Ernst Fischer: Ungeduld der Jugend

Ernst Fischer: Ungeduld der Jugend (1931)

Aus einem demnächst im Verlag Hetz und Komp. erscheinenden Buch „Krise der Jugend“.

             Von Jahr zu Jahr wächst in der Jugend das Gefühl, daß alles Bestehende versagt hat, daß alle Parolen, die man ihr gibt, Betrug und Schwindel sind. Was bis zum Zusammenbruch einer Welt im Trommelfeuer des Krieges, im Giftgasangriff der Massenarbeitslosigkeit, der Massenhoffnungslosigkeit gegolten hat, gilt heute nicht mehr. Die Jugend hat genug von allen Erklärungen, Versprechungen, Redensarten, sie will, daß endlich etwas Entscheidendes geschieht. Das Jugend hat genug von der zögernden Klugheit, von der wartenden Vorsicht, sie ist der Meinung, daß man zu lange gezögert, zu lange gewartet hat, sie will sich nicht länger mit dem tödlichen Stillstand abfinden, den man den Gang der Ereignisse nennt. Und wenn sie sich abfindet, geschieht es um einen übermäßigen Preis: um den Preis aller Ideale, aller Opferfreudigkeit und Zukunftsbereitschaft. Eine Jugend, die revoltiert (gegen alles Bestehende meinetwegen, gegen alle gültigen Weltanschauungen), ist nicht verloren; aber verloren ist eine Jugend, die sich abfindet, verloren für jede Bewegung, die das Neue will. Zehntausende junge Menschen lassen heute die Schultern hängen, die Fahnen fallen, ziehen sich in den Winkel eines fragwürdigen Privatlebens zurück, finden sich ab mit der allgemeinen Erstarrung, die man den Lauf der Dinge nennt. „Alles Bestehende hat versagt, alle Ideen sind zur Phrase, zur unverbindlichen Redewendung geworden!“, das Gefühl zernagt wie Rost die Seelen, entfremdet die junge Generation immer mehr der alten.

             Ist es wahr, daß alle Ideen zur Phrase geworden sind? Hat nicht nur eine ganz bestimmte Ideologie, eine ganz bestimmte Lebenshaltung versagt? Und welche Ideologie, welche Lebenshaltung ist es, die heute durchaus anrüchig, durchaus unglaubwürdig geworden ist?

             Was die Jugend heute klar oder unklar fühlt, ist der Widerwille gegen die Vernünftigkeit, die Wissenschaftlichkeit, den Fortschrittsoptimismus des neunzehnten Jahrhunderts. Was wir heute erleben, ist eine ungeheure Revolte gegen den Nationalismus.

             Dieses neunzehnte Jahrhundert hat sich eingebildet, mit seinen Maschinen und seinen Apparaten, mit seinen wissenschaftlichen Methoden und seinen technischen Konstruktionen, mit seinen immer besseren Instrumenten und immer exakteren Erkenntnissen, mit seiner wachsenden Wirtschaftlichkeit und Vernunft alle Probleme ordentlich lösen und einen dauernden Wohlstand der Menschheit heraufbeschwören zu können. Die Idee des gediegenen und unaufhaltsamen Fortschritts war der Polarstern, an dem sich alle orientierten, die Unternehmer und die Arbeiter, die Kapitalisten und die Sozialisten, die Bürger und die Feinde der Bürgerwelt. Man hat diese ganze Welt als eine große Fabrik gesehen, deren Produktivität man durch Investitionen, Verbesserungen und Verbilligungen stetig erhöhen, stetig den Bedürfnissen anpassen kann, man war bestrebt, alles Irrationelle auszuschalten und mit Vernunft und Ruhe jede Stockung und Störung zu überwinden. Ja, die Vernunft war geradezu das Rauschmittel dieses Jahrhunderts: die Technik wurde wie eine Gottheit angebetet, der Wissenschaft traute man Unwahrscheinliches zu, von der Allmacht des Menschengeistes war man überzeugt. Daß Wissen Macht sei, wurde wie ein unumstößliches Dogma gepredigt, daß gegen jede Krankheit ein Kraut gewachsen sei, glaubte man unbedingt, daß die Gesellschaft sich einem dauernden Frieden, Reichtum und Humanitätsideal entgegenentwickelte, war man rückhaltlos überzeugt.

