Stefan Großmann: Sprung nach Wien (1923)

Stefan Großmann: Sprung nach Wien

Nachdem man einen Tag im Eisenbahnwagen verbracht hat, wird man in Passau aus dem Kupee getrieben, die ganze Herde der Reisenden muß auf der Treppe der Überquerung des Bahnhofs eine Stunde lang, mit Koffern und Taschen, frierend hocken. Oben wird der Stall durch eine Kette abgesperrt, die ein Schutzmann von Zeit zu Zeit öffnet. Dann darf eine kleine Bande hurtig ins Zimmer der Zollbeamten laufen, um sich abtasten zu lassen. Es ist die kläglichste Mißhandlung durch den Staat, die man sich denken kann. Täglich lassen sich dreihundert Leute diese Malträtierung gefallen. Es ist nicht angenehm, von der bayrischen Seite den Anschluß an die österreichische zu finden, es ist die menschenunwürdigste Art des Anschlusses, die man sich vorstellen kann. Aber was läßt sich der Deutsche nicht alles vom Staate gefallen? Nur wird im stillen ein theoretisches Aufblitzen von Staatsfreudigkeit durch so rohe Methoden des Herdenbesitzers Staat zerstört.

             Aber am Nachmittag ist man in Wien und alle Schmach ist vergessen.

                                                      Billardspieler.

             Sonntag vormittags bummelte ich durch sie Alserstraße. Regnerischer Tag. Die Kaffeehäuser schon jetzt vor dem Mittagessen überfüllt. Und in jeder größeren Straße zehn, zwölf Kaffeehäuser. Überall Leute, die Zeit haben, zu lesen, zu rauchen, Bilder anzusehen, zu plauschen. Hier wird noch Billard gespielt. In Berlin gibt es nur mehr ein einziges Café, in dem Billards stehen, Kerkau in der Friedrichstraße, aber das Billardspiel artet dort gleich in ein Turnier aus. Hier ist in jedem Café ein Billardsaal und erwachsene Menschen vertreiben sich viele Stunden damit, einen langen Stab in der Hand zu halten, ihn mit bläulicher Kreide an der Spitze einzusalben, sich über das Spielbrett zu beugen, auf ein paar weiße und rote Kugeln zu zielen und endlich loszustoßen. Wie viel Rast und Ruhe der Seele gehört zu diesem Spielgleichmut. Das ist ein Spiel ohne aufregenden Gewinn, ein Spiel ohne sportliche Leidenschaft, ein Spiel ohne nagende Berechnung, mit einem Wort: Nichts als ein Spiel. Nur sehr gelassene, nicht von Zwecken gehetzte Menschen sind solcher gleichmütigen Betätigung fähig. Man sollte auch in Berlin Billard spielen. Es wäre besessenen Menschen Medizin. Aber um es einzuführen, müßte die Polizei Billardzwang einführen, oder Ullstein müßte ein Sechstage-Billardspiel arrangieren. Daß erwachsene Menschen freiwillig stundenlang mit einem Stab dastehen, ihn einsalben, Kugel zu Kugel stoßen, dem Partner aufmerksam zusehen, über jeden Stoß Aufzeichnungen an der schwarzen Tafel machen, den Stab wieder bekreiden, wieder zu zielen, stoßen… eine besessene Berliner Betriebsseele wäre dazu nicht imstande.

                                                      Breitbartspiel.

Die Erwachsenen in Wien haben sich seit Monaten nur mehr mit Breitbart beschäftigt. Das ist ein junger galizischer Schlosser von ungeheurer Kraft. Er zerdrückt schwerste Eisenketten mit den Zähnen, zerdrückt Hufeisen in der Hand, trägt auf dem eisernen Brustkasten ein Auto mit Menschen.

Ich komme zu Freunden. Im Kinderzimmer heilige Stille. Was ist denn los? Warum schreien die Bälger nicht? Besorgt treten wir ein. Da liegt die fünfjährige Erica auf dem Boden. Auf ihrer Brust das Reißbrett des großen Bruders. Und auf dem Reißbrett stehen, eng beieinander, das achtjährige Brüderchen, der neunjährige Freund des Bruders und die dreijährige Schwester. Im ersten Augenblick fahre ich entsetzt zurück, aber mein Freund, der Vater der Bande, lächelt: „Es sieht nur bedrohlich aus. Die Kinder haben das oft erprobt. Erica spielt Breitbart.“

                                                      Aussichten.

In einer Zeitung veröffentlicht der frühere Bundeskanzler Schober, der jetzt Polizeipräsident von Wien ist, eine Erklärung, worin er die Nachricht, daß er Bankpräsident werden soll, entschieden berichtigt. „Wenn ich einmal zurücktrete, so gedenke ich mich wissenschaftlichen Arbeiten zuzuwenden. Ich werde, da ich kein Vermögen besitze und – mein Ruhegehalt zum Lebensunterhalt nicht ausreicht, wahrscheinlich auch schriftstellerisch tätig sein.“ Wie spartanisch, wie edel in der Armut. Krieger, die invalid wurden, betätigen sich als Werkelmänner. Ministerpräsidenten, die in Pension gehen, werden Schriftsteller. Dazu langt’s immer noch.

                                                      Auslagefenster.

