Siegfried Schmitz: Die Tragödie des jüdischen Theaters

Siegfried Schmitz: Die Tragödie des jüdischen Theaters. (1923)

In Wien wurde durch ein paar Jahre jüdisches Kunsttheater gespielt; es wurde das versucht, was in anderen großen jüdischen Zentren versucht worden war, ein ständiges jüdisches Kunsttheater zu schaffen. Der Versuch ist bisher in Wien nicht gelungen, aber – in den anderen jüdischen Zentren (Berlin, Warschau, Wilna) ebensowenig. Ein ständiges jüdisches Kunsttheater besteht heute nur in New-York, und da wird immer wieder von den Schwierigkeiten berichtet, unter denen es sich gegen die Konkurrenz d[e]s leichten Genres zu behaupten hat. Daß alle Versuche zur Schaffung eines ständigen jüdischen Kunsttheaters bisher mit einem Mißerfolg endigten, läßt sich aus den wirtschaftlichen Verhältnissen der Länder, in denen diese Versuche unternommen wurden, nicht ausreichend erklären, ebensowenig aus der langsamen kulturellen Durchdringung der Juden in diesen Ländern mit  profaner jüdischer Kultur: hier müssen die Gründe auch im Wesen des jüdischen Theaters selbst, wie es sich uns heute darbietet, liegen. Es wäre sonst unmöglich, daß jüdische Theatergründungen wie die Wilnaer Truppe (besser: die beiden Wilnaer Truppen) und die in Wien Freie jüdische Volksbühne Volksbühne sich keinen stabilen Platz in den jüdischen Zentren erringen konnten, sondern auf die schiefe Bahn der Gastspielreisen gedrängt wurden, welche – es sei offen herausgesagt – für ein Kunsttheater unbedingt künstlerischen Abstieg bedeuten.

Für ein Theater sind die ausschlaggebenden Momente des Erfolges seine Stücke und seine Darstellung. Wie sieht es mit beiden im modernen jüdischen Kunsttheater aus? Das Repertoire des jüdischen Kunsttheaters gliedert sich in zwei Teile: die jüdischen Originalstücke und die Übersetzungen aus der europäischen Literatur. Die originale Dramatik in der jüdischen Volkssprache ist nicht viel älter als das jüdische Theater. Denn wenn wir von den mehr tendenziösen als dichterischen Versuchen absehen, welche die Schriftsteller der ostjüdischen Aufklärung, der Haskala, auf dem Gebiet der Dramatik machten – unter ihnen befindet sich übrigens kein Geringerer als Mendele Mocher Sforim mit zwei ebenso umfangreichen wie temperamentvoll tendenziösen Dramen gegen die Kehillamißstände sowie ein entschieden dramatisch begabter Autor, S. Ettinger, aus dessen Komödie Serkele in einer zeitgemäßen Bearbeitung die jüdischen Bühnen nachdrücklichst hingewiesen seien –, so fällt mit der Entstehung des jüdischen Theaters auch der Beginn der jüdischen dramatischen Produktion zusammen. Goldfaden, der Schöpfer des jüdischen Theaters, war sein eigener dramatischer Autor. Das Goldfadensche Singspiel, auf der jüdischen Bühne noch heute heimisch, hat freilich in einem modernen jüdischen Kunsttheater wenig Raum. es sei denn, daß sich ein mutiger dramaturgischer Bearbeiter fände, welcher diese Singspiele, in ihrer Art einen wertvollen volkstümlichen Besitz, sozusagen modern „aufmacht“ und in würdigem Gewande stellen läßt.

