Schlagwortarchiv für: Jugend

Ernst Fischer: Ungeduld der Jugend (1931)

Aus einem demnächst im Verlag Hetz und Komp. erscheinenden Buch „Krise der Jugend“.

             Von Jahr zu Jahr wächst in der Jugend das Gefühl, daß alles Bestehende versagt hat, daß alle Parolen, die man ihr gibt, Betrug und Schwindel sind. Was bis zum Zusammenbruch einer Welt im Trommelfeuer des Krieges, im Giftgasangriff der Massenarbeitslosigkeit, der Massenhoffnungslosigkeit gegolten hat, gilt heute nicht mehr. Die Jugend hat genug von allen Erklärungen, Versprechungen, Redensarten, sie will, daß endlich etwas Entscheidendes geschieht. Das Jugend hat genug von der zögernden Klugheit, von der wartenden Vorsicht, sie ist der Meinung, daß man zu lange gezögert, zu lange gewartet hat, sie will sich nicht länger mit dem tödlichen Stillstand abfinden, den man den Gang der Ereignisse nennt. Und wenn sie sich abfindet, geschieht es um einen übermäßigen Preis: um den Preis aller Ideale, aller Opferfreudigkeit und Zukunftsbereitschaft. Eine Jugend, die revoltiert (gegen alles Bestehende meinetwegen, gegen alle gültigen Weltanschauungen), ist nicht verloren; aber verloren ist eine Jugend, die sich abfindet, verloren für jede Bewegung, die das Neue will. Zehntausende junge Menschen lassen heute die Schultern hängen, die Fahnen fallen, ziehen sich in den Winkel eines fragwürdigen Privatlebens zurück, finden sich ab mit der allgemeinen Erstarrung, die man den Lauf der Dinge nennt. „Alles Bestehende hat versagt, alle Ideen sind zur Phrase, zur unverbindlichen Redewendung geworden!“, das Gefühl zernagt wie Rost die Seelen, entfremdet die junge Generation immer mehr der alten.

             Ist es wahr, daß alle Ideen zur Phrase geworden sind? Hat nicht nur eine ganz bestimmte Ideologie, eine ganz bestimmte Lebenshaltung versagt? Und welche Ideologie, welche Lebenshaltung ist es, die heute durchaus anrüchig, durchaus unglaubwürdig geworden ist?

             Was die Jugend heute klar oder unklar fühlt, ist der Widerwille gegen die Vernünftigkeit, die Wissenschaftlichkeit, den Fortschrittsoptimismus des neunzehnten Jahrhunderts. Was wir heute erleben, ist eine ungeheure Revolte gegen den Nationalismus.

             Dieses neunzehnte Jahrhundert hat sich eingebildet, mit seinen Maschinen und seinen Apparaten, mit seinen wissenschaftlichen Methoden und seinen technischen Konstruktionen, mit seinen immer besseren Instrumenten und immer exakteren Erkenntnissen, mit seiner wachsenden Wirtschaftlichkeit und Vernunft alle Probleme ordentlich lösen und einen dauernden Wohlstand der Menschheit heraufbeschwören zu können. Die Idee des gediegenen und unaufhaltsamen Fortschritts war der Polarstern, an dem sich alle orientierten, die Unternehmer und die Arbeiter, die Kapitalisten und die Sozialisten, die Bürger und die Feinde der Bürgerwelt. Man hat diese ganze Welt als eine große Fabrik gesehen, deren Produktivität man durch Investitionen, Verbesserungen und Verbilligungen stetig erhöhen, stetig den Bedürfnissen anpassen kann, man war bestrebt, alles Irrationelle auszuschalten und mit Vernunft und Ruhe jede Stockung und Störung zu überwinden. Ja, die Vernunft war geradezu das Rauschmittel dieses Jahrhunderts: die Technik wurde wie eine Gottheit angebetet, der Wissenschaft traute man Unwahrscheinliches zu, von der Allmacht des Menschengeistes war man überzeugt. Daß Wissen Macht sei, wurde wie ein unumstößliches Dogma gepredigt, daß gegen jede Krankheit ein Kraut gewachsen sei, glaubte man unbedingt, daß die Gesellschaft sich einem dauernden Frieden, Reichtum und Humanitätsideal entgegenentwickelte, war man rückhaltlos überzeugt.

             Dann kam die Katastrophe, triumphierte die Unvernunft des Massenmordes über alle Grundsätze der Vernunft. Und als man einige Jahre später meinte, nach diesem Zwischenspiel fortsetzen zu können, was so schnöd unterbrochen worden war, als man die Vorkriegsideale herausholte, als habe das Blut und Gas der großen Zeit ihnen keinen Schaden zugefügt, siehe, da war alles anders geworden, und was einst überzeugend klang, tönt nun so hohl und gespensterhaft, wie aus Gräbern.

             Der Fortschrittsoptimismus der alten Generation wird von der neuen nicht mehr verstanden. Daß die Welt sich, kraft innerer Gesetzlichkeit, dem Guten und Schönen entgegenentwickle, glaubt die Jugend nicht mehr; daß man diesen Prozeß gewaltsam unterstützen müsse, davon ist sie durchdrungen. Und wenn man ihr erzählt, daß ja doch so manches besser geworden sei, daß es vor dem Krieg die jungen Leute viel schlechter gehabt hätten, oh, dann lächelt diese Jugend scharf und ironisch: Ja, was geht uns das eigentlich an, warum erzählt ihr uns Ammenmärchen aus der Vergangenheit? Wollt ihr uns etwa einreden, unser Leben sei gar nicht so schlimm, wie wir meinen? Wie uns das imponiert, wie uns das überzeugt! Wollt ihr uns etwa zumuten, Dankbarkeit sei unsere Pflicht? Wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; wofür auch? Dafür, daß wir keine Arbeit finden, nirgend hingehören, in der Welt nicht aus und ein wissen? Nein, wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; war ihr damals für uns getan habt, mag ja ganz ordentlich und anständig gewesen sein – aber heute? Was tut ihr heute für uns? Wie sieht diese Welt aus, mit der wir uns abfinden, mit der wir Geduld haben sollen? Begreift ihr denn überhaupt, daß wir nicht so leben können, daß wir verkommen und verkümmern müssen, wenn nicht endlich etwas für uns geschieht? Ihr habt leicht reden; ihr nährt euch von der Vergangenheit, materiell und ideologisch, für uns gibt es keinen Platz in der Welt, und daß es von selbst einmal besser wird, glauben wir nicht.

