Felix Salten: Sieger und Besiegte. Brief an einen amerikanischen Freund (1919)
Kein einziger Mann lebt heute auf der bewohnten Erde, dessen Genie gleichen Schritt zuhalten vermöchte mit der Genialität der Ereignisse. Keiner, der imstande wäre, die Fülle und das rasende Tempo des Geschehens zu bewältigen, die Begebenheiten, durchblickend bis zu ihrem letzten Sinn, zu verstehen, ihre Folgen, verschauend, zu erkennen, oder gar den Gang der Dinge zu lenken. Einzelne Personen besitzen die Macht, aber wie sie von ihnen gehandhabt wird, fehlt dieser Macht die Güte, fehlt ihr die Reinheit, oft selbst die Würde, und daraus allein ergibt sich, wie sehr sie auch jeglicher Größe ermangelt. Das ist ein Unglück, verehrter Freund; nicht bloß für uns, die wir besiegt sind, sondern auch für diejenigen, die, augenblicklich, als Sieger gelten, und somit ein Unglück für diese ganze, verwirrte, bis zu ihrem Grundschlamm aufgewühlte Welt.
Wir alle stehen nicht auf der Höhe unserer Erlebnisse, sondern beträchtlich tiefer. Die Begebenheiten haben uns überrannt sie waren stärker als wir. Ein Bergsturz von Ereignissen, der nun schon seit fünf Jahren, ohne Halten, ohne Pause, mit mehr und mehr anschwellender Wucht auf uns niedergeht, hat uns verschüttet. Wir sind jetzt, nach beinahe fünf Jahren beständiger Katastrophen, in den Nerven, im Fühlen wie im Denken betäubt, gleichviel ob Sieger oder Besiegte, und wir find alle zusammen nicht mehr normal.
Ihr Gedanke, daß die Vertreter des Geistes, die führenden Männer der Wissenschaft, der Kunst und der Technik nach dem Friedensschlusse irgendwo zusammentreten sollen, um in einem Kongreß die zerrissenen Kulturfäden neu zu knüpfen ist sehr schön und sehr verlockend. Vor zwei Jahren, vor einem Jahr, selbst noch vor einem halben Jahr hat man einen ähnlichen Plan auch bei uns erwogen und mancherlei Hoffnung damit verbunden. Seither sind aus dem Westen, besonders aus Amerika, viele schöne Worte und viele verlockende Gedanken zu uns gedrungen. Wir haben ihnen volles Vertrauen geschenkt, vielleicht zu großes Vertrauen: bis heute aber haben wir keine einzige Tat gesehen, noch keine einzige, die all die schönen Worte wahr machen und unseren guten Glauben rechtfertigen würde.
Erblicken Sie immerhin einen Zweifel in dieser Äußerung; er kann und soll nicht geleugnet werden, auch wenn er Sie etwa verstimmt. Denn dieser Zweifel schmerzt diejenigen, die ihn hegen, weit mehr, als er die zu kränken vermag, gegen welche er sich richtet. Bedenken Sie, wie weit die Menschen heute voneinander entfernt sind. Vor fünf Jahren beklagten wir es noch, wie viel Zeit ein Brief nach Amerika brauche, glaubten eine pathetische Wahrheit auszusprechen indem wir sagten, der Ozean liege zwischen uns, und hatten doch, binnen zwei Wochen, auf jede Frage, einer vom andern, die Antwort, hatten doch in unserem Leben, diesseits und jenseits des Ozeans, einen gleichmäßigen Rhythmus, der sich von Ufer, zu Ufer wahrnehmen ließ. Heute trennt uns eine größere Distanz als die Breite der Atlantis; selbst zwischen unseren nahen Nachbarn und uns liegt heute größere Entfernung. Zwischen uns liegt der ungeheure Bann dieser fünf Jahre, liegt das unermeßliche und // unentwirrbare Geschehen und zwischen uns liegen außerdem noch die Folgen einer Absperrung, die in solcher Dauer, in solcher demoralisierender Vollkommenheit, ohne Beispiel ist.
Das Beispiellose, das Niemals-Dagewesene kennzeichnet ja alle Ereignisse, die wir bis heute erlebt haben, und sicherlich alle, die wir in naher Zukunft noch erleben werden. Es ist niemals noch dagewesen, daß der Kulturkomplex der weißen Rasse durch eine eiserne Grenzlinie in zwei Teile zerstückt und daß diese Teile jahrelang einander geschlossen geblieben wären. Jahrelang haben wir nichts voneinander gewußt, als was uns die Generalstabsberichte voneinander erzählten. […] Diese beiden Völkergruppen, zusammen die Führer und Erbauer der Welt, sind seit fünf Jahren gezwungen, ohne einander zu leben, müssen sich daran gewöhnen, ohne einander auszukommen, obgleich das wider ihre Natur geht, obgleich es Verrat an ihrer gemeinsamen Erdensendung bedeutet. Das ist beispiellos und … unverantwortlich.
Als der Krieg ausbrach, sahen und begriffen die edleren Gemüter hüben wie drüben voller Schmerz, daß die Menschen einander noch zu wenig kennen. Die Menschen müssen einander kennen lernen – hüben wie drüben galt das als das höchste Ziel kommender Friedenstage, stand als erstes und wichtigstes Beginnen, als heiligste und eiligste Menschheitsbemühung. Aber wie furchtbar sind wir einander heute entfremdet. Wir verstehen uns weniger als je, kennen uns noch weniger, als wir uns je gekannt haben, und heute, da der Krieg schon drei Monate beendet ist , sind wir im Begriffe, uns mit jedem Tage mehr und mehr voneinander zu entfernen. Arme Soldaten im Feld, die nach dem Kampfe alle Feindschaften beiseite ließen, um einander in Todesnot und Körperqualen Beistand zu leisten, hilflose, arme Teufel, die sich nicht einmal mit Worten, sondern nur durch Blicke, durch Gebärden, oder durch ein Lächeln verständigen konnten, haben für die Annäherung der Menschen in einer einzigen Stunde mehr geleistet, als sämtliche Staatsmänner zusammen in diesen wichtigen drei Monaten auch nur versuchten.
Es ist ja natürlich, dass man bei Ihnen den seelischen und geistigen Zustand, in welchem wir uns während des Krieges befanden nicht verstehen konnte. Auch wir haben den seelischen und geistigen Zustand, in welchem man bei Ihnen lebte, nicht begriffen. Daß wir alle, diesseits und jenseits der Feuerlinie, ganz im Anfang von einem Fieber erfaßt und geschüttelt, von einem Rausch umnebelt und hingerissen wurden, braucht niemand in Abrede stellen, der sich jetzt nicht von Feigheit und falscher Scham zu stotternden Verlegenheitslügen gezwungen sieht. Sie können nun freilich darauf hinweisen, daß wir von unseren Machthabern betrogen und in die Irre geführt worden sind. Aber bei solchem Hinweis, wenn anders Sie sich überhaupt seiner bedienen wollen, müßten Sie fest davon durchdrungen sein, daß man in Frankreich, in England, Italien und bei Ihnen immer nur die volle Wahrheit zum Volke gesprochen hat. Sie müßten überzeugt davon sein, daß Ihre Machthaber heute wenigstens die WahrheitBereits 1895 vom Kantor der sephardischen Gemeinde in Wien, Jakob Bauer, vor dem Hintergrund des anwachsenden Antisemiti... sagen, oder daß sie sie morgen sagen werden.
Vortrefflich, wenn Sie gegründete Ursache zu dieser Überzeugung haben, doch dürfte es Ihnen schwer fallen, sie auch uns zu suggerieren. Denn hierzulande schwindet das Zutrauen in die Gerechtigkeit Ihrer Staatsmänner von Tag zu Tag wie das Licht einer tief herabgebrannten Kerze. Ihre Staatsmänner haben erklärt, daß sie Ordnung stiften wollen, und haben binnen drei Monaten die Welt noch mehr verwirrt, als sie es ohnehin schon war. Sie haben die Menschlichkeit als oberstes Gesetz proklamiert, und obgleich sie seit drei Monaten die unumschränkteste Macht in ihren Händen halten, die es je auf Erden gab, haben sie in eben diesen drei Monaten jedes niedrige Verbrechen gegen die Menschlichkeit geduldet, wenn es (wie in Lemberg, in Marburg, in Posen und an hundert anderen Orten) von ihren Verbündeten begangen wurde. […] Ihre Staatsmänner haben tausendmal beteuert, daß sie uns die Freiheit bringen werden, aber was heute aus den Beratungszimmern, Bankettreden, Manifesten und Geboten dieser Staatsmänner uns anspricht, was jetzt als furchtbare Drohung über uns schwebt, ist eine so harte Knechtschaft, daß der Zwang, den wir von unseren Militärmonarchen erlitten haben, dagegen noch milde erscheint.
