Karl Tschuppik: Die Plakatwand
In der Wiener Invalidenschule, wo die Opfer des Krieges im Gebrauch ihrer verstümmelten Glieder unterwiesen werden, hat kürzlich einer der Lehrer an die Invaliden die Frage gerichtet, ob sie wohl wissen, wofür sie ihren gesunden Körper geopfert haben. Die Antworten, welche der Lehrer erhält, sind in mehrfachem Sinne beachtenswert; ein Teil der Invaliden gab einfache und richtige Antworten, ungefähr des Inhalts, daß der Einzelne nicht dazu gekommen sei, sich Rechenschaft über sein Verhältnis zum Kriege zu geben, da alle einer Macht zu gehrochen hatten, gegen welche der Einzelwille sich nicht aufzulehnen vermochte. Neben dieser schlichten und klugen Erwiderung finden sich jedoch weit mehr Erklärungen, aus denen zu ersehen ist, daß das alte Denken selbst unter den Kriegsopfern fortlebt, Erklärungen, die an Stelle einer individuellen Anschauung ein Wort oder mehrere Wörter aus dem reichen Arsenal der ehemaligen Kriegsphraseologie setzen. So schreibt ein treuherziger Mann, es sei „um die Ehre des Vaterlandes“ gegangen; ein anderer antwortet, „in der Not“ habe der Soldat zu folgen; ein dritter meint sogar, „Krieg müsse sein“ usw.
Das kleine Beispiel ist darum interessant, weil es die unglaubliche Fertigkeit der politischen Schlagworte und verkrusteten Wortbilder aufzeigt. Und es ist doppelt interessant bei Opfern des Krieges, von denen man annehmen müßte, daß sie durch das persönliche Erlebnis zu einer freieren, menschlicheren, voraussetzungsloseren Betrachtung der Dinge gekommen seien. Tatsächlich jedoch ist die Macht pathetischer Wortbilder weit größer, als man gemeinhin annimmt. Wenn man es sich recht überlegt, begnügt sich die Mehrzahl der Menschen, sobald sie den Kreis ihrer nächsten Angelegenheiten verlassen und eine Beziehung zur Allgemeinheit suchen, mit Wortbildern; sie stellen ihre ursprüngliche Art, die Welt zu sehen, gänzlich zurück und akzeptieren ohneweiters jedes geschwollene Wort der politischen Terminologie. Wer die Geschichte der letzten Jahrzehnte des alten Österreich daraufhin untersucht, der wird finden, daß die Wirklichkeit, wie sie war, niemals in Erscheinung getreten ist; die Politiker hatten zwischen ihr und den Gehirnen eine Wand errichtet, die mit pathetischen Worten tapeziert war. Die österreichische Wirklichkeit war das umgekehrte „Ding an sich“. Liegt in der Erkenntnistheorie Kants hinter der Erscheinung das mysteriöse „Ding an sich“, so lag in der österreichischen Welt die Wirklichkeit hinter der Tapetenwand der Abstraktionen. Das wirkliche Österreich war wohl sinnlich wahrnehmbar, mit den Augen zu sehen, mit den Ohren zu hören, mit den Händen zu greifen, aber die Menschen dieser Wirklichkeit ließen sich von der Tapetenwand düpieren.
Was ging uns, im Grunde genommen, diese Plakatwand an? Hatten die Menschen ihre Bestimmung, ihren Daseinszweck vergessen? War ihr Auge blind geworden für Sonne, Mond und Sterne? Hatten Wiesen, Wälder und das Blau des Himmels ihre Farbe verloren neben den Klexereien der Papierwand? Woher kommt es, daß die Sinne und die ursprünglichen Fähigkeiten durch Wortbilder zurückgedrängt werden können? Der Verlust der Naivetät, die Einbüßung der natürlichen Gabe, sich auf dem kürzesten Wege mit der Erscheinungswelt in Kontakt zu setzen – dieser Verlust ist offenbar das Werk langer Jahrhunderte, während welcher die Büttel und Autoritätshüter, Kirche, Staat, Schule und Polizei, den natürlichen Menschen in den Untertan verwandelt haben. Die Bereitschaft, an Stelle des natürlichen Bildes ein von irgendeiner Autorität empfohlenes oder befohlenes Wortbild zu setzen, ist eine anerzogene, oder, wenn man so sagen darf: angeprügelte Eigenschaft. Und es ist jedenfalls kein Zufall, daß die Empfänglichkeit für pathetische Wortbilder mit allen ihren furchtbaren Folgen bei keinem Volke so groß ist, wie bei den Deutschen.