             Nein, das glaubt die Jugend nicht. Der Zweifel ist ihr Element. Der Zweifel ist gut und produktiv, wenn er zur Waffe wird, die das Bestehende zerstört. Er ist schlecht und verhängnisvoll, wenn er nicht zur Aktion, zum Aufruhr werden kann, wenn er nach innen bohrt und gräbt, ohne nach außen wirken zu dürfen. Dazu aber, zu solchem unproduktivem Zweifel, ist die Jugend verdammt.

             Immer problematischer wird die Technik, die von der alten Generation blindlings vergöttert wurde; daß man über den Ozean fliegt und Riesenluftschiffe baut, gefällt den jungen Menschen gewiß, sie sind entzückt von diesem Heroenmythos der Gegenwart, von diesem Aufschweben, Aufglänzen der Materie. Aber daß man mitten in den Wundern der Technik, in einer elektrisch illuminierten, mit Verkehrsmitteln, Radioapparaten, Telephonen, mit laufenden Bändern und riesigen Panzerkreuzern ausgestatteten Welt verhungert, das erlebt diese Jugend. Daß die Technik den Menschen überflüssig macht, daß sie ihn hinausdrängt ins Nichts der Arbeitslosigkeit und der Hoffnungslosigkeit, daß sie zwar imstande ist, das Überflüssige, nicht aber das Notwendige zu erzeugen, das ist der ungeheuerliche Eindruck, den die Jugend von dem Fortschritt der Rationalisierung gewinnt. Freilich: es ist der Kapitalismus, der die Technik mißbraucht, der die Vernunft in Wahnsinn verwandelt, aber das zu begreifen, ist manchmal nicht leicht und die unmittelbare Reaktion gegen den unerträglichen Zustand ist eine Reaktion gegen den rationalisierten Wirtschaftsapparat, ist ein Gefühl, das dem der Maschinenstürmer ungemein ähnlich ist. Die Maschine, von den einen zum Gott erhoben, wird im Empfinden der andern zum Dämon zum Schicksalsgötzen, der alles zermalmt, den zu preisen der bitterste Hohn gegen seine Opfer, gegen die aus Produktion und Lebensberechtigung ausgeschalteten Proletarier ist. Kommen wir wirklich weiter, wenn wir uns zu dem Fortschritt der Technik, zu dem Rationalisierungsprozeß bekennen? Sollten wir nicht vielmehr dagegen Stellung nehmen, diese Tollheit mit allen Mitteln bekämpfen? Das ist eine Frage, die man immer häufiger hört; aus den Tiefen des Zweifels steigt diese Frage empor, des Zweifels am Wert und Nutzen der Technik.

             Die Tiefe des Zweifels aber ist damit nicht ausgeschöpft; nicht nur an der Technik, an dem ganzen System des Rationalismus, der selbstbewußten und selbstgefälligen Vernünftigkeit, zweifelt die Jugend.

             Daß man mit der Vernunft etwas ausrichten könne, wird ernsthaft in Frage gestellt; ach, die Menschen, die verantwortlich sind für das Schicksal der Völker, diese Staatsmänner und Diplomaten, diese Minister und Parteiführer, diese Nationalökonomen und Sozialwissenschaftler sind alle bemerkenswert vernünftig, sie wissen viel, sie können alles erklären, mit hundert Argumenten beweisen sie, warum die Dinge so und nicht anders sind, und das Gefühl der Jugend schlagen sie mit der Überlegenheit der Statistik, der Wirtschaftskenntnis und der Geschichtsbetrachtung zu Boden. Schließlich muß der junge Mensch, der kleinlaut vor soviel Gelehrtheit kapituliert, zu der Überzeugung gelangen, es sei das Wesen der Vernunft, klipp und klar darzulegen, daß man um keinen Preis etwas tun dürfe. Ausgezeichnete Theorien, ausgezeichnete Reden, ausgezeichnete Lehrsätze – und das Ergebnis: Nichts. Weiterwursteln. Weiterberaten. Weiterverhandeln. Das ist das Schauspiel, das seit zehn Jahren vor der europäischen Jugend aufgeführt wird; wundert man sich, wenn diese ganze Gescheitheit den jungen Leuten eines Tages zu dumm wird? Wenn ihr Mißtrauen gegen staatsmännische Weisheit und wissenschaftliche Vernunft unüberwindlich wird? Wenn sie sich die Frage vorlegen: Wäre es nicht besser, gar nichts zu wissen, dafür aber kühn und entschlossen vorzugehen? Wundert man sich, wenn diese Frage äußerst gefährliche Formen annimmt? Wenn sie etwa lautet: Kann man überhaupt nach Vernunftgründen leben, handeln, Politik machen? Ist nicht vielmehr der Instinkt, die Gewalt, die Genialität eines Führers entscheidend? Ist der Geist, von dem man quatscht, nicht ein Unfug, kommt es nicht vielmehr auf Blut und Eisen, auf ein großes und wildes Hasardspiel an? Wundert man sich, wenn solche Fragen zu fascistischer Antwort, zu romantischen Aberglauben drängen? Nein, man darf sich nicht wundern, daß die Revolte gegen den Rationalismus losgebrochen ist, daß unzählige junge Menschen entschlossen sind, keinem Argument mehr zu glauben, sondern nur dem Beweis der Kraft, dem Erfolg?

