. Der Antrag des Parteivorstandes trägt diesem Wunsche Rechnung und ich glaube, im Namen der Mehrheit der Wiener Jungfrontler sagen zu dürfen, daß es uns freut, daß der Parteivorstand unserem Wunsche Rechnung getragen hat. Die Jugend soll nicht allein bestimmen, sondern sie hat im Rahmen der gesamten Partei mitzubestimmen, wir glauben aber, daß die Jungfront die Möglichkeit haben soll, ihre Vorschläge zu erstatten, wen sie wünscht. Haben Sie Vertrauen zu dieser Jugend und nehmen Sie vor allem diese Jugend ernst, denn dieser Jugend ist es auch ernst um die Sache der Partei und des Sozialismus.

Der Kern der Jugend ist gut; denn er ist revolutionär. Und wer diese Jugend wirklich hat, der hat die Zukunft. (Starker Beifall.)

Piperger (Wien): Es hieße, die Aufgabe der Jungfront völlig verkennen, wenn man meinen wollte, ihre Aufgabe sei lediglich eine organi­satorische oder administrative. Die Aufgabe, innerhalb der jungen Generation zu wirken, kann nur verstanden werden vor allem als politische Aufgabe von außerordentlicher Wichtigkeit. Der Streit der Meinungen hat sich an der Frage entzündet, ob die Jungfrontvertrauensleute ihre Funktionäre zunächst selbst bestimmen sollen und die Partei sie nachträglich bestätigen soll, oder umgekehrt, wie die Parteivertretung es dem Parteitag heute vor­schlägt, ob nicht die Gesamtheit der Partei, die Jungfrontreferenten in ihren Konferenzen wählen soll— natürlich im Einvernehmen mit den jungen Vertrauensleuten selbst. Ich glaube, wenn man alles Für und Wider abwägt, daß man schließlich doch dazu kommen wird, zuzu­geben, daß der zweite Weg der richtigere und zweckmäßigere ist. Die Lösung, die die Partei­vertretung dem Parteitag vorlegt, dient vor allem auch einem möglichst reibungslosen Generationswechsel in der Partei.

Es ist in den Diskussionen, die in Wien ins­besondere über diese Fragen geführt wurden, das Problem mit Recht einmal auf die Formel ge­bracht worden: bei dem Streit komme es darauf an, ob man an die Frage herangehe als Junger oder als Sozialdemokrat. Ich glaube, wenn man diese Frage durchdenkt, wird man zugeben müssen, daß sie gar nicht anders betrachtet werden kann als vom Gesichtspunkt der gesamten Partei. Erst Sozialdemokrat und dann Jungfrontler muß die Formel sein! (Leb­hafter Beifall.)

In: Arbeiter-Zeitung, 14.11.1932, S. 5.

Max Ermers: Die Stadt der Gesundheit und Freude (1926)

Ein trockener Amtsbericht an den Bauaus­schuß des Gemeinderates wird diesmal zum Kulturdokument ersten Ranges, zu einem Dokument, dessen Studium uns alle mit Stolz, ja mit Begeisterung erfüllen kann. Der Bericht, über den in so hohen Tönen gesprochen werden darf und muß, ist der des Badedirektors der Stadt Wien.

Ohne modehaft anmutende Sprunghaftig­keit, stetig und konsequent vollzieht sich der Aufstieg Wiens zur Stadt der Körperkultur. Aus dem Ausflug zum Heurigen oder in den Wurstelprater wird der Ausflug aufs Gänse­häufel oder ins Sonnenbad am Krapfenwaldl. Und wenn Baden, Schwimmen, Liegen in der Sonne und an der Luft auch noch keine vollendete Körperkultur bedeutet und der Weg zu einem nordischen Hellenentum noch ein weiter ist, der Anfang ist jedenfalls gemacht, und keine dunkle und naturfeindliche Gewalt der Erde, kein Hirtenbrief und kein erzbischöf­licher Erlaß wird das Rad der Weltgeschichte jemals wieder zurückdrehen können. Und wer sein Wien, besonders sein Vorkriegs-Wien kennt, der wird auch fühlen: diese Stadt der finsteren, übel gelüfteten Höfe, diese Stadt der spekulativen Zinskasernen, der Einzimmer- und Kellerwohnungen, der Tuberkulose und Rachitis, sie hat den endlichen Ruck nach vor­wärts am allerdringendsten notwendig gehabt.

Sechs Millionen viermalhunderttausend Männer und Frauen haben im Vorjahre die kommunalen Badeanstalten frequentiert, über 700.000 Kinder durften sie unentgeltlich benützen. Unsere Bevölkerung ist seit 1914 um 10 Prozent zurückgegangen, aber unsere Bade­freudigkeit hat sich um 57 Prozent gehoben.

Das sind hoffnungsreiche, beglückende, ja unerhörte Zahlen. Badeanstalt um Bade­anstalt entsteht: Schwimmbäder, Brausebäder, Wannenbäder, Sonnenbäder, Luftbäder… Fünf Kinderfreibäder sind bereits errichtet: 140.000 Kinder baden allein alljährlich im proletarischen Ottakring. In das Bad der Hernalser, ins Jörgerbad, kamen 1925 665.000 Besucher. Als 18. Bad der Gemeinde wird in vier Wochen das Amalien-Bad eröffnet werden, im ärmsten Bezirke Wiens, das luxuriöseste Volksbad Europas.

Immer mehr kommt es den Wienern zum Bewußtsein, daß sie an der Donau, an der alten wie an der neuen, einen ungeheuren Schatz der Gesundung, der Kraftgewinnung, der Erholung und der Freude haben. Gänsehäufel und Kritzendorf, Klosterneuburg und Greifenstein sind die Kathedralen der Zukunft. Noch sind sie nicht völlig das geworden, was sie uns sein könnten. Aber auch hier ist der Anfang gemacht, wir sind auf gutem Wege, und das Ausland blickt auf uns. Das fröhliche, spiele­rische Treiben am sonntäglichen Donaustrand und in den Auen – und die verlogene Alt-Wiener Duljäh-Sentimentalität beim Heurigen: eine Welt liegt zwischen ihnen. Ein neues Verhältnis zur Natur, zum Körperrhythmus, zur Gesundheit und zwischen Geschlechtern bahnt sich an. An Stelle des Rauch- und Disku­tierklubs des Proletariers tritt das Arbeiter­strandbad. Und was früher nur den Reichen und Besitzenden gegeben war, wird nun dem ganzen Volke zugeteilt.

Wenn man das Gute und Schöne sieht, das hier geschaffen wird, denkt man unwillkürlich an das Bessere und Schönere, das noch ge­schaffen werden kann – und sicherlich geschaffen werden wird. Noch gibt es in Wien Architekten, die es wagen, riesige VolkswohnHäuser zu errichten, ohne an sonnige Plansch­becken für die Kinder zu denken. Möge sie der amtsführende Stadtrat für Gesundheitswesen und Jugend­fürsorge zur Ordnung rufen. Noch gibt es Architekten und Wohnungsreformer, die vermeinen, es sei im 20. Jahrhundert möglich, eine Volkswohnung ohne zugehörige Badevorrichtung zu projektieren. Möge ihnen der amtsführende Stadt­rat für das Wohnungswesen den // notwendigen Kursus lesen. Noch gibt es Entwerfer von Volksparkanlagen, die vergessen, daß Kindern und Erwachsenen an jeder größeren grünen Stelle Gelegenheit zu wirklicher Erholung, zum Sonnenbad, zum Turnen, zum Rhythmen gegeben sein muß. Möge der Stadtbaudirektor sie an die neuesten Fortschritte er­innern. Noch gibt es Architekten, die ver­gessen, daß die bildende Kunst, die gute Plastik, die plastische Marmor- oder Sandsteinfigur im Strandbad, im Luftbad, im Volksbad, erst das hinreißende Mittel ist, um das, was vor­läufig erst unbewußter Drang zu Hygiene und Körperkultur in uns Bresthaften und Schwäch­lichen ist, durch das verführerische Mittel der Kunst erst in das Helle, steigernde und erziehe­rische Licht des Bewußtseins gehoben und da­durch zur dauernden, bedeutsamen Volks­institution und Kultur umgeschaffen wird. Möge der amtsführende Stadtrat für Kunstfürsorge sie an diese große Möglichkeit und Notwen­digkeit erinnern. Wir sind auf gutem Wege. Gewiß. Wir wollen aber allezeit auf noch besserem sein.

In: Der Tag, 12.6.1926, S. 1-2.

