Joseph Eberle: Zum 12. November – Umsturzerinnerung
Wer
heute geschichtliche Erinnerung pflegt, auf Ereignisse der Vergangenheit
zurückblickt und über sie nachdenkt, kommt bei den Modemenschen nicht gut an.
„Laßt die Toten ihre Toten begraben“, wird ihm ins Gesicht gedonnert. Das Bild
von Lots Weib, das nach dem brennenden Sodom zurückschaute und zur Salzsäure
erstarrte, wird ihm vorgehalten. Und doch: Einzig der Sinn für die Geschichte,
das Leben aus den Zusammenhängen mit der Geschichte, das Betrachten der
Geschichte zwecks Lernens aus der Geschichte, unterscheidet Kulturvölker von
Nomaden. Der Geschichtsverächter wird Sklave der Tagesmode, Schlachtopfer der
Tagesillusionen.
Wenig
ist so lehrreich wie die Geschichte von Katastrophen, von Umsturzzeiten. Es
sind zumeist die Schlußakte gewaltiger Dramen, wo das Geschehen sich
überstürzt, wo Knoten entwirrt, Rätsel gelöst werden, wo ein Stück Räderwerk
der Dinge sichtbar wird, wo menschliche Werte und Unwerte, Tugenden und
Charakterlosigkeiten, Tapferkeiten und Feigheiten in hüllenloser Nacktheit
sichtbar werden. Katastrophen, Umstürze sind immer erschütternde Lektionen über
Völkergesetze und Menschenqualitäten. […]
***
Der Umsturzgedächtnistag wird in Österreich und in
verschiedenen Nachfolgestaaten als Festtag gefeiert; in Wirklichkeit müßte er
als Trauertag begangen werden. Er wäre angebrachter, Trauerfahnen auszuhängen
und über alttestamentarische Klagelieder nachzudenken, als Volksmassen mit
Banner und klingendem Spiel in Parade aufmarschieren zu lassen. Der
Umsturzgewinner sind ja so wenige, die Zahl der Umsturzverlierer dagegen ist
Legion.
Die Zerschlagung der Donaumonarchie und die Begründung
neuer Staaten und Regierungssysteme auf ihrem Gebiet ist zum Teil die Folge
äußeren Druckes, des verlorenen Krieges; zum Teil die Wirkung langjähriger
innerer Wühlereien, denen Not und Verwirrung die Wege ebneten. Umstürze können
die begreifliche natürliche Reaktion gegenüber Tyrannenherrschaft und
Volksausbeutung sein; sie können aber ebenso die Frucht geistiger Erkrankungen,
phantastischer Ideologien sein. Letzteres war beim Umsturz in
Österreich-Ungarn, soweit er von Innenkräften bedingt und von langer Hand angestrebt
war, vorwiegend der Fall. Die Umsturzführer waren Sklaven einer falschen
Ideologie. So berechtigt gesunde Schätzung von Nation und Volk, von
Muttersprache und Heimat ist, so falsch ist die Vergötterung, die
Verabsolutierung des Nationalen. Neben dem Nationalstaat steht
gleichberechtigt, in gewisser Hinsicht sogar höherberechtigt und übergeordnet, der Völkerstaat oder
Völkerbund, der Volksstämme, die zahlenmäßig zu klein zu eigenen normalen
Staatsgebilden sind, zu einem gewissen gemeinsamen politischen und
wirtschaftlichen Leben zusammenfaßt, zumal wenn die Geographie, wenn die
Geschichte und die Gesetze der Volkswirtschaft zu solcher Zusammenarbeit
drängen. Die Ideologie des Nationalstaates beziehungsweise die These „Jeder
Nation auch ein eigener Staat“ ist Ausfluß des neueren Individualismus. Sie ist
eine Modesache im Hinblick auf die Gesamtgeschichte; sie ist ein blutiger
Anachronismus im Hinblick auf neuere Entwicklungen: in Presse und
Kulturorgani-//sation, in Handel und Verkehr treten immer mehr große
internationale Mächte hervor; die Bedrohung Europas durch die anderen
Kontinente legt europäische Solidarismen größerer und kleinerer Ordnung
geradezu gebieterisch nahe. Wie lächerlich ist da der Wille zur politischen
Balkanisierung, zur Duodezstaaterei! Jedenfalls hat die Balkanisierung
Altösterreichs nicht die versprochene Freiheit, sondern nur Versklavung
gebracht. In den Klageliedern des Jeremias heißt es vom niedergebrochenen
Jerusalem, vom besiegten Judenvolk: „Wie sitzet so einsam die Stadt, einst an