             Hundertfach zeigt sich diese Revolte, diese Sehnsucht nach dem Romantischen, das völlig anders ist als alles Bestehende. Die Alchymie kommt wieder zu Ehren, die mittelalterliche Goldmacherkunst; das Geld ist zum leeren Phantom geworden, her mit dem Zaubergold! Mit rationellen Methoden kommt man nicht zu Geld, helfe daher, was helfen kann, das Wunderrezept, die schwarze Magie. Die Quacksalberei kommt wieder zu Ehren; die medizinische Wissenschaft, die allen zu helfen versprach, wie wenigen hat sie geholfen! Helfe, was helfen kann! Der weiße Käse, der elektrische Zauberstab, der suggestive Zuspruch eines wundertätigen Charlatans, oder irgendein Naturheilverfahren auf eigene Faust, oder die Geheimlehre irgendeiner Sekte! Die Wissenschaft hat enttäuscht, alles ist unsicher geworden, vielleicht geschieht ein Wunder. Es ist eine wachsende Ungeduld zu spüren, niemand will seine Angelegenheiten auf die lange Bank schieben, für das kurze Verfahren, für den radikalen Umschwung ist man privat und öffentlich. Man hat zuviel gewartet, zu lange gewartet in dieser Welt.

In: Arbeiter-Zeitung, 1.5.1931, S. 17.

Hans Flesch-Brunningen: Schmelz der Jugend

Arme, verirrte Jugend, deren Füße in den schweren Reiterstiefeln vergangener Konventionen stecken, deren Hände den staubigen Pallasch der Tradition führen, deren Augen nicht mehr die blauende Kraft des Himmelsgewölbes sehen können; arme, verirrte Jugend, dir weihe ich mein Lied! Du bist nicht mehr der Kern der Welt, die köstliche Nuß in der unscheinbaren Schale, du Stoßtruppe der Schönheit und des Geistes. Du bist verloren gegangen, dein Blut ist in Galizien und Tirol, in Flandern und am Piave umsonst vergossen worden, du bist versprengt, der Rest ist Trübsal und Verwirrung. Was weißt du von dir selbst? Dein Blick ist verhängt, auf deinem Herzen liegt Asche. Du gröhlst bei Boxmatschs, du randalierst auf der Universitätsrampe, du belferst durch den Börsensaal. Aber ich kenne dich. Du wirst aus deiner Verwirrung zurückfinden, heimfinden in die Gefilde deiner unbeschwerten Fröhlichkeit, denn dein Schmelz ist ewig. Arme, verirrte Jugend, ich liebe dich.

Ich liebe dich, weil du der Aufgang bist. „Ex oriente lux“, sprach der Herr der Heerscharen und der jugendliche Jesus saß im Tempel und lehrte und bezauberte die alten Schriftgelehrten. Das klare Auge des Knaben wußte schon damals um alle Welt und alle ihre Leiden. Das Dasein hat sich nur im Aufgang und im Niedergang zu bejahen, das wußte er; der Rest, das Mittelstück, ist Bosheit. Der Tod und die Jugend waren Erlösung, Golgatha und Bethlehem. Die Ankunft und der Abschied bestimmen den Sinn der Reise, zwischen beiden besichtigen wir Museen, treffen Menschen, grüßen und küssen und schleichen schläfrig durch die Gassen. Wenn aber die Züge in die Halle rollen, dann freuen wir uns. Denn das Neue siegt. Und so müßten wir sein, um den Schaum des Lebens abzuschöpfen: stets neu, stets neu-gierig, novarum rerum cupidi, Revolutionäre aus Prinzip.

Und da erinnere ich mich des italienischen Kommunistenliedes. Es beginnt mit den Worten: „La bandiera rossa trionferà“ In diesem letzten Wort „trionferà“ liegt aller Jubel und alle Sieghaftigkeit einer Jugend, die vielleicht längst untergegangen ist. Nur Italien, dieses unserer Sehnsucht Kind, ist noch jung. Unter seinem Himmel gedeiht noch die große gedankenlose Sorglosigkeit, die Hingabe, die Begeisterung um jeden Preis, der Jubel zur bandiera rossa und zu Mussolini, der charakterlose, wunderbare Jubel. Unter seinem Himmel, mitten im göttlichen Florenz, steht auch noch jenes Abbild körperlicher Jugend, das mir immer als die vollendete Gestaltung aller ihrer Kräfte erschienen ist: der Perseus von Benvenuto Cellini in der Loggia dei Lanzi. Wie spielerisch sitzt der Fuß auf dem Haupte, wie kokett wird der Medusenkopf dem Publikum präsentiert, wie kühn und krumm liegt das Schwert in seiner Hand! Und wie herrlich geschwungen dieser Leib, wie eine junge Gerte, nicht Frau und nicht Mann, Vollkommenheit, weil sie Jugend ist und nichts sonst.

Ihr alten Weiblein, ihr würdigen Bärte der alten Herren, die ihr da vorübergeht, wollt ihr nicht freiwillig zurücktreten vor diesem Standbild? Ihr habt wahrlich schon Schaden genug angerichtet mit eurem Beispiel und eurem Gerede! Aus den Blumen auf dem Felde wolltet ihr den Strauß Staat binden, aus diesen Bergbächen das Reservoir der Gesellschaft. Es ist euch fast geglückt. Eure Unehrlichkeit hat euch geholfen, ihr habt den Jungen einen blauen Dunst vorgemacht, ihr habt ihnen ihr eigenes Pathos in die Ohren geblasen und sie damit berauscht. Verlogen! Sokrates führte die Erziehung des göttlichen Jünglings Alkibiades, aber er hatte ihn wenigstens nur für seine eigensten Spiele mißbraucht, für Weisheit und Erkenntnistheorie, für Dialog und Symposion, er hat ihn keineswegs an dem Knochengerippe fremder Ideologien erkalten lassen: dieser große Jugendverführer zog den Jüngling an sein Herz und entfachte seine alte Glut an der des Jungen. Und Alkibiades ging hin, unversehrt, und stürzte alle Hermessäulen in Athen von ihren Postamenten, denn keine Idee hatte seine sorglose Seele lähmen und vergiften können, und er starb lachend in einem brennenden Haus, das Alter ließ er gar nicht zu sich herein.