Hans Tietze: Sozialismus und moderne Kunst (1926)

Schon in der Fürsorge, die eine Zeit forschend und konservierend, erwerbend und erläuternd den Werken der alten Kunst widmet, ist sehr deutlich ein Stück ihres eigenen Kunstgefühls lebendig. In noch höherem Maße muß ein Stück ihrer ganzen Kulturgesinnung und Weltanschauung an ihrem Verhältnis zu der künstlerischen Produktion der Gegenwart zur Geltung kommen, denn wer mit dem Ganzen seiner geistigen Persönlichkeit modern eingestellt ist, wird es auch in seinem Verhältnis zur Kunst sein. Und von diesem Standpunkt der geistigen Einheit gewinnt die Frage nach dem Zusammenhang politischen und kulturellen Bekenntnisses, die in der Regel von zwei Seiten her negativ zu werden pflegt, erneutes Interesse […]. Gibt es eine sozialistische Kunst? Ist ein Bildwerk, weil es einen sozialistischen Führer, einen Proletarier, einen Hungeraufstand, die Opfer eines kapitalistischen Übergriffs zeigt, deshalb sozialistisch? Oder gibt es gewisse Stilrichtungen – die expressionistische, die konstruktivistische oder die neue Sachlichkeit – die in höherem Grade als andere sozialistischem Denken entsprechen? 

Vom Standpunkt, von dem wir diese Frage zu behandeln versuchen, scheint sie einer doppelten Erwägung zu bedürfen: einerseits, wie sich politische und soziale Umwälzungen überhaupt auf künstlerischem Gebiete auswirken, und andererseits, wie speziell die künstlerischen Probleme unserer Zeit sich zum Sozialismus verhalten. 

Jeder gesellschaftlichen Struktur entspricht wie eine wissenschaftliche auch eine künstlerische Auffassung; eine die Herrschaft gewinnende neue Schicht setzt notwendig ihr eigene an Stelle der entthronten alten Auffassung. Aber diese // vollzieht sich nicht mit einem Schlage; die Kunst hat – unabhängig von den Bedingungen, denen ihre letzte Stilstufe entsprang – der uns seit Kant zum Axiom gewordenen Autonomie des Ästhetischen entsprechend, ihr eigenes, gleichsam objektives Dasein; ihre ursprünglich in einer früheren sozialen Stufe wurzelnden Formen leben weiter, um so mehr, als die neu zur Herrschaft gelangte Gruppe zunächst mit ihrer politischen und sozialen Einrichtung vollauf beschäftigt ist und erst später zur kulturellen Ausgestaltung ihres Daseins gelangen wird […]. Aber es liegt im Wesen der Kunst wie in dem aller anderen ideellen Errungenschaften, daß zunächst einzelne vorwegnehmen, was in der breiten Masse gelegen, ihr aber noch nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Erst allmählich wird die neue maßgebend gewordene Schicht ihrer eigenen kulturellen Kraft inne und ihres neuen Ausdrucks fähig. 

In dieser Weise hat etwa das Bürgertum, der dritte Stand der Französischen Revolution, an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert  die kulturelle Führung an sich genommen; dabei hat es sich zunächst mit einem schwächlichen Absud der Kirchen- und Adelskunst begnügt und erst allmählich daraus seine eigene Kunstform gebildet, deren charakteristische Erscheinung, der Impressionismus, den Zusammenhang mit dem Liberalismus in politischer, mit dem Individualismus in sozialer, mit dem Kapitalismus in wirtschaftlicher, mit dem Materialismus in philosophischer Beziehung deutlich genug erkennen läßt.

Heute, hundert Jahre später, sind wir abermals überzeugt, an einer Wende zu stehen; der vierte Stand übernimmt in dieser oder jener Form die Herrschaft und mit der Herrschaft die kultureller Verantwortung vom dritten. Ganz wie dieser damals findet auch das Proletariat vorläufig mit den übernommenen Kulturformen sein Auslangen; noch glaubt radikale politische Gesinnung mit Geschmack an richtiger Bourgeoiskunst – und zumeist mit deren schwächlichsten Ablegern – vereinbar zu sein. Die Revolutionäre des Lebens empfangen ihre Kunst soweit sie sich überhaupt für sie interessieren, aus den Händen der Reaktionäre; fast möchte man sagen, daß sie sich glücklicherweise meist wenig dafür interessieren, denn in diesem Nichtinteresse liegt doch irgendwie die Erkenntnis, daß diese abgetakelte Kunst von gestern und vorgestern sinnlos geworden ist, daß all diese schalen Kulturhansel, die den durstigen Lippen des Volkes kredenzt werden, ihm weder Nahrung noch Genuß bieten können. 

Dieser Zustand ist für einen Übergang charakteristisch, der sich hier nicht anders vollzieht wie auf anderen Gebieten; nicht von heute auf morgen wird eine neue Kunst da sein, sondern allmählich wird die neue Kulturschicht so weit erstarken, daß sie eine ihrem innersten Bedürfnis angemessene Kunst hervorbringen wird. Sind Keime und Ansätze zu dieser neuen Kunst bereits heute vorhanden? 

In negativer Hinsicht werden wir des Zusammenhangs zwischen künstlerischem und politischem Leben deutlich gewahr; es ist kein Zufall, daß zur gleichen Zeit, in der die Kaiser und Könige gestürzt werden und die Wirtschaft in Umwälzung begriffen ist, auch die Kunst in Revolution steht, jahrhundertelang Anerkanntes umgestoßen wird, überall an Stelle des Alten Neues, Gewagtes, Unerhörtes sich durchsetzen möchte. Da und dort Ausfluß der gleichen revolutionären Gesinnung, die nicht mehr an die Heiligkeit der morschen staubigen Theatermöbel glaubt, die so lange zu imponieren vermochten, die, wie in das soziale und wirtschaftliche Leben, auch ins geistige und künstlerische frische Luftströme einführen will. Revolution – ob auf diesem oder jenem Gebiet – ist Ausdruck der gleichen Überzeugung, daß der Augenblick gekommen ist, den veränderten Kräften das Übergewicht über die beharrenden zu schaffen. Immer sind die Umstürzler in der Kunst Arm in Arm mit den politischen Revolutionären gegangen; die jungen Künstler haben auf dem „Berg“ des französischen Nationalkonvents am radikalsten gewettert und der Todfeind der akademischen Zöpfe in der Kunst, Gustave Courbet, hat in der Pariser Commune von 1871 eine große Rolle gespielt. Die Sowjetrepubliken Rußlands haben den künstlerischen Radikalismus offiziell gemacht, die // sozialistischen Stadtverwaltungen Deutschlands fördern systematisch moderne Kunst und selbst im sanften märzlichen Wien von 1848 hat es im Rahmen der allgemeinen eine künstlerische Revolution gegeben, der die Stadt das damals bahnbrechende Monumentalwerk der Altlerchfelderkirche verdankt. 

Dieses Zusammenspiel der radikalen Kunst mit der radikalen Politik rührt nicht nur davon her, daß die Künstler, mehr von Empfindungen als von Erwägungen geleitet, sich leicht und widerstandslos jedem Enthusiasmus in die Arme werfen; es kommt in tieferem Sinne auch daher, daß diese Art von Künstlern – die jeweiligen Modernen ihrer Zeit – auf ihrem Gebiet ebenso am Weg zur Zukunft bauen wie die politischen Neugestalter auf dem ihren. Aus diesem Gefühl der Verwandtschaft heraus haben die genialen politischen Begabungen häufig den Instinkt für die Kunst besessen, begriffen, daß es wichtig ist, diesen Gärstoff so gut wie jeden anderen den eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Die Solidarität der Zukunftsgestalter führt politischen und künstlerischen Radikalismus zusammen.