Da Sie Deutschland und das ehemalige Österreich-Ungarn aus eigener Anschauung kennen, werden Sie wohl kaum im Zweifel darüber sein, daß es, hier wie dort, eine ungeheure Zahl von Menschen gibt, denen die Sache des Fortschrittes und der Freiheit, die geistige und materielle Erlösung der breiten Masse teuer ist. Wie zahlreich diese Menschen sind und dadurch auch, wie befähigt, die Kraft des Volkswillens zu repräsentieren, hat der rasche, widerspruchslose Sieg der Revolution übrigens hinlänglich bewiesen. Nun, mein verehrter Freund, diese Menschen befanden sich während des Krieges in einem inneren Zwiespalt, den man einen tragischen nennen darf. Eine Niederlage konnten sie ihrem Vaterlande, das sie liebten, keinen Augenblick wünschen. Von einem Sieg aber mußten sie eine ungeheure Verschärfung des militaristischen und monarchischen [?] // fürchten, die brutale Vernichtung aller geistigen Freiheit für lange Zeit. […]
Während der letzten drei Monate ist man sich in Deutschland wie hier über vieles klar geworden. Unzählige Menschen empfinden heute schon die unterwürfige Art, mit der man sich vor der Entente auf die Knie wirft, die Demut, mit der man vor ihr auf dem Bauch kriecht, als widerlich und beschämend. Unzähligen Menschen steht heute schon die Tatsache fest vor Augen, daß wir nicht durch das Schwert besiegt wurden, wie Herr Clemenceau behaupten will, sondern daß wir uns, fasziniert von den vierzehn Punkten, im vollen Vertrauen auf die Verheißungen, die aus Washington kamen, ergaben. Diese Verheißungen haben die Gestalten Hindenburgs und Ludendorffs, an die man nicht mehr glauben wollte, verdrängt und an ihre Stelle die Gestalt Wilsons gesetzt, an den man glauben will. Wenn das feierliche Versprechen der vierzehn Punkte nicht bis in seine letzte Silbe ernst gemeint war, dann sind wir hundertmal ärger betrogen als wir je von unseren Machthabern betrogen wurden.
Alle Träger des Kriegsgedankens, alle Vertreter der Eroberungspolitik sind weggefegt, der Militarismus ist entwurzelt und niemand steht Ihren Staatsmännern jetzt noch gegenüber, an dem die Rache nehmen dürfen. Sie haben erklärt, daß ihr Kampf nicht dem Volk gilt. Nun hat das Volk sich selbst befreit, hat den Krieg, den es verurteilt, beendigt und erwartet sein Heil von diesen vierzehn Punkten. Bis jetzt ist weder von irgendeinem Heil, noch von irgendeinem Punkt auch nur das kleinste Pünktchen zu spüren gewesen. Verdient der Waffenstillstand, zu dem man sich herbeiließ, überhaupt diese Bezeichnung? Die furchtbarste Waffe, wirksamer als alle Tanks und jedes Trommelfeuer, die Blockade, wurde weiter gebraucht. Drei Monate lang, gegen Frauen, Kranke und Kinder. Da schon der Waffenstillstand kein Waffenstillstand gewesen ist, erscheint die Befürchtung leider begreiflich, Völkerbund werde kein Völkerbund, die verheißene Freiheit keine Freiheit und der FriedeWochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur. (1918-19; Reprintausg. 1975) Die im Januar 1918 begründete,... kein Friede sein.
Es gibt Augenblicke, in denen alles Hoffen schwindet. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen in den Tagen, in denen Deutschland den U-Boot-Krieg begann und Amerika sich der Entente anschloß, geschrieben habe, die Lehrbücher künftiger Generationen würden sich wohl schwerlich mit der Aufzählung all der vielen, jetzt so berühmten Schlachten befassten, sondern diesen ganzen Krieg nur als Einleitung zu größeren Katastrophen erwähnen. In diesen Lehrbüchern (schrieb ich damals) wird es ungefähr heißen: der allgemeinen Weltrevolution ging ein Krieg voran, der so und so viele Jahre dauerte. Als dann der Zusammenbruch erfolgte, konnte man noch einiges hoffen. Man konnte hoffen, daß Ihre Staatsmänner einsehen würden, wie sehr eines Tages über die Verbrechen des Krieges hinaus die fabelhafte Leistung des deutschen Volkes sich erheben, wie viel Rum und Bewunderung sie erringen werde. Bedachten sie das, dann schien es ihnen sicher ein unmögliches Beginnen, das deutsche Volk durch einen übermütig diktierten Gewaltfrieden zu erdrosseln. Vieles ist dem Sieger erlaubt, aber er muß sich, wenn er klug ist, davor hüten, für künftige Zeiten Haß gegen sich zu sähen. Alles darf er dem Besiegten zufügen, nur nicht solche Dinge, die unverzeihlich und unvergeßlich sind. Daß es verderblich ist, gefährlich und töricht, einem Volk wie dem deutschen, solche Dinge zuzufügen, daß sich in der Geschichte das Blatt oft fürchterlich wendet, ist Binsenwahrheit. Man braucht dazu nicht einmal die vierzehn Punkte.
Aber vielleicht können Ihre Staatsmänner nicht anders handeln. In dem Rausch, mit dem die Fülle der Macht, die Habgier und die Größe des Sieges sie umnebelt, sind sie schließlich Gefangene der Ereignisse, wie wir alle es sind. Die Zwietracht, die dabei unter ihnen herrscht und die das erfolgreiche Bündnis jetzt schon zu zerreißen droht, verbergen sie umsonst hinter dreimal verschlossenen Türen. Es liegt offen vor aller Augen und dient gleichfalls nur der Erkenntnis, daß die Menschen heute kleiner sind als ihre Erlebnisse. So liegt denn das das Schicksal der Welt jetzt nicht bei der Genialität von einzelnen Auserwählten, sondern bei den Massen. Dieses Schicksal schreitet über die einzelnen wie mächtig sie auch sein mögen, hinweg und muß sich vollziehen. Es hat wohl keinen besonders praktischen Wert, Kulturkongresse gerade in einem Augenblick zu planen, in welchem diese ganze alte Kultur zugrunde geht […]
In: Neue Freie Presse, 2.2.1919, S. 1-3.
Otto Neurath: Weltanschauung und Marxismus
Otto Neurath: Weltanschauung und Marxismus. (1931)
Ist der Marxismus selbst eine Weltanschauung (stützt er sich auf eine ganz bestimmte Philosophie) oder ist er mit deren Lehren verschiedener philosophischer Systeme vereinbar?
Diese Frage setzt stillschweigend voraus, daß es neben wissenschaftlichen Aussagen noch andere sinnvolle gäbe, die mit ihnen sinnvoll verknüpft werden können, die „philosophischen“ oder „weltanschaulichen“. Diese Annahme ist falsch. Es gibt neben der Wissenschaft keine sinnvollen Sätze philosophischer Systeme. Der Marxismus ist als Wissenschaft weder auf eine bestimmte philosophische Grundlegung angewiesen noch hat es einen Sinn, zu fragen, ob er mit verschiedenen Weltanschauungen vereinbar ist.
Es ist insbesondere dem „Wiener Kreissiehe: Wissenschaftliche Weltauffassung
“ um Schlick und Carnap zu verdanken, daß der Nachweis erbracht wurde, man könne nur Scheinsätze neben den Sätzen der Wissenschaft formulieren. Ohne diesen Nachweis hier im einzelnen zu führen, seien seine Grundgedanken kurz dargelegt.
Unter Wissenschaft wird hier ein System von Formulierungen verstanden, das uns die Möglichkeit gibt, Voraussagen über bestimmte Vorgänge zu machen.
Nur solche Voraussagen werden zugelassen, von denen man angeben kann, wie sie bestätigt oder widerlegt werden können. Sagen wir zum Beispiel schönes Wetter voraus, so müssen wir angeben können, was für Kontrollaussagen der Wetterwarten einlaufen müßten, damit die Voraussage als bestätigt gelten soll.
Um zu den Voraussagen zu gelangen, werden die vorhandenen Beobachtungsaussagen gesammelt, Aussagen über Regen und Temperatur, über Luftdruck und // Feuchtigkeit, bis man über Gesetze verfügt (Vorgang der Induktion), die uns die Möglichkeiten geben, durch geeignete Verknüpfungen von Korrelationen Voraussagen zu machen, die dann durch Kontrollaussagen (in A hat es geregnet, in B war Sonne usw.) überprüft werden. […]
Nicht immer kann man über Einzelvorgänge Voraussagen machen, manchmal nur über Gruppen von Vorgängen. Man kann etwa mit genügender Genauigkeit die Sterblichkeit einer Bevölkerung im nächsten Jahr voraussagen, nicht aber, ob ein bestimmter Mensch im nächsten Jahre sterben wird (Statistische Voraussagen).
Die wissenschaftliche Sprache wird so eingerichtet, daß die Beobachtungsaussagen durch Aussagen über eine einheitliche Ordnung ersetzt werden können. In allen wissenschaftlichen Aussagen wird angegeben, wann und wo sich etwas ereignet, wobei die Aussagen eines Blinden, der taub ist, eines Tauben, der blind ist, den gleichen Wortlaut haben. An die Stelle der Worte „periodisch auftretendes Hell und Dunkel“ und der den gleichen Vorgang beschreibenden Worte: „periodisch auftretendes Laut und Leise“ (wenn zum Beispiel ein Blinder mit Hilfe eines Telephons und einer Selenzelle Lichtvorgänge wahrnimmt) tritt eine gemeinsame Formulierung, in der die periodische Schwingung mit ihren sonstigen Eigenschaften ausgedrückt wird; so wie man etwa von einem „Würfel“ spricht, gleichgültig, ob man ein Sehender oder ein Tastender ist. Diese gemeinsame Sprache, die allen Sinnen, allen Menschen gleich gerecht wird, ist die Einheitssprache der Wissenschaft; ist „intersubjektiv“ und „intersensual“.