Welche Bewegung nur in diesen jungen Menschen von dazumal. Sie haben noch alle den Trieb, den kreiselnden, kreisenden Trieb unseres Planeten in sich den Blutumlauf, den rapiden Pulsschlag der Mutter Erde, das saust und braust noch in ihnen weiter, wie das siedende Wasser im Kochtopf, wenn man ihn schon längst von der Flamme entfernt hat. Das überzieht noch ihre Augen mit jenem feuchten saftigen Glanz, den die jungen Blätter an sich haben, wenn sie sich über Nacht entfalteten. Du glaubst, daß dieser Blick süß schmecken müßte, wenn du es wagtest, ihn mit deiner Zunge zu verkosten. Aber du wagst es nicht. Denn die Rührung in deinem Herzen ist zu groß. Gedenke ihrer doch, wie du die vielen Kinderbilder deiner Freunde und Feinde sahst, die Bilder im kurzen Rock, die Bilder mit den offenen Haaren, mit den Matrosenkleidern und runden Kinderfingern, die Bilder der Börsendisponenten und Primadonnen und Gattinnen von Rechtsanwälten, die sie heute sind! Sie haben dich mehr bezaubert, da sie durch deine Träume zogen, heraustretend aus dem Oval dieser lächerlichen, vergilbten Photographien.

Das sollte alles nicht mehr sein? Unwiederbringlich verloren? Erstarrt in Doktrinen, falsch abgelenkt in die scheußlichen Kanäle der reglementierten Begeisterung, verwandelt in die Muskelhypertrophie Fischeras und Carpentiers? O arme, verirrte Jugend, wo ist deine Leidenschaft, wo ist der Schwung der Fußgelenke, das Sprühen deiner Augen? Fort, für immer fort?

Sie müssen noch leben! Denn wie lange ist es denn her, da schwang noch ein junges Genie mit brausender Pose die Fahne eines Regimentes über die Brücke von Lodi, tausend Kugeln unnötig ausgesetzt, heroisch aus reiner Lust, wie lange ist es denn her, da galoppierte noch Gott-Goethe ohne Mantel und ohne Hut durch Gewitterschauer zu seiner Geliebten, um einen Kuß seine Karriere in den Olymp opfernd, wie lange ist es denn schließlich her, da mutige Jünglinge in der Stickhauchluft der Münchner Katakombenkeller ausriefen, sinnlos, aber pathetisch: „Wir haben vier Jahre für den Krieg gehungert, wir sollen keinen Monat hungern für die Freiheit?“ Wie lange ist es her, daß wir diese Freiheit empfanden, diese leichte Sorglosigkeit, diesen Geigenton? Wie lange ist es denn her, da schwebten noch unbeschwert die Schwestern Wiesenthal, Wiens unsterbliche Seele, durch den Raum des Apollo-Theaters zum Donauwellenwalzer, und wir wußten, daß wir gefeit waren gegen die Flottendemonstrationen von Agadir und gegen den Tango der Seelen? Hat alles abgewirtschaftet? Hat bloß ein Weltkrieg und eine Börsenbewegung endgültig der ewigen Jugend die Flügel gestutzt?

Nein!! Ich raste am Waldesrand, der sonst so scheußliche Frühling dieses Jahres hat sich für Stunden erweichen lassen, die Sonne liegt mir auf dem Gesicht. Ich denke an das Mädchen meiner Liebe. Ich sehe mit geschlossenen Augen den schwarzen Blick dieses Mädchens, wenn er in Unmut und Zorn und Leidenschaft finster aufleuchtet, ich höre den heißen und harten Ton ihrer kleinen Stimme in meinem Ohr, ich sehe sie durch das Zimmer fliegen wie ein Falke, wenn sie sich an meinen Hals wirft, ich spüre ihren Atem, der von Unschuld und Hingabe glüht.

Da weiß ich auch, daß wir noch nicht verloren sind. Denn das ganze Land unter mir blüht und wächst wie ein Garten und in ihm die Kinder der Lust wie die Rosen und Zentifolien, sie tragen den Schmelz ihrer Jugend auf ihren Blütenkelchen, diese köstlichen Jungfrauen, dieses überschwengliche Geschenk an unsere Welt des Rationalismus. Fangt sie ein in Lyzeen, Tanzschulen und heiligem Ehestand, in Bordelle, Bureaus und bei kalten Tanten, ihr werdet sie nicht bezwingen. Sie sind die letzten Gesellschaftsträger und approbierten Gesandten des heiligen Gefühls am Sitze unserer Wissenschaft. Betet sie an, sie sind die letzte Jugend!

Und ich schreibe ihren Namen in den Himmel.

In: Der Tag, 9.5.1924, S. 4.

Arthur Rutra: DER WEG

Es ist wieder ein Kampf! Ein doppelter Kampf. Die Jungen stehen gegen die Älteren, die Jüngsten gegen die Jungen. Die Triebkräfte dieser Bewegung sind deutlich erkennbar; sie wurzeln in der Hast des Jahrhunderts und haben durch die Jahre des Krieges, der das Tempo des Lebens zu amerikanischen Rekordleistungen hinaufpeitscht, noch eine weitere Steigerung erfahren. Wenn man auch den Krieg mit allen seinen Folgeerscheinungen als ein rein akzidentelles Ereignis betrachtet, so darf die Beeinflussung des Moments wegen der ungeheuren Gefahr, die sie birgt, nicht von der Hand gewiesen werden. Der Instinkt der Gewalttätigkeit ist wachgerufen und seine Macht, die stets die Ausrede der Bequemlichkeit für sich haben wird, ist nicht zu unterschätzen. Dilettanten werde sich ihm mit Freude verschreiben, die Guten und die Besten, die dem Inferioren gegenüber stets schwächer sein werden, preisgegeben oder gezwungen, mit ihm zu paktieren.