Aber wieder muß ich fragen: Welche unter den zahlreichen Richtungen unserer Zeit ist es, die diesen Keim der Zukunft in sich trägt, was ist im Chaos unserer Kunst Verwesung des Gestrigen, was ist Gewähr des Morgigen? Nach dem allgemeinen geistigen Entwicklungsgang möchte man dieses in die Zukunft Deutende dort suchen, wo der Anschluß  an kollektives Denken und Fühlen gesucht wird, wo die Kunst den auf die Spitze getriebenen Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts preisgibt, um sich großen Gemeinschaften einzuordnen. In den Programmen vieler der neuesten Richtungen spielen seit Beginn des Jahrhunderts, also schon vor dem politischen Umsturz, Erwägungen dieser Art eine große, die größte Rolle; aller Konstruktivismus ist darauf aufgebaut, daß er die Willkür des Individuellen durch allgemeingültige Gesetzlichkeiten ersetzen will. Aber der Konstruktivismus läßt wie die anderen, sich überstürzenden und einander bekämpfenden Richtungen offensichtlich die breiten Massen ziemlich kalt; müßte nicht jener geniale Wurf, der den künstlerischen Messias verriete, blitzartig jeden Beschauer treffen; müßte nicht eine Richtung, die eine kollektivistische sein will, im Fühlen der Allgemeinheit unmittelbaren Widerhall finden? In einer Zeit des Übergangs und der Widersprüche, wie die unsere es ist, läßt sich auch in der Kunst eine solche Liebe auf den ersten Blick nicht erwarten; noch haben sich die jungen Künstler vom Gestern erst so weit gelöst, daß sie es verabscheuen und verleugnen, aber noch nicht, daß sie ihm Neues und Bleibendes entgegensetzen könnten. Gewiß empfinden die meisten und besten von ihnen tiefe Sehnsucht nach diesem Neuen; sie wollen heraus aus dem Individualismus, an dem sie leiden, aber er hängt unverlierbar an ihnen. Ja diese Gruppen und Grüppchen, in die sich die Kunst zerfasert, diese Schulen, die um einen einzigen Kaffeehaustisch gruppiert sind, diese „ismen“ für Genießer, Adepten und Eingeweihte, sind Blüten eines aufs äußerste gesteigerten Individualismus, sind letzte Raffinements einer absterbenden Schicht, Kunst für Modesalons und Snobisten. Aber jener Umwandlungsprozeß, von dem ich früher sprach, hat sich immer in dieser Weise vollzogen, daß die Dekadenten von gestern der Jugend von morgen den Weg bahnten! Voltaires und Rousseaus erstes Publikum waren Snobs, die in dieser ätzenden Zerstörung der eigenen Kulturessenz nur das witzige Raffinement wahrnahmen, aber nicht die positiven Zukunftswerte: Beaumarchais‘ Ausfälle gegen den Adel hat ein Parterre von Aristokraten bejubelt, und Goya ist als Hofmaler zum Revolutionär der europäischen Malerei des neunzehnten Jahrhunderts herangewachsen. Was Marx den Funktionswechsel nennt – daß der gleiche Prozeß, aus verschiedenem Gesichtswinkel gesehen, entgegengesetzte Bedeutung gewinnt – gilt auch hier: Verwesung ist Blüte, Tod ist Leben. Die modernen Richtungen zersetzen den Besitzstand der alten Kunst und bereiten die neue; vielleicht sind sie auch schon die neue, erst von dem Ziel aus, zu dem diese Entwicklung führen wird, können Wert und Bedeutung der ersten tastenden Schritte, einstmals beurteilt werden. Stehen wir an der Schwelle einer neuen Zeit, das heißt werden die Bewegungen, die heute in ihren Anfängen stecken, zum Siege führen, so werden auch die Revolutionäre in der Kunst dereinst zu jenen zählen, die zu der neuen Freiheit mitgewirkt haben, und die Enkel werden über unsere Blindheit staunen, die uns ihre Bedeutung verkennen und bezweifeln ließ. 

Die Frage der Qualität und des absoluten künstlerischen Wertes ist bei neuen Richtungen eine Sache der Zukunft; eine Sache der Gegenwart aber ist die all//gemeine Lebendigkeit, die revolutionäre Gesinnung. Sie zu fördern, sie als zu sich gehörig zu fühlen ist eine Pflicht eines Sozialismus, der mehr ist als eine parteipolitische Angelegenheit, der sich darüber hinaus immer wieder besinnt, daß er auch eine Weltanschauung ist. Dieser Weltanschauung ist Kunst eine Privatsache; gewiß – so gut wie die Religion. Aber so wie es trotzdem unvereinbar dünkt, daß einer, der ein überzeugter Sozialist ist, am Kirchenglauben festhielte, so unmöglich scheint es auch, daß ein echter Sozialist, sofern er überhaupt Sinn und Interesse für die Kunst hat, in seinem Verhältnis zu ihr konservativ wäre. Er kann nicht anders, als auch in der Kunst wie auf allen Gebieten den radikalsten Versuchen sympathisch gegenüberstehen.   

In: Der Kampf, H. 12/Dezember 1926, S. 545-548 (Auszüge).

Hugo Huppert: Der Sprechchor und die proletarische Kunst (1925)

             Die proletarische Kunst ist ein Ausdruck des proletarischen Kampfes. Aber mehr noch, sie ist ein Mittel, die steht im Dienste dieses Kampfes selbst. Daraus leuchtet ein, daß sie nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihre Form und Gehalt dem Charakter des proletarischen Klassenkampfes entlehnt. Was ist nun das Kennzeichen dieses Kampfes, was unterscheidet seine allgemeine Taktik von der Kampfesweisen anderer Klassen und Gruppen? Die einmütige Bewegung der selbsttätigen Masse. Nicht ein Held, Erlöser, Drachentöter, Befreier, „kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun“ wird den Kampf der Werktätigen um die Herrschaft und später um die klassenlose Gesellschaft entscheiden, sondern die Klasse selbst als kollektive Kampfformation, organisiert und geführt von der Partei der Revolution. So muß die proletarische Kunst zunächst schon der Struktur (dem Aufbau) der Klasse selbst entsprechen, der Klasse, wie sie lebt, arbeitet und kämpft.

             Wenn wir die Architektur (Baukunst) betrachten, die in ihrer praktischen Verbundenheit mit dem Wohnbedürfnis der Gesellschaftsklassen die Zusammenhänge zwischen dem wirtschaftlichen Unterbau und dem künstlerischen Ausdrucksleben einer Gesellschaftsordnung deutlicher als andere Kunstgattungen aufzeigt, so sehen wir folgendes: Im Wohnparadies der Großbourgeoisie, etwa im Cottageviertel von Währing, stehen ältere und neuere Villen und Einfamilienhäuser neben kleinen Palästen und schloßartigen Gartenhäuchen in ungleichen Abständen mit allerlei Gartenschmuck, wobei aber das Auffallendste die durchgängige Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit dieser Gebäude ist, von denen nicht zwei einander ähnlich sein wollen und im Wettbewerb um Eigenart, Besonderheit und „Apartheit“ zu den geschmacklosesten Mitteln greifen. In diesen Bauformen drückt sich der Persönlichkeitskult und der Individualismus des in der freien Konkurrenz der Einzelnen erzogenen bürgerlichen Denkens und Fühlens aus. Dieses plan- und regellose Durcheinander von Ungleichartigem, oft Widerspruchsvollem ist eben das baukünstlerische Abbild der Anarchie der Produktion, wie sie die kapitalistische Wirtschaft beherrscht. Vergleichen wir damit die ungeheuer gleichförmigen, geradlinig ausgerichteten Mauerblöcke der Vorstädte, diese hausgewordenen Raumquader, in welchen das Proletariat wohnt, so erkennen wir darin den kollektiven Zug und das Massenmaß, welches den Aufbau der Arbeiterklasse, ihre Kampfesweise und damit auch die proletarische Kunst kennzeichnet. Nicht um der Schönheit willen ist die Kunst geschaffen, sondern sie wächst aus der sozialen Not wie die Zinskasernen. Und so wandelt sich „Stil“, Geschmack und Schönheitsbegriff mit dem Wechsel der Gesellschaftsform, welche großen ökonomischen Gesetzen folgt.

             Ebenso wie die Riesenquader, Wolkenkratzer und Bienenhäuser dem sozialen Massenwohnen der Arbeiterklasse entsprechen, so entspricht der Epoche des revolutionären Massenaufzugs, der Straßendemonstration und des Straßenkampfes als sprachliches Ausdrucksmittel der Sprechchor. Die kollektiven Losungen der Partei des Proletariats sind der dem Sprechchor angeborene Stoff. Wie ist diese Kunstgattung entstanden? Wer am 25. März nach der Rote-Hilfe-Versammlung im Demonstrationszug über die Mariahilferstraße mitmarschiert ist und die Parolen des Tages im Marschtakt mitgerufen hat, der kennt durch eigene Erfahrung die Geburt des Sprechchors aus dem Kampf. Und als der erste Polizeikordon durchbrochen war, wie rasch und feurig kam im Rhythmus des anschwellenden Sprechchors wieder Ordnung und Geschlossenheit in den Zug! Wo die Starrheit des Marschliedes der vorwärtsstürmenden Bewegung inhaltlich nicht nachkommt, da ergreift der anpassungsfähigere Sprechchor die neue Parole. Und das der Parole entsteht das revolutionäre Gedicht.

             Eine Masse, in der jeder Einzelne sein Wort und seine Stimme hören will, kann nicht sprechen, sondern nur rauschen wie ein totes Element. Der brausende Wind und das rauschende Meer kann beherrscht werden. Aber eine sprechende, weil wollende Masse kann kein Herr beherrschen. Sprechen kann aber nur ein Chor, eine organisierte Masse. Und hier zeigt sich wieder die Einheit von Kunstform und Kampfesform des Proletariats. Der Sprechchor ist das ausdrucksvollste Musikinstrument der zum Kampf organisierten Masse.