Am vollkommensten ist diese Sprache in der Physik ausgebildet worden. Sie für alle Disziplinen auszubauen, ist Aufgabe des Physikalismus. Er begründet die Einheitswissenschaft mit ihrem Schatz von Gesetzen, die alle so formuliert werden, das jedes mit jedem kombiniert werden kann. Will man zum Beispiel voraussagen, wie sich ein Volksstamm bei Gewitter benehmen werde, so muß man ebenso die Gesetze des Gewitters wie der Soziologie kennen. Es gibt zwar Gesetze einzelner Wissenschaften, die man aus der Einheitswissenschaft herausschneiden kann, man kann aber nicht jede Voraussage einer bestimmten Wissenschaft zuweisen.
Die physikalische Einheitssprache der Einheitswissenschaft bemüht man sich so aufzubauen, daß Scheinsätze von vornherein ausgeschlossen werden. Eine Rechenmaschine läßt nicht zu, daß man Rot mit fünf multipliziert oder die Tugend aufs Quadrat erhebt. Aber unsere Sprache erlaubt, daß man von einem „Nachbar ohne Nachbar“ spricht, von einem „Sohn, der nie Vater oder Mutter gehabt“. Daß das sinnleere Begriffe sind, sieht man freilich leicht ein, Aber viele Menschen hängen an Begriffen, wie: „Kategorischer Imperativ“, und sehen nicht ohne weiteres ein, daß das eine sinnleere Wortverbindung ist. […] Eine gut gebaute wissenschaftliche Sprache verfügt über eine Syntax, die Scheinsätze, zum Beispiel über das „Nichts, das nichtet“ (Heidegger), von vornherein unmöglich macht.
Die Ausschaltung der Scheinsätze ist sehr wichtig. Aber die dann noch übrigbleibenden Aussagen, die grundsätzlich durch Beobachtungs-// aussagen kontrolliert werden können, können noch immer falsch sein! Die gesamten Sätze primitiver Magie zum Beispiel sind irdisch, durchaus durch Beobachtungsaussagen kontrollierbar, und doch sind nur wenige davon in unserem Wissenschaftssystem wiederzufinden. Das gleiche gilt von astrologischen und anderen Behauptungen. Es bedarf ganz anderer Mittel, um zu zeigen, daß eine durch Beobachtungsaussagen grundsätzlich kontrollierbare Behauptung nicht zutrifft.
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Beschreibt man das Verhalten des Einzelmenschen im Individualbehaviorismus, so beschreibt der Sozialbehaviorismus in der empirischen Soziologie das Verhalten von Gruppen, die miteinander durch Reize verbunden sind. Menschengruppen werden ebenso wie Ameisenhaufen untersucht. Metaphysiker, wie Sombart, möchten freilich die Lehre von den Menschenhaufen in eine grundsätzlich andere Wissenschaftskategorie wie die Lehre von
den Ameisenhaufen verweisen, weil es bei den Menschengruppen ein „Verstehen“ gebe. Es läßt sich zeigen, daß alles, was damit gemeint sein kann, sich auf räumlich-zeitliche Ordnung zurückführen läßt, so daß der Monismus des Physikalismus ungebrochen ist.
[…]
Für die empirische Soziologie ist zum Beispiel die Lehre vom Staat eine Lehre von Soldaten, Richtern, Bürgern, Bauern usw. mit ihren Telephonen, Straßen, Häusern, Gefängnissen, Gesetzbüchern usw. Die Nationalökonomie ist eine Lehre von den Beziehungen zwischen Gesellschaftsordnung und Lebenslagenverteilung.
Der Marxismus ist in diesem Sinne empirische Soziologie. Wer als Marxist nach Korrelationen zwischen den einzelnen soziologischen Vorgängen sucht, bedarf keiner philosophischen Grundlegung. Man mache Voraussagen über das Eintreten von Krisen, Revolutionen, Kriegen, über die Lebenslagenverhältnisse einzelner Klassen! Die marxistische Einstellung zeigt sich darin, welche Korrelationen angenommen werden. Man hebt gewisse Vorgänge als „Überbau“ hervor und stellt fest, wie ihr Auftreten mit bestimmten Vorgängen der Produktionsordnung „Unterbau“ zusammenhängt. Der Marxist wird ganz besonders darauf achten, alle wissenschaftlichen Formulierungen, also auch die eigenen, als Überbau in Abhängigkeit vom Unterbau zu sehen, das heißt, er wird erwarten, daß gewisse Theorien erst dann auftreten, wenn soziale Umwälzungen im Gange sind. Er wird daher von der Umgestaltung der Gesellschaftsordnung Änderung der theoretischen Aussagen erhoffen.
Andererseits ist die Theorie als physikalistisches Gebilde nicht nur Symptom für bestimmte Änderungen der Lebensordnung, sondern selbst ein Faktor dieser Umgestaltung. So ändert man durch Verbreitung bestimmter Lehren die Ordnung, und schafft so neue Grundlagen für den Ausbau der Theorie. So ist im Marxismus Theorie und Praxis— beides als räumlich-zeitliches Gebilde— aufs engste miteinander verbunden. Die bürgerliche Lehre vom „neutralen“ Gelehrten, der „von außen her“ den Ablauf der Ereignisse studiere, fällt damit weg.
Es ist bemerkenswert, daß Marx und Engels, auch darin ihrer Zeit weit vorauseilend, die vielfach metaphysisch gefärbte Sprache ihrer Umgebung dazu verwendeten, um zu modernen Wendungen vorzustoßen, die vielfach geradezu an den Behaviorismus heranführen. (Deutsche Ideologie): „Die Phrasen vom Bewußtsein hören auf. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. Der »Geist« hat von vornherein den Fluch an sich, mit der Materie »behaftet« zu sein, die hier in der Form von bewegten Luftschichten, Tönen, kurz, der Sprache, auftritt. Die Sprache ist das praktische auch für andere, also auch für mich selbst existierende wirkliche Bewußtsein.“
Wer die Traditionen des Empirismus hochhält und sich daran erinnert, daß die Materialisten die hier angedeutete Lehre vorbereiteten, wird sie als „Materialismus“ bezeichnen. Wer sich davor scheut, weil die Kirche den Materialismus verfemte, das Bürgertum ihn verachtet, oder wer sich davor scheut, weil die älteren Materialisten, am Mechanismus festhaltend, nicht ohne gelegentliche metaphysische Exkurse einen Standpunkt vertraten, der gerade der beschwingten geschichtlichen Auffassung des Marxismus Hemmungen bereitete, wird die neutralere Bezeichnung „Physikalismus“ vorziehen.
Marxismus als Wissenschaft macht sinnvolle Voraussagen und enthält sich aller Scheinsätze, er hat daher weder positiv noch negativ mit den Scheinsätzen der Philosophen etwas zu tun, mögen sie wie immer formuliert sein. Um den historischen Anschluß zu gewinnen, mag die Beschäftigung mit philosophischen Lehrmeinungen sehr nützlich sein, aber wenn man einmal unter diesem Gesichtspunkt sich weltanschaulichen Studien zuwendet, ist die Erforschung der Theologie wichtiger, weil sie historisch großen Einfluß ausgeübt hat und ausübt und weil die gesamte idealistische Philosophie abgeschwächte Theologie ist.
Diese völlige Trennung von Marxismus und Weltanschauung sagt aber noch gar nichts darüber, wie sich ein Marxist, der in der Arbeiterbewegung wirkt, nun zu konkreten Vertretern weltanschaulicher Scheinsätze innerhalb der Arbeiterbewegung zu verhalten hat, wie zu den Vertretern der Weltanschauungen außerhalb der Bewegung. Die Arbeiterbewegung faßt Menschen gleicher Klasseneinstellung zusammen. Sie ist darauf aus, bestimmtes klassenkämpferisches Verhalten wichtig zu nehmen, und ist an sich weltanschaulichen Einzelneigungen gegenüber eher tolerant. Es ist geradezu ein Element bürgerlicher Taktik, die weltanschaulichen Unterschiede innerhalb der Arbeiterklasse zu betonen, um so die Klassenfront zu sprengen. Anders freilich steht die Sache, wenn die religiöse Gemeinschaft gleichzeitig politische, antiproletarische Gemeinschaft ist. Aber auch dann sind die marxistisch geschulten Freidenker nicht der unmarxistischen Anschauung, daß durch Aufklärung allzuviel zu erreichen sei, sie begnügen sich vielmehr meist damit, die Glaubenslosen zu sammeln und nur zu verhindern, daß die Kinder wieder von Jugend an einer sehr oft antiproletarisch verwerteten religiösen Erziehung ausgesetzt sind. Auch die idealistischen Philosophen treten vielfach, wenn auch unbewußt, als Werkzeuge antiproletarischer Mächte auf und können zu einer Bekämpfung im Interesse proletarischer Entfaltung herausfordern.
Innerhalb der Arbeiterpädagogik kann die Toleranz gegenüber idealistischer Philosophie manchmal dazu führen, daß die Jugend bürgerlicher‘ Ideologie näher gebracht wird, als durch die Zeitumstände ohnehin geschieht. Aber das sind Einzelprobleme, deren Beantwortung durch die Situation des Klassenkampfes bedingt ist, nicht aber durch die theoretische Einsicht, daß der Marxismus als Wissenschaft mit Weltanschauung weder positiv noch negativ irgend etwas zu tun hat.
In: Der Kampf 10 (1931), S. 447-451.
Else Feldmann: Umherziehende Kinder.
Ein grauenhaftes Schauspiel kann man jeden Nachmittag in der Kärntnerstraße und am Ring sehen. Eine Völkerwanderung von Kindern zieht aus Favoriten, Meidling, Ottakring, Hernals, der Brigittenau und andern Gegenden in die Innere Stadt ein.
