Friedrich Austerlitz: Ein Tag gewaltigsten Umsturzes (1918)

Welch ein Tag! In seinem Rahmen drängen sich Ereignisse zusammen, die wie Flammenzeichen aufsteigen und der ganzen Erde das Ende Österreichs verkünden. Das endgültige, furchtbare, schreckliche Ende!

Am Piave ist der Widerstand der österreichisch-ungarischen Armee zusammengebrochen und so hat sie um den Waffenstillstand gebeten. Mittwoch früh 1 hat das Armeeoberkommando zu der italienischen Heeresverwaltung einen Parlamentär geschickt. Die Italiener haben die Verhandlungen zuerst abgelehnt […] Der Sieg der Feinde ist vollendet; es gibt keine Gegenwehr mehr in Österreich, weil es kein Österreich mehr gibt. Es war von den schwarz-gelben Patrioten doch recht voreilig auf das „Österreich der Front“ stolz und rühmend hinzuweisen. Würdig an den Zusammen-//bruch des Landheeres reiht sich die Auflösung der Kriegsmarine an: Die österreichisch-ungarische Kriegsflotte besteht seit heute nicht mehr. Sie wird einfach dem kroatischen Nationalrat übergeben, der auch sofort seine Flagge hissen kann. Die Mannschaften können, wenn sie nicht Südslaven sind, nach Hause gehen; aber der ganze Stab kann auch bei dem Nationalrat Dienst nehmen. Die Übergabe wird mit der Stimmung der südslavischen Mannschaften folgendermaßen begründet: „Die Erklärung der Trennung Ungarns von Österreich, dann die Erklärungen des tschechischen und südslavischen Nationalrates konnten nicht ohne Einwirkung auf die Mannschaften der Kriegsmarine bleiben. Die Rückberufung der Mannschaften durch die Nationalräte hätte derart auflösend gewirkt, daß blutige Zusammenstöße zwischen den einzelnen Nationalitäten nicht unwahrscheinlich würden und die Flotte dadurch wehrlos gemacht, dem Feinde zum Opfer gefallen wäre. Dem vorzubeugen und das wertvolle Material der Kriegsmarine den Nationalstaaten Österreich-Ungarns zu erhalten, entschloß man sich zu dem bekannten Schritte, als dem einzig richtigen in dieser schwierigen Lage.“ Die Behörden haben bei der Übergabe das Eigentumsrecht der „nichtsüdslavischen Nationen“ geltend zu machen und sich die seinerzeitige „Ablösung“ vorzubehalten. Protokollarisch vorzubehalten! […] Triest ist von der amerikanischen Flotte besetzt worden, und das ist schon ein Trost: Man nimmt an, daß die Amerikaner die Stadt besetzt haben, damit die Italiener nicht kommen und sie gleich endgültig in Besitz nehmen, damit also ihr weiteres Schicksal noch eine offene Frage bleibe. Und um das militärische Ungemach voll zu erleiden: Fiume ist von der italienischen Flotte besetzt und in Laibach sind englische Truppen eingezogen 

Während sich in Österreich die Auflösung des Nationalitätenstaates und die Gründung der Nationalstaaten in disziplinierten Formen vollzieht, obwohl die tiefe Gärung im gesamten Volkskörper unverkennbar ist, war Budapest von Mittwoch abend an der Schauplatz von Vorgängen revolutionärster Art, die damit endigten, daß die gesamte bürgerliche und militärische Gewalt in die Hände des Nationalrates fiel. Die unmittelbare Folge war, daß die Mission des Grafen Hadik aufgegeben und Graf Michael Karoly mit der Kabinettsbildung betraut wurde. Daß nur Karoly, der Demokrat und Pazifist, fähig sei, die Dinge zu meistern, war schon längst klar; warum man sich also weigerte, ihn zu ernennen, ist nicht zu begreifen. In Karolys Regierung treten zwei Sozialdemokraten ein: die Genossen Garami und Kunfi auch das zeigt den gewaltigen Wandel an, der sich in so wenigen Tagen vollzogen hat. Dazwischen fällt als aufrüttelndes Ereignis die Ermordung des Grafen Stephan Tisza, den auf einem Spaziergang Soldaten erschossen haben. In dem Attentat hat sich offenkundig die Verbitterung der Soldaten gegen den Mann entladen, der an dem Ausbruch des Krieges so große Schuld trägt. Die neue Regierung hat ernste Aufrufe erlassen, in denen sie zur Ruhe und Ordnung mahnt. 

In guten Bahnen bewegt sich die Bildung der neuen Regierung in Deutschösterreichs. Sie ist nun vollendet, das Direktorium des Staatsrates und die Staatssekretäre ernannt und feierlich in die Pflicht genommen; die Übernahme sämtlicher alter Ministerien, soweit ihre Funktionen das deutsche Gebiet betreffen, wird ohne Verzug geschehen. Schwere, ernste, unendlich große Arbeit steht vor den Männern, die nun berufen sind, die Geschicke Deutschösterreichs zu leiten; möge ihnen fruchtbarer Erfolg beschieden sein. Die ungeheure Sorge, die sie auf sich nehmen, die Verantwortung, die auf ihnen lastet, gebietet allen, ihnen mit Vertrauen, Hingebung und Disziplin zur Seite zu stehen und alles zu tun, was ihre Arbeit fördern, alles zu unterlassen, was sie stören könnte. 

In: Arbeiter-Zeitung, 1.11.1918, S. 1-2.

  1. 10.

N.N. (Leitartikel): Der Geburtstag der Republik (1918)

             Deutschösterreich ist seit gestern Republik und ein Teil des großen Deutschen Reiches.  Damit verläßt unsre Geschichte ihren alten Weg und kehrt zurück zu jenen Jahren des bürgerlichen Freiheitskampfes, da der beste Teil der deutschen Nation ein geeintes und demokratisches Deutschland erstrebte. Die deutsche Freiheitssehnsucht ist blutig erstickt worden durch die Gegenrevolution der alten Mächte und mußte siebzig Jahre schweigen. Aber auch der Traum von dem Deutschen Reich, das alle Stämme der Nation umfassen sollte, schien für immer versunken. Nachdem Preußen die Geschicke Norddeutschlands in die Hand genommen hatte, verlor Österreich im Kampfe um die Vorherrschaft jeden Anspruch auf ein Führeramt und auch jeden inneren Zusammehang mit Deutschland. Es schlug seinen eigenen Weg ein, während das neue Deutsche Reich zehn Millionen deutscher Volksgenossen preisgab. Mit diesem Schicksal, das zwei Kriege und der Wille Bismarcks so gestaltet hatten, fanden sich sowohl die Deutschen des Reiches wie Deutschösterreich ab; es schien für alle Zeiten unabänderlich zu sein. Erst der Krieg und seine jähre Wendung, die das alte Österreich auseinanderriß, haben das deutsche Volk in Österreich vor die unerbittliche Frage gestellt, entweder unter slawische Oberhoheit zu geraten oder kraft der Selbstbestimmung sich eine neue Zukunft zu zimmern.

             Der gestrige Tag hat die Entscheidung gebracht: der Beschlußantrag des Staatsrates, Deutschösterreich als demokratische Republik und als einen Teil der Deutschen Republik zu erklären, ist von der Nationalversammlung einstimmig angenommen und unter dem Jubel einer vieltausendköpfigen Menschenmenge verkündet worden. Der Kanzler unsres neuen Staates Dr. Karl Renner hat in seiner gestrigen Rede mit überzeugenden Worten die Notwendigkeit dieses Entschlusses dargetan, er hat bewiesen, daß die Deutschen Österreichs gar keinen andern Weg hatten als den natürlichen Pfad, der sie zu ihrer Mutter, dem großen deutschen Volk, zurückführte, zumal da die Tschechen in Überspannung des Machtgefühles jede Verhandlung an die Voraussetzung knüpften, daß deutsches Gebiet ihnen überantwortet werde. Dr. Renner hat in einem lauten Bekenntnis davor gewarnt, das Recht der Deutschen auf den vollen Umfang ihres Siedlungsgebietes und auf die Freiheit ihrer Entschließung verkümmern zu wollen. Nur das Schwert eines fremden Siegers, das alle Rechte mißachtet, könnte den Deutschen diesen Weg verlegen und dies auch nur vorübergehend, denn so groß ist keine Macht, daß sie heute noch die zur Freiheit und Selbstbestimmung erwachte deutsche Nation dauernd unter fremdes Joch beugen könnte.

             Die neugeschaffene deutschösterreichische Republik ist nur möglich und entwicklungsfähige, wenn die drei werteschaffenden Klassen, Bürger, Arbeiter und Bauern, zusammenstehen und sich gegenseitig fördern. Nach dem furchtbaren Zusammenbruch des alten Staates und unsrer Wirtschaft wird es des gesammelten Aufgebotes aller Kräfte bedürfen, um die Not dieser Zeit zu überwinden und dem neuen Gebilde eine sichere Grundlage zu leihen. Es ist zu hoffen, daß durch den Anschluß an das Deutsche Reich auch zu uns ein Teil jenes Stromes von unversiegbarer Arbeitskraft und unüberwindlicher Energie herüberkommt, der Deutschland groß gemacht hat und das beste Unterpfand für seine neue Zukunft ist. Aber zu ehedem ist erforderlich, daß sich die Wiedergeburt Deutschösterreichs im Rahmen der großen Deutschland in Ruhe und Ordnung und ohne gewaltsame  Eingriffe in den Gang der Geschichte vollzieht.