             Wer sehen will, wie die kleinbürgerliche Verknöcherung der Sozialdemokratie bis in die ideologischen Höhen der Kunstteheorie hinaufsteigt, der lese, was Elise Karau in der Arbeiter-Zeitung vom 31. März zu sagen hat. Der Sprechchor, aus der antiken Tragödie hervorgegangen, ist nur da, um „proletarische Feste zu verschönern, ihnen eine neue Weihe zu geben…“, „zu unser aller Freue, frohes Fest mit tiefem Sinn…, ein stück Sozialismus, Festkultur der Zukunft! … wenn das Dichterwort: ‚Nur eine kleine Weile, dann habt ihr Zeit!‘ sich erfüllt haben wird.“ Ja, wir wissen, daß diese Stück-Sozialisten Zeit haben; und da wird’s doch dem Proletariat auf „kleine Weile“, die sie ihm durch „Reigen in schöner Harmonie“, „Schönheit des durchgebildeten Körpers“, „Wohllaut des Klanges“, „mit Geist und Empfindung des freien, bewußten Menschen“ kürzen, nicht ankommen! Auch ein Weg zum Sozialismus, der ja stückweise kommt: Man vertreibe // sich die Zeit bis dahin durch Vorbereitungen zur „Festkultur der Zukunft“! Wir würden der Arbeiterjugend raten, etwas anderes zu vertreiben… Aber weshalb denn? Elise Karau meint: „Ein Stückchen vom Himmelsblau, ein Sonnenstrahl vergoldet auch den kahlen Hof der Zinskaserne (und auch diese sieht heute schon anders aus als vor zwanzig Jahren) …“ Aber gemach! Sprechchöre sind alles, nur kein Einschläferungsmittel. Eine kleine Weile nur, und der überraschten Elise Karau schallt es aus tausenden Proletarierkehlen entgegen: „Hinaus aus der Festkultur der Zukunft! Hinein in die Kampfkultur der Gegenwart!!“

In: Die Rote Fahne, 19.4.1925, S. 6-7.

Walter Süß: Mariahilfer Straße. Die Herzader der Großstadt.

Mariahilferstraße: Das ist mehr als eine große Verkehrsader, mehr als zwei endlose Fronten großer Häuser, steinerne Schlucht, in der Ströme von Fußgängern, Autos und Trambahnwagen ewig aneinander vorüberfließen. Nein, Mariahilferstraße – das ist die Seele der Großstadt, das ist eine Symphonie von Luxus, wohlhabender Behäbigkeit und traurigem Elend. Ist ein Märchen von Licht, eine Symphonie von Farben. Ist Granitwüste, Sumpf, Korso, ist Strich, den ein unerbittliches Schicksal durch Lebensrechnung der Armen gezogen hat, die nun auf ihm wandeln müssen. Und ist eine der großen Heerstraßen der Zivilisation, durch die der Rythmus des Jahrhunderts dröhnt, flankiert von Bauten einer geruhigen Vergangenheit und überschattet vom Traum der Zukunft: der Stadt von morgen, Metropolis mit Wolkenkratzern und flammenden Lichtfontänen inmitten brüllender Verkehrskatarakte,  Mariahilferstraße in tausendster Potenz.

              Hundert Gesichter hat diese Straße und hundert Gesichte vermittelt sie. Sie ist Wien, auf eine einzige lapidare Formel gebracht. Sie ist das Wien von gestern, dort, wo noch die alten Häuser stehen und zwanzigstes Jahrhundert an die Mauern des achtzehnten brandet, vergessener Barock im Brausen der Moderne, sie ist das Wien von heute, leuchtende Schriften bunt und eindringlich hoch über flammenden Schaufensterfronten. Und sie ist das Wien von morgen, dessen Zentrum langsam gegen Westen tendiert. Sie führt nicht nur nach Schönbrunn, die Mariahilferstraße. Sie führt in die Zukunft…

Vergangenheit.

Kaffeehaus: Offene Galerie in Stockhöhe, leuchtend rote Riesenparasols über zierlich weißen Tischen. Und unten die Mariahilferstraße – Fußgängerheere, Autokolonnen, gestaute Tramwayzüge; plaudernd, tutend, klingelnd und all das verschmolzen zu einem Inferno der Töne, einer gigantischen Dissonanz, die trotzdem Melodie bedeutet…

So ist es heute.

Und so war es gestern: eine ehrwürdige Landstraße, weißer Staub in ausgefahrenen Räderfurchen, grüne Sträucher am Rain. Und ab und zu Häuserln, dahinter Weingärten und darüber der blaue Himmel. Laimgrube, Gumpendorf, Neubau, Schottenfeld. Es sind alte Namen, ein bißchen rostig schon im Klang. Und damals waren es kleine Nester an der großen Straße, die weit, weit hinaus, bis ins Bayrische führte. Anno 1400 reichten die Häuserln gar nur bis zur heutigen Stiftskirche. Dreihundert Jahre später war die Straße schon bis zur jetzigen Esterhazygasse verbaut. Und in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts rückten die Mauern bis zur „Lina“ vor und dort, wo heute am Gürtel der Obelisk steht, gab es eine Statue des heiligen Johann von Nepomuk, die auf einer steinernen Säule stand.

Einstmals hieß die Straße „Im Schöff“, nach dem gleichnamigen Schild des Wirtshauses, in das die bayrischen Schiffsleute, wenn sie zu Lande heimwärtsstrebten, einzukehren pflegten. Später wurde sie Penzingerstraße, Bayrische Landstraße und Schönbrunnerstraße genannt. Ihren jetzigen Namen bekam sie von einem Marienbild. Jetzt steht auf dem Grund, wo es früher nur eine kleine Holzkapelle gab – sie wurde 1660 errichtet -, die Anno 1715 erbaute Mariahilferkirche. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts hatten die Barnabiten das Land getauft und errichteten, noch lange vor der Kapelle, einen Friedhof, damit der alte vom Michaelerplatz aufgelassen werden konnte. Das Gnadenbild „Maria, hilf!“ gab der Straße und dem Bezirk den Namen. Keine Weingärten gibt es mehr, keinen Friedhof, und kaum einer der Hunderttausende, die täglich durch die Straße ziehen, denkt an die Vergangenheit. Da war das Haus Casa piccola, Mariahilferstraße 1 – jetzt gibt es ein paar Schritte weiter ein Kaffeehaus gleichen Namens – in dem hat der Kriegsrat Napoleons getagt. Im Hause Mariahilferstraße 45, einst hieß es „Zum Goldenen Hirschen“, wurde Ferdinand Raimund geboren. Aber das alles ist schon lang, lang vorbei. Hier wächst kein Wein mehr, keine bayrischen Flößer sinken mehr vor dem Gnadenbild der Himmelskönigin in die Knie und keine Toten werden hier begraben. Und Napoleon, der sich gern als Großer zeigte, mußte dem Gerngroß Platz machen, so wie die Flößer den Automobilen gewichen sind.

Und ein Stockwerk über dem allen sitzt man beim Kaffee unter einem roten Parasol, sechs Meter über den Asphalt.

              Das erste Auto

Ununterbrochen ändert sich das Gesicht dieser Straße. Ich habe Bilder von ihr gesehen, so wie sie Anno neunzig ausgesehen hat: behaglich noch und still, Pferdebahnwagen und Damen mit Puffärmeln und Wespentaillen, mit Spitzenschirmen und Fliegenpilzhüten, ein paar Fiaker dazwischen und im Hintergrund würdige Bürgerhäuser, über denen die Luft des Brillantengrundes lag. Und das Gesicht von gestern ist geblieben, trotz des Gesichts von heute: Draußen in Rudolfsheim stehen noch die alten Barockhäuserln beim Schwendermarkt, an denen die Zeiserlwagen vorübergefahren sind, in der Gegend des Palace die protzigen Fin-de-siècle-Paläste, aufgedonnert mit Kuppeln und patzigen Ornamenten, knapp daneben der nüchterne Zweckbau des Hauses, in dem sich das Flottenkino befindet, und der ganz, ganz entfernt ein bißchen an Broadway und Newyork mahnt. So steht gestern und heute nahe beisammen und einmal wird das Heute neben dem Morgen stehen, aber das Gestern wird nicht mehr da sein.

             In der Straßenschlucht die Automobile, eines nach dem andern. Erst sie geben der Mariahilferstraße Stimmung und Gepräge. Man sehe sie sich an im Morgengrauen, wenn sie leer und öde ist, toter Granitdarm, und wird erkennen – erst die Autos machen sie vollkommen. Es ist vielleicht kein Zufall, daß das erste Auto durch sie gefahren ist. Das war Anno 1879, als Siegfried Marcus, der erfindungsreiche Mechaniker, im Hause Mariahilferstraße 107, seine Werkstätte betrieb. Schon fünfzehn Jahre früher hatte er einen „Motorwagen“ auf der Schmelz ausprobiert. Dann hatte er lange gebastelt und probiert, bis auf einmal in Nacht und Nebel – bei Tag hätte sich der Erfinder nicht getraut – ein sonderbares Fahrzeug, ohne Roß und Schiene knatternd und pfauchend durch die Mariahilferstraße ratterte. Allerdings nicht lange. Die Wiener Polizei verbot das Auto des Marcus. „Wegen des großen Geräusches“, hieß es in der geistvollen Begründung. Es ist also wirklich nicht die Schuld der Polizei, daß es heute Autobanditen gibt…

                           Die Straße lebt.

