N.N. (= Franz Anderle): Radiofreiheit
Über Nacht, wie das bei allem, was mit Radio
zusammenhängt, schon zu sein pflegt, hat
unsere politische Einstellung zu ihm eine Wandlung erfahren: Seit ein
paar Tagen stehen wir in Österreich im Vorstadium
des Kampfes um die Radiodemokratie,
eines Kampfes, der überall ausgefochten werden muß und der bei uns scharf zu werden verspricht.
Unser Standpunkt in diesem Kampfe ist bald gewählt:
wir treten aus allgemeinen und aus besonderen Gründen als Menschen, als Österreicher
und als Radiobeflissene
für die Radiodemokratie
ein. Wir wollen unsere besten Kräfte im Kampfe für sie einsetzen, denn
wir wissen, daß hier Entscheidendes auf dem Spiel steht.
Es wäre zu wenig
gesagt, wenn man den Kampf für Radiofreiheit einen Teilkampf im großen Kampfe
für Preßfreiheit nennen wollte. So verhalten sich die Dinge nicht. Der Kampf
für Preßfreiheit, der sein Heldenzeitalter und seine Helden, seine Opfer und
seine Verräter gehabt hat, war eine der Formen, in denen sich der Auftrieb, der
Selbstbefreiungswille des Bürgertums bestätigt hatte. Er war eine typische
Erscheinung des XIX. Jahrhunderts, die diesem ihren Stempel aufgedrückt hatte. Der Kampf um die Radiofreiheit ist echtestes
XX. Jahrhundert [gesp. im Orig.], untrennbar von diesem und nur in dessen
Rahmen verständlich. Es handelt sich vor allem um ein wesentlich
technisches Problem.
Das war die Preßfreiheit ja auch, ebenso wie auch die Radiofreiheit
ihrerseits neben dem technischen Moment auch ein nicht zu übersehendes Machtmoment enthält. Aber das Verhältnis dieser beiden Momente verschiebt
sich bei dem Problem der Radiofreiheit entscheidend zugunsten der technischen.
Es handelt sich, wie bei allem, was mit Radio nur im entferntesten
zusammenhängt, auch hier um ein Problem sui
generis, das nach den eigenen Voraussetzungen betrachtet werden will.
Über das Ideal sind wir uns ja klar und hoffentlich
sind wir darin mit den meisten unserer Leser einig:
Der ideale
Zustand wäre der, daß jeder mit jedem auf dem Radiowege frei und ungehindert
verkehren kann.
Ebenso klar müssen wir uns aber darüber sein, daß dieser Zustand heute
unerreichbar ist. Heute liegen die Dinge vielmehr so, daß
wenn jeder
frei funken könnte, unweigerlich ein Chaos entstehen müsste.
Das Chaos im Äther ist gewiß nicht das, was wir wünschen. Wir wünschen
vielmehr das Chaos zu organisieren, wir wünschen aus dem Chaos einen Kosmos zu
machen.
Radio dürfe
nicht das Monopol einzelner, auch nicht das Monopol einer Partei werden.
Gewiß: Radio muß allen gehören. Aber wie es einrichten, daß diese
Erfindung, deren Wesen das Monopolisiertwerden auszuschließen scheint, wirklich
allen ohne Unterschied zugute komme? Es ist schwer, hier einen umfassenden,
praktischen, befriedigenden positiven Vorschlag zu erhalten.
Es ist nun einmal so,
daß einer praktischen Radiodemokratie im oben definierten utopischen Sinne von
vornherein
natürliche Schranken
gezogen sind. Die hauptsächlichste liegt vielleicht nicht einmal in der
Natur der Hertzschen Welle, sondern in der Beschaffenheit der menschlichen
Seele hinsichtlich ihrer Aufnahmefähigkeit für das gesprochene Wort,
eine Tätigkeit, die nicht unbeschränkt ist. Wenn Mannigfaltigkeit der
Preßprodukte, wenn eine Vielzahl der Zeitungen wesentlich für die praktische
Wirkung der Preßfreiheit ist, so kann das aus dem Wesen der Radiofreiheit schon
deshalb nicht als Forderung abgeleitet werden, weil man beim Hören schneller
ermüdet als beim Lesen, weil man gedruckte Zeitungen durcheinander lesen, aber
gesprochene Zeitungen nicht durcheinander hören kann,
zumindest heute noch nicht. Die Regelung des Radiowesens auf eine
immerhin mögliche Anpassung unserer Sinnesorgane einzustellen, hätte aber
keinen Sinn.
Aus diesem Sachverhalte
geht für die Radiozeitung eigentlich eine überraschende Forderung hervor:
Sie sollte
eine kurze, gedrängte, sich auf die möglichst gewissenhafte Meldung der
Tatsachen beschränkende Zeitung sein: so objektiv wie keine der gedruckten
Zeitungen ist.
Objektivität und Tatsachenfülle scheint uns der eigentliche Stil der
Radiozeitung zu sein.
Aber wir sehen voraus,
daß diese Objektivität, so ehrlich sie auch angestrebt werden sollte, immer
angezweifelt werden wird (und auch die Zweifler werden möglicherweise ehrlich
sein), namentlich, wenn die Herausgeber jener objektiven Zeitung, der
Radiozeitung, im Zusammenhang mit irgendeiner Partei, mit irgendeiner Richtung
gebracht werden können. Ob diese Frage überhaupt zu denjenigen gehört, die der
Radiogesetzgeber einmal gerecht wird lösen können, lassen wir dahingestellt.
[…]
Wer aber soll ordnend, gebietend, verbietend, strafend
eingreifen? Wir glauben doch: der Staat.
Die anderen Lösungen dürfen wir für den Augenblick außer Acht lassen. Nun gut
also, der Staat. Aber welcher Staat?
In: Radiowelt, H. 3, 23.3.1924, S. 1.