             Der erfreuliche Ordnungssinn, den die großen Massen des arbeitenden Volkes gestern bewiesen, ihre anerkennenswerte Disziplin und ihr reifes Verständnis für die Größe der Stunde geben uns Gewähr dafür, daß wir von den kommenden Tagen nichts zu befürchten haben. Aber ein dunkler Schatten fiel auf die hehre Feier des gestrigen Tages, ein Schatten auf die Geburt der Republik. Die unverantwortliche Szene vor dem Parlament, der Versuch ungezügelter Elemente, sich dem Willen des gesamten Volkes entgegenzustellen und mit einem unklaren, gewalttätigen Experiment die neugeschaffene Macht des jungen Staates zu terrorisieren, hat gestern Blut fließen lassen, die große Feier ernsthaft gestört, und wenn auch nur für wenige Stunden, so doch in häßlicher Weise das Gespenst der Anarchie erstehen lassen. Hoffen wir, daß der Vorfall eine düstere Episode bleibe. Wäre er von Vorbedeutung für den weiteren Gang der Dinge, so müßte man mit lebhafter Sorge in die Zukunft blicken. Macaulay stellte der großen englischen Revolution das Zeugnis aus, sie sei das Muster aller Umwälzungen gewesen, da sie „die Existenz jedes einzelnen mit menschlichem Respekt behandelt, die alten Symbole entfernt, aber nicht zerschlagen hat“. Noch sind die Beweggründe, die gestern eine Gruppe unreifer Elemente veranlaßt haben, auf das Volkshaus zu schießen und unter der Menge eine Panik anzurichten, nicht völlig aufgeklärt, aber der Vorfall, der den sonst schönen Tag befleckte, legt der Regierung die ernsthafte Pflicht auf, die Ordnung, deren der neue Staat bedarf, von keiner Seite gefährden zu lassen. Es darf nicht gestattet sein, daß in die Freiheit der Republik der Schrecken der Anarchie einzieht; es darf auch nicht sein, daß das Bild der demokratischen Republik durch die Fratzengestalt hemmungsloser Fanatiker verunstaltet wird. Den Versuch, auf sehr abruzzenhafte Art eine große Tageszeitung in die Hände zu bekommen, haben die Urheber dieser Tat bald wieder aufgegeben; aber die Regierung wird gut daran tun, sehr deutlich zu beweisen, daß der Respekt vor der Äußerung jeder freien Meinung zu den unveräußerlichen Rechten eines wirklichen Volksstaates gehört. Die wahre Freiheit besteht nicht darin, daß alle dasselbe Lied singen,// sondern in der Möglichkeit, jede Meinung äußern zu dürfen. „Rasche Mitläufer“ siegreicher Anschauungen hat es immer gegeben; sie sind oft die ersten, die wieder untreu werden. Es sind nicht die schlechtesten Elemente, die ihre Überzeugung wahren, und Achtung wird auch genießen müssen, wer nicht allem, was er heute hört, sofort begeistert zustimmt, sondern seinem eigenen unabhängigen Urteil vertraut. Eines aber darf und muß man von allen gleichmäßig fordern: Unterordnung unter das Gesetz und Zusammenwirken zum gemeinsamen Wohl. Gewaltanwendung und Beugung des Rechtes des einzelnen sind um so weniger notwendig, als diese Umwälzung sich ohne Widerstand der alten Mächte vollzogen hat, die kampflos das Feld räumten.

             Der neue Staat, das republikanische Österreich, will uns von vielem befreien, was dem alten Reich als Überbleibsel aus alten Zeiten anhaftete. Doch ein selbstbewußtes Volk, würdig der großen deutschen Nation, können wir nur werden, wenn der gestern verkündete neue Staat jedem die volle Freiheit des Gedankens und die ganze Entfaltung seiner natürlichen Kräfte beläßt. Unser neues Vaterland, das heute aus tausend Wunden blutet, wird gesunden und erstarken im Zeichen der Ideen, die der Aufruf der provisorischen Nationalversammlung verkündet: Vertrauen und Eintracht, Selbstzucht und Gemeinsinn.

In: Neues Wiener Tagblatt, 13.11.1918, S. 1-2.

Robert Müller: Berlin-Wien, zwei Perspektiven.

             In Berlin entbrennt ein neues Rußland. Nicht mit Unrecht ist das Preußen vor dem Zusammenbruche von mancher Seite eine Gründung sarmatischen Geistes gleich dem zaristischen Rußland genannt worden. Wie dieses, muß es in einem inneren Kataklisma erst zusammenbrechen, bevor ihm eine Erholung gegönnt ist.

             Im Fegefeuer der spartakistischen Revolution büßt es seine junkerlichen Sünden. Diese Revolution wird es nicht zu Asche verbrennen; sie wird nur die schwachen Stellen seiner bürgerlichen Ordnung versengen. Die Preußen sind so ganz und gar nicht geschaffen, die Verwilderung ihrer Staatlichkeit aufrechtzuerhalten, daß sich dort oben sehr bald wieder eine recht brave untertanenähnliche Balance herauskrystallisieren wird. Es entbehrt – trotz allem blutigen Ernste – nicht des Humors, daß das Polizeipräsidium in Berlin der Mittelpunkt der letzten Aufregung gewesen ist. Über den Schutzmann kommen sie nicht hinweg, weder in ihrem pro noch in seinem contra.

             Das Polizeipräsidium als letzte Gesellschaftsinstanz ist ebensogut die Utopie der von rechts wie der von links. Der spartakiotische Polizeiminister wird genau so aussehen wie alle Politiker mit Spreewasser getauft. Etwa: „Ich warne Neugierige!“ Wie die Regierenden regieren, soll die jeweils Andern nichts angehen.

             Die Zukunft wird in Berlin nicht so lebensgefährlich sein, wie ihre Vertreter sie jetzt machen. Man muß von allen Programmen, ob U-bootkrieg oder Klassenkampf, die Berliner Schnauze subtrahieren.

             Die Zukunft wird nach wie vor sein: Berliner Tempo, ein kommunistisch ausgewalztes Standardbürgertum mit allen Instinkten desselben, eine sehr breite Basis der grundsatzlosen Tüchtigkeiten, „Unsar Liebknecht“ (tatütata) anstatt „unsar Kaisar“, Siegesallee von zu Bürgern und Bürobesitzern arrivierten Amokläufern der Straße und bannig Amüsemang von Nachtlokal und Sechstagerennen bis zur Rheinhard.

             Das ist die Stadt, an die wir unsere eigene Zukunft verraten sollen!

             Berlin: Wir warnen Neugierige!

             In Wien das Item der vorkriegerisch-vorpreußischen Zeit: Engländer, Amerikaner, Schweizer, Franzosen, Italiener, Rumänen, mit nationalen Epauletten versehene Husarenoffiziere der ehemals k.u.k. Ringstraße, sie alle mit derselben nicht mehr verstellten Neugierde des Wieners empfangen und angeblickt, beleben die Straßen. Die Schweizer sind am populärsten nach den Engländern, die man, noch ein bißchen verschüchtert und kleinbürgerlich, wieder am stärksten respektiert. Die Schweizer werden wie etwas Verwandtes empfunden. Da ist ein kleiner Staat unter anderm von tüchtigen und eigenartigen Deutschen bewohnt, die draußen im unmittelbaren Kontakt mit der großen Welt und mit den lebhaftesten Völkern der Erde ihre Nationalität nicht nur festgehalten, sondern im universellen Sinne verbessert haben. Diese Schweizer leuchten uns jetzt auf einmal als ein Muster ein. Warum streiten wir uns herum, ob wir von Berlin oder von Prag, statt wie früher von Budapest aus regiert werden sollen? Daß es auch ohne Küste geht und daß das Korridorprinzip zugleich mit der amerikanischen „Freiheit der Meere“ uns nicht weniger als Tschechoslawien und die Schweiz zugute kommen wird, wird jetzt sonnenklar. Wir sind der Schnittpunkt von vielen Korridoren durch Europa, ein Umschlagplatz nicht nur der Weltgüter, sondern auch der Weltgüte. Wer hat diese Schicksalsfrage für Wien aufgebracht? Nur wenn wir peripher am Deutschen Reich kleben, das wie Figura zeigt noch lange als St. Helena eines Eroberungsvolkes gescheut werden wird, sind wir diesem Kleinstadttode verfallen.

Uns winkt vielmehr ein Schicksal, das in unserem Blute, unserem Gemüte und unserem Geschmacke vorbereitet ist, und seine Erfüllung ist nur wie eine letzte Konsequenz. Eine Art Internationalisierung! Kein Temperament ist so wie das wienerische für diese hochsoziale Form geschaffen.

Inmitten einer Eidgenossenschaft von Bauernkantonen, die durch praktische Einführung eines religiös unterbauten Agrarsozialismus die wirkliche Bilanz der Revolution und des Monarchiezerfalles ziehen, liegt die Weltstadt Wien als eigener Kanton. Die sozialen Aufgaben sind auch in diesem Falle erleichtert. Mit unserer nächsten Umgebung leben wir föderativ. Wirtschaftlich grenzen wir an alle Staaten der Welt, wir sind Hauptstationen vom Ärmelkanal nach Konstantinopel, einer anderen Weltstadt. Für Tschechoslawien, das nordseewärts längs der Elbe transportiert, wir auch nach der dritten internationalen Stadt Triest, ein Exportweg geschaffen werden müssen, schon um die slawische Verbindung aufrechtzuerhalten.

Es gilt, die neuen politischen Formen zu begreifen. Die Entente unterstützt uns mit Nahrungsmitteln und Krediten. Wir haben sie redlich nötig. Die Kommissionen können sich davon überzeugen. Es ist überflüssig, daß die Zeitungen auch noch ein jammerndes Geschmuse darüber erheben, das nur den Eindruck hervorrufen könnte, wir seien entweder Querulanten oder Simulanten. Wir brauchen den im Verhältnis zu unserer Not noch immer dürftigen Anschub. Können wir da zugleich eine Politik machen, die den stänkernden Urheber dieses ganzen Unheils, der auch jetzt noch nicht aufgehört hat, die Welt mit Blutphrasen zu heizen, durch unsere Mithilfe verstärkt?

Darf man unser sogenanntes Anständigkeitsgefühl mobil machen und unsere nationalen Triebe anmustern, um mit dieser Armee – mehr werden wir in unserer Entblößtheit ohnehin nicht stellen können – den allerdings zu streng bestraften deutschen Brüdern, eigentlich sinds nur die Berliner, aufzuhelfen?

Ist es nicht besser, uns erst selbst zu rangieren, bevor wir Retter spielen wollen?

Märtyrer spielen wir seit fünf Jahren zum Schaden derer, denen unser Opfer gelten sollte. Besinnen wir uns auf uns selber.

Der weltpolitischen Perspektive für Wien entspricht im Sozialen die schon öfters aufgezeigten des sozialen Biedermeiers. Wie in Berlin, muß auch in Wien die extremistische Bewegung in die sozialbürgerliche verflachen. Der Kanton ist die weltpolitische Zukunftseinheit. Dem Kantönligeist aber tritt erfolgreich nur der großzügige Internationalisierungsgedanke entgegen, der Wille zur Föderation, der Marschtakt der güterbeladene Marschkarawanen von West nach Ost, von Nord nach Süd.

Es ist kein Zweifel, dieses introspektive geistige Wien – geistig nur in dem Sinne, daß es überdenkt statt handelt – wird sich bei dieser neuen Größe und Ausdehnung neugierig selbst zusehen.

Daraus aber wird sich spezifisch wienerische Zukunft ergeben: aus Anregung, Zergliederung und Verarbeitung ins Bewußtsein – der Welt.

Wien: wir sammeln Neugierige!