             Dann kam die Katastrophe, triumphierte die Unvernunft des Massenmordes über alle Grundsätze der Vernunft. Und als man einige Jahre später meinte, nach diesem Zwischenspiel fortsetzen zu können, was so schnöd unterbrochen worden war, als man die Vorkriegsideale herausholte, als habe das Blut und Gas der großen Zeit ihnen keinen Schaden zugefügt, siehe, da war alles anders geworden, und was einst überzeugend klang, tönt nun so hohl und gespensterhaft, wie aus Gräbern.

             Der Fortschrittsoptimismus der alten Generation wird von der neuen nicht mehr verstanden. Daß die Welt sich, kraft innerer Gesetzlichkeit, dem Guten und Schönen entgegenentwickle, glaubt die Jugend nicht mehr; daß man diesen Prozeß gewaltsam unterstützen müsse, davon ist sie durchdrungen. Und wenn man ihr erzählt, daß ja doch so manches besser geworden sei, daß es vor dem Krieg die jungen Leute viel schlechter gehabt hätten, oh, dann lächelt diese Jugend scharf und ironisch: Ja, was geht uns das eigentlich an, warum erzählt ihr uns Ammenmärchen aus der Vergangenheit? Wollt ihr uns etwa einreden, unser Leben sei gar nicht so schlimm, wie wir meinen? Wie uns das imponiert, wie uns das überzeugt! Wollt ihr uns etwa zumuten, Dankbarkeit sei unsere Pflicht? Wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; wofür auch? Dafür, daß wir keine Arbeit finden, nirgend hingehören, in der Welt nicht aus und ein wissen? Nein, wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; war ihr damals für uns getan habt, mag ja ganz ordentlich und anständig gewesen sein – aber heute? Was tut ihr heute für uns? Wie sieht diese Welt aus, mit der wir uns abfinden, mit der wir Geduld haben sollen? Begreift ihr denn überhaupt, daß wir nicht so leben können, daß wir verkommen und verkümmern müssen, wenn nicht endlich etwas für uns geschieht? Ihr habt leicht reden; ihr nährt euch von der Vergangenheit, materiell und ideologisch, für uns gibt es keinen Platz in der Welt, und daß es von selbst einmal besser wird, glauben wir nicht.

             Nein, das glaubt die Jugend nicht. Der Zweifel ist ihr Element. Der Zweifel ist gut und produktiv, wenn er zur Waffe wird, die das Bestehende zerstört. Er ist schlecht und verhängnisvoll, wenn er nicht zur Aktion, zum Aufruhr werden kann, wenn er nach innen bohrt und gräbt, ohne nach außen wirken zu dürfen. Dazu aber, zu solchem unproduktivem Zweifel, ist die Jugend verdammt.

             Immer problematischer wird die Technik, die von der alten Generation blindlings vergöttert wurde; daß man über den Ozean fliegt und Riesenluftschiffe baut, gefällt den jungen Menschen gewiß, sie sind entzückt von diesem Heroenmythos der Gegenwart, von diesem Aufschweben, Aufglänzen der Materie. Aber daß man mitten in den Wundern der Technik, in einer elektrisch illuminierten, mit Verkehrsmitteln, Radioapparaten, Telephonen, mit laufenden Bändern und riesigen Panzerkreuzern ausgestatteten Welt verhungert, das erlebt diese Jugend. Daß die Technik den Menschen überflüssig macht, daß sie ihn hinausdrängt ins Nichts der Arbeitslosigkeit und der Hoffnungslosigkeit, daß sie zwar imstande ist, das Überflüssige, nicht aber das Notwendige zu erzeugen, das ist der ungeheuerliche Eindruck, den die Jugend von dem Fortschritt der Rationalisierung gewinnt. Freilich: es ist der Kapitalismus, der die Technik mißbraucht, der die Vernunft in Wahnsinn verwandelt, aber das zu begreifen, ist manchmal nicht leicht und die unmittelbare Reaktion gegen den unerträglichen Zustand ist eine Reaktion gegen den rationalisierten Wirtschaftsapparat, ist ein Gefühl, das dem der Maschinenstürmer ungemein ähnlich ist. Die Maschine, von den einen zum Gott erhoben, wird im Empfinden der andern zum Dämon zum Schicksalsgötzen, der alles zermalmt, den zu preisen der bitterste Hohn gegen seine Opfer, gegen die aus Produktion und Lebensberechtigung ausgeschalteten Proletarier ist. Kommen wir wirklich weiter, wenn wir uns zu dem Fortschritt der Technik, zu dem Rationalisierungsprozeß bekennen? Sollten wir nicht vielmehr dagegen Stellung nehmen, diese Tollheit mit allen Mitteln bekämpfen? Das ist eine Frage, die man immer häufiger hört; aus den Tiefen des Zweifels steigt diese Frage empor, des Zweifels am Wert und Nutzen der Technik.