             Man muß bescheiden sein: Die Mariahilferstraße ist nicht der Berliner Kurfürstendamm und nicht der Londoner „Strand“. Aber sie ist ein Stück Weltstadt, durch die rastlos das Leben pulst, sinnverwirrend in seiner Mannigfaltigkeit und grandios in seinem ewigen Wechsel. Vier Kilometer – aber jeder Kilometer hat ein anderes Gesicht und jede Stunde ein anderes Antlitz. Eng, gedrängt, wie das Herz der City, die ansteigende Kurbe am Beginn; breiter Geschäftsboulevard bis zum Gürtel und kleinbürgerlich, schon ein bißchen vorstädtisch, hinaus gegen Schönbrunn. Am Ende noch ein ganz anderes Bild: ruhige Avenue inmitten grünen Parklandes, zur Rechten der vornehme Kolossalbau des Technischen Museums. Es sind vier verschiedene Straßen, aber es ist ein und dieselbe Straße…

             Aber die Mariahilferstraße mit ihrem Leben, ihrer Brandung, reicht hinein bis in die Seitengassen. Man denke an die Stumper-, an die Reindorfgasse. Mehr als tausend Geschäfte sind in der Mariahilferstraße oder in ihrer unmittelbaren Nähe. Es ist ein riesenhafter Basar, ein einziges gewaltiges Warenhaus, in dem alles verkauft wird, vom Kragenknopf bis zur kompletten Heiratsausstattung, von der Stecknadel bis zum Nobelauto, und alles erhältlich ist, was es in dieser Welt gibt: Ware, Vergnügen, Elend, Liebe und Seelenheil. Gewaltige Mammonspaläste für die Ware, Cafés und Lichtspieltheater für das Vergnügen, vergessene Winkel für das Elend, fein säuberlich reglementierte Striche für die Liebe und Kirchen für das Seelenheil. Und alles, des Lebens Notdurft, Vergnügen, Liebe und Farbe, ja das Leben selbst, scheint Ware geworden zu sein in dieser Straße. Das ist ihr Gesetz und ihr Fluch.

             Fest und hart ist der Asphalt – aber dort, wo die armen Mädel gehen, ist er weich und tückisch, wie Sumpf, in dem sie versinken. Und ihnen allen: denen, die gehen, um sich zu verkaufen, und denen die gehen, um zu kaufen; denen, die hetzen in der Tretmühle der Arbeit, und denen, die gehetzt werden; und denen allesamt, die ihre Luft geatmet und den Rhythmus ihres Tempos in ihren Adern pochen fühlten, ist sie zur Straße des Lebens geworden. Ja, sie ist das Leben selbst; tönend die Pracht der Fassaden und in grauen Lichthöfen das Elend, glänzend die Schminke und tief unter ihr die Bazillen – und flackerndes Licht auf hohen Dächern, über denen es Nacht ist…

             Und man liest wie im Märchen: In der Zeit der Maria Theresia wurden in der Straße Öllampen angebracht. Sie brannten nur, wenn sich der Hof nach Schönbrunn begab. Das war vor 150 Jahren. Und in wieder anderthalb Jahrhunderten werden hier Wolkenkratzer stehen und seltsam geformte Flugschiffe wie Meteore durch die Nacht blitzen. Die Trottoire werden bewegliche Laufbänder sein und drei Straßen werden übereinander liegen. Und jemand wird lesen, wie im Märchen: In der Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts bettelten Männer in der Straße und Frauen verkauften ihre Körper. Denn sie alle, alle hatten ewig Hunger

In: Das Kleine Blatt, 19.5.1928, S. 3-4.

Ludwig W. Abels/Hans Tietze: Unsere Kunstgüter in Gefahr!

Das „Neue Wiener Journal“ hat vor einigen Tagen die Nachricht gebracht, daß mit 31. Dezember der als Kunstforscher sowie als schneidiger Kritiker bekannte und vielgenannte Universitätsprofessor Hans Tietze aus seinem Amt als Referent des Staatsamtes für Unterricht ausscheidet. Schon die Seltenheit des Falles – in einer Zeit, da jeder so lange als möglich an der Krippe zu verbleiben trachtet – hat weit über die engeren Kunstkreise hinaus Aufsehen erregt. Man weiß, daß Tietze nach dem Umsturz durch energische und logisch gewappnete Verteidigung unseres Kunstbesitzes gegen die Gelüste des Auslandes sich hervorgetan hat, daß er bald darauf das großzügige Programm für den Ausbau der staatlichen Sammlungen aufstellte, das vor allem den glücklichen Neuschöpfungen des Barockmuseums sowie der Galerie des 19. Jahrhunderts ec. zugrunde liegt, das aber noch lange nicht in allen Punkten durchgeführt werden konnte. Und so könnte man glauben, daß einer der Vorkämpfer um die gute Kunstsache die Flinte ins Korn geworden hätte. Die Gegner aller Art – an denen es bei einer so entschiedenen Erneuerungstätigkeit nicht fehlen kann – werden vielleicht im ersten Moment triumphieren. Nun, sie kennen die Motive dieses Schrittes nicht und ahnen kaum die Gefahren, die mit den schuldtragenden Verhältnissen verbunden sind!

             Die Abschiedsfeier, die vorgestern im Oberen Belvedere veranstaltet wurde, zeigt das einmütige Zusammenstehen aller am Gedeihen unserer Kunstinstitute interessierten Persönlichkeiten. Sie zeigte, wie tief die Trauer über diesen wohlerwogenen Schritt geht. Dem Scheidenden wurde eine von sämtlichen Beamten der Museen und vielen anderen Fachleuten von Rang unterzeichnete Denkschrift überreicht, in der Dr. Tietze der Dank für sein selbstloses Wirken ausgesprochen und das Festhalten an seinem Programm betont wird.

             Unter den vielen betrübenden Ereignissen, die in den letzten zehn Jahren über Österreich herniederstürmten, war der Stolz auf unseren vielbewunderten Kunstbesitz eines der wenigen tröstlichen Momente. Trotz Geldnot und Abbaumaßnahmen schienen unsere berühmten Institute, die einstigen Hofmuseen, die Hof- (jetzt National-)Bibliothek, die Kupferstich- und Handzeichnungensammlungen, die Galerien neuerer Kunst und andere in ein Stadium des Fortschrittes und der Vergrößerung getreten zu sein, ähnlich wie wir es bei den ehrgeizigen reichsdeutschen Instituten in Berlin, München, Hamburg usw. sehen können. Eingeweihten konnte jedoch nicht verborgen bleiben, daß viele Maßnahmen in den Anfängen stecken blieben; der Arbeitseifer schien zu erlahmen – kein Wunder, wenn die Arbeitslast, an der früher fünf Personen zu tragen hatten, nur oft auf einem einzigen Direktor oder Kustos ruht. Aber es gibt auch tiefer liegende Fermente der Zerstörung. Nicht etwa die Angriffe mancher Zeitungsreferenten sind hier gemeint, denn offener Kampf fördert.

Vielmehr: dem aufmerksamen Beobachter der österreichischen Nachkriegsvorgänge (und zwar auf allen Gebieten der Politik!) kann es nicht entgehen, daß seit einigen Jahren ein ganz eigener Typus von Beamten in den verschiedenen Staatsämternn auftritt, dem es weniger um das allgemeine Wohl, als um die eigene Karriere zu tun ist; es sind Männer, die ihre Ziele mit um so größerer Energie verfolgen, als ihr Gemüt und Gedächtnis „von keinerlei Sachkenntnis beschwert ist“. Sie finden bei jenen Verwaltungsbeamten, die sich möglichst lange am Ruder halten wollen und denen alles andere „Wurst“ ist, keine ernstlichen Hindernisse. Die Folge dieser Erscheinung ist eine vollkommene Stagnation in den betreffenden Gebieten.