In: Finanz-Presse, 7.1.1919; (KS II, 304-307)

N.N.: Die Wehen der neuen Zeit

             Der werdende deutschösterreichische Staat steht vor ungeheuren, vor unlösbaren Problemen. Die schwersten von ihnen gehen aus der Auflösung der Armee hervor. Eine Armee von Millionen Menschen ist in Italien und Tirol gestanden. Diese Armee rasch nach Hause zu befördern, sie auf dem Transport in die Heimat zu verpflegen, die Verbreitung von Seuchen durch die heimkehrenden Krieger zu verhindern, den abrüstenden Soldaten Arbeit, Brot, Wohnungen zu // beschaffen, das wäre auch in ruhigen Zeiten, auch bei ordnungs- und planmäßiger Demobilisierung eine überaus schwere Aufgabe gewesen. Aber unter den jetzigen Umständen ist eine planmäßige Demobilisierung gar nicht möglich. Die Verbände haben sich aufgelöst, die einzelnen Truppenkörper fluten in wirrer Unordnung, in wilder Hast zurück. Sie wollen nach Hause, wollen nicht warten. Aber so schnell wie die Ungeduld der Soldaten es möchte, können sie nicht in die Heimat befördert werden; dazu gibt es bei weitem nicht genug Waggons und Lokomotiven. Daher stauen sich im Süden ungeheure Menschenmassen auf engem Raume. Aber für solche Massen gibt es nicht genug Verpflegung, nicht genug Quartiere, nicht genug Spitäler. Die Soldaten, hungernd, frierend, krank, erbittert, stürzen sich auf die Landbevölkerung, um sich nur Nahrung für den hungrigen Magen und ein schützendes Obdach zu beschaffen. Sie dringen, auf solche Weise „vom Land lebend“ immer weiter in den Norden. Es ist ein Bild ungeheuren Elends, furchtbarster Verwüstung. Da Abhilfe zu schaffen, so gut es eben geht, Eisenbahnwagen, Verpflegung und Heilmittel nach dem Süden schaffen, ist jetzt die dringende Aufgabe der neuen Regierungen.

             Aber diese Aufgabe wird überaus erschwert dadurch, daß die Beziehungen zwischen den neuen Staaten noch ganz ungeregelt sind. So hat zum Beispiel der tschechische Staat nur die Ausfuhr, sondern auch die Durchfuhr vieler wichtiger Waren gesperrt. Daher fehlt es nicht nur an Lebensmitteln für die drängenden Soldatenmassen, sondern auch an Kohlen für die Eisenbahnen, die sie befördern sollen. Der ungarische Staat schickt Eisenbahngarnituren, die Soldaten nach Ungarn gebracht haben, nicht wieder zurück; dadurch wird der Mangel an Eisenbahnmaterial immer empfindlicher. Nur durch Verhandlungen und Vereinbarungen zwischen den neuen Nationalstaaten können solche Schwierigkeiten behoben werden; aber Verhandlungen werden wieder durch die Störungen des Eisenbahn-, Telegraphen- und Telephonverkehrs überaus erschwert.

             Dieselben Ursachen erschweren aber auch die Versorgung des Hinterlandes mit Lebensmitteln. In dieser Beziehung ist Deutschösterreich am schlimmsten daran. Ohne ungarisches Getreide, böhmischen Zucker, galizische Kartoffeln kann es nicht leben, ohne Kohle, die über tschechisches Gebiet zugeführt werden muß, nicht arbeiten. In den letzten Tagen stockt die Milchzufuhr aus Mähren; aber wenn wir für Kinder, Kranke, stillende Mütter keine Milch mehr bekommen, gehen Tausende Menschen zugrunde. Da gilt es nun, mit den anderen Nationen zu verhandeln. Aber die anderen Nationen haben danach kein so starkes Bedürfnis wie wir. Sie haben im eigenen Lande mehr Lebensmittel als wir; brauchen also nicht unsere Hilfe. Aber auch sie sind keineswegs reichlich versorgt; sind daher nicht sehr begierig, uns zu helfen. So sind die Verhandlungen überaus schwer; und sie werden noch dadurch kompliziert und verzögert, daß die anderen Nationen nationale Grenzfragen und politische Streitfragen in die Verhandlungen hineinziehen.

             Man muß diese Tatsachen kennen, um wenigstens eine Ahnung zu haben, welche geradezu unlösbare Aufgabe der neuen deutschösterreichischen Regierung gestellt ist. Diejenigen, denen der neue Staat nicht schnell genug wird und wirkt, haben wohl kaum eine Ahnung davon, welche endlosen Verhandlungen, welche Mühen und Anstrengungen es erfordert, um auch nur die notdürftige Vorsorge für den morgigen Tag, für den Abtransport wenigstens eines Teiles der im Süden angehäuften Soldatenmassen und für die Sicherung auch nur der dürftigsten Nahrung für das Volk im Hinterland zu treffen. Mit einer fliehenden Armee im Rücken und mit sich neubildenden, sich feindlich absperrenden Staaten vor sich einen ganz neuen Staat aufzubauen, eine ganz neue Verwaltung einzurichten, ist eben eine Aufgabe, wie sie wohl noch nie einem Lande gestellt war. Und dabei hängt an der Lösung dieser Aufgabe unsere ganze Zukunft. Denn wenn es nicht gelingt, die Überflutung unseres Landes durch die vom Süden her in chaotischer Unordnung heimwärts eilenden Soldaten zu verhindert, dem Volke im Hinterland sein tägliches Brot, den Fabriken die Zufuhr der Kohle und der Rohstoffe zu sichern, dann können wir Hungerrevolten und Verzweiflungsausbrüchen nicht entgehen. Aber Unruhen würden heute nicht die Revolution bedeuten, sondern die Okkupation. Die Entente hat sich im Waffenstillstandsvertrag das Recht gesichert, jede Stadt in ganz Österreich-Ungarn zu besetzen. Wenn wir die Ordnung im Lande nicht aufrecht erhalten können, dann wird sie von diesem Rechte Gebrauch machen. Und wenn die Entente unsere deutschen Länder in Österreich besetzt, dann ist es mit unserer jungen Freiheit vorbei. Die Befehlshaber der okkupierenden Armeen werden uns dann unsere staatliche Ordnung diktieren!

             So wird der neue Staat unter unbeschreiblichen Schwierigkeiten und Gefahren. Aber er wird und wächst trotz alledem. Heute hat die neue Regierung ihre ersten Verordnungen erlassen. Unter den Verordnungen steht nicht der Name des Kaisers, nicht der Name eines vom Kaiser ernannten Ministers; der Staatsekretär für soziale Fürsorge, unser Genosse Hanusch, hat sie auf Grund einer Ermächtigung des von der Nationalversammlung gewählten Staatsrates erlassen. Es sind die ersten Verordnungen in Österreich, die ihren Ursprung allein und ausschließlich in der von der Volksvertretung eingesetzten Vollzugsgewalt haben. Und diese Verordnungen dienen dem Schutze der Arbeiter. Es handelt sich zunächst darum, den Arbeitern, die infolge der Einstellung der Kriegsindustrien arbeitslos werden, Arbeit zu schaffen. Zu diesem Zwecke werden besondere „Industrielle Bezirkskommissionen“ errichtet, die, paritätisch aus Arbeitern und Unternehmern zusammengesetzt, die Arbeitsbeschaffung für die entlassenen Arbeiter organisieren, die Arbeitslosen in die neuen Arbeitsorte befördern, ihre Verpflegung sicherstellen sollen; eine „Zentralausgleichsstelle für die Arbeitsvermittlung“ soll dafür sorgen, daß die Arbeiter planmäßig aus den absterbenden Kriegsindustrien in die neuzubelebenden Friedensindustrien geleitet werden. So wird eine ganz neue große Verwaltungsorganisation geschaffen, die die Hunderttausende Arbeiter, die bisher in den Kriegsindustrien beschäftigt waren, wieder der Friedensarbeit zuführen soll. Gleichzeitig werden aber in den einzelnen Bezirken auch Einigungsämter errichtet, die and die Stelle der Beschwerdekommissionen, welche jetzt mit dem Kriegsleistungsgesetz verschwinden, treten werden. An die Stelle der Offiziere, die die Beschwerdekommissionen geleitet haben, tritt jetzt in jedem Einigungsamt ein Richter und ein vom Staatssekretär für soziale Fürsorge ernannter Beamter. Die Tätigkeit der Einigungsämter wird sich auf alle Industrie-, Bergwerks- und Eisenbahnbetriebe, auch auf Staatsbetriebe erstrecken. Sie sollen zwischen Unternehmern und Arbeitern bei Streitigkeiten über das Arbeitsverhältnis vermitteln. So enthalten diese Verordnungen ein gutes Stück sozialpolitischer Arbeit. Weitere sozialpolitische Verordnungen werden folgen; so solche über die Unterstützung der Arbeitslosen aus Staatsmitteln und über die Wiederherstellung der zu Kriegsbeginn außer Wirksamkeit gesetzten Arbeiterschutzgesetze.

Kleinlich wird man bei dem weiteren Ausbau nicht sein dürfen. Die Demobilisierung wird Riesenmassen auf den Arbeitsmarkt werfen; sie schnell aufzunehmen wird die Industrie nicht imstande sein, denn an Rohstoff und Kohle werden wir noch lange Mangel haben und starke Investitionstätigkeit erschwert die politische Umwälzung. Daher werden in jedem Falle große Massen arbeitslos bleiben; ihnen hinreichende Unterstützung aus Staatsmitteln zu sichern ist unabweisbare Notwendigkeit.

             Es ist ein ungeheuer schwerer und schmerzhafter Prozeß, diese Überleitung unseres Lebens aus dem Kriege in den Frieden und aus dem alten Zwangsstaat in die neuen Nationalstaaten. Aber so ungeheuer schwer die Probleme sind, so furchtbar groß die Schwierigkeiten und die Gefahren, so entsetzlich jenes Massenelend drunten im Süden, wo heute unsere Soldaten hungernd und frierend nach Hause streben, und so drohend die Massenarbeitslosigkeit, die die Demobilisierung der Armee und der Industrie erzeugen muß – all dieses Elend und all dieser Jammen sind doch nur die Wehen, in denen eine bessere Zeit geboren wird: die Zeit des Friedens und der Demokratie.

In: Arbeiter-Zeitung, 6.11.1918, S. 1-2.

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Ungarn und wir

             Die proletarische Revolution in Ungarn hat ihre besonderen, ihre eigentümlichen Züge. Sie ist nicht so sehr eine Erhebung gegen die Bourgeoisie des eigenen Landes als ein Aufstand gegen die Ententebourgeoisie. Die Entente hat den größten Teil Ungarns an Tschechen, Rumänen und Südslaven verschenkt. Das ungarische Volk lehnt sich gegen die Zerstückelung seines Landes, gegen die Preisgabe magyarischer Städte an fremde Nationen auf. Es faßt den verzweifelten Entschluß, sich gegen die übermächtigen Sieger mit der Waffe in der Hand zur Wehr zu setzten. Aber werden die Arbeiter und die Bauern dem Rufe zu den Waffen folgen? Werden die kriegsmüden Soldaten todesbereit gegen Tschecho-Slovaken und Rumänen marschieren? Sie werden es nur dann, wenn Ungarn wirklich zu ihrem Vaterland wird; wenn der Staat ihr Eigentum wird, wenn die Fabriken und der Boden ihr Besitz werden. Die magyarische Bourgeoisie, deren wirtschaftliche Daseinsmöglichkeit die Zerstückelung des Landes zerstört, faßt den verzweifelten Entschluß, zeitweilig abzudanken, Arbeitern und Bauern kampflos die Staatsgewalt zu überlassen, weil sie darin das einzige Mittel erblickt, die Proletarier der Fabrik und der Scholle zu neuem Kampfe gegen den Landesfeind aufzubieten. So kann das Proletariat, ohne Widerstand zu finden, die Macht ergreifen. Die soziale Revolution dient hier der nationalen Verteidigung; der Übergang der Macht aus den Händen der Bourgeoisie in die Hände des Proletariats dient der Verteidigung des Landes gegen den äußeren Feind. Es ist nicht zum erstenmal so: 1792 hat das französische Volk die Jakobiner zur Macht erhoben, weil es sie allein für befähigt hielt, den nationalen Widerstand gegen die koalierten Fürsten ganz Europas zu entfesseln; 1871 ist die Pariser Commune aus der Bewegung der Patrioten hervorgegangen, die die Unterwerfung unter das Gebot des deutschen Siegers bekämpfen, den Krieg gegen Deutschland fortsetzen wollten.