Die Kinder verdienen durch Bettel und Prostitution vierzig bis fünfzig Kronen täglich: aber sie kaufen sich keine Stiefel oder Kleider, sie betteln sich kleine Vermögen zusammen;
aber sie werden nach wie vor zerrissen und barfuß herumlaufen; die Lumpen sind ein notwendiges Requisit ihres Geschäftes, und sie werden sich davor hüten, sie abzulegen.
Jetzt erst kommt alles angeschwommen, was die viereinhalb Jahre Morden aus Völkern gemacht haben.
Wie eine Karikatur, wie ein Verhängnis, gegen das es nichts gibt, sind die Kinderhorden anzusehen, die in keine Schule gehen, sondern mit ihren Geschwistern und Kameraden ausziehen, Geld zu suchen. Die Mütter – Väter gibt es fast keine – haben die Jahre hindurch alle Demütigungen und Erniedrigungen ertragen. Sie mußten sich auf der Straße anstellen, um die paar Kronen für den Kopf ihrer Männer; mit diesem Gelde mußten sie sich weiter die Nacht hindurch auf dem kalten Pflaster, um das bißchen elender Nahrung herumwälzen; der kleine Greisler konnte sie nach Belieben hinauswerfen; der Kohlenhändler konnte ihnen nach Laune Kohle verkaufen oder auch nicht. Die Mütter sahen langsam ihre Kinder in langen, elenden und verschärften Leiden zugrunde gehen. Zuerst kam die Vernachlässigung des Körpers. Ich habe Arbeiterfrauen gesehen, die ihre Kinder jede Woche zweimal badeten. Sie hätten sich lieber die Finger weggehackt, ehe sie sich von der Nachbarin hätten nachsagen lassen, ihre Kinder wären schmutzig. Dieselben Mütter mußten es ertragen, daß in dem kalten Winter, wo man keine Kohlen, kein Licht, keine Seife hatte, die Kinder infolge Unreinlichkeit massenhaft an Hautausschlägen (Scabies) erkrankten.
Durchschnittlich jedes zweite Kind hatte Scabies, und da diese Krankheit sehr leicht übertragbar ist, auch auf Erwachsene, kam es zu einer Epidemie, von der nur deshalb nicht viel in der Öffentlichkeit verlautete, weil sie ja nicht lebensgefährlich, bloß eine Pein mehr für die Armen war.
Dann war noch da das Hungern und mit ihm der moralische und sittliche Verfall der Kinder; das Stehlen, Eingesperrtsein der Jugendlichen, die Prostitution der jugendlichen Mädchen aus Not. In den Syphilisspitälern gibt es in einem Jahr tausende junge Mädchen und Burschen, darunter erschreckend viele unter vierzehn Jahren. Das Asylspital hat einen ständigen Belag von über vierhundert jugendlichen Prostituierten. Man bedenke, was das allein für die Fortpflanzung heißt. Es sei nicht zu verkennen, daß, aus der Not heraus, einige ganz gute Einrichtungen geschaffen wurden; besonders drei wären lobend hervorzuheben: die Jugendgerichtshilfe, die Tagesheimstätten und die Waldschule. Aber ist dies mehr, als ein Tropfen auf einem heißen Stein? Es ist und bleibt bei allem guten und besten Willen ein armseliges, bejammernswertes Dilettantentum der Kinder- und Jugendfürsorge.
Wer hat daran ein Interesse, daß die Kinder nicht verkommen, sondern tüchtige und brauchbare Menschen werden? Vor allem doch der Staat. Wie darf also der Staat die Kinderfürsorge zum größten Teil noch immer der privaten Wohltätigkeit überlassen? Bürgerliche Frauen, freiwillige Kräfte, und wenn sie das Muster von Frauen wären, taugen im allgemeinen nicht dazu. Nur geschulte, herangebildete Pädagogen, Menschen mit Herz und Verstand, staatlich angestellte, gut bezahlte – damit sie den Idealismus nicht verlieren – mit Pflichtgefühl und sozialer Einsicht, die besten Menschen, die wir haben, müssen herangezogen werden zur Kinder- und Jugendfürsorge, und niemals Frauen, die einem einsamen Tag, leeren Stunden entrinnen möchten! //
Denn dabei kann nur wieder etwas Halbes herauskommen, und die Halbheiten sind es, die uns zugrunde gerichtet und auf den Bettelstab gebracht haben; wir müssen für immer mit ihnen aufräumen.
Es ist vollkommen sinn- und Zwecklos, wenn unsere Politiker jedes Selbstbewußtsein verlieren und wie trostlose Melancholiker, wie Hysterische sich zusammensetzen und über unseren Untergang jammern.
In den Tagen des August 1914 hörte man von allen Leuten: wir müssen den Krieg haben; alle Klassen, reich und arm, jung und alt, Mann und Frau schrien sich gegenseitig zu: wir müssen Krieg haben! Hurra, der Krieg! Literaten, Künstler, Poeten, Philosophen, die etwas auf sich hielten, sie alle schrien: Hurra den Krieg! Die Sozialdemokratie schrie: Hurra, in den Krieg! — Vergessen waren die treuen Gelöbnisse, vergessen waren die Brüder in Frankreich, in England, in Rußland, die arbeitenden Menschen aller Länder, die Brüder eines Gedankens, einer Seele.
Und so schreien sie heute: Wir sind ein unglückliches Land, wir sind bankrott, wir müssen uns beugen, wir müssen uns am allertiefsten erniedrigen, wir müssen den letzten Rest Ehrgefühl preisgeben.
Nein, es ist nicht wahr; wir müssen uns nicht beugen und erniedrigen, oder wenn wir es müssen, dann können wir es sozusagen praktisch, aber ideell müssen wir es nicht. Auf unseren Idealismus, auf unser Menschensein dürfen wir nicht verzichten. Gewiß, wir müssen essen, und wir müssen uns dieses Essen durch Demütigung verdienen. Aber nicht allein vom Essen können wir leben, wir brauchen noch andere Güter, wir brauchen die Idee, wir brauchen das Menschentum, wir brauchen Begabung, Tüchtigkeit, den Keim des Guten und Wahren im Volke.
Wenn unsere Regierung aber zusieht oder sich blind stellt, wie die Kinder, durch die Verhältnisse böse und schlecht geworden, durch Not und Entbehrung bestialisch und verbrecherisch, zerrissen und zerlumpt durch vornehme Straßen ziehen, um Geld zu suchen, so kann sich diese Regierung die Folgen selbst zuschreiben, wenn in wenigen Jahren ein Geschlecht von Verbrechern herangewachsen sein wird. Wenn sie in einigen Jahren – statt jetzt die Kinder zu sammeln und Baracken und Waldschulen zu errichten, wo nur ein freies Plätzchen ist – die Zuchthäuser, die Korrektionsanstalten, die Spitäler werden hinstellen müssen.
Die Mütter, die jede Liebe, jede Scham, jeden Stolz in diesen Jahren des Leidens und Duldens verloren haben, schicken heute selbst ihre Kinder auf die Straße, damit sie betteln; der reiche Erlös lockt auch die anderen an; es werden immer mehr und mehr, die ausziehen, einer Heuschreckenplage vergleichbar. Schaue einem solchen Kind, das dich anbettelt, in das Gesicht, und du wirst erschrecken, wenn du zu sehen verstehst. Sie fühlen sich wie erlöst. Sie sind unbändig frei, glücklich, seit sie auf die Straße gehen und Geld bekommen, ohne zu arbeiten – aber langsam fault alles, was bisher noch rein und kindlich in ihnen war; langsam zerfrißt wie von einer Säure alles, was noch menschlich in ihnen war. Ärger als der Krieg, als die Verstümmelten, Verkrüppelten, Blinden sind die bettelnden Kinder der Straße; sie sind wie freigelassene Wahnsinnige mit ihren entsetzlichen Trieben, die in den Kellerwohnungen bei den Ratten Keime in sich ausgenommen haben, die sich vor dem Grand Hotel entwickeln und in kurzer Zeit zu einem erschreckenden Bild von Riesengröße gestaltet haben werden.
Die Regierung muß ein Mittel finden, Kinder vom Hausieren mit Blumen und anderen Dingen, Betteln und Zeitungskolportage zu entfernen. Eine Regierung muß die Macht und Kraft haben, etwas so Entsetzliches, wie es die umherziehenden Kinder sind, sofort abzustellen, will sie nicht warten, bis diese ihr über den Kopf wachsen.
In: Neues Wiener Journal, 25.5.1919, S. 8-9.
Hermann Bahr: Amerika, du hast es besser!
Gern wird der Goethespruch zitiert:
Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern
Zu lebendiger Zeit
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.
Aber klingts nicht eigentlich höchst seltsam und befremdend in Goethes Mund gerade, des allem Vulkanischen abgesinnten, nur ‚ruhiger Bildung‘ vertrauenden, im Grunde stets bedächtig konservativen Mannes, der nicht aufhört, allem ‚Sansculottischen‘ ingrimmig zu widerstreben und der Überhebung spottet, die so gern, ‚ganz original‘ und ‚Autochtone‘ wäre, nicht ahnend, daß jeder, wer es auch sei, doch immer, wie er sich auch wehren mag, selber auch schon ‚Überlieferung‘ ist? Der alte Herr, sonst so feierlich, sich den Forderungen „lebendiger Zeit“ leidenschaftlich unwirsch verschließend, selber „unnützes Erinnern“ mit zur Vergangenheit abgewendeter Andacht ehrfürchtig hegend, wie kommt er auf einmal zu so jugendlich dreist auf die Gegenwart dringender Vermessenheit, wenn er sie freilich gleich selber, wie vor den eigenen Worten, bevor sie noch ganz ausgesprochen, erschreckend, schon halb wieder zurücknimmt, indem er sie, sich zu den „Kindern“ wendend, bloß auf das „Dichten“ einzuschränken scheint?