Weiter aber ist die dramatische Dichtung in der jüdischen Volkssprache eigentlich über das Milieu nicht hinausgekommen, eine Tatsache, welche schon mit den primitivsten Grundsätzen der dramatischen Form – der Darstellung eines menschlichen Schicksals, abgewandelt an einem Einzelfall – sich schwer vereinbaren läßt. Es ist interessant, daß der fruchtbarste und theatralisch begabteste dramatische Schriftsteller der jüdischen Literatur, Jakob Gordin, seine dramatischen Konflikte stets aus fremden Mustern holte und sie eigentlich nur mit einem jüdisch-familienbürgerlichen Milieu umgab, dabei häufig eine lehrhafte Tendenz hineinschob. Gordin hat auf diese Weise die gesamte dramatische Literatur von Shakespeare bis aus Sudermann und Hauptmann in ihren dramatischen Konflikten milieuhaft verwendet. Die übrige dramatische Produktion ist höchst selten sehr über das Milieu hinausgekommen. Zu nennen wäre hier nur Pinskis Arbeiterdrama Eisik Scheftel, welches dem Wiener Publikum durch die hervorragende Darstellung injüdischen Volksbühne Volksbühne bekannt ist, ein Werk, in dem das Ersticken der künstlerisch-erfinderischen Individualität durch die kapitalistische Ausbeutung über das jüdisch Milieu hinausreicht, ferner mit gewissen Einschränkungen desselben Antors allerdings dramatisch nicht restlos gelungenes Schauspiel Jedem sein Gott, sowie Leiwiks von der FreienVolksbühne Volksbühne mit so großem Erfolge trefflich aufgeführtes Schauspiel Schmates. Damit ist aber der Vorrat an einigermaßen über das Milieu hinaus dramatisch wirksamen Stücken der jüdischen dramatischen Literatur erschöpft, wenn man von dem sehr feinen, seelisch tief schürfenden, aber nicht völlig als dramatisch anzusprechenden Spiel Karikaturen von Katzenel­son absieht. An – skis so viel bewundertes und besprochenes LegendenspDybukem>Der Dybuk schöpft seine Wirkung ausschließlich aus dem Milieu und ist weit mehr als ethnographisch-folkloristische Darlegung denn als dramatische Gestaltung zu werten.

Die Tatsache, daß die jüdische dramatische. Dichtung bisher über das Milieu nicht hinausgekommen ist, ist auch wohl die tiefgründige Ursache dafür, daß das jüdische Drama bisher eine Komödie echten Sills, ein gutes Lustspiel, nicht hervorgebracht hat. Denn Komödie erfordert, selbst wenn sie im Milieu einige ihrer Humore schöpft, unbedingt ein Hinausheben der Handlung und der Typen über das Milieu gewissermaßen in die Spähre der Menschlichkeiten der Menschheit. Ein einziges Mal ist, wenigstens zum Teil, dieser Grundforderung an eine Komödie David Pinski in seiner Komödie Der Schatz gerecht geworden, welche eigentlich mehr eine Satire ist. Was die dramatische Lite­ratur der Volkssprache sonst an Komödien produzierte, ist unzulänglich und kann eigentlich nur als Milieuhumor angesprochen werden. Das Volksstück in seiner modernen künstlerischen Form, wie es Perez Hirschbein in manchen recht ansprechenden Stücken zur Geltung bringt, ist überall sine reine, bei Hirschbein übrigens vielfach zu literarisch angefaßte Milieuangelegenheit.

Daraus schon ist zu ersehen, daß das jüdische Theater bisher, wenigstens in der originalen dramatischen Produk­tion, viel zu wenig Möglichkeiten für seine Entwicklung gefunden hat. Es ist geradezu tragisch für das jüdische Theater, daß es durch den gewissermaßen engen dramatischen Horizont der dramatischen Produktion geradezu bis zum Ersticken beengt wird. Dem jüdischen Theater steht freilich auch die reiche dramatische Produktion der ganzen Weltliteratur von Aeschylos bis Kaiser und Brecht für theatralische Ausbeute zur Verfügung. Der Einwand, daß anderssprachige Dramen im Jüdischen nicht „klingen“, ist nicht stichhaltig. Ob Hamlet der Dänenprinz englisch, deutsch, russisch oder jüdisch spricht, ist gleichgültig. Freilich // kommt die Aufführung von Stücken aus der europäischen Dramenliteratur mehr dort in Betracht, wo das jüdische Theater und insbesondere ein jüdisches Kunsttheater in der jüdischen Masse fest verankert ist, wo es das Bildungs- und Kulturbedürfnis der Juden fast ausschließlich befriedigt. In Wien und Berlin, wo jüdische Kunsttheater eine Zeitlang stabil spielten, ist dies nicht der Fall, weshalb denn auch für das Repertoire dieser Theater die europäische Dramenliteratur fast gar nicht in Betracht kam.