             Das ungarische Proletariat ruft die Proletarier der Nachbarländer, auch die Proletarier Deutschösterreichs auf, seinem Beispiel zu folgen. Und schon leuchtet hier manches Auge heller, schon schlägt hier lauter manches Herz! Ist nicht auch hier – in Deutschböhmen und im Sudetenland, in Südtirol, Kärnten und Untersteier – deutsches Land vom übermütigen Sieger bedroht, der über Völker verfügt, als ob es Herden wären? Ist nicht auch für uns die Stunde gekommen, die Bourgeoisie zu stürzen, die Macht an uns zu reißen, die Fabriken und Bergwerke, den Boden des Adels und der Kirche mit einem Schlag dem Volke zuzueignen?

             Und doch sind wir in ganz anderer, viel schlimmerer Lage als die Brüder in Ungarn. Gewiß, die Bourgeoisie des eigenen Landes könnten wir so leicht und so schnell entthronen wie wie; das würden ein paar Bataillone Volkswehr besorgen. Aber von der Ententebourgeoisie sind wir ganz anders gefesselt als das magyarische Proletariat. Die Diktatur des Proletariats würde hier wie dort eine Herausforderung der Entente, eine Kriegserklärung an sie bedeuten. Die Ungarn ertragen es, wenn die Ententemissionen Budapest verlassen; sie haben immerhin noch Lebensmittel im eigenen Lande. Wir würden es nicht ertragen. Wir haben kein Mehl mehr als das, das die Entente uns schickt. Wenn die Entente die Lebensmittelzüge einstellt, hätten wir kein Brot mehr. Die Ungarn raten uns, uns von Paris zu trennen, um uns mit Moskau zu verbünden; aber Moskau ist weit, die Sowjetarmeen stehen noch mehr als tausend Kilometer von uns, Polen und die Ukraine sperren uns jede Verbindung mit ihnen; wir sind an Paris gefesselt, weil nur Paris uns Brot geben kann.

Was täten wir, wenn die Entente uns kein Getreide, kein Mehl mehr schickt? Bei den Reichen requirieren? In Wien gibt es ungefähr 500.000 Haushaltungen, unter ihnen etwa ein Zehntel, also etwa 50.000 reiche. Nehmen wir an, daß jede reiche Famile für zehn Tage Mehl vorrätig habe. Wir könnten dieses Mehl requirieren. 50.000 Familien brauche für zehn Tage so viel wie 500.000 für einen Tag. Wenn wir also die gehamsterten Vorräte der Reichen beschlagnahmen, so hätten wir gerade so viel Mehl, als das Wiener Volk für einen Tag braucht. Und dann?

Wir könnten bei den Bauern requirieren. Aber Deutschösterreich ist ein Gebirgsland; im größten Teil des Alpenlandes wächst kein Getreide. Wir haben auch im Frieden nie von deutschösterreichischem, sondern von ungarischem, galizischem, mährischem Getreide gelebt. Was heute bei den schärfsten Requisitionen aus den Bauernhöfen noch herauszuholen wäre, würde nicht einmal für einige Wochen, wahrscheinlich nicht für vierzehn Tage reichen. Und dann?

Ungarn kann uns nichts geben; seine getreidereichen Gebiete – die Bacsa, das Banat, die Slovakei – sind von fremden Truppen besetzt. Oder sollen wir darauf rechnen, daß die Revolution auch nach Böhmen überschlagen wird, daß die Tschechen uns dann helfen werden? Nun, die Tschechen könnten uns Kohlen liefern, sie könnten uns vielleicht für ein paar Tage mit Kartoffeln versorgen, aber Getreide für uns hätten auch sie nicht! Oder sollen wir darauf bauen, daß die Revolution auch die Ententeländer erfassen, ihr Proletariat uns dann Getreide schicken wird? Aber wann wird das geschehen? Vielleicht nach Monaten, vielleicht in einem Jahre! Und wir haben nicht für zwei Wochen Vorräte!

So ist Deutschösterreich ganz auf die Zuschübe der Entente angewiesen. Durch den Hunger sind wir der Entente wehrloser ausgeliefert, als wir es durch eine Besatzungsarmee wären. Der Versuch, hier eine Rätediktatur aufzurichten, würde damit enden, daß wir in ein paar Tagen ganz ohne Brot wären, binnen kurzem durch die Hungersnot zur Kapitulation gezwungen würden. Darum keine Illusionen! Mit der Bourgeoisie des eigenen Landes fertig zu werden, wäre leicht; aber die Ententebourgeoisie hält uns in Fesseln, die wir nicht zu sprengen vermögen, und sie hält schützend die Hand über der heimischen Bourgeoisie!

Aber so wehrlos wir heute sind, wir brauchen darum nicht zu verzweifeln. Die Rätedikatur in Ungarn beweist trotz alledem, daß unsere Sache marschiert. Unaufhaltsam wälzt sich die Welle der sozialen Revolution vom Osten nach dem Westen. Die Stunde wird kommen, in der auch die Arbeiterklasse Englands und Amerikas, Frankreichs und Italiens die Fesseln sprengen wird! Der Ententebourgeoisie wehrlos unterworfen, sind wir heute noch ohnmächtig; aber wenn sich das Proletariat der Ententeländer selbst gegen seien Bourgeoisie erhebt, dann werden im Bunde mit ihm auch wir alle Fesseln brechen.

In: Arbeiter-Zeitung, 23.3.1919, S. 1.

Max Foges: „Die vaterlose Gesellschaft“. Psychoanalyse und Revolution.

             Man muß schon einigermaßen mit der Terminologie der von dem Wiener Forscher Professor Siegmund Freud begründeten und so heiß umstrittenen psychoanalytischen Methode vertraut sein, um den Titel einer soeben in der Serie „Der Aufstieg“ (Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky, Wien-Leipzig) erschienenen Broschüre des Freud-Schülers Dr. Paul Federn: Zur Psychoanalyse der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft zu verstehen. Allerdings die Lektüre der schlanken Schrift wird auch den Laien auf dem Gebiet der Psychoanalyse sicher fesseln und ihm einen Einblick gewähren in die tiefsten seelischen Zusammenhänge, die den einzelnen schon mit der gesamten menschlichen Gesellschaft verbinden. Dr. Paul Federn wagt einen geistvollen Versuch, die abnorme seelische Erregung unserer Zeit, die sich in der Revolution und allen ihren Erscheinungen manifestiert, auf psychoanalytischem Wege zu erläutern, indem er eine der Grundlagen des Lehrgebäudes Professor Freuds, die sogenannte Sohneseinstellung im Vater heranzieht. Wenn man den Gedankengang Federns darlegen will, muß man, wie Freud es bei seinen Forschungen tut, auf die Urzustände der Menschheit, auf die Psychologie der Primitiven zurückgreifen.

             Die erste Form des menschlichen Zusammenlebens war die einer Herde, die unter der übermächtigen Alleingewalt eines Vaters stand. Ihm gehörten die Brüder, ihm die Frauen. Diese Vormacht war geheiligt durch ein System primitiven Aberglaubens, dem Keim späterer Religionen, war gehalten durch die größere Stärke des Häuptlings-Vaters. Heranwachsende einzelne Söhne, die sich nicht fügen wollten, wurden anfangs getötet, in einer späteren Periode vertrieben. Dafür, daß dieser Kampf zwischen Vater und Söhnen grausam und unerbittlich war, sprechen viele Momente, unter anderem die Rolle der Kastration, die, als Recht der Väter, als Angst der Söhne durch die Geschichte der Religionen und Gebräuche ebenso nachweisbar ist, wie sie in spontanen Angstvorstellungen der kleinen Knaben noch heute wiederkehrt. Das Ende eines solchen Tyrannen und Vaters war kein sanftes. Wenn seine Kräfte nachließen oder wenn der gemeinsame Haß der entrechteten vertriebenen Söhne diese zu einer Bruderhorde zusammenschloß, bekämpften und besiegten sie schließlich den Vater und es folgte […] eine Siegesmahlzeit, unter anderem auch, damit so die vom Aberglauben vorgestellte geheimnisvolle Zauberkraft des Vaters auf den Sieger übergehe […] So wiederholte es sich durch lange Generationen, bis der einen Wendepunkt der Kulturgeschichte bedeutende Fortschritt gemacht wurde, daß die Bruderherde sich nicht mehr nur zum Morde des Vaters vereinigte, sondern nach Beseitigung des Tyrannen als Söhneorganisation mit einem durch Vertrag bestimmten Vater beisammen blieb. Dann konnten sie von dem weiteren Vatermord ablassen und es bildeten sich große Gemeinschaften aus den Herden mit Häuptlingen an der Spitze. Aber die uralten Greuel, die in Wirklichkeit aufgehoben waren, wurden als Symbol und Zeremonie festgehalten in der gemeinsamen Totenmahlzeit, in der Vergottung des Vaters im Totenkult, in Gebräuchen, deren Weiterbau an die antike Tragödie und in die religiösen Opfer ausläuft. Es erhielt sich aber auch in der Seele des primitiven Menschen die zwiespältige Einstellung zum Vater: der schuldgehemmte Haß und die furchterfüllte Liebe. Der Vatermord, mit dem die Geschichte der Menschheit einsetzt, war später so sehr zur Sünde geworden, daß er außer alles Rechtes stand. Nichts ist dem Sohn verehrungswürdiger als der Vater, und doch enthält diese Verehrung noch heute in der Kinderseele einen Rest von der uralten Feindschaft, dem uralten Trotz und der uralten Schuld.

             Und nun führt Federn aus, wie der Sohn, jeder einzelne Sohn sich loslösend von der Autorität des Vaters, doch wieder in seinem Leben nach einer Vatergestaltung sucht, und als eine solche Vatergestaltung erscheint ihm der Kaiser im Verhältnis zu seinen Untertanen. Und übergehend auf die Ereignisse des Zusammenbruchs, der sozusagen die Untertanen vaterlos machte, schreibt er: „Nicht alle waren durch den Sturz des Kaisers unvorbereitet vaterlos geworden. Für viele hatte schon die Kriegserklärung die Vaterbindung zerstört, weil kein imaginärer Vater seine Kinder töten läßt, wenn nicht in höchster Verteidigungsnot der Mutter, des Vaterlandes. Diese Partei der ›Unabhängigen‹ vermehrte der Krieg dadurch, daß zwar nicht die fernste Vatergestalt, aber die näheren, die ungezählten Vorgesetzten, Amtsstellen und Offiziere so viel eigensüchtiges Anrecht begangen und so viel unbefolgbare Befehle erteilt haben, daß die ‚Niederen‘, die Arbeiter und Soldaten, schon während des Krieges dieselbe Enttäuschung an diesen Vätern erlebten wie einst in der Kindheit. Die Enttäuschung war so groß, daß sich bei vielen Tausenden die anhängliche Vatereinstellung noch nachträglich in haßerfüllte, oppositionelle verwandelte.