             Die Tiefe des Zweifels aber ist damit nicht ausgeschöpft; nicht nur an der Technik, an dem ganzen System des Rationalismus, der selbstbewußten und selbstgefälligen Vernünftigkeit, zweifelt die Jugend.

             Daß man mit der Vernunft etwas ausrichten könne, wird ernsthaft in Frage gestellt; ach, die Menschen, die verantwortlich sind für das Schicksal der Völker, diese Staatsmänner und Diplomaten, diese Minister und Parteiführer, diese Nationalökonomen und Sozialwissenschaftler sind alle bemerkenswert vernünftig, sie wissen viel, sie können alles erklären, mit hundert Argumenten beweisen sie, warum die Dinge so und nicht anders sind, und das Gefühl der Jugend schlagen sie mit der Überlegenheit der Statistik, der Wirtschaftskenntnis und der Geschichtsbetrachtung zu Boden. Schließlich muß der junge Mensch, der kleinlaut vor soviel Gelehrtheit kapituliert, zu der Überzeugung gelangen, es sei das Wesen der Vernunft, klipp und klar darzulegen, daß man um keinen Preis etwas tun dürfe. Ausgezeichnete Theorien, ausgezeichnete Reden, ausgezeichnete Lehrsätze – und das Ergebnis: Nichts. Weiterwursteln. Weiterberaten. Weiterverhandeln. Das ist das Schauspiel, das seit zehn Jahren vor der europäischen Jugend aufgeführt wird; wundert man sich, wenn diese ganze Gescheitheit den jungen Leuten eines Tages zu dumm wird? Wenn ihr Mißtrauen gegen staatsmännische Weisheit und wissenschaftliche Vernunft unüberwindlich wird? Wenn sie sich die Frage vorlegen: Wäre es nicht besser, gar nichts zu wissen, dafür aber kühn und entschlossen vorzugehen? Wundert man sich, wenn diese Frage äußerst gefährliche Formen annimmt? Wenn sie etwa lautet: Kann man überhaupt nach Vernunftgründen leben, handeln, Politik machen? Ist nicht vielmehr der Instinkt, die Gewalt, die Genialität eines Führers entscheidend? Ist der Geist, von dem man quatscht, nicht ein Unfug, kommt es nicht vielmehr auf Blut und Eisen, auf ein großes und wildes Hasardspiel an? Wundert man sich, wenn solche Fragen zu fascistischer Antwort, zu romantischen Aberglauben drängen? Nein, man darf sich nicht wundern, daß die Revolte gegen den Rationalismus losgebrochen ist, daß unzählige junge Menschen entschlossen sind, keinem Argument mehr zu glauben, sondern nur dem Beweis der Kraft, dem Erfolg?

             Hundertfach zeigt sich diese Revolte, diese Sehnsucht nach dem Romantischen, das völlig anders ist als alles Bestehende. Die Alchymie kommt wieder zu Ehren, die mittelalterliche Goldmacherkunst; das Geld ist zum leeren Phantom geworden, her mit dem Zaubergold! Mit rationellen Methoden kommt man nicht zu Geld, helfe daher, was helfen kann, das Wunderrezept, die schwarze Magie. Die Quacksalberei kommt wieder zu Ehren; die medizinische Wissenschaft, die allen zu helfen versprach, wie wenigen hat sie geholfen! Helfe, was helfen kann! Der weiße Käse, der elektrische Zauberstab, der suggestive Zuspruch eines wundertätigen Charlatans, oder irgendein Naturheilverfahren auf eigene Faust, oder die Geheimlehre irgendeiner Sekte! Die Wissenschaft hat enttäuscht, alles ist unsicher geworden, vielleicht geschieht ein Wunder. Es ist eine wachsende Ungeduld zu spüren, niemand will seine Angelegenheiten auf die lange Bank schieben, für das kurze Verfahren, für den radikalen Umschwung ist man privat und öffentlich. Man hat zuviel gewartet, zu lange gewartet in dieser Welt.

In: Arbeiter-Zeitung, 1.5.1931, S. 17.