Von allen Auslagenfenstern die schönsten sind immer die der Blumenläden. Ich stehe vor einem Geschäft in der ….gasse. Rosen, Flieder, Alpenschneeglöckchen, Zyklamen, blühende Weidenäste. An den Wänden hängen kleine Holzschnitte und Photographien sehr schöner Frauen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so viel mehr schöne Frauen in Wien gibt als anderswo, jedenfalls gibt es hier sehr viel mehr schöne Photographien sehr schöner Frauen. Und es ist reizend, diese Bilder unter den blühenden Zweigen aufzuhängen. Unter dem Holzschnitt ist mit einem Reißnagel ein kleiner Zettel befestigt: „Verkäuflich.“ Er ist ein bißchen unordentlich angebracht. Unzweifelhaft gilt der Zettel nur dem Holzschnitt. Aber die Hälfte des Zettels reicht zum Damenporträt hinüber. Nun, es ist jedenfalls ein verlockendes Auslagenfenster.

                                                      Hofapotheke.

             Sonntag nachmittag. Ausgestorbene Straße in der Inneren Stadt. Alle Läden geschlossen. Ich wollte doch abends meinen Freunden ein paar Flaschen Wein mitbringen. Zum Glück ist die Hofapotheke, gleich neben der alten Burg, offen. Ich trete in die hochgewölbten Hallen des alten Gebäudes. Sauberkeit, Geordnetheit, Spiegelblankheit der idealen Apotheke. Eine reizende, ebenfalls blinkende Dame fragt mich nach meinem Begehr. Ich verlangte drei Flaschen Muskateller. Ein Blick fliegt zu dem großen Glaskasten, in welchem der herrlichste alte Tokayer, wunderbarer alter Cognac, die reifsten ungarischen Weine ausgestellt sind: „Wählen Sie.“

             Während die Flaschen aus dem Keller gebracht werden, kann ich mich nicht enthalten, zu sagen: „Wie schön, daß Sie auch diese Heilmittel führen.“

             Die junge Dame erwiderte: „Man kuriert sich nicht nur mit Medizinen.“ Dazu ein sehr taktvolle, sehr liebenswürdiges, halbernstes Blick-Lächeln. Ich bin versucht zu sagen: „Auch ein freundlicher Blick kann heilen“, aber ich verschluck es. Man soll nicht alles zu Wort machen.

                                                                   Hofschauspielerin a. G.

             Nachts beim „Wiesenthal“. Das ist eine Art Heuriger für die Leopoldstadt. Nicht in Grinzig, sondern in der Nothgasse. Nicht unter freiem Himmel, sondern unter der Erde, ein Kellertheater. Es wird gesungen, Klavier gespielt. Lozzelachs werden erzählt. Der Chef ist Herr Wiesenthal, der mit der berühmten Grete keine Ähnlichkeit hat. Er ist etwas beleibter als Grete Wiesenthal, will aber auch nicht durch pagenhafte Schlankheit verführen. Er stammt nicht aus der Tänzerfamilie, eher aus der Familie Pallenberg, von dem er den aggressiven, deutlich höhnenden, den Hohn parodierenden Befehlston hat: He, Bürger! Wer hat vor Pallenberg gewagt He! zu krähen? Nun, Herr Wiesenthal ist ein wohlbeleibter Mann, der die Zuschauer beschmust. Vor und nach jeder Nummer erscheint er und wickelt die Zuschauer durch Anekdoten, Kalauer, vertrauliche Anreden ein. Er redet urwienerisch mit einem drolligen Einschlag jüdischen Jargons. Ein Fiaker, der seinen Standpunkt in der Tempelgasse hat. Es ist nur in der Ordnung, daß sein Lokal an der Grenze des Judenviertels steht, dort, wo der Leopoldstädter sich wienerisch zu assimilieren beginnt.

             In diesem unterirdischen Lokal tritt die berühmte Hofschauspielerin auf. Ich habe sie vor x-zig Jahren gesehen, damals kam sie gerade mit Kainz von einer russischen Reise zurück, die Hermann Bahr brillant beschrieben hat. Kaum zu schildern, wie jung und sprühend und schlank sie damals war. Jetzt tritt sie, von ehrfürchtigem Beifall umrauscht, um ein halb ein Uhr nachts auf die Pawlatschen, in schwarzem Spitzenkleid, heroischen Schrittes, das Haupt gen Himmel gerichtet, als müßte sie das Rauchtheaterpublikum übersehen, die Bewegungen der Arme tragisch-medeenhaft und die Stimme, diese sorgsam silbenrettende, langsam akzentuierende Stimme trägt ein vaterländisches Gedicht vor: Eine Palme wächst zu hoch. Die Palme ist Deutschland. Der Gärtner ist Gott. Es ist reinstes Burgtheater von heute. Die Verse Franz Nissels würdig, die Sprachkunst edelster Höbling, die Gesinnung würdigster Bodenstedt. Und das Publikum, das eben noch Wiesenthals Anekdoten belacht hat, klatscht begeistert in die Hände. Ja, das ist unser schönes altes Burgtheater. Dann singt die Hofschauspielerin zwei Niggerlieder. Ihre blanken Zähne glitzern, die dunklen Augen funkeln, die medeenhaften Armbewegungen verschwinden. Einen Moment muß ich an die sprühende schlanke Dame denken, die vor x-zig Jahren aus Rußland zurückgekommen ist. Es gibt ein Feuer, das nie erlischt. Vorausgesetzt, daß es einmal da war.

In: Der Tag, 22.3.1923, S. 3.