             Der Sturz des Vatertums in dem kaisertreuen Volke war in Österreich durch die wenig zur Vatergestalt taugende Persönlichkeit des jungen Kaisers erleichtert. Charakteristisch ist, daß allen antidynastischen Bewegungen diffamierende Gerüchte über das Herrscherhaus vorausgehen, die wenig Wahres mit viel Falschem vereinen und nicht mehr ausgemerzt werden können. So war es auch in der Französischen Revolution und in Rußland. Diese innere Ehrfurchtsverletzung untergräbt die Vaterstellung, wie einst die gegen den Vater gerichteten Schmähworte sie in der Kindheit gelockert haben. So geschah es, daß die Regenten ohne Widerstandsversuch fallen mußten, weil die gesamte Stimmung von unten bis oben nicht mehr trug. Viele vatertreu gebliebene Untertanen äußerten ihre Erbitterung darüber, „der Kaiser habe das Volk im Stich gelassen“, was zwar nicht der Wahrheit entspricht, aber die Zahl der vaterlos Gewordenen neuerdings vermehrte. Mit dem Sturz des Kaisers mußte alles kraftlos werden, was von der ideellen Vatergemeinschaft getragen war. All dem nicht zu gehorchen, war jetzt innere Bereitschaft, fast innerer Zwang geworden. Wer diese unbewußte Ursache versteht, wird die Vorwürfe, welche einzelnen die Schuld zum Beispiel am Wirrwarr des Rückzuges geben, sehr einschränken. So wenig der einzelne Nutznießer für die in Jahrtausenden entstehenden vererbten und eingewohnten Privilegien auf der Seite der Vatergestaltungen, für die Entrechtung auf der Seite der Söhne eine moralische Verantwortung trägt, so wenig konnte der einzelne die Folgen des Sturzes in seinem Bereiche aufhalten. Sehr ungerecht ist besonders die Entrüstung über Monarchisten, Klerikale und Bourgeois, daß sie nicht über Nacht Republikaner wurden. […] Der Wirrwarr wäre noch größer gewesen, wenn nicht die organisierten Sozialdemokraten schon lange die freiwillige Einordnung in ihrer Partei gelernt und ihr ideelles Vaterbedürfnis schon lange am Führer befriedigt hätten. Daß in Deutschösterreich die Revolution ohne die Raserei haltlos gewordener Menschenrudel verlaufen ist, verdanken wir dem Glück, daß Viktor Adler noch lebte und führte, den jeder Genosse fast bewußt als Vater empfand. Dem radikalen Teil der Partei, dessen Sohneseinstellung sich längst vom Obrigkeitsstaate, während des Krieges auch von den Parteiführern gelöst hatte, bot sich wiederum in der – man kann ohne Übertreibung sagen – heldenhaften Gestalt Fritz Adlers eine gemeinsame Vaterverbindung. Die Tat Fritz Adlers war darum von solch ideeller Bedeutung für die sozialdemokratische Partei in Oesterreich, weil sie der vehemente Ausbruch der Gegnerschaft gegen den alten Obrigkeitsstaat war, einer Gegnerschaft, die während des Krieges wie betäubt verstummt zu sein schien. Daran war auch das Vaterhafte des alten Kaisers schuld gewesen, dessen altgewohnte Greisengestalt viel zum Ausbruch des knabenhaften Enthusiasmus der ersten Kriegsmonate beigetragen hat. Wir erkennen daran, wie ohnmächtig die Vernunft gegen das Unbewußte ist, der Verstand gegen den Trieb sich erweist, mußte doch das hohe Alter lediglich eine noch größere Potenz seiner Unfähigkeit beweisen. Aber dem Gefühl des Volkes – darunter auch vieler Sozialisten – war er desto mehr von der mythischen Weihe des Vatertums umkleidet. Jetzt, da das Vatertum gestürzt is, büßt auch die Partei der Mehrheitssozialisten ihre Verbindung mit dem Gewesenen. Auch die alte Organisation ist den „vaterlosen Gesellen“ zu sehr vom Vatertum durchtränkt. Sie wollen der väterlich eingestellten Partei keine Gefolgschaft leisten.

             In demselben Sinn seiner Theorie und ebenso geistreich beurteilt Dr. Federn die Ereignisse in Deutschland. Seine Schlußfolgerungen zieht er schließlich dahin: „Bei denen, die sich jetzt von der sozialen Vater-Sohn-Einstellung gelöst haben, bleibt die Tendenz doch dazu so stark, daß sie nur auf eine geeignete, neu auftretende Persönlichkeit warten, die ihrem Vaterideale entspricht, um sich wieder als Sohn zu ihm einzustellen. Mit großer Regelmäßigkeit hat deshalb nach dem Sturz von Königen die Republik der Herrschaft eines Volksführers Platz gemacht.“ Allerdings meint er, es müsse nicht so kommen und weist besonders auf Amerika hin. Aber er selbst kann doch auch da seine Bedenken nicht unterdrücken und zeigt selbst den Durchbruch der Vateridee in Erscheinungen auf wie in der Verehrung der amerikanischen Jugend für Roosevelt. Auch räumt er ein, daß Amerika, das Einwandererland, insofern eine Ausnahmestellung einnimmt, als die Einwanderer die Objekte ihrer Vater-Sohn-Einstellung in Europa zurückgelassen haben. Und so schließt er resigniert seinen Beitrag zur Psychologie mit den Worten: „Das // Vater-Sohn-Motiv hat die schwerste Niederlage erlitten. Es ist aber durch die Familienerziehung und als ererbtes Gefühl tief in der Menschheit verankert und wird wahrscheinlich auch diesmal verhindern, daß eine restlos „vaterlose Gesellschaft“ sich durchsetzt.

In: Neues Wiener Journal, 12.9. 1919, S. 7-8.

N.N. (= Friedrich Austerlitz): Das blutige Gespenst

Die Habsburger haben unser Volk in den Höllenrachen des Krieges hinabgestürzt, ihre Flucht ließ hier eine Wüste wirtschaftlicher Zerstörung, Tod, Hunger und Elend zurück. Doch nun soll gerade das Verbrechen den Verbrecher krönen. Aus unserem Hunger, aus unserer frierenden Not wollen die Monarchisten dem wiederkehrenden Karl seinen Thron zimmern. Das klingt wie hirnverrückter Widersinn, aber in Ungarn ist es doch bereits zur Tat geworden. Dort steht die Monarchie zugerichtet und fertig gebaut und harrt nur des Monarchen. Das vom Kriege entkräftete, durch alle Tollheiten politischen  Irrwahns müde gehetzte ungarische Volk ist so völlig seiner Macht der Selbstbestimmung entkleidet, so völlig durch die Banditenschar monarchistischer Söldner geknechtet, dass es schweigend zusehen muß, wie der Urheber aller Schmach als Retter in den Straßen ausgerufen wird. Und auch bei uns redet und raunt man von der rettenden Monarchie, die Verzweiflung soll auch an uns ihr Werk vollbringen. Von unserem Hunger nährt der Habsburger an seinem Flüchtlingshof seine liebsten Hoffnungen; unser kalter Herd, der Frost unserer ungeheizten Stuben wärmt wohlig sein einstweilen in Ruhestand versetztes liebenden Vaterherz.

Und er hofft nicht allein, freut sich nicht allein unseres Siechens und Hinsterbens. Nicht als ob die Wiederkehr der Habsburger irgend jemandem Herzenssache wäre. Noch nie ist eine Monarchie gefallen, die so wenig echten Royalismus im Lande ihrer einstigen Herrschaft zurückgelassen hätte. In Frankreich brannte das Feuer des legitimistischen Fanatismus hundert Jahre nach und ist jetzt noch nicht gänzlich erloschen; in Deutschland ist es die tiefernste Ueberzeugung vieler, dass nur das hohenzollerische Kaisertum die deutsche Einheit würdig verkörpert hat.  Von solchen Verirrungen des Herzens und des Verstandes brauchen wir hierzulande nichts zu besorgen. Die Habsburger verkörperten keines Volkes Sein und Wesen, im kalten Herrscherhochmut schwebten sie über allen „ihren“ Nationen, hatten an der Entwicklung, an dem Sehnen und Drängen keiner einzigen inneren Anteil, und so gibt es denn auch nirgends in ihrem einstigen großen Reiche Menschen, die aus uninteressiertem Empfinden, aus innerem Gefühl Anhänger der gefallenen Dynastie wären. Der Sturz dieses mehr als sechs Jahrhunderte alten Geschlechts hat kein Auge feucht gemacht.

Nicht die Herzen und die Ueberzeugungen haben sich zu Gunsten Karls verschworen, aber eine Koalition alles Gemeinen, Niedrigen und Verworfenen in unserem Lande ist für seine Wiederkunft geschäftig. Was der Vermögensabgabe entfliehen möchte, was um den Ertrag des Kriegswuchers bangt, was die „Begehrlichkeit“ der Arbeiter möchte „in Schranken gewiesen sehen“ und den alten Zustand des Fabriksdespotismus zurückwünscht, was aus der Herrschaft der Kirche in Schule und Familie seinen Vorteil zieht, der Kastengeist entlassener Söldlinge, bürokratischer Ranghochmut, dem ein freies und gleiches Volk Aergernis ist: all das wirbt heimlich und offen für die Monarchie und nimmt fröhlich die Not des Volkes und seine Verzweiflung zum Bundesgenossen. Die Verlogenheit der bürgerlichen Presse, die die Folgen der wirtschaftlichen und geographischen Unmöglichkeit unseres Scheinstaates in Sünden und Unterlassungen der Republik und in Verbrechen der sozialistischen Arbeiter umdeutet, ist sich ihres Zieles und Zweckes wohl bewußt. Die auf der Schädelstätte unseres Elends die Monarchie wieder aufrichten wollen, täuschen sich am allerwenigsten darüber, dass der Monarch an unseren  wirtschaftlichen Nöten nichts ändern kann, daß kein Krümchen Brot und kein Stückchen Kohle mehr ins Land kommen würde, wenn die habsburgische Sippe wieder einzieht. Allein wozu braucht es Brot und Kohle, wenn ein Monarch waltet, den eine schlagkräftige Prätorianergarde umgibt, nach der Art, wie sie Horthy gebildet? Ein hungerndes und frierendes Volk ist nur fürchterlich, wenn es durch Freiheit und Demokratie die Macht hat, die Folgen der allgemeinen Notlage allen aufzuerlegen. Schützt jedoch eine Horthysche Truppe die Kassen der Reichen vor den Notsteuern einer zusammenbrechenden Wirtschaft und den Unternehmer vor den Lohnforderungen der von der Teuerung gepeinigten Arbeiter, dann mag in seinen Stuben das Volk erfrieren und auf den Straßen vom Mangel entkräftet hinsinken: die Bourgeoisie wird diesem Schauspiel aus sicherer Ferne zusehen. Für die Reichen wäre eine auf Söldner gestützte Monarchie tatsächlich der Retter in der Not, der vollgültige Ersatz für Brot und Kohle.

