Schmutz- und Schunddebatte

Die Frage des Umgangs mit Erzeugnissen, die unter diesem Begriff subsumiert wurden und 1928 in eine in der publizistisch-politischen Öffentlichkeit heftig und kontrovers geführten Debatte einmündete, begleitete die Kulturpolitik der Ersten Republik seit ihrem Bestehen. Insbesondere wurde dieses Anliegen vom ›Katholischen Volksbund‹ und der Christlich-sozialen Partei seit 1919 in die polit. Debatte eingebracht und hochgespielt. Eine erste Resolution kam z.B. im Zug des christlichsoz. Gemeindevertretertags in Linz Ende Okt. 1919 zustande, auf dem „gesunde Volksbildung“ wesentlich durch die „Abwehr von Schmutz und Schund in Wort, Bild und Kino“ (RP, 28.10.1919, 5) definiert und den Gemeinden die aktive Mitwirkung in dieser Angelegenheit aufgetragen wurde. Bekräftigt wurde dies in einer Versammlung der kathol. Vereine Wiens im Rathaus Ende Februar 1920, an der u.a. auch CS-Spitzenpolitiker wie I. Seipel u. L. Kunschak teilnahmen; die Reichspost trat dabei als propagandist. Sprachrohr vom Anfang an und offensiv in Erscheinung; ihr folgten der ›Allgemeine Tiroler Anzeiger‹, die ›Wiener Neuesten Nachrichten‹ oder das ›Grazer Tagblatt‹, während die meisten großen bürgerlichen Ztg. differenzierter dazu Position bezogen. Hinsichtlich des Umgangs mit literarischen Texten bzw. Theateraufführungen erlebte die Debatte 1921 im Kontext des sog. Reigen-Skandals (zuerst in Berlin, dann in Hannover und Wien) einen ersten Höhepunkt. 1922 wurde im Rahmen der Neufassung des Preßgesetzes aus den 1860er Jahren auch eine Bestimmung zum „Schutz der Jugend vor der Schundliteratur“ aufgenommen, der angesichts zeitgemäßer, fortschrittlicher Bestimmungen im Bereich der Meinungs- und Pressefreiheit und der freien Verbreitung von Druckschriften insgesamt, auch die Sozialdemokr. Partei zustimmte. Sie selbst begann ihrerseits unter der Devise der Förderung des „guten Buches“ 1923 eine Kampagne zur Adaption der Schullektüren (u.a. der Verdrängung monarchistischer Verklärungen) sowie zur Hebung eines entsprechenden Leseangebots in öffentlichen Bibliotheken. Auf dem Landesparteitag der Wiener Christlichsozialen im April 1924 wurde der Druck auf die sozialdemokr. Gemeindeverwaltung neuerlich erhöht und zwar durch eine Entschließung, die den Bürgermeister Seitz aufforderte, dass „er endlich mit rücksichtsloser Strenge gegen alle Bestrebungen einschreite, die Jugend durch Schmutz und Schund in Druckwerken, Theatern und Kinos den schwersten sittlichen Gefahren auszusetzen“. Die Spitze richtete sich dabei gegen H. Bettauer und sein Wochenblatt „Er und Sie“, das seit März 1924 im Zentrum einer Auseinandersetzung u.a. auch zwischen Kanzler Seipel und Seitz stand. Eine ähnlich strikte Haltung vertrat auch die Landesgruppe Österreich des ›Deutschen Schriftstellerverband‹ im Okt. 1925 und trat mit einer ähnlich lautenden Entschließung an die Bundesregierung heran (Wr. Ztg. 20.10.1925,5). Im Zuge eines Protests der Sektion Dichtkunst der ›Preußischen Akademie der Künste‹ im Nov. 1926 gegen das im Reichstag verhandelte und dann verabschiedete Gesetz gegen Schmutz- und Schund(Literatur) kochte die Diskussion auch in Österreich wieder auf und stellte die Frage nach der Definition und Anwendungspraxis dieses Begriffs, ferner nach dem Einschluss literarischer Texte, die zugleich als literarisch bedeutende gelten wie z.B. Flauberts Madame Bovary. Die Beschlussfassung in Berlin wurde letztendlich als eine Kapitulation des demokratischen Zentrums (NFP, 15.12.1926; NWJ, 4.12.1926; Die Stunde 15.12.1926, Wr. Morgenzeitung, 16.12.1926) von der liberal-bürgerlichen Presse, als Sieg über „undeutsche“ Entwicklungen im (deutsch)national-konservativen Spektrum angesehen (Grazer Tbl., 7.12. 1926, RP, 4.12.1926, Ybbser Ztg. 11.12.1926 u.a.). Im Vorfeld der Wahlen vom April 1927 wurde das Thema wieder offensiv von der christlichsoz. Partei u. den ihr nahestehenden Gruppierungen aufgenommen, sodass sich erstmals auch die Rote Fahne der KPÖ in die Debatte einschaltete (R.F., 5.4.1927,1-2). Wie abstrus die Auswirkungen dieses Gesetzes in DL waren, zeigte die AZ in einem Beitrag mit Bezug auf die Polemik rund um das Gemälde Christnacht von H. Bosch in der (kathol) Kölnischen VolksZtg. auf, in der das unbekleidete Neugeborene zu heftigen Leserprotesten führte und die Absurdität des Gesetzes, das die Empfindung des ‚Normalmenschen‘ als Richtschnur der Definition vom Schmutz und Schund erhob, deutlich machte. Im März 1928 wurde von der christlichsoz. Abg. Berta Pichl im österr. Bundesrat neuerlich die Frage einer schärferen Fassung der gesetzl. Bestimmungen eingebracht und das Parlament zu einer Gesetzesvorlage aufgefordert. Dieser Vorstoß traf auf einhelligen Protest der diversen Schriftsteller- u. Künstlerverbände, die sich darüber hinaus von den Beratungen ausgeschlossen fühlten u. Widerstand ankündigten, der in einer Resolution vom 16.4. 1928 in den meisten Tageszeitungen auch publik gemacht wurde. BK Seipel lud aufgrund dieser öffentl. Resonanz am 8.6.1928 zu einer Enquete, bei der die verschiedenen Positionen erörtert wurden und auf der die meisten Vertreter aus Literatur und Kunst unter Führung durch E. Lothar, ausgen. allerdings Richard Kralik, für eine Rücknahme der Vorlage und eine Novellierung einzelner Punkte (v.a. die Kolportage betr.) des Preßgesetzes von 1922 als ausreichend argumentierten. Auch A. Schnitzler veröffentlichte in der NFP eine pointierte Gegenposition zum Entwurf. Zwar zog die Regierung nach diesem öffentl. Widerstand den Entwurf zurück, präsentierte ihn aber unter einem anderen Titel Ende des Jahres 1929 neuerlich und setzte ihn im Zuge einer Verschärfung des Preßgesetzes im Dez. 1929 auch durch, wie die RP mit Genugtuung vermeldete. Ein erstes prominentes Opfer dieses neuen (reaktionären) Gesetzes war am 27.2.1930 die linksliberale Ztg. ›Der Abend‹, deren Ausgabe aufgrund des Abdrucks von kritischen Zeichnungen des ungar. Künstlers M. Biro gegen Verbrechen des Horthy-Regimes unter dem Vorwand, dies sei eine Schmutz-Kampagne konfisziert wurde, eine Entscheidung, die postwendend auf öffentlich bekundete Zustimmung durch die christlich-soziale Reichspost stieß.