Diese Bewegung ist allgemein und mannigfaltig sind die Spielarten der Form, die zur Äußerung kommt. Es gibt Bewegungen, es gibt Fluida, es gibt Hochstapelei tiefster seelischer Überzeugung. Alles drängt, sucht und tastet – wonach? … Nach dem Platz, auf dem wieder eine Kathedrale errichtet werden kann, über dem sich die Gotik einer neuen Zeit erheben könnte? … Vielleicht. Berufen sind die einen, die anderen auserwählt. Und beide glauben. Die drängen und in ihrer Stabilität verharren. Die Jungen und Jüngsten haben längst den Platz, auf dem die Alten und Älteren stehen, aufgegeben und suchen eine neuere Welt – die anderen verteidigen einen Platz, der ihnen gar nicht streitig gemacht wird. Sie sprechen von Dichtkunst; den einen ist sie Kultur, den anderen Ekstase. Kultur baut auf Kultur, Ekstase wirft sich in die Welt und verliert sich an sie. Beide begehen einen Fehler: denen die Dichtkunst Kultur ist und die unbekümmert weiter Seit auf Stein fügen, vergessen, dass kulturelle Werte vernichtet, gefährdet und verschoben wurden; sie bauen weiter und merken nicht, dass Teile morsch geworden sind… Und sie vergessen, dass das Gefüge verwittern kann. Die Ekstase aber nimmt zu vieles auf, sie ist wahllos und verschwendet sich ebenso gerne an die Metaphysik wie an den Journalismus. Sie hat das starke Erlebnis der Gegenwart noch nicht in sich aufgenommen, während die andere es an sich vorübergehen ließ. Ihre Entschuldigung ist, dass sie jung ist – wie das Alter der anderen. Sie nimmt Erscheinungen wichtig, die vorübergehender Natur sind, weil sie alles wichtig nimmt, weil sie ernst ist und von der Fruchtbarkeit des Augenblicks aufs tiefste erschüttert. Und beide sind ehrlich: in ihrer Blindheit und in ihrer Übersichtigkeit.

Was ist aber Dichtkunst? Ekstase ist ein Bekenntnis – Kultur ein Glaubensbekenntnis. Ein Bekenntnis kann ein Pamphlet sein, eine Proklamation, kann auch – Dichtung sein. Dichtkunst ist geläuterte Ekstase, kultivierte, wenn sie den Weg über die Seele nimmt. Immer aber wird Ekstase das Primäre sein.

Gegensätze sind immer gewesen, sie sind auch heute vorhanden, schärfer denn je, wenn auch nicht so offensichtlich und durch Umgangsformen gemildert. Die Alten werfen den Jungen vor, dass sie Schriftsteller sind, Buchstabensetzer, die Jungen sagen wieder von ihnen, dass sie keine Dichter sind, oder doch solche, denen das Kostüm einer verblichenen und überwundenen Zeit am Leibe festgewachsen ist. Können, sollen Gegensätze versöhnt werden, bis der Ausgleich in ewigem Wechsel neue zeugt? Versöhnung ist Kompromiss. Die Gegensätze müssen sich verstärken, bis sie über sich selbst hinausgewachsen und zur Norm geworden sind. Dann werden sie wieder durch neue abgelöst werden.

Wer ist aber alt und wer ist jung? Jung ist nicht mehr der Tag, denn das Morgen ist jünger und das Gestern trägt schon verwitterte Züge. Darum sind die Jungen von heute den Älteren von gestern verbrüdert. Und der Wechsel der Tage ergibt ein Chaos. Dieses aber ist das Versöhnende, denn es gebiert oder es wird gebären, bis es gesättigt, bis es genügend befruchtet ist. Befruchtet von allen, die sagen: „wir“. Bis einer emporwachsen wird, der ausspricht: „Ich!“

Hier liegt das Geheimnis: von allen, die leben, lebt jeder nur, weil er „wir“ gesprochen hat. Nähme man es ihm – das Schemen, das er ist, träte schärfer hervor, Das „wir“ ist seine Stärke – wie das „ich“ seine Schwäche offenbaren würde. Es ist die Berufung auf andere, die Flucht vor der eigenen Unzulänglichkeit. Er lebt nicht, weil er da ist, weil er sein Leben fühlt, sondern weil er fasziniert ist von einer Unwirklichkeit, die er für Leben hält. Er glaubt gesteigerter zu leben und lebt wirklich nur flacher. Er wähnt tätiger zu sein und ist in Wahrheit untätiger. Er bildet sich ein, zu bauen, und er zerstört nur. Nicht einmal das, denn er hat nicht die ewigen Gesetze des Wachstums erforscht. Leben, wirken, schaffen kann nur der, der sich am Wachstum emporrankt, dessen Seele den Gleichklang hat mit dem ewigen Schlag des Lebens. Nur dieser, der hinablauscht in seine Seele, in der sein zweites Gesicht die Wahrheit verkündet, der hinauflauscht in den Weltraum, aus dem ihn Millionen Spiegelungen grüßen, wird „ich“ sagen können. Dieser wird auch tätig sein, denn er wird Opfer bringen können, durch seine eigene Stärke. Dieser wird auch bauen, denn er wird die Steine mit eigenen Händen heranschaffen. Dieser wird sich wegwerfen in der Ekstase und sich wiederfinden in der Sammlung. Und wird schweben im ewigen Mysterium des Seins.