Und dennoch und trotz der breiten Massen Gedankenloser, die im Wirtshause, auf der Straße, im Tramwaywagen murrend und maulend die Schmähungen der Reaktionäre auf die Republik in armseliger Torheit nachsprechen, ist die habsburgische Restauration eine totgeborne Idee. Man proklamiert sie in Budapest und intriguiert für sie in Wien. Aber Budapest und Wien sind die beiden einstigen Hauptstädte eines Reiches, dass nicht mehr ist und niemals mehr sein kann. In Budapest wie in Wien waren sich die früher machthabenden und jetzt nach der Restauration lüsternen Kreise niemals der wahren Grundlagen ihrer Macht bewußt, und haben, scheint es, auch durch den Zusammenbruch keine bessere Klarheit gewonnen. Weil sich in diesen beiden Städten eine Großmacht darstellte, in allen ihren Attributen sichtbar war, meinte man, hier sei ihr Sitz und ihre Grundlage. Doch nicht einmal Herzpunkte der großstaatlichen Macht, wie dies doch die Kulturzentren nationaler Staaten sind, waren jemals Budapest und Wien. Die Gebiete, aus denen Österreich ausschließlich, Ungarn zum großen Teil ihren wirtschaftlichen Reichtum, ja ihre wirtschaftliche Daseinsmöglichkeit zogen: die Sudetenländer, Galizien, Siebenbürgen, Kroatien, das Banat, sie lagen stets und liegen heute erst recht außerhalb der geistigen Einflußphäre der einstigen Hauptstädte, ehedem nur durch äußere Machtmittel an diese Mittelpunkte, die nie Anziehungspunkte ihres inneren Lebens und Werdens sein konnten, gebunden. Weil dem aber so ist, so fallen auch die Hoffnungen, die in Deutschösterreich die reaktionäre auf die horthysche Reaktion setzen, in nichts zusammen. Mag die monarchistische Intrigue über die deutschen und magyarischen Sprachgebiete hinaus an der Eifersucht einzelner slowenischer Volkskreise, an der slowenischen Unzufriedenheit Anhalt und Anknüpfung suchen: indem sie hier überall die reaktionär=klerikalen Strömungen aufsucht, regt sie den tschechischen und den südslavischen  Selbstständigkeitsdrang um so lebhafter gegen sich auf und erweckt sie zu desto früherer und kräftigerer Abwehr. Eine habsburgische Monarchie auf das wirtschaftliche Unvermögen der Magyaren und der deutschen Alpenlande, auf die beiden ihrer Existenzgrundlagen beraubten Millionenstädte ohne Hinterland, Wien und Budapest, gegründet, wäre ein Unding, eine Todgeburt. Aber der Habsburger könnte die Budapester oder die Wiener Hofburg nicht betreten, ohne dass sein Erscheinen an diesen alten Städten der Macht, in den alten Zentren einer Herrschaft der Völkerbedrückung, alle die einst bedrückten Völker zu einem Bunde der Abwehr zusammenschweißte.

Eine habsburgische Restauration mag sogar gewissen nationalistischen reaktionären Kreisen in Paris wohlgefällig sein, sie mögen ein wiederhergestelltes Habsburgerreich als Glied an der Kette wünschen und denken, die sie würgend  dem deutschen Volke um den Laib legen wollen. Aber darum ist dieses alles doch nur ein Traum ohne alle Möglichkeit der Verwirklichung. Am Eingang der Monarchie stünde ein Krieg an allen Grenzen, stünde der Kampf gegen eine Koalition, unter deren Druck am ersten Tag die Kraft der beiden verstümmelten, lebensunfähigen Rumpfstaaten zusammenbräche. Im Blut eines Weltkrieges ist das völkerknechtende Haus der Habsburger untergegangen. Den Versuch seines Wiederaufbaues würden die Fluten eines neuen Koalitionskrieges wegschwemmen.

In: Arbeiter-Zeitung 23. November 1919, S. 1f.

N.N. (Friedrich Austerlitz): Eine Republik ohne Republikaner

            Gewiß, die Monarchie hat ausgespielt; aber sind die politischen Menschen darum Republikaner geworden? Sind sie erfreut darüber, den monarchischen Popanz losgeworden zu sein, stolz darauf, ihre Geschicke in ungehemmter Demokratie nun selbst bestimmen zu können? Die Republik ist doch nicht bloß eine Staatsform, eine bestimmte Einrichtung der Gewalten im Staate; sie ist in Wahrheit auch eine Lebensauffassung. Erst in der Republik ist Freiheit, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit des Volkes restlos erfüllt, wogegen die Einrichtung der Monarchie, und sei sie geartet wie immer und bis zur Wesenlosigkeit abgeschwächt, eine Beeinträchtigung der souveränen Rechte des Volkes ist und bleibt. Die Republik ist die Würde des Volkes, der durch eine Institution, die ihren Ursprung außerhalb der Entscheidung des Volkes, über ihr und unabhängig von ihr sucht und setzt, schwerer Abbruch zugefügt wird. In einer Republik zu leben, muß der Stolz des Bürgers sein; die Monarchie ist Entmündigung, Unfreiheit, Knechtschaft. Empfinden das die Bürger in Deutschösterreich?

            Die Monarchie ist in Oesterreich, wie überall in Schmach und Schande versunken, und ihre Unmöglichkeit und die Unmöglichkeit ihrer Wiederherstellung leuchtet wohl jedermann ein. Der Staatsgrund und der Befähigungsnachweis der Monarchie lag in Oesterreich-Ungarn darin, daß sie die vielen Nationen zusammenfaßte und zusammenhielt; da sie gerade an diesem Punkte ihre vollständige Unfähigkeit bewies, so hat sie ihre volle Zwecklosigkeit dargetan. Denn wenn die Dynastie das nicht zu leisten vermochte, wozu sie da war – und mit welcher Flucht von der habsburgischen Staatlichkeit ihre „Wirksamkeit“ geendet hat, weiß man -, wofür sollte man sie noch brauchen? Aber da wäre es um jeden Heller schade! Von den geheimnisvollen Kräften der Monarchie, mit der man die Gehirne schon in der Volksschule benebelt hat, ist doch gar nichts übrig geblieben; sie haben sich alle als eitel Blendwerk erwiesen. Die treue Armee und die getreuen Völker haben sich beide als Einbildung bewährt; die Vorstellung, dafür zu steuern, dafür Geist und Ehre herzugeben, auf daß ein junger Mensch, dem dazu überdies jede innere Begabung fehlte, den Monarchen darstellen kann, ist zum Schluß jedem peinlich geworden. Womit könnte man es denn begründen – denn auf das einfältige Gottesgnadentum fällt doch heute niemand hinein –, daß sich Deutschösterreich den von allen anderen Nationen abgelehnten Kaiser noch einmal als Dynasten erküren soll? Brauchen wir ihn? Kann er zur Erhöhung unserer Wohlfahrt, zur Festigung unserer Zustände, zum Aufbau unserer Staatlichkeit das geringste beitragen? Welche wirkende Kraft könnte von ihm ausgehen? Würde er etwas anderes sein als eine Last, eine drückende Last schon deshalb, weil ihm zu dem Beruf, für den ihn angeblich eine unerforschliche Vorsehung bestimmt habe, doch auch alle Voraussetzungen und Fähigkeiten fehlen? Das alles ist so selbstverständlich, schon dem bescheidensten Nachdenken gewiß, daß der Besuch einer monarchischen Restauration an der inneren Unvernunft dieser Monarchie vorweg scheitern müßte – womit allerdings nicht gesagt ist, daß er nicht gewagt werden wird, weil nämlich die Monarchen und die Monarchisten das Unabänderliche nie mit Würde zu tragen wissen. Aber eine Heimstatt in den Gefühlen des Volkes wird diese Monarchie, die mit dem fürchterlichen Zusammenbruch geendet hat, nie mehr finden.

             Aber wer aufgehört hat, ein Monarchist zu sein, ist noch lange kein Republikaner geworden. Denn von der Monarchie ist eine Aushöhlung des Geistigen und Sittlichen ausgegangen, die ihre Wirkungen bewahrt, auch wenn die Quelle versiegt ist. War nicht jeder dieser Bürgerlichen stolz darauf, zu dem Hofe in irgend eine Beziehung zu gelangen? War es nicht ihr aller höchster Ehrgeiz, einem Erzherzog oder gar dem Kaiser „vorgestellt“ zu werden? Wohl haben sie die absolute Richtigkeit dieser „Vorstellung“ immer faßlich gesehen, aber es ist ihnen doch immer ein Schauer über den Rücken gelaufen, vor der Majestät oder irgendeinem ihrer Vertreter zu stehen, und für jeden war es die beseligendste Erinnerung, von dem Kaiser „angesprochen“ worden zu sein. Sie sind ihr Leben lang gekrochen, innerlich gekniet, und nun sollen sie, weil die Majestät in Trümmern, aufrechte Menschen sein? Dieses deutsche Bürgertum ist immer Spalier gestanden; sehr oft wirklich, immer aber geistig; sein ganzes Wesen ist von Servilismus durchtränkt, und diese Speichellecker und Bauchrutscher sollen wir uns nun als stolze Republikaner vorstellen? Habt ihr schon einen Bürgerlichen gesehen, der nicht glücklich gewesen wäre, einen Orden, einen Titel, eine Auszeichnung, irgend etwas von dem zu erhaschen, dem allem der freie Mensch nur Verachtung entgegenbringt, das aber auf den Spießergeist als unerhörte Verführung gewirkt hat? Sind sie nicht alle wie besessen dem Adel nachgelaufen, war nicht jeder, auch der Politiker und Abgeordnete, von Glücksgefühl durchbebt, wenn er, was das Ziel seines Lebens war, das kleinste Adelsprädikat endlich erstrebert hatte? Und dieses Volk von kaiserlichen Räten und Hofräten, diese Menschen , die, wenn sie die Anrede Exzellenz gebrauchen können, vor Vergnügen schnalzen, diese kleinen und windigen Seelchen sollen nun den Stolz des freien Mannes empfinden, sollen Republikaner sein, was die Verachtung all des äußerlichen Krimskrams bedeutet, in dem sie ihr ganzes Leben hindurch aufgegangen sind? Auf den Schildern kann man den k. k. Hoflieferanten unschwer auskratzen, aber den byzantinischen Geist, die innerliche Verlotterung auszuscheiden, die sich als Wirkung der monarchischen Institution eingefressen hat, diesen ganzen ungeistigen Sumpf trocken zu legen wird lange Zeit brauchen. Dazu gehört freilich vor allem, mit all den Elementen der monarchischen Verführung aufzuräumen, das Ideal des schlichten Bürgertums von allen Verunreinigungen zu befreien, die die Monarchie, weil sie nur darin ihre Fundierung finden konnte, so üppig ausgestreut hat.