Er kam dazu durch Nachsinnen über „wunderbare Verhältnis des inneren produktiven Sinns zu dem praktisch äußeren Tun“: der Dichter, der sich, nach unmittelbarem Ausdruck seiner Erinnerung ringend, dabei fortwährend durch „unnützes Erinnern“ an Überlieferung gestört fühlt, indem ihm Überlieferung Fremdes in sein Eigenes mischt, der Dichter ist es, der in dieser Qual aufschreit, und mit den „Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten“, vor denen er die Kinder beim Dichten durch ein gut Geschick bewahrt wissen möchte, meint er, was wir höflicher die „literarische Tradition“ zu nennen gewohnt sind.
Zwar als Einfall, als erster Gedanke, taucht der Neid auf, Amerika, das es so viel besser hat als das abendliche Geschlecht von Erben, schon acht Jahre vor dem Gedicht auf. Im Nachlasse Goethes ist ein Foliobogen gefunden worden, überschrieben „Aufblühender Vulkanismus“, datiert vom September 1819, da hat er notiert: „Eines verjährten Neptunisten Schlußbekenntnis. Abschied von der Geologie….Nordamerikaner glücklich, keine Basalte zu haben, keine Ahnen und keinen klassischen Boden“; er hätte das eigentlich auch nennen können: Eines verjährten Klassizisten Schlußbekenntnis! Aber zunächst blieb das noch jahrelang ein bloßes Aperçu, zum Gedicht ward’s ihm erst 1827, da fälltes im Briefwechsel mit Zelter auf einmal gereift vom Baume seiner künstlerischen Erkenntnis. Dieser Briefwechsel ist ja überhaupt ein einziges langes Zwiegespräch von der Kunst, in das nur immer wieder Tageswünsche, Tagessorgen wunderlich hineinrufen. Um jene Zeit ist eben Georg Zelter der letzte Sohn des tapferen Musikanten, gestorben, und den Vater bohrt der Schmerz noch tiefer ins Studium der griechischen Tragiker, er liest hintereinander die beiden Ödipus des Äschylos Sieben vor Theben und Antigone, die Schutzflehenden und den Agamemnon, liest dazu noch auch den Aristoteles wieder und, vielleicht selber im Stillen verwundert über die nie versagende tröstende Kraft der Alten, ruft er dann aus: In Summa (wenn ich dich und mich selber verstehe), aller Zweck der Kunst ist die Kunst selber, so auch das Kunstwerk.“ Und als Kommentar zu diesem so bedenklich artistisch klingenden Satz gibt ihm nun Goethe die Antwort: „Ich sagte neulich: Il faut croire à la simplicité, zu deutsch: Man muß an die Einfalt, an das Einfache, an das urständig Produktive glauben, wenn man den rechten Weg gewinnen will. Dieses ist aber nicht jedem gegeben: Wir werden in einem künstlichen Zustande geboren und es ist durchaus leichter, diesen immer mehr zu bekünsteln, als zu dem Einfachen zurückzukehren.“ Das faßt Zelter hinwieder sogleich in der vollen Bedeutung auf und erläutert, was Goethe allgemein aussprach, nun an einem besonderen Fall, an // seinem geliebten Johann Sebastian Bach, dessen „Originalität“, so bewundernswert in ihrer unerforschlichen Fülle, dennoch habe „dem Einflusse der Franzosen, namentlich des Couperin, nicht entgehen können“. Das Thema des „unnützen Erinnerns“ ist damit angeschlagen […]
Hat es denn nun aber Amerika wirklich besser?
Was Goethe damals an Amerika besang, davon hat es damals selbst noch lange keinen Gebrauch gemacht: denn Walt Whitman war ja damals erst ein Bub von acht Jahren und bis zu seinen Leaves of grass, die 1855 erschienen, hat Amerika ganz einfach unserem Kontinent, dem alten, nur immer schön brav nachgedichtet und seine Kinder blieben keineswegs durch ein gut Geschick bewahrt vor Ritter-, Räuber und Gespenstergeschichten, denn bis zu en Leaves of grass war alle Dichtung Amerikas nichts als aufgewärmtes Englisch, von ergreifender Schönheit zuweilen, doch ohne jeden Hauch des „urständig Produktiven“, im Grunde durchaus nur aufgeschwappte Diktion Englands und überhaupt bloß englischer Schaum ohne jeden eigenen Gehalt, ohne Spur eines amerikanischen Grundelements. Dieses fuhr erst aus jenem gewaltigen
One’s Self I sing – a single separate Person
Yet utter the word Democratic, the word En masse,
mit dem die Leaves of grass anheben, aus jenem zu den Sternen aufjauchzenden Ausbruch:
Of Life immens in passion, pulse and power,
Cheerful – for freest action form’d, under the laws divine,
The Modern Man I sing
mit einem solchen Donnerschlag in die Welt, daß man meinen möchte, Goethe selbst in seinem merlinisch leuchtenden Grab müsse noch freudig erschreckter erstaunend aufgehorcht haben, denn einen Urlaut des urständig Produktiven von solcher Urgewalt hatte ja das Abendland seit den Zeiten des Volksepos nicht mehr vernommen. Welchen Gebrauch aber hat Amerika selber von Walt Whiteman gemacht?
Zunächst eigentlich gar keinen. Emerson, der freilich dieses „Ungetüm, ein Ungetüm von nie gesehener Art,mit schrecklichen Augen und Büffelkraft, aber unleugbar ameri-// kanisch“ sogleich in seiner ungeheuren Schönheit erkannte, wurde daheim kaum gehört, und nur unter dem Druck der wachsenden Bewunderung in England entschloß sich Amerika, seinem ersten Dichter schließlich wenigstens ein grandioses Leichenbegängnis zu bereiten. Dann aber blieb es lange drüben wieder still, während in England, Frankreich und Deutschland Macht und Ruhm der »Grashalme« mit jedem Jahre mehr verlauteten. In England warben so mächtige Fürsprecher wie Rosetti, Swinburne und Buchanan für ihn, den Deutschen ward er 1868 durch einen schallenden Ruf Freiligraths in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ bekannt, die erste deutsche Übersetzung der Grashalme erschien freilich erst 1889 bei dem guten alten Schabelitz in Zürich, der Hebamme jeder literarischen Verwegenheit um jene Zeit, und ebenso seit den achtziger Jahren wirkt Whitman auch auf Frankreich, ein Franzose ists, Léon Bazalgette, dem wir das tiefste Buch über Whitman verdanken: der erste Teil, Walt Whitman, L’homme et soin Œuvre, ist schon 1908, der zweite, ,Le Poème Evangile de Walt Whitman, eben jetzt erschienen, beide im Verlag des Mercure de France. War aber in Amerika selbst keine Wirkung Walts vernehmlich? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß, als ich vor bald zwanzig Jahren in einer rheinischen Stadt über Whitman sprach, nach meinem Vortrag eine junge Amerikanerin von rauschender Schönheit und heute noch in meiner Erinnerung fortleuchtenden Augen auf mich los stürzte, stürmisch begeistert, mir enthusiastisch dankend, dann aber auf einmal zutraulich treuherzig fragend, ob es denn. eigentlich diesen Dichter auch ,,wirklich« gegeben, ob er nicht bloß von mir erfunden, denn sie habe daheim den Namen noch nie gehört, und es könnte ja sein, daß ich mir nur einen Spaß gemacht und ein lustiger »Swindler«, oh, ein sehr angenehmer!, wäre.
Von Whitman vernahm die Welt zum erstenmal den Urlaut Amerikas (denn Edgar Poe war von einer Höhe der Einsamkeit, in der jede Spur der eigenen Zeit wie des eigenen Stammes verlischt, sozusagen das absolute Nichtsalsgenie, fast unheimlich in seiner völligen Isoliertheit von allen zeitlichen wie persönlichen Zügen), von Whitman empfing Amerika sich selbst, mit den Leaves of grass ward die Dichtung Amerikas geboren, es konnte jetzt eine Kunst ohne jeden „Schaum“, von allen Einwirkungen fremder „Diktion“ frei, nirgends „bekünstelt“, in unschuldiger Selbstherrlichkeit erwachsen. Ist sie’s? Aus unserer Ferne läßt sich jedenfalls keine gewahren. Die sichtlichen Dichter der Völker sind allerdings ja nicht immer die wahrhaftigen; diese kommen oft erst lange nach ihrer Zeit zum Vorschein, sie sind ihr zu weit voraus: wieviel wissen denn heute, ob in fünfzig Jahren Brezina der größte Dichter unserer Zeit sein wird? Unter den sichtlichen Dichtern Amerikas von heute, die Claire Goll uns jetzt in ihrer Anthologie jüngster amerikanischer Lyrik Die neue Welt (S. Fischer Verlag, Berlin, 1921) bringt, fand ich keinen, der bewiese, daß es Amerika wirklich besser hat. Man spürt freilich die Wirkung Whitmans sehr, aber so sehr, daß nun auch aus ihr wieder nur ein „Schaum“, eine bald jedermann geläufige „Diktion“ wird, und wenn sie sich mit Whitman „bekünsteln“, ist das Natur?, wenn man ihnen den Zwang, den sein gewaltiges Vorbild ausübt, anmerkt, ist das Freiheit? Und man wird sehr nachdenklich, wenn man bemerkt, daß die schönsten Stücke dieser Sammlung Volkslieder von Indianern sind: sie schlagen an Unmittelbarkeit der Eingebung und an Gewalt des Ausdrucks alle Künste der „gebildeten“ Dichter, und wo von diesen einer einmal einen bezwingenden Ton hat, stellt sich heraus, daß es im Grunde der Ton Whitmans oder von Indianern ist. „Die heiligen Lieder,“ erzählt Claire Goll von den Indianern „darf nur der singen, dem sie von Geistern mitgeteilt wurden.“ Ja das wär’s eben offenbar! Aber in Ländern mit Literaturen, scheint’s, teilen die Geister nichts mehr mit, die Geister verstummen und darin hat es jetzt auch Amerika nicht mehr besser!