Aber selbst dort, wo europäische Dramenliteratur ins Repertoire des jüdischen Theaters eingefügt werden kann, ist – wenigstens bisher – der Erfolg, welcher durch diese willkommene Bereicherung des Repertoires sich ergeben müßte, illusorisch gemacht durch die begrenzte Darstellungsmöglichkelt, welche es im jüdischen Theater bis jetzt noch gibt. Ein so ausgezeichnetes Ensemble wie die Wilnaer Truppe hat, wenn man es mit der Kritik genau, objektiv und sach- und theaterkundig nimmt, bei der Darstellung von Stücken aus der russischen Dramenliteratur, wie Eifersucht von Artzybaschew und Der die Ohrfeigen kriegt von Andrejew völlig versagt, ja selbst die Aufführung eines jüdischen Stückes, in dem es nicht bloß Milieudramatik gibt, wie Weiters Der Stumme, muß als unzulänglich bezeichnet werden. Man hatte bei diesen Stücken nicht den Eindruck von Darstellung, sondern von Vermummung, und das oft von schlechter. Denselben Eindruck hatte ich, als die Freie jüdische Volksbühne in ihren Anfängen einmal das erwähnte Weitersche Stück gab.

Damit sind wir beim zweiten für den Erfolg eines Kunsttheaters maßgebenden Moment angelangt, bei der Darstellung. Diese ist im jüdischen Theater nie über das naturalistische Maß hinausgekommen. Minutiöser Naturalismus scheint ein Wesenszug jüdischer Darstellungskunst zu sein. Außerdem ist die Wiedergabe von Milieudramatik naturgemäß mit naturalistischer Darstellungsweise verbunden. Die eine Begrenzung, welche dem jüdischen Theater auferlegt ist, die durch das Milieu, zieht eben die andere nach sich, die in der Darstellung. Während heute schon jede sechstrangige europäische Bühne imstande ist, Darstellung und Regiearbeit zu leisten, die über den Naturalismus hinauskommt, ist dies beim jüdischen Theater bisher sehr selten der Fall. Die Wilnaer Truppe versuchte die Einführung eines bestimmten Stils in der Darstellung bei Aufführungen wie An-Skis Der Dybuk und Tag und Nacht. In der Dybuk-Aufführung war das Ergebnis eine gewisse Starrheit, welche freilich zu dem ethnographischen Charakter des Stoffes des Stückes paßte; in Tag und Nacht trat der von der Regie angewendete Stil am klarsten zutage, aber der Versuch, dieselbe Schablone ein wenig modifiziert in Weiters Der Stumme anzuwenden, brachte Langweile und Lächerlichkeit hervor. Für eine moderne Theateraufführung, welche über den überall bereits seit mehr als einem Jahrzehnt abgetanen Naturalismus hinausgeht, fehlt es dem jüdischen Theater bisher an Darstellern. Die wenigen, welche vorhanden sind (ich denke vor allem an Paul Baratoff), kommen von anderen Bühnen.

Die Begrenzung des jüdischen Theaters durch das jüdische Drama und durch die aus Schwäche zur Begrenzung gezwungenen darstellerischen und gestaltenden Kräfte sind die inneren Ursachen für die Tragödie dieses Theaters, die darin besteht, daß es, in einer in Theaterdingen so anspruchsvollen Zeit wirkend, so sehr hinter den Forderungen dieser Zeit zurückbleibt.  Deshalb hat bisher das neue jüdische Kunsttheater keinen stabilen Platz finden können, aus welchem es sich selbst erhalten und das, was ihm für einen neuen, eigenen Ton im Theaterwesen der Welt fehlt, sich erwerben könnte (sofern überhaupt gerade dem Juden auf dem Gebiete des Theaters Neues, Eigenes gelingen kann). Hier könnte nur Förderung durch die Gesamtheit einsetzen, eine Förderung, die über das augenblickliche Interesse an der Spezialität, an der Milieuspezialität, hinausgeht. Die ist aber schwer zu finden, denn das -Talent des jüdischen Schaffens auf dem Gebiete des Theaters scheint zu schwach zu sein, um ein Interesse zu erwecken, welches sich über den sogenannten „Reiz des Milieus“ und seiner Darstellung erheben würde. Wenigstens bis jetzt, in der Zerstreuung der jüdischen Zentren. Vielleicht später einmal, wenn im eigenen Lands sich eigene Kunstformen bilden sollten …

In: Wiener Morgenzeitung, 18.3.1923, S. 5-6.