Agitationstheater

Schon vor den Diskussionen über Formen politisch engagierten Theaters im Kontext des Politischen Kabarett taucht der Begriff Agitationstheater in feuilletonist. Texten über Russland auf, so z.B. 1923 in einem von R. Fülöp-Miller. Auch die Salzburger Wacht brachte am 15. Febr. 1927 einen Beitrag über die Zukunft des sowjetischen Theaters und verwies dabei u.a. auf die Leningrader Studiobühne, 1928 folgte, wieder in Form einer Besprechung des von Fülöp-Miller und J. Gregor vorgelegten Buches über Das russische Theater ein weiterer Beitrag, der das Agitationstheater mit Theaterkonzepten von Ewreinoff und Mejerhol’d in Verbindung brachte. Dieses (erstaunliche) Interesse am sowjetruss. Theater im bürgerlichen Feuilleton führte allerdings auch zu polemischen Einwürfen; so sprach die Salzburger Chronik im Umfeld der Festspiele (ein Jahr zuvor gastierte in Salzburg das Leningrader Opernstudio) von einer „Bolschewisierung des Theaters“ (7.8.1929). Etwa zur selben Zeit legte R. Ehrenzweig (unter seinem Ps. Neon) in der Zs. ›Das politische Kabarett‹ den „stark von den Ideen Piscators“ (Doll, 265) beeinflussten programmat. Artikel Agitationstheater vor. Dieser sah eine Trennung zwischen ‚bürgerlicher‘ und ‚proletarischer Kultur‘ vor, forderte den Primat der Propaganda im Verhältnis zur Kunst sowie eine (weitgehende) ideolog. Übereinstimmung zwischen den Produzenten und dem Publikum. Ästhetische Überlegungen waren dabei zweitrangig, zeitgenössische Formenexperimente im Umfeld des epischen Theaters ebenso, wenngleich eine Integration dieser sowie auch Formen des zeitgenöss. Unterhaltungstheaters (z.B. Kabarett, Revue, Massentheater, Satire) durch die aus dem austromarx. Politischen Kabarett kommenden Theoretiker u. Praktiker des Agitationstheaters (auch Agitprop) angestrebt wurde. Ähnlich argumentierten auch Beiträge zur proletarischen Revue in der Wiener Roten Fahne, als diese z.B. mit den Maifeiern verknüpft wurde. Eine Nähe zur Tendenzliteratur wird nicht bestritten; diese wird auch dem bürgerlichen Theater attestiert. Inhalt habe vor Form zu stehen bzw. Form allein sei noch kein Garant für ein neues proletarisch-sozialistisches Theater. Dies gilt auch für die Disk. über die Form der Revue: für Ehrenzweig, angelehnt an Piscator, sei sie keine „Gesinnungsform“: „Sie ist an sich nicht bürgerlich, nicht sozialistisch – so wie der Expressionismus, die ‚neue Sachlichkeit‘, die moderne Architektur […] Sie kann bürgerlich-harmlos sein: Illusionstheater. Oder ihr Geist, ihre Flammen entspringen politischem Gestaltungswillen, politischer Satire.“ (Kunst und Volk, 6.2.1929,154). Das Plädoyer für die Revue-Form verwundert nicht, wenn man in Rechnung stellt, dass die Programme des  1926 gegr. Politischen Kabaretts u. der ‚Roten Spielleute‘-Gruppe um V. Grünbaum, M. Jahoda, P. Lazarsfeld, H. Zeisel u.a. mit ihren 13 Produktionen von 1926 bis 1933 gerade auch auf das Format der Revue und somit eine Synthese aus Varietè- und Agitationstheater gesetzt haben, was u.a. E. Fischer in seinem AZ-Artikel Scherz, Satire und Klassenkampf 1929 anlässl. Der 100. Aufführung des Polit. Kabaretts  anerkennend vermerkt hat. Die Einschätzungen Ehrenzweigs wird 1932 Jura Soyfer aufgreifen u. in der Folge auch modifizieren. In seinem vermutl. ersten programmat. Beitrag zur Theaterarbeit, in Politisches Theater (März 1932), wird es z.B. heißen, „die Arbeiterschaft soll das Theater finden, das nicht außerhalb, sondern innerhalb ihres Befreiungskampfes steht: die politische, revolutionäre Bühne […] Wir dienen nicht der Kunst, sondern der Propaganda“ (GW, 465). Doch die Schlussbemerkung – „Mag sein, daß unsere Gesinnung, unsere ethische Kraft uns manches Mal künstlerischem Schaffen näherbringt“ – deutet an, dass Soyfer den Begriff der Propaganda aus seiner negativen Zuschreibung herausführen und mit künstlerischen Ansprüchen vereinbar machen wollte. Seine Szenen wie z.B. König 1933 ist tot – Es lebe König 1934, v.a. aber seine sog. Mittelstücke wie Der Weltuntergang, Astoria, Vineta oder Broadway-Melodie 1492 sind ab 1935-36 sehr wohl in der Lage, dialektisches Theater mit Formen der Satire, Revue und Montage zu verbinden, Agitation auf der Grundlage eines neuen Form-Bewusstseins u. einer krit. Reflexion der künstler. Tradition wie der Gegenwart auf eine neue Ebene zu heben.

Quellen und Dokumente

Literatur

W. Fähnders: Literatur im Klassenkampf. Zur proletarisch-revolutionären Literaturtheorie 1919-1923 (Frankfurt 1974); H. Jarka: Jura Soyfer. Leben. Werk. Zeit (Wien 1987); J. Doll: Theater im Roten Wien. Vom sozialdemokratischen Agitprop zum dialektischen Theater Jura Soyfers (Wien u.a. 1997).

(PHK)