Volk so reich; wie eine Witwe ist die Gebieterin der Völker geworden, ihre
Feinde sind ihre Beherrscher, ihre Widersacher sind reich geworden. Unser Erbe
ist Fremden zuteil geworden, unsere Häuser Ausländern, unser Wasser trinken wir
um Geld, unser Holz müssen wir um Zahlung erwerben, Knechte haben Gewalt über
uns erlangt, niemand rettet uns aus ihrer Hand. Fürsten werden an der Hand
aufgehängt, das Antlitz der Ältesten wird nicht geachtet.“ Muß das nicht heute
auch von Wien und Budapest und Agram gesagt werden? Wo ist heute die Freiheit
der Österreicher, der Ungarn, der Slowenen, der Kroaten, der Slowaken? Ehedem
war Österreich-Ungarn eine führende Großmacht und jeder Staatsangehörige
Nutznießer der Großmachtstellung; die neuen kleinen Staaten sind nur
Spielbälle, Spielzeuge der Großen, und jeder Staatsbewohner erleidet dieses
Schicksal mit. In Wien und Budapest ist das ganze staatliche Sein von
Ententekrediten abhängig. Vertrauensmänner des Auslandes überwachen als
Kontrollorgane die Schlüssel des Geldschrankes! Aber nicht nur die Wirtschaft –
die ganze Kulturpolitik, die Frage, ob Antisemitismus oder nicht, ob
konfessionelle oder konfessionslose Schulleiter, ob Anschlußkundgebungen oder
nicht, wird vom Ausland bestimmt, wird vom Ausland belobt oder mit bitteren
Repressalien bedacht. […]
Es gab schwere Mängel, starke verfassungsrechtliche
Unausgeglichenheiten in der alten Donaumonarchie, die ein längerer Weltkrieg
steigerte. Weil das alte Regime, die alte Obergesellschaft dafür verantwortlich
gemacht wurde, galt der Kampf der Umsturzführer vor allem diesem Regime, dieser
Obergesellschaft. Aber auch hier sind die Umsturzführer von langer Hand Sklaven
von Falschvorstellungen. […] Seit 1848 sind die Parlamente, die Journale, die
Universitäten, die Bücher das eigentlich Führende der Völker, sind Könige und
ihre Ministerien weitgehend gezwungen, sich zu begnügen, Exponenten der
stärksten geistigen und politischen Strömungen ihrer Länder zu sein. Wie dürfen
dann Monarchien und Adel für die Entwicklung dieser Zeit verantwortlich gemacht
werden! Die Journale waren die geistigen Nährmütter des Kapitalismus und seiner
Unerträglichkeiten. Die Journale legten Holz ins Feuer der nationalen
Überspannungen und Zwistigkeiten; die Journale sangen das hohe Lied der Volksvermögen
fressenden Plutokratie, die Journale förderten den Aufstieg des Judentums, die
Journale förderten den Libertinismus und Zynismus im Buchwesen. Die Journale
aber waren nicht in den Händen von Monarchie und Adel! Die Parlamentarier
wieder sekundierten weithin der Weltmacht Presse, fütterten den nationalen
Egoismus, leisteten Lakaiendienste für die Reitzes und Rothschild, für die
Gutmann und Taussig, machten die Bedürfnisse von Industrie und Handel einseitig
zu wichtigsten Staatsbedürfnissen; die liberalen Koryphäen der Universitäten
aber gingen voran, gingen voran in der Verkündigung des Dysevangeliums vom
Kapitalismus und Nationalismus, vom Egoismus und Libertinismus – warum wendet
sich die Umsturzführung nicht gegen diese wirklichen Könige der Neuzeit und die
Fluchwirkungen ihrer Politik? Warum gegen die um die wahre Führungsmacht
gebrachte Dynastie, gegen den Adel, die, noch bessere Traditionen und besseren
Geist verkörpernd, als letzte Vertreter konservativer Kultur und Wirtschaft,
übervölkischer Versöhnlichkeit, gesunden Interessenausgleiches der
Gesamtvolksschichten, eher Verstärkung ihrer Position als Vertreibung ,
Vermögenskonfiskation und Tod verdienten? Schon im Hinblick auf die
französische Revolution, bei Besprechung der Frage der an ihr Schuldigen,
wendet sich Carlyle gegen jenen Pharisäismus, der sich anklagend einseitig nur
gegen das alte Regime kehrt, das damals noch wirkliche Führungsmacht war.