Die Deutschen sind das Volk der unglücklichsten Geschichte. Die Verfälscher der Wirklichkeit haben auch die deutsche Geschichte gefälscht; seit dem Ende des deutschen Liberalismus zumindest, seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, also bis auf unsere Tage, haben die offiziösen Geschichtsschreiber der borussischen Schule kein anderes Ziel gekannt, als die traurigen Tatsachen der denischen Geschichte in das verlogene Rampenlicht, der borussischen Geschichtsauffassung zu stellen. Der begabte Fälscher war darin zweifellos Heinrich von Treitschke, dem freilich der mildernde Umstand zugute kommt, daß er, mehr Dichter als Historiker, von der Wahrheit seiner Dichtung überzeugt war. Aber selbst ein Mann wie Karl Lamprecht, der in den zwei ersten Bänden seiner großangelegten deutschen Geschichte sich sehr ernst um die Aufhellung der deutschen Vergangenheit bemüht, selbst Lamprecht fiel dem allgemeinen Laster des Lakaitums zum Opfer und erfand im letzten Band einen eigenen Begriff, den Begriff der „Reizsamkeit“, um die Darstellung des nach dieser Erfindung benannten Zeitalters in eine Apotheose auf den göttlichen Repräsentativmann dieses Zeitalters, auf Wilhelm II., ausklingen lassen zu können.
Man wird diesen despektierlichen Bemerkungen vielleicht den Einwand entgegensetzen, daß jedes national fühlende Volk seine eigene Geschichte verherrlicht und sich dabei nicht an die Wahrheit gehalten habe. Das mag bis zu einem gewissen Grade richtig sein; aber es ist bei dieser Verherrlichung nicht gleichzeitig, was verherrlicht wird. Zweifellos hat, um nur dies Beispiel anzuführen, die Glorifizierung der großen Revolution den Franzosen geistig weniger geschadet, als jener Untertanendrill deutscher Professoren, der das Deutsche Reich als das Werk der herrlichen Dynastie darzustellen nicht müde wurde, Auf jeden Fall hat die durch viele Jahrzehnte betrieben Erziehung des Volkes im Sinne einer unbedingten Autoritätsverehrung zur Beherrschung der Köpfe durch Begriffe und weiter zur Verkrustung dieser Begriffe wesentlich beigetragen. Es war unter gewissen Schichten des deutschen Volkes ganz unmöglich geworden, über Dinge des täglichen Lebens, über Ereignisse und Einrichtungen des Landes voraussetzungslos, naiv, sprechen zu können. Nicht die Paragraphen des Strafgesetzbuches – die zu Wortbildern verkrusteten Begriffe verhinderten jede natürliche Aussprache. Der „Kaiser“, das „Vaterland“, die „Armee“, die „deutsche Wissenschaft“, der „Pflichtbegriff Kants“ – die deutsche Plakatwand war mit einer Unzahl solcher Worte beklebt, die einfach als heilige Dinge hingenommen wurden. Die österreichische Terminologie war bescheidener, ihr fehlte der große pathetische Atem, dennoch – wie viele Gehirne wurden mit Worten verkleistert wie: „die Belange“, „schimmernde Wehr“, „der welsche Feind“, „Österreich wird ewig stehen“, „Radetzky“, „Prinz Eugen“ usw. …? Es gibt noch immer altösterreichische Staatsphilosophen und Historiker, die den Untergang Österreich auf alle möglichen mysteriösen Ursachen zurückführen, dabei aber den einen, wahren, einfachen Grund nicht sehen: die Unwirklichkeit dieser verstorbenen Größe, die groß war nur auf der Wand der pathetischen Plakate. Kein Wunder aber, daß gerade diesen Schattenösterreichern jedes Verständnis für das wirkliche Österreichertum fehlt, welches so wirklich und lebendig war, daß es noch nach Österreichs Untergang fortlebt.
In: Prager Tagblatt, 1.2.1921, S. 2.