In: Der Anbruch, H. 8/1918, S. 6-7.

Richard von Schaukal: Zuchtlose Jugend und ihre Schriftstellerei

Man liest immer wieder in jüdischen Blättern, daß eine neue Jugend entstanden sei, die sich insbesondere mit dem überkommenen Verhältnis der Kinder zu den Eltern auf ihre zeitgemäße Weise auseinandersetze. Selbstbewusst, um nicht zu sagen aufdringlich, verkündigt denn auch, von den Schriftleitungen dazu aufgefordert, der und jener Vertreter dieser ›neuen Jugend‹, meist irgendein achtzehnjähriger Verfasser eines der trotz Misserfolgen im einzelnen stets als Gattung beliebten brünstigen ›Entwicklungstheaterstücke‹, seine höchst unliebsamen Anschauungen über die Ansprüche seiner Altersgenossen auf unbedingte Freiheit usw. Es melden sich dann auch unterweilen die nichts weniger als ehrwürdigen Erzeuger jener wortreichen Verfechter des Umsturzes ihrerseits in denselben Blättern zu Wort – in den illustrierten erotischen Magazinen1 fügt der rührige Verlag die willkommenen Bildnisse von Vater und Sohn  bei – und orakeln resigniert über den Umschwung der Zeiten und die auf dem Gebiete des sogenannten Familienlebens bevorstehenden sensationellen Ereignisse. 

Ob derlei Ergüsse ihren Lesern ebenso ekelhaft sind, wie dem, der wider Willen darauf stößt und nicht umhin kann, einen angewiderten Blick in diese ›Dokumente der Zeit‹ zu tun, ist zweifelhaft, vielmehr kaum anzunehmen, jedenfalls, wenn nicht gleichgültig, doch insofern nicht eben belangvoll als ›Leser‹ solcher ›Literatur‹ ihren Geschmack mit sich selbst abmachen mögen; aber was einmal mit aller Entschiedenheit gesagt werden muß, ist, daß in dieser ganzen Diskussion zwischen ›neuer Jugend‹ und zurechtgewiesener, aber einsichtig-verzichtender Elternschaft sich nur ein Kapitel von privater Armseligkeit [gesperrt gedr. im Orig.] zu maßgebender Bedeutung aufspielt. Mögen die Familien, um die es sich hier handelt – sie sind alle irgendwie mit der herrschenden jüdischen Literatur unauflöslich verwoben – ihre Erfahrungen als Heilsbotschaft oder unentrinnbares Gesetz des Fortschrittes verkünden: es gibt anderswo immer noch wohlgeborene und wohlerzogene Kinder bis fünfundzwanzig und mehr Jahren, die nicht im entferntesten jenen Radaumachern gleichen, sondern bei aller Begabung, allem Scharfsinn, aller Urteilsfähigkeit im Verhältnis zu ihren achtbaren Eltern die uralte kindermäßige Zucht und Sitte als ein selbstverständliches Gut schöner und reiner Seelen in Liebe und Selbstachtung hegen und pflegen und hüten werden, solange es die Klasse – nicht Generation – der unmündigen Kinoschauspieler und Nackttänzerinnen, die freilich eine schmachvolle Last für die mühsam um ihr Dasein kämpfende ›alte‹ Gesellschaft bedeuten, nicht dazu gebracht haben wird, daß die Venus vulgoviva als Staatsgöttin verehrt werden muß.

In: Schönere Zukunft, Nr. 50, 19.9.1926, S. 1230.


  1. Vermutlich eine Anspielung auf Hugo Bettauers Wochenschrift Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik.

Theresa Rie-Andro: Zwei Mädchen am Meer

Dies war das schönste: wenn Marghè im Badeanzug leichtfüßig die Treppen der Terrasse herunterstürmte, eine Klippe hinaufturnte und kopfüber ins Wasser sprang. Das schwarze Trikot umschloß sie wie der Panzer einer jungen Kriegerin, der weiße Gummihelm gab ihr etwas von einer Amazone und aus ihren Badeschuhen schienen Flügelchen zu wachsen, die ihr alle Schwere benahmen. Aber auch wenn sie umgekleidet zu Tisch erschien, war Marghè schön: dann lag ihr dunkles Haar auf klassische Art um den schmalen Kopf und ihre weißen Kleider flossen ganz von selbst zu milde bewegten Raffungen und Falten. Marghè, die eigentlich Margherita Bazzini hieß, war die Tochter einer vornehmen Florentinerin, die leidenschaftlich in der Bildhauerei dilettiert hatte, und eines römischen Malers. Ehe und Eintracht der Eltern gehörten der Vergangenheit an, aber in Marghè schien noch etwas von ihren Kunst- und Schönheitsträumen lebendig.

Wir waren ein Dutzend Menschen in diesen blauen Tagen an der Adria, und Marghè kümmerte sich um niemand sonderlich. Sie saß fast immer bei ihrer kränklichen Mutter, die ein feines, wissendes Gesicht hatte, und las ihr aus kunstgeschichtlichen Werken vor. Auch vorher, als hier noch alles von Jugend erfüllt war, sollte Marghè immer kühl und ablehnend gewesen sein. Das ging alles so, bis die Studenten kamen. Dann wurde es in dem kleinen Hotel mit einem Mal anders.