[…]

             Hofrat Tietze formuliert die Symptome der Zersetzung in der staatlichen Kunstpolitik in zwei Punkten. In erster Reihe steht das Verhalten der Behörden in den bekanntlich so wichtigen Geldangelegenheiten. Die Krise kennzeichnet sich durch die seit Jahr und Tag bemerkbare Unlust, die genügenden Geldmittel selbst für die spärlichste Befriedigung der sachlichen und Personalbedürfnisse zu bewilligen. Es liegt diese scheinbare Sparsamkeit durchaus nicht im Sinne der Versailler Beschlüsse, ebenso wenig wie der ganz übertrieben gehandhabte Abbau im Personal künstlerischer und wissenschaftlicher Institute. Es war niemals die Absicht der Mächte oder des Generalkommissars Dr. Zimmermann in gedankenloser Schematisierung auch auf die lebendigen und unersetzlich wichtigen Kulturgüter anzuwenden. Welcher Widersinn einerseits in begeisterten Tiraden die zum Weiterbestand Österreichs und zu seiner Reputation so wichtigen Kunstgüter zu preisen, anderseits sie durch Entfernung der bewährten Hüter und Verweigerung der erforderlichen Gelder langsam aber sicher zugrunde zu richten! Jüngere Beamte werden nicht angestellt und herangezogen; die wenigen, die als Volontäre arbeiten, in Erhoffung späterer Anstellung, müssen im Existenzkampf zur Lehrtätigkeit oder Schriftstellerei übergehen. Auswärtige Kräfte lehnen jede Berufung ab, da die gebotenen Gehälter kaum die Hälfte der gewohnten Bezüge betragen!

             Als zweiten Grund des Rückgangs bezeichnet Hofrat Tietze die oben angedeutete Zersetzung, die sich in der Verwaltung selbst vollzieht. Die gesamte Verwaltung Österreichs, speziell auf dem Gebiet der geistigen und Kunstpflege, ist zu ihrem Schaden politischen Einflüssen, den Wünschen der verschiedenen politischen Parteien zugänglich. – Während in Deutschland trotz der Zerklüftung und der Gegensätze in den Meinungen doch die Durchführung wichtiger Ankäufe und wichtiger Reformen nicht behindert wird, erscheint Tietze eine ersprießliche Tätigkeit im Unterrichtsamte bei den gegenwärtigen Verhältnissen vollkommen unmöglich. „Und da ich es unter diesen Umständen für eine Gewissenlosigkeit halten würde, mich aus den Steuergeldern des verarmten Volkes bezahlen zu lassen, ohne etwas zu leisten oder leisten zu können, habe ich von dem Abbaugesetz Gebrauch gemacht, indem ich mich selber abbaute!“

In: Neues Wiener Journal, 6.1.1926, S. 6.

Otto Koenig: Der Geist ist los! (1919)

„Erscheinungen wie die als Expressionismus bezeichnete, sind niemals Gebilde einer bestimmten Gegenwart, ihre Existenz erreicht vielmehr kometenhaft aus ferner Dunkelheit in großgeschwungener Ellipse unser Sehfeld, Spur und Eindruck hinterlassend, ehe sie aufgeht im Allgemeinen.“

Max Krell

Wäre der Expressionismus nichts anderes und nicht mehr als eine Kunstrichtung, die, im Gegensatz zu Naturalismus und Impressionismus, die den äußeren Eindruck, den die Erscheinungswelt  auf den einzelnen macht, in Wort, Ton und Bildwerk festzuhalten versuchten, nach dem Ausdruck innerlicher, geistiger – wie viele meinen ‚absoluter’ – Wesentlichkeit ringt, so wäre wenig Veranlassung, uns mit solchem reinen Kunststreben an dieser Stelle auseinanderzusetzen, Der Expressionismus ist aber mehr als eine bloße Kunstrichtung. Ja er ist in seines Wesens innerstem Kern überhaupt keine neue ästhetische Richtung, sondern eine alte ethische. Dies wäre nicht nur durch die analytische Betrachtung expressionistischer Kunstwerke, sei es Dichtung, Malerei oder Skulptur, sondern auch durch Hunderte von Zitaten aus Werfel und Leonard Frank, aus Hasenclever und Georg Kaiser zu belegen. Doch mögen hier allein die zwei kräftig illustrierenden Worte von Max Krell und Alfred Wolfenstein genügen, die Worte: „Religiöse Ekstatik nach innerer Genesung geht neu durch alle“ und „Wenn Seele lacht, muß Körper heulen.“

Bei genauerer Betrachtung zeigt der Expressionismus mit seinem Kult der eigenen Seele, seinem Streben nach innerer Reinheit bei Gleichgültigkeit gegen äußerliche Unappetitlichkeit (Anachoretismus), Abkehr von Wirklichkeit und Sinnlichkeit, Hinneigung zu spiritualistischen, zeitlosen und absoluten Idealen (Askese), mit seinem Bußwillen und Bekehrungseifer (Exorzismus, Flagellantismus) sehr deutlich die Züge jener ebenfalls zum Kunststil zusammenkristallisierten Geistesrichtung, die man die Gotik (13. und 14. Jahrhundert) nennt.

Auf diese charakteristische Eigentümlichkeit hat meines Wissens zum erstenmal ausdrücklich Hermann Bahr, seiner gegenwärtigen Denkweise entsprechend natürlich mit Genugtuung hingewiesen. Gegenwärtig erkennen die Expressionisten – und solche, die es eben werden – die Beziehung zur Gotik bewußt an. „Die Kunst ist eine Etappe zu Gott!“ erklärt Kasimir Edschmidt. Was man nur im Anblick eines gotischen Spitzbogens nachzufühlen vermag. Max Krell spricht von den „gotischen Rippen“ der neuen Geistesrichtung und Hermann Kesser gibt unzweideutig den Feldruf: „Befreit die religiöse Inbrunst aus den gotischen Türmen!“

Also Gotik im 20. Jahrhundert!

Der historisch geschulte Blick macht angesichts solch seltsamer Wiederkehr keineswegs erstaunte Augen; diese Art von Revenant ist ihm nicht gespensterhaft. Ein Blick auf die durch die Wirtschaftsform des Kapitalismus bedingte, technisch-naturwissenschaftliche letzte Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ eine spiritualistische Reaktion mit Sicherheit seit langem erwarten. Daß der nun „los“ gewordene Geist („Der Geist ist los“ ist der Kampfruf der Gotik von 1918, wie „Gott will es“ die Parole der Kreuzfahrer war) in einer an mittelalterlichem Geschmack gemahnenden Gewandung einhertritt, ja daß er Feuer vom ewigen Licht gotischer Dome gezündet hat, ist ein auffälliger, aber nicht überraschender geschichtlicher Parallelismus […]

Aber hat nicht der Krieg und der endliche Zusammenbruch vergreister politischer Systeme…?

Gewiß hat der Krieg und der Zusammenbruch die neue Begeisterung – gekräftigt, rasch gereift, ihr Ziel und Richtung gewiesen, nicht jedoch hat er die erst geschaffen. Wer die Literaturgeschichte der Vergangenheit kennt, weiß, daß der landläufige Lehrsatz der Schulliteratur: „Der Dreißigjährige Krieg hat den Niedergang der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert verschuldet“, unrichtig ist. Dieser Niedergang war schon vor Beginn des Krieges merkbar.

Wer die zeitgenössische Literatur im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts verfolgt hat, weiß, daß das, was heute unter dem Namen Expressionismus in Erscheinung tritt, schon vor dem Krieg auf dem Marsche war […] durch die politischen Ereignisse ist die Bewegung nicht allein gefördert, sondern auch nach der politischen Seite hin umgebogen worden. Von Leonhard Franks politischer Epik, wie sie in seinem Novellenkranz „Der Mensch ist gut“ gewaltig einhertritt, von Göhring, Kaiser und Hasenclever, bei denen die politische Tendenz immer wieder augenfällig zutage tritt, ganz abgesehen! Auch anscheinend rein psychologische Dichtungen wie Hermann Kessers Tragikomödie „Summa Summarum“ sind politisch, sozial eingestellt und sogar in einer anscheinend so individuellen und rein rein innerlich seelischen Tragödie wie Hermann Böttichers ernstem Spiel „Die Liebe Gottes“, weist es sich bei näherer Betrachtung, daß diese unerquickliche Geschichte von der missglückten Bräutigamschaft Achims des Preußen, bei der man sich nur wundert, warum „das Spiel“ ohne augenscheinlichen Zusammenhang mit der Handlung „unter den Schüssen der abendländischen Revolution“ vor sich gehen muß, nichts anderes darstellen soll als die deutsche Revolution, die nach Böttichers Meinung wie die Heldin des Stückes Lili unter den symbolischen Stimmen des Geistes des Aufstiegs und des Geistes des Untergangs, ins Altgewohnte, Hergebrachte und Vergestrigte umkippt.

Die Tendenz des Expressionismus bildet also eine interessante Synthes von Gothik und sozialem Revolutionismus. An Tollers Person ist sie am deutlichsten zu sehen, in Heinrich Vogelers Aufsatz „Expressionismus der Liebe“ am deutlichsten zu lesen.