            Und dazu gehört die Einrichtung des Adels mit allem, was drum und dran hängt, den Orden, Titeln und Auszeichnungen, aus denen die Monarchie geradezu ein Mysterium gemacht hat. Die Monarchie abschaffen und ihre Auswüchse bestehen lassen, hieße wirklich halbe und darum vergebliche Arbeit tun. Wie soll die demokratische Rechtsgleichheit gegründet werden, wen der Adel, der doch ihre Verhöhnung und Verneinung ist, aufrecht bleibt? Wie sollen wir ein freies Volk werden, wenn wir den ganzen Unrat der Vergangenheit weiterschleppen? Man sage nicht, daß das nur ein äußerliches Ornament sei und man ihm zu viel Ehre erwiese, wenn man sich nur seine Abschaffung bemühte. Das Aeußerliche hat auf die Vielzuvielen, aus denen leider Gottes das gegenwärtige, von der Monarchie durchseuchte Geschlecht besteht, eine große Gewalt, und für die Vertiefung und Vergeistigung der Republik ist es unerläßlich, diese Macht des Aeußerlichen, des Ungeistigen und Unmoralischen zu brechen. Eine demokratische Republik, die durch den unaufhaltsamen Gang der Entwicklung schon morgen eine soziale Republik sein wird, kann den vergiftenden und verderbenden Pomp und Prunk der überwundenen Vergangenheit nicht dulden; sie muß dem Bürger ein ganz anderes Ideal darbieten, das Ideal der Pflichterfüllung, der Selbstlosigkeit, der menschlichen Solidarität. Wenn wir alle Vorrechte der Geburt verneinen: warum das unmittelbarste Vorrecht der Geburt, das doch eine Erhöhung über die anderen sein will, dulden und fortschleppen? Wir wollen den Sinn der Menschen neuen Idealen öffnen; wie sollen dann die Verlockungen der alten Zeit bestehen bleiben? Wohl wissen wir, daß die wirkliche Macht heute gar nicht mehr bei den „historischen Klassen“ ruht und daß insbesondere der Kampf des Proletariats vor allem auf die Entthronung des Mammons gerichtet sein muß, daß es noch lange nicht ausreicht, den Kaiser zu beseitigen, vielmehr die härteste Aufgabe noch vor uns steht: Zerreißung der Fesseln des Kapitals, die die drückendsten und schmerzhaftesten sind. Aber die Vorarbeit ist eben die Begründung der Demokratie, ihre Auswirkung durch den ganzen Gesellschaftskörper hindurch und dazu ist unumgänglich, daß mit dem Dünkel, mit den Vorurteilen und Einbildungen der alten Zeit Schluss gemacht wird. Es muß rein und hell werden in der Welt.

            Die Republik braucht Republikaner; mit jenen Zweifelhaften und Zweideutigen, die sich mit der neuen Ordnung „abfinden“, ist ihr nicht geholfen. Deshalb muß die Republik für die neue Staatsform, die auch eine neue Lebensauffassung ist, wirken und werben. Wir müssen aus dem öffentlichen Leben alles Falsche und Niedrige entfernen, die ganze Bibelvorstellung von der Entwicklung der Menschheit, wie sie insbesondere in der lumpigen bürgerlichen Geschichtsschreibung, niedergelegt ist, weit von sich weisen, dem Volke den Vorrang in allen Empfindungen verschaffen. Eine solche Reinigung tut auch innerlich not; der Monarchismus hat nicht umsonst Jahrhunderte gelebt, einen ganzen Gedankenkreis um sich gelagert, als daß die Ansteckung, die von ihm ausgeht, nicht tiefer gegangen wäre. Die deutschösterreichische Republik macht deshalb einen so unerquicklichen Eindruck, weil man es allzu deutlich fühlt, daß einem gewissen Bürgertum, die Herren Nationalräte eingeschlossen, ferner Stolz auf diese große Errungenschaft fehlt, den sie vollauf verdient. Aber in den breiten Massen des Volkes ist das Gefühl für diesen gewaltigen Fortschritt lebendig, und die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung werden ein großes Bekenntnis zu der neuen Zeit werden.

In: Arbeiter-Zeitung, 24.11.1918. S. 1f.

Joseph Eberle: Zum 12. November – Umsturzerinnerung

Wer heute geschichtliche Erinnerung pflegt, auf Ereignisse der Vergangenheit zurückblickt und über sie nachdenkt, kommt bei den Modemenschen nicht gut an. „Laßt die Toten ihre Toten begraben“, wird ihm ins Gesicht gedonnert. Das Bild von Lots Weib, das nach dem brennenden Sodom zurückschaute und zur Salzsäure erstarrte, wird ihm vorgehalten. Und doch: Einzig der Sinn für die Geschichte, das Leben aus den Zusammenhängen mit der Geschichte, das Betrachten der Geschichte zwecks Lernens aus der Geschichte, unterscheidet Kulturvölker von Nomaden. Der Geschichtsverächter wird Sklave der Tagesmode, Schlachtopfer der Tagesillusionen.

Wenig ist so lehrreich wie die Geschichte von Katastrophen, von Umsturzzeiten. Es sind zumeist die Schlußakte gewaltiger Dramen, wo das Geschehen sich überstürzt, wo Knoten entwirrt, Rätsel gelöst werden, wo ein Stück Räderwerk der Dinge sichtbar wird, wo menschliche Werte und Unwerte, Tugenden und Charakterlosigkeiten, Tapferkeiten und Feigheiten in hüllenloser Nacktheit sichtbar werden. Katastrophen, Umstürze sind immer erschütternde Lektionen über Völkergesetze und Menschenqualitäten. […]

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            Der Umsturzgedächtnistag wird in Österreich und in verschiedenen Nachfolgestaaten als Festtag gefeiert; in Wirklichkeit müßte er als Trauertag begangen werden. Er wäre angebrachter, Trauerfahnen auszuhängen und über alttestamentarische Klagelieder nachzudenken, als Volksmassen mit Banner und klingendem Spiel in Parade aufmarschieren zu lassen. Der Umsturzgewinner sind ja so wenige, die Zahl der Umsturzverlierer dagegen ist Legion.

            Die Zerschlagung der Donaumonarchie und die Begründung neuer Staaten und Regierungssysteme auf ihrem Gebiet ist zum Teil die Folge äußeren Druckes, des verlorenen Krieges; zum Teil die Wirkung langjähriger innerer Wühlereien, denen Not und Verwirrung die Wege ebneten. Umstürze können die begreifliche natürliche Reaktion gegenüber Tyrannenherrschaft und Volksausbeutung sein; sie können aber ebenso die Frucht geistiger Erkrankungen, phantastischer Ideologien sein. Letzteres war beim Umsturz in Österreich-Ungarn, soweit er von Innenkräften bedingt und von langer Hand angestrebt war, vorwiegend der Fall. Die Umsturzführer waren Sklaven einer falschen Ideologie. So berechtigt gesunde Schätzung von Nation und Volk, von Muttersprache und Heimat ist, so falsch ist die Vergötterung, die Verabsolutierung des Nationalen. Neben dem Nationalstaat steht gleichberechtigt, in gewisser Hinsicht sogar höherberechtigt  und übergeordnet, der Völkerstaat oder Völkerbund, der Volksstämme, die zahlenmäßig zu klein zu eigenen normalen Staatsgebilden sind, zu einem gewissen gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Leben zusammenfaßt, zumal wenn die Geographie, wenn die Geschichte und die Gesetze der Volkswirtschaft zu solcher Zusammenarbeit drängen. Die Ideologie des Nationalstaates beziehungsweise die These „Jeder Nation auch ein eigener Staat“ ist Ausfluß des neueren Individualismus. Sie ist eine Modesache im Hinblick auf die Gesamtgeschichte; sie ist ein blutiger Anachronismus im Hinblick auf neuere Entwicklungen: in Presse und Kulturorgani-//sation, in Handel und Verkehr treten immer mehr große internationale Mächte hervor; die Bedrohung Europas durch die anderen Kontinente legt europäische Solidarismen größerer und kleinerer Ordnung geradezu gebieterisch nahe. Wie lächerlich ist da der Wille zur politischen Balkanisierung, zur Duodezstaaterei! Jedenfalls hat die Balkanisierung Altösterreichs nicht die versprochene Freiheit, sondern nur Versklavung gebracht. In den Klageliedern des Jeremias heißt es vom niedergebrochenen Jerusalem, vom besiegten Judenvolk: „Wie sitzet so einsam die Stadt, einst an Volk so reich; wie eine Witwe ist die Gebieterin der Völker geworden, ihre Feinde sind ihre Beherrscher, ihre Widersacher sind reich geworden. Unser Erbe ist Fremden zuteil geworden, unsere Häuser Ausländern, unser Wasser trinken wir um Geld, unser Holz müssen wir um Zahlung erwerben, Knechte haben Gewalt über uns erlangt, niemand rettet uns aus ihrer Hand. Fürsten werden an der Hand aufgehängt, das Antlitz der Ältesten wird nicht geachtet.“ Muß das nicht heute auch von Wien und Budapest und Agram gesagt werden? Wo ist heute die Freiheit der Österreicher, der Ungarn, der Slowenen, der Kroaten, der Slowaken? Ehedem war Österreich-Ungarn eine führende Großmacht und jeder Staatsangehörige Nutznießer der Großmachtstellung; die neuen kleinen Staaten sind nur Spielbälle, Spielzeuge der Großen, und jeder Staatsbewohner erleidet dieses Schicksal mit. In Wien und Budapest ist das ganze staatliche Sein von Ententekrediten abhängig. Vertrauensmänner des Auslandes überwachen als Kontrollorgane die Schlüssel des Geldschrankes! Aber nicht nur die Wirtschaft – die ganze Kulturpolitik, die Frage, ob Antisemitismus oder nicht, ob konfessionelle oder konfessionslose Schulleiter, ob Anschlußkundgebungen oder nicht, wird vom Ausland bestimmt, wird vom Ausland belobt oder mit bitteren Repressalien bedacht. […]