Gegenüber denen, die nur von der Schuld des Königs, der Königin, der Minister
sprechen, betont er mit größtem Nachdruck die Schuld des ganzen Volkes – auch rückwärts, bis zu Karls des Großen Tagen; die
Schuld aller, die auf ihren Posten irgend einmal ihre Pflicht nicht erfüllt
haben. […]
Nicht als ob das alte Regime in Bausch und Bogen
gerechtfertigt werden sollte; es hatte seine genügende Portion Mängel. Gerade
wenn nicht nur gefragt wird: Wer war schuld an soundsoviel Fehlentwicklung?,
sondern wenn weiter gefragt wird: Warum hat Gott die Katastrophe mit allem Drum
und Dran zugelassen?, muß auf viel mangelnde Aktivität, auf allerlei geistige
Unzulänglichkeiten in der Erfassung der brennenden Zeitaufgaben beim alten
Regime hingewiesen werden. Ganz und gar gefehlt ist es nur, die kleineren
Schuldigen abzuurteilen, die großen aber laufen zu lassen. Ganz und gar gefehlt
ist es nur, die energischen Vertreter schlechter Ideen den unvollkommenen
Vertretern guter Ideen vorzuziehen.
Jedenfalls hat der Sturz der konservativen Mächte, hat
die volle Demokratisierung das erwartete soziale Heil nicht gebracht, sondern
nur die sozialen Übel vermehrt. Die Gegensätze von arm und reich sind nicht
verschwunden, sondern nur gewachsen. An Stelle der Feudaladels tritt mit
wesentlich vermehrter Macht und mit wesentlich vermehrtem Besitz der Industrie-
und Handels-, vor allem der Bank- und Börsenadel. […]//
Ein altes großes Reich wurde zerschlagen, die alte
Dynastie wurde vertrieben: nun regiert der internationale Geldmann, der
Geldadel, das Geldkönigtum im Zeichen jenes Geldsymbols und Geldstolzes, von
dem Carlyle sagt: „Es ist das schlechteste und niedrigste unter allen Bannern
und Symbolen der Herrschaft, nur möglich in einer Zeit des Unglaubens in allem,
außer in brutaler Gewalt und Sensualismus. […]
Was ist bei solcher Sachlage, bei solcher Auffassung der
Sachlage die Aufgabe? Nicht jammern und die Hände in den Schoß legen, auch
nicht tun, als ob die Tatsachen aus der Welt geschafft werden könnten, sondern
durch Aufklärung und Tat tapfer für das Morgen zu arbeiten.
Die falsche nationale Ideologie trägt schwerste Mitschuld
an dem gegenwärtigen Elend. Also Abbau, Bekämpfung dieser Ideologie! So sehr
jedes Volk Anspruch auf volle Auswirkung seiner nationalen Eigenart hat, so
falsch ist jede Verabsolutierung des Nationalen auf Kosten der höheren Werte:
Religion, Kultur, Recht. Kleine Völker scheinen von der Natur verkürzt
gegenüber den großen Völkern, deren Zahlen- und Landschaftsverhältnisse von
selbst den eigenen Staat mit sich bringen; dafür entgehen sie der Symbiose mit
anderen Völkern viel mehr der Gefahr der geistigen Verengung und rassischen
Erschlaffung. Nicht Balkanisierung Mittel- und Südosteuropas und damit
Degradierung Mitteleuropas zum Schlachtfeld, zur Weide, zum Experimentierfeld
Fremder, sondern Föderierung und damit Freiheit Mittel- und Südosteuropas muß Zukunftslösung
sein.
Eine weitere schwere Mitschuld am gegenwärtigen Elend
trägt der überspannte Demokratismus. Also: Abbau der üblichen Ideologie und
Kampf für gesündere, organische Auffassungen! Die Demokratie bedarf starker
Gegengewichte, das Regime von untenher gewisser Bindungen von obenher.
Christliches Ideal war immer die Synthese der bewährtesten Staatsverfassungen,
die Verbindung des demokratischen mit dem aristokratischen und monarchischen
Prinzip. Wer dieserart konservativ denkt, ist nicht Romantiker, Träumer und
Illusionist, sondern Illusionisten und Träumer sind jene Naivlinge der Provinz,
jene Grasgrünen unter 25 Jahren und jene unruhigen Neophyten aus dem Judentum
über 25, die, ohne Kenntnis des Riesenhaften und Dämonischen der modernen
plutokratischen Mächte, nicht einsehen, daß diesen gegenüber wieder Mächte aufgeboten
werden müssen, daß echte Dynastien und Aristokratien geradezu letzte
Schutzpfeiler gegen die Gegenwartsplutokratie sein können. Ganz abgesehen
davon, daß nicht die Gesellschaft der gleichgeordneten Atome, sondern die
hierarchisch geordnete Gesellschaft das Normale ist, wie denn auch der Himmel,
die Gemeinschaft der Heiligen, nicht demokratisch, sondern hierarchisch
geordnet ist. Es gibt keine Kultur ohne starke Wirksamkeit der Faktoren
Tradition und Autorität, so auch keine politische Kultur ohne Wirksamkeit von
Mächten der Tradition und Autorität.
[…]
In: Schönere Zukunft. Kulturelle Wochenschrift. Wien Nr. 7, 15. Nov. 1925, S. 157-160.