Sie kamen eines Abends, ein Bursch und ein Mädel, beide groß und schlank und so zwanzig Jahre alt – etwas abgekämpft vom Tragen ihrer Handköfferchen und mit sehr bestaubten Schuhen, denn sie hatten den Weg vom Bahnhof zu Fuß zurückgelegt. Herr Meyer, der gerade im Haustor stand, sagte: Nanu! Sie sind wohl auf der Hochzeitsreise?“ Das Mädchen zog den Jungen am Ärmel und flüsterte: „Du! Da bleiben wir nicht!“ Worauf der Bursch sie abschüttelte und brummte: „Sei nicht so albern, ja?“

Sie versuchten keineswegs, von der Wirtin, der sie ja ihre Pässe abliefern mußten, Diskretion zu erzwingen. Nein, sie gaben ganz offen zu, nicht im geringsten verheiratet zu sein. Er hieß Ernest und sie Ilse. Sie studierten an der gleichen Universität und hatten sich zusammengetan, um diese Adriafahrt zu unternehmen. Das erklärte der Junge so aufrichtig, daß selbst Herr Meyer „nichts bei“ finden konnte. Sie zogen ihre Geldbörsen und rechneten und waren selig, daß es auf zwei Mansardenzimmerchen mit voller Pension langte.

Nun hätte man denken sollen, daß es im Hotel endlose Bemerkungen über die unklaren Beziehungen der beiden gab; denn ob sie ein Liebespaar waren, blieb vielen zweifelhaft. Nie sah man sie in zärtlicher Umschlingung, sie schwammen, ruderten, segelten, kletterten miteinander, es war gar nichts „Schwüles“ um sie, wie Frau Meyer bemerkte, aber ihr Gatte sagte: „Das ist eben neue Sachlichkeit. Zwei so junge Menschen, ganz allein in Italien und obendrein unbeaufsichtigt im dritten Stock! Nee, mich macht man nicht dumm!“ Aber Meyers waren die einzigen, die Neugierde zeigten. Bei den anderen Ehepaaren riefen die beiden Sehnsucht, ja Rührung hervor. Da kam eine neue Jugend herauf, die leben durfte, wie sie wollte. Die Frauen seufzten – ihnen war eine solche Reise nicht zuteil geworden. Und auch die Männer, denen solche Liebesfahrten bekannter waren, wurden ein wenig wehmütig, wenn sie die schlanke rotbraune Ilse mit dem Hasengesichtchen ansahen; ihre Partnerinnen waren nicht so nett gewesen.

Alle waren freundlich zu den jungen Leuten, und jeder versuchte, ihnen etwas Nettes zu erweisen. Ilse taute auf dabei, die mehr Hemmungen zu überwinden gehabt hatte als ihr Kamerad. Nur eine wollte von den beiden nichts wissen: Marghè. Trotzdem es natürlich gewesen wäre, wenn ihre Jugend sich einmal zur Jugend der anderen gesellt hätte. Aber sie wandte den Kopf verächtlich weg, wenn sie dem Paar begegnete und vermied nach Kräften ein Zusammentreffen auf den Badeklippen. „Warum bist du so häßlich zu ihnen, Marghè?“ fragte die Mutter, als sie in ihren Liegestühlen auf der Veranda ruhten.

Marghè ließ den Band Burckhard sinken, aus dem sie in ihrem harten, aber klaren Deutsch vorgelesen hatte. „Mammina! Du möchtest, dass ich mit – solchen Gemeinschaft halte …!“

„In anderen Ländern ist es ganz anders als bei uns, Marghè, wo die Mädchen noch völlig in der Familie leben… Man muß sehen und verstehen. Ich wünschte, du wärst mehr wie andere junge Mädchen; du beurteilst alle Dinge des Herzens so hart!“

„Du möchtest vielleicht, daß ich auch so herumzöge?“ fragte Marghè schneidend.

„Da sei Gott vor! Nein, das muß schwer für Mütter sein. Auch für die von Ilse. Aber ich glaube ganz sicher, daß die nichts davon weiß. Denn neulich weinte das Mädchen vor Angst, weil sie eine kleine silberne Nadel verloren hatte, und ich dachte: Wenn diese Mutter schon wegen einer kleinen Silbernadel zankt… Verstehe mich recht, Marghè, du sollst nur nicht verurteilen, was du nicht kennst. Ach, Kind, ich habe soviel gesehen…“

Aber Marghè schien nicht wissen zu wollen, was die Mutter gesehen hatte. Sie nahm das Buch wieder auf und las in ihrem korrekten, etwas harten Deutsch von der Kultur der Renaissance.

Das Seltsame war, daß Ilse und Marghè einander ähnlich sahen. Nicht in der Nähe natürlich und nicht von Angesicht, denn Marghès Züge zeigten reinsten lateinischen Schnitt und hinter Ilses rötlich umbuschtem Hasengesichtlein stand in gottlob noch weiter Ferne die Häßlichkeit. Aber sie waren gleich hochbeinig und schlank, wenn Ilse auch ein wenig knabenhafter und eckiger schien, als die wundervoll fein modellierte Marghè. Sie trugen beiden die Badeuniform des Jahres, Trikot schwarz, Badehelm, Gürtel und Schuhe in Weiß, und sah man eine von ihnen kühn von den Klippen ins Meer sausen, so konnte es sein, daß man später sein Kompliment über diese sportlich prächtige Leistung an die falsche Adresse brachte: was Ilse Verlegenheit schuf, während Marghè verächtlich die Lippen kräuselte.

So ging die Woche herum, die den Studenten gehörte. Eines Abends bezahlten sie ihre Rechnung, denn am frühen Morgen sollten sie heim, und Ilse bekam bei dem Wort Tränen in die Augen, woraus man entnehmen konnte, daß „Heim“ für sie beide nicht das Gleiche war. Ernest ließ eine Flasche Asti Spumante kommen, und sie ratschlagten unter Assistenz der ganzen Terrasse, wie dieser letzte Abend, an dem der Vollmond so herrlich über dem Meere stand, besonders zu feiern sei. „Wir wollen schwimmen!“ entschied Ernest. „Hinaus in den Mondschein – Mond macht warm!“ sagte Ilse träumerisch. „Also hopp, spring hinauf und nimm dein Badezeug wieder aus dem Koffer!“ befahl Ernest. „Ich habe meines unter dem Anzug an. Vertrödle dich nicht, ich gehe jetzt noch ins Boot und hole dich in zehn Minuten an der Klippe ab!“