Die christliche Liebe der Gotiker der Gegenwart erscheint als Pazifismus und Sozialismus, der Glaubens- und Bekehrungseifer als Revolutionismus. Trotzdem wäre es falsch, im Expressionismus etwas wie eine verbündete Macht zu sehen, die Expressionisten der Liebe als Genossen zu begrüßen. So sehr auch ihre Liebe von Sehnsucht überfließt, sie sehen sich nicht um – wer mitgenießt – und neigen in ihrer Abkehr vom Sinnlichen eher zum Askesenwort: „Genießen macht gemein!“ Ihr Sozialismus ist nicht unmittelbar nach Wohlfahrt gerichtet, sondern auf Mitleiden eingestellt, ihr Revolutionismus zielt nicht unmittelbar auf Besserung, sondern vorher auf Reinigung.

Wieder nur eine Zeugnis für viele! In Böttichers schon erwähntem Gedicht „Die Liebe Gottes“ sagt der „Herr von Kerr“ deutlich als Wortführer des Dichters: „Es gibt Menschen, denen ist sichtbar eine Dornenkrone aufgesetzt, aber es muß eine Gnade sein, denn sie leuchtet meist […]

Die gotisch-mystische Basis des Sozialismus und Revolutionismus der Ausdrucksfanatiker ist also die alte asketische Philosophie von der Gottgewolltheit und Erziehungskraft des Leides – nicht umsonst sehen ja manche Expressionisten in Strindberg ihren Vorläufer, nicht umsonst hat ja die katholische Kirche die „religiöse Sehnsucht in der modernen Literatur“ durch den Mund literierender Jesuiten, zum Beispiel des Pater Browe auf der Akademieversammlung zu Tübingen, wenn auch mit der Einschränkung, daß sie doch nicht gottgläubig genug sei, gerühmt – und die Grundlage ihrer mit der urchristlichen , opferwilligen ‚agape’ enger als mit modernem, pflichtbewusstem, Genossenschaftswillen verwandten, revolutionären Tendenzen ist rein spiritualistischer Natur.

So fundierter Wille zur Katharsis (Reinigung) bedeutet für den wirtschaftlichen Sozialismus buchstäblich Ketzerei! Wirklich scheint der tragende Gedankengang der Neugotiker entgegengesetzt dem der materialistischen Geschichtsauffassung zu verlaufen: erwartet diese von einer allgemeinen Hebung wirtschaftlicher Wohlfahrt auch eine automatisch folgende Hebung des geistigen und sittlichen Niveaus, so erklären jene: „Das unaufhörliche menschliche Wandern nach dem geistigen Ziel ist der einzig unumstößliche Inhalt der Geschichte.“  

In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatszeitschrift, 1921, S. 164-167.

David Josef Bach: Die Kunststelle der Arbeiterschaft

Als im November 1919 mit Beschluß des Parteivorstandes eine eigene Kunststelle der Bildungszentrale errichtet wurde, dachte man zunächst nur an eine bequemere organisatorische Zusammenfassung der vorhandenen Bestrebungen; ein Ausbau schien möglich und wünschenswert, aber seine Dimensionen waren nicht weniger als klar. Vorhanden war nicht allzuviel. Vor allem die Arbeiter – Symphoniekonzerte, die in Wien im Gegensatz zu allen anderen Städten Deutschlands am Beginn der proletarischen Kunstpflege stehen und daher auch der ersten Wiener Volksbühne um einige Jahre voraus sind. Die Arbeiter – Symphoniekonzerte in ihrem äußerlich bescheidenen Umfang hatten zähe auch die Schwierigkeiten der Kriegszeit überstanden. Die Volksbühne jedoch, schon vor dem Kriege fast vollständig zugrunde gerichtet, schleppte nach dem Verlust des eigenen Theaters kümmerlich ein paar hundert Mitglieder weiter. Sie kamen so wenig in Betracht, daß, als nach dem Umsturz zum erstenmal Vorstellungen in den ehemaligen Hoftheatern, nunmehr Staatstheatern, stattfanden, diese Vorstellungen unter dem Namen der Arbeiter – Symphoniekonzerte gehen mußten, weil diese die einzige Organisation waren, die tatsächlich ganz Wien umfaßte. Mit der Gründung der Kunststelle war ein neues Organ geschaffen, daß auch für das Theater überhaupt für das gesamte Gebiet der Kunst dasselbe leisten sollte wie vordem die Arbeiter – Symphoniekonzerte allein. Da gab es nun die erste große Schwierigkeit. So groß nämlich das Bedürfnis der Arbeiterschaft nach guten Vorstellungen war, fast ebenso groß war nach den üblen Erfahrungen, die sie mit der ersten Volksbühne gemacht hatte, das Mißtrauen gegen den Zwang und die materielle Belastung einer neuen Volksbühne. Es mußte daher ein anderer Weg gewählt werden, der den Verhältnissen Rechnung trug, ohne das Ziel aufzugeben. Die Kunststelle ist zum Unterschied von allen ähnlichen Volksbühnenorganisationen nicht auf die einzelnen Mitglieder, sondern auf die politischen  und gewerkschaftlichen Organisationen aufgebaut. Die Kunststelle gibt die Karten nicht an den einzelnen Teilnehmer, sondern in vereinbartem Ausmaß an jede teilnehmende Organisation ab, die erst wieder den Betrieb an ihre Mitglieder übernimmt. Dadurch ist für beide Teile das Gefahrenrisiko ausgeschlossen, natürlich nur so lange, als die Kunststelle wirklich das Vertrauen der Arbeiterschaft genießt, weil davon die Höhe der Kartenbestellung durch die Organisation abhängt. Die Ausdehnung, die die Kunststelle nun tatsächlich gewonnen hat, weißt natürlich in erster Linie der Massen, dann aber wohl auch das Vertrauen der Massen zu dieser Kunstorganisation.

           Noch im Jahre 1919 stiegen wir auf durchschnittlich zwanzig Vorstellungen im Monat, im vergangenen Jahre bereits auf 39 und in den letzten zehn Monaten wurden nahezu eine halbe Million Eintrittskarten verbraucht. Noch in einer anderen Hinsicht muß die Kunststelle beweglicher sein, als es sonst Volksbühnenorganisationen zu sein pflegen. Wir haben Vorstellungen in den Theatern aller Grade und aller Arten. Diese große Bereicherung des Spielplanes, die durch ein einziges Theater allein, und wäre es das größte, niemals erzielt werden kann, bringt organisatorisch den Nachteil einer größeren Schwierigkeit bei der Kartenverteilung mit sich; ein mechanisches Gleichmaß ist vollkommen ausgeschlossen. Dazu kommt, dass die Preise der einzelnen Vorstellungen je nach dem Theater verschieden sind, ja auch die Preise der Vorstellungen in demselben Theater; jedesmal ist der Fassungsraum ein verschiedener, auch in demselben Theater wechselt die Zahl der verfügbaren Sitze, und da durchschnittlich alle zwei Monate eine Verteuerung eintritt, maß immer eine neue Umrechnung vorgenommen werden. Um nur ein Beispiel zu geben: Von 5000 Kronen, die eine Vorstellung im Burgtheater noch 1920 kostete, sind wir jetzt auf das nahezu Zwanzigfache gestiegen. Es darf dabei jedoch nicht übersehen werden, daß die Staatstheaterverwaltung selber bei diesen Arbeitervorstellungen finanzielle Opfer bringen muß. Damit allein wäre es nicht getan, denn die Einnahmen, welche die Kunststelle aus dem Kartenvertrieb erzielt, bleiben in den allermeisten Fällen hinter den Selbstkosten zurück. Dies ist der Punkt, an dem die Hilfe der Gemeinde Wien (gesperrt gedr. Im Orig.) in großzügiger Weise eingesetzt hat .

           Mußten wir noch das Jahr 1919 hindurch die Arbeiter-Symphoniekonzerte zum Beispiel ohne jede Subvention durchbringen, so wäre dies heute bei den Saal- und Orchesterpreisen schlechterdings unmöglich; es ist ausgeschlossen, die Preise so zu erhöhen, daß sich die Veranstaltung selber decke, will man nicht die Arbeiter aus den für sie bestimmten Veranstaltungen vertreiben. Die Gemeinde Wien widmet seit 1919  6 Prozent des Ertrages der Lustbarkeitssteuer der Unterstützung künstlerischer Veranstaltungen „für Arbeiter, Angestellte und Schüler“. Diese Unterstützung allein ermöglicht es, Arbeitervorstellungen und Arbeiter-Symphoniekonzerte aufrecht zu erhalten. Allerdings, die Grenze nach oben ist bereits erreicht und ob sie nicht überschritten wird, wenn eine neue, heute schon unausweichliche Verteuerung eintritt, werden schon die nächsten Wochen lehren. Von dem Kampf, den die Bühnenangestellten um ihre Existenzmöglichkeit führen müssen, werden auch die Arbeitervorstellungen berührt. Es hat schon im vergangenen Jahre nicht an Versuchen gefehlt, die Arbeitervorstellungen gegen die geistigen und manuellen Arbeiter des Bühnenbetriebes auszuspielen, selbstverständlich ohne Erfolg. Auf der anderen Seite ist es ebenso unmöglich, auf dem Umweg über die Subvention unsere Veranstaltungen zu einer größeren Beitragsleistung für die Theaterunternehmungen heranzuziehen. Theaterdirektoren schenken uns nichts; sie sind schließlich auch nicht dazu berufen. Eine nüchterne Betrachtung der Tatsachen lehrt, daß die Arbeitervorstellungen ein sehr großer wirtschaftlicher Faktor für die Wiener Theaterbetriebe geworden sind, ja daß einzelne Betriebe ohne diese Vorstellungen gar nicht aufrecht erhalten werden könnten.