In: Neue Freie Presse, 4.12.1921, S. 1-3.
Roda Roda: Zwei Planeten.
Die Interviewer kamen und gingen wieder. Jeder redete zu mir. Und ob ich nickte oder verneinte – ganz gleich – jeder schrieb, was er selbst gesagt hatte, als meine Meinung nieder. Nachdem der zwölfte Interviewer gegangen war, trat eine kleine Pause ein. Ich wartete unruhig auf den dreizehnten. Vergebens, er blieb aus. Da beschloß ich, mich selbst zu interviewen. Ich habe es nun schon so oft mitgemacht – ich weiß, wie man es anstellt.
Herr Roda, sind Sie schon lange in Amerika?
Drei Monate, Mister… Verzeihen Sie, ich habe Ihren Namen nicht verstanden; ich weiß nur, daß darin etliche lange – oa – vorkommen.
Wollen Sie noch eine Zeitlang bleiben?
Bis ich mich unmöglich gemacht habe. Also etwa fünf Wochen, schätze ich. So lange hat man mich bisher noch überall geduldet.
Gefällt Ihnen Amerika?
Wie originell Sie fragen! Es geht mir hier wie dem türkischen Eulenspiegel Naßreddin. Er lag zu Bett und schlief. Da träumte ihm, sein Nachbar zahle ihm neun Groschen auf die Hand. „Gib mit auch den zehnten,“ bat Naßreddin. Der Nachbar weigerte sich und sie stritten. In der Erregung des Streits erwachte Naßreddin und fand seine Hand leer. Rasch schloß er die Augen wieder: „Laß sein, Nachbar, ich begnüge mich schon mit neun Groschen.“ – Auch mir scheint Amerika wie ein schöner Traum. Ich fürchte zu erwachen und wieder in Europa zu sein.
Demnach befinden Sie sich in Amerika sehr wohl?
Es ist ein grundsätzlicher Irrtum der Geographie und eine Pedanterie unsrer europäischen Schulmeister, Amerika einen andern Erdteil zu nennen. Amerika ist ein anderer Planet. Eure Technik, euer Optimismus, eure Arbeitskraft – schön und großartig. Ich glaube auch wenn ihr Dummheiten macht, müssen es kapitale Dummheiten sein.
Oh!
Widersprechen Sie nicht! Alles ist imposant. Schon die Einwohnerzahlt von New York: 20 Millionen.
Wie kommen Sie zu dieser Ziffer?
Durch Addition natürlich. Es war ein Italiener bei mir der sagte, es gäbe hier 20% Italiener, anderthalb Milliionen. Ein Jude gab anderthalb Millionen Juden an. Dann Deutsche, Russen, Skandinavier, Franzosen, Tschechen, Südslaven, Rumänen… von allen gibt es hier mir als in irgendeiner Stadt Europas. Wenn Sie alles zusammenrechnen, finden Sie, daß New York über 300 Prozent Einwohner hat, insgesamt 20 Millionen.
Einige New Yorker sind doch auch hier geboren.
Die hatte ich vergessen. Dann geht die Rechnung noch höher. Hier reicht eben alles in den Himmel – nicht nur die Paläste. Es ist hier ein Schlaraffenland. Candys, Candys aller Ecken, und immer neue Läden entstehen; in längstens drei Jahren wird New York eine einzige Konditorei sein. – Dies Land verblüfft mich immer mehr. Ihr habt Elevators, die fahren; die Zentralheizung gibt Wärme – Wunder für einen Europäer. – Ich weiß mich hier gar nicht zu benehmen. Man gibt mir einen zugeschnürten Packen in die Hand; ich versuche die Schnur zu zerreißen, wie man das bei uns immer mit zwei Fingern macht; zu meinem Erstaunen aber reißt die Schnur nicht; da zücke ich mein Messer, und es zeigt sich, daß die amerikanische Schnur härter ist als das Messer. – Eurer Leder kommt aus der Gerberei; unseres aus der Papierfabrik. Eure Butter kommt vom Land. Eure Kartoffel sind nicht faul. Und ihr habt Fleisch, das man schneiden kann. Die Milch hier ist durchsichtig. Ihr habt Kaffee aus Bohnen. Wenn Schnee in New York fällt, ist er schwarz: nicht einmal der Schnee in Amerika ist wie bei uns. – Was ihr Verkehr nennt, hieße bei uns schon Panik. – So elegant wie bei euch die Tippmamsellen sind bei uns nur die aktiven Prinzessinnen – und Sie wissen, daß die meisten Prinzessinnen nicht mehr aktiv sind. – Es ist wahr, manches bei euch mutet uns sonderbar an. Ihr alle seid polizeilich gar nicht gemeldet, und eure Polizisten tragen keine Waffe; der Kirchturm ist das niedrigste Gebäude der Stadt; dafür treibt die Kirche Lichtreklame; man zündet Licht nicht an, um zu sehe, sondern um beachtet zu werden; der drahtlose Telegraph ist das Spielzeug eurer Kinder; die Kinder befehlen; der Vater kocht und putzt der Frau die Stiefel. – Amerika ist das Land, wo man liegend rasiert wird, stehend ißt und von der Tagesarbeit ausruht, indem man stundenlang einem kleinen Ball nachläuft. Man behält hier in der Eisenbahn den Hut auf und nimmt ihn im Fahrstuhl ab; elf Greise entblößen die Häupter, wenn ein zehnjähriges weibliches Rotznäschen in den Fahrstuhl tritt. Dafür gibt es hier auf der Straße keine Hunde, Sperlinge und Kinderwagen; bei uns genießen die Hunde öffentliche Freiheiten, die keinem Menschen zustehen. – Komisch ist euer Wetter: ihr habt von Jänner bis Juni April. Auch in Venedig ist es naß; dort gibt es aber Gondeln.
Sie sprachen von Dummheiten. Meinten Sie die Prohibition?
Habt ihr Prohibition? Verzeihen Sie – ich bin erst drei Monate im Land – da hatte ich es noch nicht bemerkt.
In Deutschland trinkt man wohl immer noch viel?
Meist Tee. Man macht Tee bei uns, indem man Heu in lauwarmem Wasser wäscht.
Demnach eine neue Industrie?
Ja, manche Industrien in Deutschland blühen. Es erzeugt zum Beispiel unsre Reichsdruckerei mehr Banknoten als irgendeine Anstalt auf Erden. In der vorigen Woche entstanden soviel Banknoten, daß man nur ein Band aus ihnen zu bilden brauchte, und man konnte es um die ganze Erde wickeln. In dieser Woche ist der Rekord gebrochen wurden; die Banknotenerzeugung reichte dreimal um den Mond. Eine achtunggebietende Leistung. Da kommt ihr nicht mit.
Sie haben darum auch die große Teuerung in Deutschland.
In New York ist alles viel teurer. Ein Mantel kostet hier neunzig Dollar. Das sind zwölf
Millionen Dollar…Dafür kaufe ich mir in Deutschland ein Landhaus, nehme eine Hypothek darauf und schaffe mir aus der Hypothek einen Mantel an. – Allerdings steigen bei uns die Preise von Tag zu Tag. Ich habe eine interessante Erfindung gemacht. Bisher mußte ein Kaufmann bei uns einen Mantel ins Schaufenster hängen und infolge des sinkenden Markkurses den Preis stündlich ändern. Wie viel Mühe macht das bei soviel Mänteln! Ich habe nun eine Uhr konstruiert, die den Preis angibt und selbständig jede Stunde um 10.000 Mark hinaufspringt. Ein Mantel, der heute 240 Tausend Mark kostet, kostet morgen das Doppelte.
Schweres Leben in Deutschland.
Verschieden schwer – je nach Ständen. Wer von seinen Kapitalzinsen zehren muß, hungert, // das ist klar – denn die Kaufkraft des Geldes sinkt ja so sehr. Anders die Arbeiter: sie hungern, weil ihre Löhne nicht Schritt halten mit der Markentwertung. Bei dieser Sachlage können die Intelligenzberufe unmöglich gedeihen. Die Dichter, zum Beispiel … es kostet das einfache Bespannen einer Leier mit fünf Saiten schon fünfzigtausend Mark; das kann sich ein Dichter nicht leisten. Darum gibt es auch keine weichen Gefühle mehr in Deutschland. – Am besten haben es noch die Ärzte. Zwar gehen sie müßig, weil niemand Zeit hat, krank zu sein – doch die Ärzte verkürzen sich das Warten auf Patienten sehr angenehm, indem sie einander telephonisch nach ihrem Befinden befragen – in der Hoffnung, eine Todesnachricht zu hören – wodurch sich der Konkurrenzkampf etwas mildern würde.
Eure Staatsmänner?
Wir sind bereit, euch 10 davon zu schicken, wenn ihr uns im Austausch dafür ihr Gewicht in Speck und weißen Bohnen gebt. Graf Lerchenfeld wiegt 160 Pfund.
Sind auch die Rechtsanwälte brotlos?