Das Meer war licht und perlmuttfarben, aber die Klippen lagen im tiefsten Schwarz; dennoch konnte Ernest im Dunkel den weißen Badehelm, die weißen Schuhe schimmern sehen. „Los, ins Wasser! Ich mache nur den Kahn fest und komme dir nach!“

Gehorsam sauste die schmale Gestalt mit prachtvollem Schwung ins Meer und tauchte gleich wieder auf. Ernest sprang ihr nach. Plötzlich hatte er ein sonderbares Gefühl: „Aber das ist doch nicht Ilse!“ „Du!“ rief er leise. Das Mädchen senkte den Kopf aufs Wasser und begann zu kraulen. Ernest war in ein paar Stößen an ihrer Seite. „Marghè!“ flüsterte er. Er hatte kaum je mit ihr gesprochen, nur gehört, daß man sie so rief.

Marghè war ganz nahe bei ihm und doch weltenweit getrennt durch kühles Element. Warum war es Marghè? Wozu setzte sie sich an Ilses Stelle? Sie waren jetzt im hellen Mondschein, alles war wie ein Zauber, fremd und doch bekannt; hatte er das in seiner Seele schon lange geträumt? „Marghè!“ rief er nochmals leise und wollte ihre Hand fassen, aber sie bog ab. Er begriff, daß es nicht größere Nähe gab, als die, in der sie schon waren.

Sie hatten das Tempo verlangsamt, zogen schweigend nebeneinander her, und vor ihnen war blasse, schimmernde Unendlichkeit. Nichts war zu hören als das leise Rauschen, mit dem sie die Wellen teilten. Man verlor das Gefühl für Zeit und Raum. Ernest wusste nicht, war sein Körper eins mit dem Meer geworden. Oder mit Marghè.  

Das Licht war nun bis ans Ufer gedrungen, und auf der Klippe stand Ilse allein. Sie hatte sich, wie immer, ein wenig vertrödelt, und nun glaubte sie zu träumen. War Hexerei in dieser Mondnacht möglich? Stand sie zugleich hier und schwamm weit draußen mit Ernest? Aber gleich erkannte sie die Wahrheit. Marghè, Kühlste aller Kühlen, hatte ihr heimtückisch dieses Erleben des letzten Abends gestohlen!

Sehr einfach, dachte Ilse wütend. Man geht ins Wasser und ihnen nach. Verbieten kann ich Marghè das Meer nicht, aber sie mir auch nicht. Indessen begriff sie sofort das Lächerlichste einer solchen Situation. Überdies sahen von der Hotelterrasse oben sicherlich Leute diesem nächtlichen Mondbad zu. Grotesk, wenn neben einem weißen Helm ein zweiter auftauchte, wenn die Lage offenbar würde!

Nun wandte sich Marghè dem Ufer zu und Ernest mit ihr. Sie schwiegen beide und ihr Schwimmen war lautlos, es war, als ob das wundervolle Wasser sie trüge oder der Mond. Das Meer war seidenglatt, sie zogen Furchen darin, schimmernd wie Platin.

Dann sprang Marghè ans Ufer und sah Ilse stehen. Beide Mädchen hielten sich gerade aufgerichtet und blickten einander an. Sie waren gleich groß, gleich schlank, fast gleich gekleidet, aber dennoch hätte man sie jetzt nicht verwechseln können. Wie Kämpfer hatten sie ihre Helme abgenommen, die sonst nur eben die Nasenspitze freigaben. Aus Marghès Gemmenantlitz und aus Ilses Hasengesichtlein blitzten entschlossene, kampflustige Augen. Zwei Mädchen standen hier, aber auch zwei Charaktere, zwei Nationen, zwei Weltanschauungen – was hatten sie sich zu sagen?

Doch in den großen Augenblicken des Lebens pflegt nicht gesprochen zu werden. Vielleicht bedrängten sie ihre Gedanken zu heftig, als daß sie ihnen Ausdruck verleihen konnten, vielleicht hatte keine von ihnen die Gabe des richtigen Wortes. So standen sie nur eine Weile und sahen sich an. Der schuldig-unschuldige Mann hielt sich hinter ihnen: entschieden verlegen, einen Ausbruch der beiden befürchtend und doch leise hoffend, wie auf ein prächtiges Naturschauspiel.

Endlich blickte Marghè von Ilse fort, die dastand, gehemmt und rechtlos, im Innersten empört und doch die Aussichtslosigkeit ihrer Lage begreifend. „Ich danke vielmals für den Ausflug!“ sagte Marghè in ihrem harten klaren Deutsch. „Ich wollte versuchen. Aber ich weiß jetzt: nicht für mich! Es tut mir leid, wenn ich gestört habe. Ich wünsche eine gute Reise!“ Sie sagte das nicht triumphierend, sondern sehr ernst und nachdenklich, beinahe traurig. Dann schwang sie sich von der Klippe zur Erde nieder, die im Dunkel lag, und verschwand.

Als sie den gleichen Felsen am nächsten Morgen wieder erklomm, um von hier mit einem Kopfsprung ihr tägliches Bad zu beginnen, waren die Studenten schon lange fort. Sie saßen in der Eisenbahn mit bestaubten Schuhen und recht abgemüdet vom Schleppen ihrer Handkoffer, die schwer waren von dem noch nicht recht getrockneten Badeanzug. Ernest war sehr nett zu Ilse, legte ihr seinen Rock auf die Holzbank unter und kaufte ihr grünrosige Fei-* Feigen auf der Station. Alles war wie sonst, und nichts schien geschehen. Aber dennoch wußte Ilse mit dem Hasengesichtlein, daß nicht nur die Reise, sondern auch mancherlei anderes dem Ende zutrieb.

In: Die Bühne, H. 380 (1934), S. 20f und S. 52.