            Es gab schwere Mängel, starke verfassungsrechtliche Unausgeglichenheiten in der alten Donaumonarchie, die ein längerer Weltkrieg steigerte. Weil das alte Regime, die alte Obergesellschaft dafür verantwortlich gemacht wurde, galt der Kampf der Umsturzführer vor allem diesem Regime, dieser Obergesellschaft. Aber auch hier sind die Umsturzführer von langer Hand Sklaven von Falschvorstellungen. […] Seit 1848 sind die Parlamente, die Journale, die Universitäten, die Bücher das eigentlich Führende der Völker, sind Könige und ihre Ministerien weitgehend gezwungen, sich zu begnügen, Exponenten der stärksten geistigen und politischen Strömungen ihrer Länder zu sein. Wie dürfen dann Monarchien und Adel für die Entwicklung dieser Zeit verantwortlich gemacht werden! Die Journale waren die geistigen Nährmütter des Kapitalismus und seiner Unerträglichkeiten. Die Journale legten Holz ins Feuer der nationalen Überspannungen und Zwistigkeiten; die Journale sangen das hohe Lied der Volksvermögen fressenden Plutokratie, die Journale förderten den Aufstieg des Judentums, die Journale förderten den Libertinismus und Zynismus im Buchwesen. Die Journale aber waren nicht in den Händen von Monarchie und Adel! Die Parlamentarier wieder sekundierten weithin der Weltmacht Presse, fütterten den nationalen Egoismus, leisteten Lakaiendienste für die Reitzes und Rothschild, für die Gutmann und Taussig, machten die Bedürfnisse von Industrie und Handel einseitig zu wichtigsten Staatsbedürfnissen; die liberalen Koryphäen der Universitäten aber gingen voran, gingen voran in der Verkündigung des Dysevangeliums vom Kapitalismus und Nationalismus, vom Egoismus und Libertinismus – warum wendet sich die Umsturzführung nicht gegen diese wirklichen Könige der Neuzeit und die Fluchwirkungen ihrer Politik? Warum gegen die um die wahre Führungsmacht gebrachte Dynastie, gegen den Adel, die, noch bessere Traditionen und besseren Geist verkörpernd, als letzte Vertreter konservativer Kultur und Wirtschaft, übervölkischer Versöhnlichkeit, gesunden Interessenausgleiches der Gesamtvolksschichten, eher Verstärkung ihrer Position als Vertreibung , Vermögenskonfiskation und Tod verdienten? Schon im Hinblick auf die französische Revolution, bei Besprechung der Frage der an ihr Schuldigen, wendet sich Carlyle gegen jenen Pharisäismus, der sich anklagend einseitig nur gegen das alte Regime kehrt, das damals noch wirkliche Führungsmacht war. Gegenüber denen, die nur von der Schuld des Königs, der Königin, der Minister sprechen, betont er mit größtem Nachdruck die Schuld des ganzen Volkes – auch rückwärts, bis zu Karls des Großen Tagen; die Schuld aller, die auf ihren Posten irgend einmal ihre Pflicht nicht erfüllt haben. […]

            Nicht als ob das alte Regime in Bausch und Bogen gerechtfertigt werden sollte; es hatte seine genügende Portion Mängel. Gerade wenn nicht nur gefragt wird: Wer war schuld an soundsoviel Fehlentwicklung?, sondern wenn weiter gefragt wird: Warum hat Gott die Katastrophe mit allem Drum und Dran zugelassen?, muß auf viel mangelnde Aktivität, auf allerlei geistige Unzulänglichkeiten in der Erfassung der brennenden Zeitaufgaben beim alten Regime hingewiesen werden. Ganz und gar gefehlt ist es nur, die kleineren Schuldigen abzuurteilen, die großen aber laufen zu lassen. Ganz und gar gefehlt ist es nur, die energischen Vertreter schlechter Ideen den unvollkommenen Vertretern guter Ideen vorzuziehen.

            Jedenfalls hat der Sturz der konservativen Mächte, hat die volle Demokratisierung das erwartete soziale Heil nicht gebracht, sondern nur die sozialen Übel vermehrt. Die Gegensätze von arm und reich sind nicht verschwunden, sondern nur gewachsen. An Stelle der Feudaladels tritt mit wesentlich vermehrter Macht und mit wesentlich vermehrtem Besitz der Industrie- und Handels-, vor allem der Bank- und Börsenadel. […]//

            Ein altes großes Reich wurde zerschlagen, die alte Dynastie wurde vertrieben: nun regiert der internationale Geldmann, der Geldadel, das Geldkönigtum im Zeichen jenes Geldsymbols und Geldstolzes, von dem Carlyle sagt: „Es ist das schlechteste und niedrigste unter allen Bannern und Symbolen der Herrschaft, nur möglich in einer Zeit des Unglaubens in allem, außer in brutaler Gewalt und Sensualismus. […]

            Was ist bei solcher Sachlage, bei solcher Auffassung der Sachlage die Aufgabe? Nicht jammern und die Hände in den Schoß legen, auch nicht tun, als ob die Tatsachen aus der Welt geschafft werden könnten, sondern durch Aufklärung und Tat tapfer für das Morgen zu arbeiten.

            Die falsche nationale Ideologie trägt schwerste Mitschuld an dem gegenwärtigen Elend. Also Abbau, Bekämpfung dieser Ideologie! So sehr jedes Volk Anspruch auf volle Auswirkung seiner nationalen Eigenart hat, so falsch ist jede Verabsolutierung des Nationalen auf Kosten der höheren Werte: Religion, Kultur, Recht. Kleine Völker scheinen von der Natur verkürzt gegenüber den großen Völkern, deren Zahlen- und Landschaftsverhältnisse von selbst den eigenen Staat mit sich bringen; dafür entgehen sie der Symbiose mit anderen Völkern viel mehr der Gefahr der geistigen Verengung und rassischen Erschlaffung. Nicht Balkanisierung Mittel- und Südosteuropas und damit Degradierung Mitteleuropas zum Schlachtfeld, zur Weide, zum Experimentierfeld Fremder, sondern Föderierung und damit Freiheit Mittel- und Südosteuropas muß Zukunftslösung sein.

            Eine weitere schwere Mitschuld am gegenwärtigen Elend trägt der überspannte Demokratismus. Also: Abbau der üblichen Ideologie und Kampf für gesündere, organische Auffassungen! Die Demokratie bedarf starker Gegengewichte, das Regime von untenher gewisser Bindungen von obenher. Christliches Ideal war immer die Synthese der bewährtesten Staatsverfassungen, die Verbindung des demokratischen mit dem aristokratischen und monarchischen Prinzip. Wer dieserart konservativ denkt, ist nicht Romantiker, Träumer und Illusionist, sondern Illusionisten und Träumer sind jene Naivlinge der Provinz, jene Grasgrünen unter 25 Jahren und jene unruhigen Neophyten aus dem Judentum über 25, die, ohne Kenntnis des Riesenhaften und Dämonischen der modernen plutokratischen Mächte, nicht einsehen, daß diesen gegenüber wieder Mächte aufgeboten werden müssen, daß echte Dynastien und Aristokratien geradezu letzte Schutzpfeiler gegen die Gegenwartsplutokratie sein können. Ganz abgesehen davon, daß nicht die Gesellschaft der gleichgeordneten Atome, sondern die hierarchisch geordnete Gesellschaft das Normale ist, wie denn auch der Himmel, die Gemeinschaft der Heiligen, nicht demokratisch, sondern hierarchisch geordnet ist. Es gibt keine Kultur ohne starke Wirksamkeit der Faktoren Tradition und Autorität, so auch keine politische Kultur ohne Wirksamkeit von Mächten der Tradition und Autorität.

[…]

In: Schönere Zukunft. Kulturelle Wochenschrift. Wien Nr. 7, 15. Nov. 1925, S. 157-160.

David Josef Bach: Die Kunst und der neue Staat.

             Inmitten der Katastrophe, die unser ganzes Dasein bedroht, gibt es noch immer Theaterkrisen! Die Hoftheater sind’s, die uns jeden Tag eine Nachricht bescheren. Nur die eine nicht, die einzige, die Wert und Sinn hätte, die nämlich, daß – endlich – Ordnung, die neue Ordnung auch hier eingezogen sei. Krisen, das ist die Unruhe eines Gebildes, das niemandem, kaum sich selber gehört, eines Gebildes, das, des Zusammenhanges mit seinem Ursprung, dem Bewußtsein einer ganzen Nation, längst beraubt, aus seinem Scheindasein die Berechtigung zu täuschenden Lebensäußerungen schöpfen will. So entstehen ‚Krisen‘, diese Nichtigkeiten eines Nichts. Also hatten wir just diese Woche eine Krise im Burgtheater. Eine vielköpfige Direktion, oder welchen Namen immer das Ungetüm hatte, war natürlich von Haus aus ein Unsinn. Er wird jetzt nicht sinnreicher, daß Herr Heine, wie die letzte Meldung sagt, ‚Leiter‘ des Burgtheaters, Hermann Bahr ‚erster Dramaturg‘ und Herr Robert Michel ‚Burgtheaterreferent‘ in der Generalintendanz wird. Eine Generalintendanz gibt es noch immer!

             Wir haben schon vor langer Zeit auseinandergesetzt, welch einzigen Zweck solch eine Intendanz haben könnte: die Umwandlung der Hoftheater in Nationaltheater verwaltungsrechtlich vorzubereiten. Wir erneuern heute die Forderung, die Hoftheater in Nationalbühnen zu verwandeln. Das ist keine Laune, kein ästhetischer Einfall, sondern das gehört einfach zu den kulturellen Lebensbedingungen des deutschen Volkes in Österreich. Zu dieser Umwandlung bedarf es jetzt keiner vorgesetzten Behörde mehr, es genügt der Wille des Volkes, ausgedrückt durch einen Entschluß des Staatsrates. O, es gewiß, es gibt dabei staatsrechtliche und finanzielle Fragen aller Art zu regeln. Aber zuerst komme die Tat und nachher die Regelung, die Abrechnung. Wenn es möglich war, unser Leib und Gut zu beschlagnahmen, zu verkaufen, zu verschenken, zu verraten, gegen ‚nachträgliche Abrechnungen‘, so muß es möglich und erlaubt sein, künstlerische Werke zu beschlagnahmen, um sie vor dem Untergang zu schützen, um ihnen erst neue Daseinsberechtigung als Gemeingut der Nation zu verleihen. Die materielle Tatsache muß geschaffen werden, um die wichtigere, die Einverleibung in das Bewußtsein des Volksganzen, sich vollziehen lassen zu können. An sich genügt jene durchaus nicht. Ein Theater zum Nationaltheater erklären, ist leicht; es dieser Aufgabe anzupassen, schwer, und keinesfalls die Sache jener, die bisher die Hoftheater verwüstet haben wie etwa dieser gegenwärtig Operndirektor, der aus der Hofoper ein internationales Kurtheater von der Art, nicht vom Range und schon gar nicht vom Erfolg etwa des Theaters in Monaco zu machen bestrebt war; das Wunder wäre ja auch gewesen, wenn nicht das Theater darüber gestorben wäre…

             Aber es sind nicht die Hoftheater allein, die augenblicklich in Betracht kommen. Ungeheure Werte, die dem Volke gehören und gehören müssen, sind in den öffentlichen Sammlungen, in Museen, in Bibliotheken angehäuft. Sie zu schützen, sie nutzbar, wirksam, lebendig zu machen ist die nicht zu unterschätzende Sorge des neuen Staates. Der Weg dafür ist klar, und er muß betreten werden. Ohne Zaudern und ohne Empfindsamkeit.

In: Arbeiter-Zeitung, 5.11.1918, S. 7.