          Aber noch mehr. Mit der Organisierung der Arbeitermassen als Theaterkonsumenten ist die Aufgabe einer proletarischen Kunststelle keineswegs erfüllt. Wenn wir die ursprünglich guten Instinkte eines neuen Theaterpublikums entwickeln, wenn wir es ohne Zwang, nur durch das Beispiel, durch Selbsterziehung, dahin bringen, nur Gutes und Wertvolles zu verlangen, so veredeln wir damit auch das Theater. Heute stehen die Dinge so, dass selbst die größten und reichsten Bühnen wirklich wertvolle Stücke nicht aufführen können, ohne sich vorher der Hilfe der Kunststelle zu versichern. Niemals wäre das deutsche Volkstheater an eine Neuinszenierung des „Don Karlos“ geschritten, niemals an die Aufführung von „Dantons Tod“, niemals wäre „Gas“ aufgeführt worden, wenn nicht die Kunststelle von vornherein eine Anzahl Aufführungen erworben hätte. Die Beispiele lassen sich leicht vermehren, auch für andere Bühnen. Es gereicht den Direktionen zur Ehre, daß sie diese Hilfe benützen, um auch ihr künstlerisches Programm durchführen zu können. Diese Hilfe zu gewähren ist nicht immer ganz leicht. Denn die Kunststelle kann den Bühnen weder den Dramaturgen noch den verantwortlichen Oberregisseur ersetzen, sie kann aber auch nicht zugeben, daß die literarischen Versuche der Wiener Theater ausschließlich auf Kosten der Arbeiterschaft unternommen werden. Daß es kein Literaturcafé gibt, welches jetzt nicht sogenannte, „revolutionäre“ Stücke liefern würde, oder Dramen, die an die „Zukunft“ appellieren, versteht sich. Doch die Arbeiterschaft braucht nicht ein „Theater der Intellektuellen“, das heißt in Wahrheit ein Theater des papierenen, totgeborenen Geistes, sondern sie braucht das Theater des Volkes, des Volksganzen, zu dem alle lebendige und lebensfähige Kunst gehört.

Bezeichnend genug können in Wien auch Volksstücke und wirklich lustige Possen nicht aufgeführt werden, wenn nicht die Arbeitermassen dafür eintreten. Wir haben A n z e n –

g r u b e r vor dem Verschwinden aus den Spielplänen gerettet, wir werden ähnliches bald für

N e s t r o y leisten müssen. Während das Amüsierbedürfnis der Zahlungsfähigen dem „Schwan“ von Molnar nachläuft, hat die Arbeiterschaft allein sechzehn Aufführungen seiner besten Dichtung „Liliom“ ermöglicht. Ein redlicher Künstler wie Rudolf H a w e l hätte es mit seinem Volksstück „Der reiche Aehnl“ nicht über zwei Aufführungen gebracht, wenn nicht die Kunststelle eingegriffen hätte; jedes Mal hat jubelnder Beifall dem Volksdichter gedankt. Und wie war es den mit Raimund? Als Karl E t l i n g e r, den jetzt Berlin als Schauspieler und Regisseur festhält, die „gefesselte Fantasie“ bearbeitet und neu einstudiert hatte, fand sich hierfür überhaupt kein Theaterdirektor: erst als sich die Kunststelle von vornherein verpflichtete, wagte es ein Theater. In Berlin hat jetzt das Staatstheater die „gefesselte Fantasie“ in der selben Bearbeitung, mit dem selben Etlinger als eine Art Sensation herausgebracht, bei uns in Wien hatten wir die Sensation von achtzehn Aufführungen ausschließlich vor Arbeiterpublikum. Noch ein besonders bezeichnendes Beispiels verdient Erwähnung: die „Troerinnen“ des Euripides, eine der besten Aufführungen des Burgtheaters, waren schon abgesetzt, da wagte es die Kunststelle mit vier Aufführungen, und der tiefe Eindruck, den die Dichtung auf proletarische Hörer machte, gab ihr Recht. Natürlich war es ein Wagnis und wir müssen oft genug wagen. Richtung und Haltung gibt die Ueberzeugung, daß a l l e Kunst, insofern sie überhaupt Kunst ist, revolutionär ist und revolutionär wirkt. In Deutschland, wo es Volksbühnen der verschiedensten politischen und religiösen Parteien gibt, wird lebhaft die Frage erörtert, ob und in wieweit Kunstwerke herangezogen werden dürfen, die nicht unmittelbar dem begrenzten Fühlen und Wollen eines bestimmten Kreises entsprechen. Aber ist nicht diese Fragestellung an sich irreführend, falsch? Grundsätzlich müssen wir daran festhalten, jede Kunst, die ihren Namen verdient, dem Volk zu erschließen. Die taktischen Probleme, die sich bei der Durchführung ergeben, sind nicht Fragen der p o l i t i s c h e n Opportunität, oder nur in einem sehr geringen Grade, sondern der künstlerischen und kunsterzieherischen. Auch hier sind Wagnisse, ja Irrtümer und Fehler unvermeidlich, doch vor lauter Schwierigkeiten und der Furcht davor darf uns nicht der Weg verloren gehen, den die Arbeiterklasse, der Erbe der Zukunft, zuschreiten bestimmt ist.

           Die Frage  der Durchführung hat die Kunststelle auch einen Versuch unternehmen lassen, der für die Volksbühnen, zumindest die proletarischen, etwas Neues darstellt. Das im Wesentlichen schon längst bekannte Prinzip der Wanderbühnen nämlich ist hier eigenartig ausgestaltet worden. Wenn man die Arbeiter aus diesem oder jenem Grund nicht zur Kunst bringen kann, so muß man die Kunst zur Arbeiterschaft bringen. Dies gilt nicht bloß für die Provinz, sondern auch für Wien selbst, wo in den Randbezirken Zehntausende von Proletariern wohnen, die Scheu, auch Bequemlichkeit, von dem Besuch der großen zentralen Bildungs- und Kunststätten abschreckt. Aber wie wir mit politischen und gewerkschaftlichen Vorträgen überallhin dringen müssen, so auch mit der Kunst. Also spielt die Kunststelle in Floridsdorf, in Leopoldau, in Simmering, in Breitensee u.s.w. überall, wo es nur ein halbwegs brauchbares Podium gibt. Wir haben in B e t r i e b s k ü c h e n Wiener Abende veranstaltet, die hellen Jubel weckten und sofort wiederholt werden mußten. Aber wir spielen auch  T h e a t e r, und zwar mit unserer eigenen V e r s u c h s b ü h n e, die von der offiziellen Wanderbühne des Unterrichtsamtes und ähnlichen Veranstaltungen wohl zu unterscheiden ist. Denn wir können uns bei der „Neutralität“ der Kunst nicht gänzlich bescheiden. Es gibt künstlerisch durchaus wertvolle und jedenfalls künstlerisch zu rechtfertigende Stücke, ernste und heitere, ja auch Lieder, Couplets, Soloszenen und dergleichen, die ihre revolutionäre sozialistische Gesinnung ganz unbekümmert ausdrücklich aussprechen. Sie könnten niemals aufgeführt werden, böte die Versuchsbühne nicht Möglichkeit dazu. Sie ist eine richtige s o z i a l i s t i s c h e Bühne, die jungen, unbekannten Autoren, jungen noch unerprobten Schauspielern und einem noch jungen, weil noch unverkünstelten Publikum dient. Sie erfüllt damit eine der Aufgaben, die uns auf dem Gebiet der Kunst und der Kunsterziehung gestellt sind, und gerade sie macht besonders klar, daß auch dieses Gebiet nicht für sich allein existiert, sondern das alles miteinander in einen Zusammenhang gehört, in dem Befreiungskampf des Proletariats überhaupt.

In: Arbeiter-Zeitung, 30. Oktober 1921, S. 7.