Sie haben alle Hände voll zu tun mit der Scheidung der Kriegsehen. Man plant jetzt ein Gesetz, das die erste Ehe jedes Menschen überhaupt für ungültig erklären soll. Es wäre eine große Zeitersparnis für die Gerichte.
Und nach diesem Europa wollen Sie zurückkehren?
Gern – ich habe ja meine Familie dort. Ich bin achtzehn Jahre verheiratet – unsere Ehe ist die älteste Künstlerehe der Welt. Und ich beabsichtige, die Ehe fortzusetzen. Wie meine Frau im Augenblick darüber denkt, weiß ich allerdings nicht: ihr Kabel von gestern abend war noch sehr zärtlich.
Sie leben in München?
Ganz richtig. Einstweilen sind die Franzosen noch nicht da. Die Franzosen wollen, wie man hört, aus dem Ruhrgebiet zunächst nach Berlin vorstoßen, um es zu besetzen, und hierauf nach Wladiwostok weitergehen. Dann kommt wohl ihr Amerikaner daran. Das kann noch Monate dauern. Marschall Foch soll sich mit dem Einmarsch in New York nicht beeilen – sonst kommt er mit seinen Truppen hier im Hochsommer an, wo alle besseren Menschen in den Seebädern sind.
Der Interviewer sieht nach der Uhr. Ich merke, ich habe seine Geduld erschöpft und drücke ihm zum Abschied warm die Hand.
„Mein Herr“, sage ich ihm, „Sie können ruhig behaupten, eine Stunde mit dem größten Satiriker Deutschlands verplaudert zu haben. Meine Kollegen sind nämlich zur Zeit so beschäftigt mit Selbstanbetung, daß sie meine Überhebung gar nicht merken werden.“
In: Prager Tagblatt, 12.8. 1923, S. 3-4.
Felix Salten: Sieger und Besiegte. Brief an einen amerikanischen Freund
Felix Salten: Sieger und Besiegte. Brief an einen amerikanischen Freund (1919)
Kein einziger Mann lebt heute auf der bewohnten Erde, dessen Genie gleichen Schritt zuhalten vermöchte mit der Genialität der Ereignisse. Keiner, der imstande wäre, die Fülle und das rasende Tempo des Geschehens zu bewältigen, die Begebenheiten, durchblickend bis zu ihrem letzten Sinn, zu verstehen, ihre Folgen, verschauend, zu erkennen, oder gar den Gang der Dinge zu lenken. Einzelne Personen besitzen die Macht, aber wie sie von ihnen gehandhabt wird, fehlt dieser Macht die Güte, fehlt ihr die Reinheit, oft selbst die Würde, und daraus allein ergibt sich, wie sehr sie auch jeglicher Größe ermangelt. Das ist ein Unglück, verehrter Freund; nicht bloß für uns, die wir besiegt sind, sondern auch für diejenigen, die, augenblicklich, als Sieger gelten, und somit ein Unglück für diese ganze, verwirrte, bis zu ihrem Grundschlamm aufgewühlte Welt.
Wir alle stehen nicht auf der Höhe unserer Erlebnisse, sondern beträchtlich tiefer. Die Begebenheiten haben uns überrannt sie waren stärker als wir. Ein Bergsturz von Ereignissen, der nun schon seit fünf Jahren, ohne Halten, ohne Pause, mit mehr und mehr anschwellender Wucht auf uns niedergeht, hat uns verschüttet. Wir sind jetzt, nach beinahe fünf Jahren beständiger Katastrophen, in den Nerven, im Fühlen wie im Denken betäubt, gleichviel ob Sieger oder Besiegte, und wir find alle zusammen nicht mehr normal.
Ihr Gedanke, daß die Vertreter des Geistes, die führenden Männer der Wissenschaft, der Kunst und der Technik nach dem Friedensschlusse irgendwo zusammentreten sollen, um in einem Kongreß die zerrissenen Kulturfäden neu zu knüpfen ist sehr schön und sehr verlockend. Vor zwei Jahren, vor einem Jahr, selbst noch vor einem halben Jahr hat man einen ähnlichen Plan auch bei uns erwogen und mancherlei Hoffnung damit verbunden. Seither sind aus dem Westen, besonders aus Amerika, viele schöne Worte und viele verlockende Gedanken zu uns gedrungen. Wir haben ihnen volles Vertrauen geschenkt, vielleicht zu großes Vertrauen: bis heute aber haben wir keine einzige Tat gesehen, noch keine einzige, die all die schönen Worte wahr machen und unseren guten Glauben rechtfertigen würde.
Erblicken Sie immerhin einen Zweifel in dieser Äußerung; er kann und soll nicht geleugnet werden, auch wenn er Sie etwa verstimmt. Denn dieser Zweifel schmerzt diejenigen, die ihn hegen, weit mehr, als er die zu kränken vermag, gegen welche er sich richtet. Bedenken Sie, wie weit die Menschen heute voneinander entfernt sind. Vor fünf Jahren beklagten wir es noch, wie viel Zeit ein Brief nach Amerika brauche, glaubten eine pathetische Wahrheit auszusprechen indem wir sagten, der Ozean liege zwischen uns, und hatten doch, binnen zwei Wochen, auf jede Frage, einer vom andern, die Antwort, hatten doch in unserem Leben, diesseits und jenseits des Ozeans, einen gleichmäßigen Rhythmus, der sich von Ufer, zu Ufer wahrnehmen ließ. Heute trennt uns eine größere Distanz als die Breite der Atlantis; selbst zwischen unseren nahen Nachbarn und uns liegt heute größere Entfernung. Zwischen uns liegt der ungeheure Bann dieser fünf Jahre, liegt das unermeßliche und // unentwirrbare Geschehen und zwischen uns liegen außerdem noch die Folgen einer Absperrung, die in solcher Dauer, in solcher demoralisierender Vollkommenheit, ohne Beispiel ist.
Das Beispiellose, das Niemals-Dagewesene kennzeichnet ja alle Ereignisse, die wir bis heute erlebt haben, und sicherlich alle, die wir in naher Zukunft noch erleben werden. Es ist niemals noch dagewesen, daß der Kulturkomplex der weißen Rasse durch eine eiserne Grenzlinie in zwei Teile zerstückt und daß diese Teile jahrelang einander geschlossen geblieben wären. Jahrelang haben wir nichts voneinander gewußt, als was uns die Generalstabsberichte voneinander erzählten. […] Diese beiden Völkergruppen, zusammen die Führer und Erbauer der Welt, sind seit fünf Jahren gezwungen, ohne einander zu leben, müssen sich daran gewöhnen, ohne einander auszukommen, obgleich das wider ihre Natur geht, obgleich es Verrat an ihrer gemeinsamen Erdensendung bedeutet. Das ist beispiellos und … unverantwortlich.
Als der Krieg ausbrach, sahen und begriffen die edleren Gemüter hüben wie drüben voller Schmerz, daß die Menschen einander noch zu wenig kennen. Die Menschen müssen einander kennen lernen – hüben wie drüben galt das als das höchste Ziel kommender Friedenstage, stand als erstes und wichtigstes Beginnen, als heiligste und eiligste Menschheitsbemühung. Aber wie furchtbar sind wir einander heute entfremdet. Wir verstehen uns weniger als je, kennen uns noch weniger, als wir uns je gekannt haben, und heute, da der Krieg schon drei Monate beendet ist , sind wir im Begriffe, uns mit jedem Tage mehr und mehr voneinander zu entfernen. Arme Soldaten im Feld, die nach dem Kampfe alle Feindschaften beiseite ließen, um einander in Todesnot und Körperqualen Beistand zu leisten, hilflose, arme Teufel, die sich nicht einmal mit Worten, sondern nur durch Blicke, durch Gebärden, oder durch ein Lächeln verständigen konnten, haben für die Annäherung der Menschen in einer einzigen Stunde mehr geleistet, als sämtliche Staatsmänner zusammen in diesen wichtigen drei Monaten auch nur versuchten.
Es ist ja natürlich, dass man bei Ihnen den seelischen und geistigen Zustand, in welchem wir uns während des Krieges befanden nicht verstehen konnte. Auch wir haben den seelischen und geistigen Zustand, in welchem man bei Ihnen lebte, nicht begriffen. Daß wir alle, diesseits und jenseits der Feuerlinie, ganz im Anfang von einem Fieber erfaßt und geschüttelt, von einem Rausch umnebelt und hingerissen wurden, braucht niemand in Abrede stellen, der sich jetzt nicht von Feigheit und falscher Scham zu stotternden Verlegenheitslügen gezwungen sieht. Sie können nun freilich darauf hinweisen, daß wir von unseren Machthabern betrogen und in die Irre geführt worden sind. Aber bei solchem Hinweis, wenn anders Sie sich überhaupt seiner bedienen wollen, müßten Sie fest davon durchdrungen sein, daß man in Frankreich, in England, Italien und bei Ihnen immer nur die volle Wahrheit zum Volke gesprochen hat. Sie müßten überzeugt davon sein, daß Ihre Machthaber heute wenigstens die WahrheitBereits 1895 vom Kantor der sephardischen Gemeinde in Wien, Jakob Bauer, vor dem Hintergrund des anwachsenden Antisemiti... sagen, oder daß sie sie morgen sagen werden.