Literatur:

A. Pfoser: Literatur und Austromarxismus. Wien 1980, Th. Ballhausen: Geschnitten, Verboten, Vernichtet. Notizen zur österreichischen Filmzensurgeschichte. In: Biblos 51(2002), 203-14; D. Heißler: Ernst Lothar: Schriftsteller, Kritiker, Theaterschaffender. Wien 2016, 59-63.

Quellen und Dokumente:

N.N.: Der christlichsoziale Gemeindevertretertag in Linz. In: Reichspost, 28.10.1919, S. 5-6; N.N.: Gegen Schmutz und Schund. Massenkundgebung der katholischen Vereine Wiens. In: Wiener Neueste Nachrichten, 1.3.1920, S. 2; N.N.: Das neue Preßgesetz. In: AZ, 7.4.1922, S. 4-5; Entschließungen (des christlichsozialen Parteitages in Wien). In: Reichspost, 28.4.1924, S. 4;P.G[oldmann].: Das Gesetz gegen Schmutz und Schund. Eine Bedrohung der geistigen Freiheit in DL. In. NFP, 15.12.1926, S. 23; N.N.: Das nackte Jesukindlein. In: AZ, 31.1.1927; S. 6;N.N.: Gegen die Schund- und Schmutzliteratur. Debatte im Bundesrat. In: Der Tag, 24.3.1928, S. 2; Schmutz und Schund. Protestaktion der österr. Künstlerschaft gegen den Regierungsentwurf. In: Der Tag, 17.4.1928, S. 2; Schmutz und Schund. Enquete beim Bundeskanzler. In: Der Tag, 9.6.1928, S. 2; N.N.: Seipels Kampf gegen Schmutz und Schund. In: AZ, 9.6.1928, S. 3; A. Schnitzler: Der Kampf gegen ‚Schund und Schmutz‘. In: NFP, 10.6.1928, S. 10-11; N.N.: Die Neufassung des Preßgesetzes (inkl. Art. gegen ‚Schmutz und Schund‘). In: Reichspost, 3.12.1929, S.2; Strafgesetzbestimmungen betr. ‚Schmutz- und Schund‘. In: Österreichische Buchhändler-Correspondenz, 24.1.1930, S. 2; Die schamlose Konfiskation des Abend. In: Der Abend, 28.2.1930, S.1;

 

(PHK)