Vortrefflich, wenn Sie gegründete Ursache zu dieser Überzeugung haben, doch dürfte es Ihnen schwer fallen, sie auch uns zu suggerieren. Denn hierzulande schwindet das Zutrauen in die Gerechtigkeit Ihrer Staatsmänner von Tag zu Tag wie das Licht einer tief herabgebrannten Kerze. Ihre Staatsmänner haben erklärt, daß sie Ordnung stiften wollen, und haben binnen drei Monaten die Welt noch mehr verwirrt, als sie es ohnehin schon war. Sie haben die Menschlichkeit als oberstes Gesetz proklamiert, und obgleich sie seit drei Monaten die unumschränkteste Macht in ihren Händen halten, die es je auf Erden gab, haben sie in eben diesen drei Monaten jedes niedrige Verbrechen gegen die Menschlichkeit geduldet, wenn es (wie in Lemberg, in Marburg, in Posen und an hundert anderen Orten) von ihren Verbündeten begangen wurde. […] Ihre Staatsmänner haben tausendmal beteuert, daß sie uns die Freiheit bringen werden, aber was heute aus den Beratungszimmern, Bankettreden, Manifesten und Geboten dieser Staatsmänner uns anspricht, was jetzt als furchtbare Drohung über uns schwebt, ist eine so harte Knechtschaft, daß der Zwang, den wir von unseren Militärmonarchen erlitten haben, dagegen noch milde erscheint.
Da Sie Deutschland und das ehemalige Österreich-Ungarn aus eigener Anschauung kennen, werden Sie wohl kaum im Zweifel darüber sein, daß es, hier wie dort, eine ungeheure Zahl von Menschen gibt, denen die Sache des Fortschrittes und der Freiheit, die geistige und materielle Erlösung der breiten Masse teuer ist. Wie zahlreich diese Menschen sind und dadurch auch, wie befähigt, die Kraft des Volkswillens zu repräsentieren, hat der rasche, widerspruchslose Sieg der Revolution übrigens hinlänglich bewiesen. Nun, mein verehrter Freund, diese Menschen befanden sich während des Krieges in einem inneren Zwiespalt, den man einen tragischen nennen darf. Eine Niederlage konnten sie ihrem Vaterlande, das sie liebten, keinen Augenblick wünschen. Von einem Sieg aber mußten sie eine ungeheure Verschärfung des militaristischen und monarchischen [?] // fürchten, die brutale Vernichtung aller geistigen Freiheit für lange Zeit. […]
Während der letzten drei Monate ist man sich in Deutschland wie hier über vieles klar geworden. Unzählige Menschen empfinden heute schon die unterwürfige Art, mit der man sich vor der Entente auf die Knie wirft, die Demut, mit der man vor ihr auf dem Bauch kriecht, als widerlich und beschämend. Unzähligen Menschen steht heute schon die Tatsache fest vor Augen, daß wir nicht durch das Schwert besiegt wurden, wie Herr Clemenceau behaupten will, sondern daß wir uns, fasziniert von den vierzehn Punkten, im vollen Vertrauen auf die Verheißungen, die aus Washington kamen, ergaben. Diese Verheißungen haben die Gestalten Hindenburgs und Ludendorffs, an die man nicht mehr glauben wollte, verdrängt und an ihre Stelle die Gestalt Wilsons gesetzt, an den man glauben will. Wenn das feierliche Versprechen der vierzehn Punkte nicht bis in seine letzte Silbe ernst gemeint war, dann sind wir hundertmal ärger betrogen als wir je von unseren Machthabern betrogen wurden.
Alle Träger des Kriegsgedankens, alle Vertreter der Eroberungspolitik sind weggefegt, der Militarismus ist entwurzelt und niemand steht Ihren Staatsmännern jetzt noch gegenüber, an dem die Rache nehmen dürfen. Sie haben erklärt, daß ihr Kampf nicht dem Volk gilt. Nun hat das Volk sich selbst befreit, hat den Krieg, den es verurteilt, beendigt und erwartet sein Heil von diesen vierzehn Punkten. Bis jetzt ist weder von irgendeinem Heil, noch von irgendeinem Punkt auch nur das kleinste Pünktchen zu spüren gewesen. Verdient der Waffenstillstand, zu dem man sich herbeiließ, überhaupt diese Bezeichnung? Die furchtbarste Waffe, wirksamer als alle Tanks und jedes Trommelfeuer, die Blockade, wurde weiter gebraucht. Drei Monate lang, gegen Frauen, Kranke und Kinder. Da schon der Waffenstillstand kein Waffenstillstand gewesen ist, erscheint die Befürchtung leider begreiflich, Völkerbund werde kein Völkerbund, die verheißene Freiheit keine Freiheit und der FriedeWochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur. (1918-19; Reprintausg. 1975) Die im Januar 1918 begründete,... kein Friede sein.
Es gibt Augenblicke, in denen alles Hoffen schwindet. Sie erinnern sich, daß ich Ihnen in den Tagen, in denen Deutschland den U-Boot-Krieg begann und Amerika sich der Entente anschloß, geschrieben habe, die Lehrbücher künftiger Generationen würden sich wohl schwerlich mit der Aufzählung all der vielen, jetzt so berühmten Schlachten befassten, sondern diesen ganzen Krieg nur als Einleitung zu größeren Katastrophen erwähnen. In diesen Lehrbüchern (schrieb ich damals) wird es ungefähr heißen: der allgemeinen Weltrevolution ging ein Krieg voran, der so und so viele Jahre dauerte. Als dann der Zusammenbruch erfolgte, konnte man noch einiges hoffen. Man konnte hoffen, daß Ihre Staatsmänner einsehen würden, wie sehr eines Tages über die Verbrechen des Krieges hinaus die fabelhafte Leistung des deutschen Volkes sich erheben, wie viel Rum und Bewunderung sie erringen werde. Bedachten sie das, dann schien es ihnen sicher ein unmögliches Beginnen, das deutsche Volk durch einen übermütig diktierten Gewaltfrieden zu erdrosseln. Vieles ist dem Sieger erlaubt, aber er muß sich, wenn er klug ist, davor hüten, für künftige Zeiten Haß gegen sich zu sähen. Alles darf er dem Besiegten zufügen, nur nicht solche Dinge, die unverzeihlich und unvergeßlich sind. Daß es verderblich ist, gefährlich und töricht, einem Volk wie dem deutschen, solche Dinge zuzufügen, daß sich in der Geschichte das Blatt oft fürchterlich wendet, ist Binsenwahrheit. Man braucht dazu nicht einmal die vierzehn Punkte.
Aber vielleicht können Ihre Staatsmänner nicht anders handeln. In dem Rausch, mit dem die Fülle der Macht, die Habgier und die Größe des Sieges sie umnebelt, sind sie schließlich Gefangene der Ereignisse, wie wir alle es sind. Die Zwietracht, die dabei unter ihnen herrscht und die das erfolgreiche Bündnis jetzt schon zu zerreißen droht, verbergen sie umsonst hinter dreimal verschlossenen Türen. Es liegt offen vor aller Augen und dient gleichfalls nur der Erkenntnis, daß die Menschen heute kleiner sind als ihre Erlebnisse. So liegt denn das das Schicksal der Welt jetzt nicht bei der Genialität von einzelnen Auserwählten, sondern bei den Massen. Dieses Schicksal schreitet über die einzelnen wie mächtig sie auch sein mögen, hinweg und muß sich vollziehen. Es hat wohl keinen besonders praktischen Wert, Kulturkongresse gerade in einem Augenblick zu planen, in welchem diese ganze alte Kultur zugrunde geht […]
In: Neue Freie Presse, 2.2.1919, S. 1-3.
Robert Müller: Die Kulturpolitik des Bolschewismus.
Die Reden des reichsdeutschen Außenministers Simons spielten mit dem Gedanken der deutsch-russischen Koalition. Für die Börsen in Berlin und Wien war der Bolschewismus einst das rote Tuch. Heute rechnen Börsenblätter ihn zu ihren Mitteln, wenn sie gewisse Papiere zugunsten anderer drücken wollen. Aber auch hinter dieser Anpassungsfähigkeit einer kapitalistischen Welt gesehen: die Reagenz auf den russischen Bolschewismus hat sich in Deutschland wesentlich gemildert.
In der Tat hat das jetzige russische Regierungssystem zwar die russische Wirtschaft annihiliert, obwohl es auch Berichterstatter gibt, die von eigenartigen und nützlichen Organisationen zu berichten wissen. Auf Grund solcher Berichte hat der Minister Simons in einer aufsehenerregenden Rede dem russischen System selbst auf wirtschaftlichem Gebiete einen partiellen Erfolg eingeräumt. Verknüpft ist dieser Erfolg allerdings mit einem finanzpolitischen Fiasko. Unbestritten dagegen ist von allen Augenzeugen aller Nationen der außerordentliche kulturpolitischen Fortschritt, den die jetzige russische Gesellschaftsordnung mit sich gebracht hat.
Der Grund ist einfach. Staat ist dem Bolschewiken eine ideologische Anstalt. Die im materialistischen Westen und seiner Zivilisation gangbare Voraussetzung der Rentabilität sine qua non fehlt dort. Kulturpolitische Maßnahmen werden gegen die finanzielle Kalkulation durchgeführt. Darum ist Rußland das Dorado aller kulturell interessierten, wirtschaftlich sei es desparaten, sei es unerfahrenen Individuen geworden. Die englischen, besonders die französischen und die deutschen, sogar die amerikanischen Künstler schwärmen für Moskau, Lenin und Lunatscharsky. Lenin überzeugt von persönlicher Tüchtigkeit die Diplomaten, Trotzky die Militärs, Lunatscharsky die Schöngeister. Es ist auffallend, wieviel Sympathie unter deutschen Offizieren der Bolschewismus genießt, seit er sich als kriegerisch, soldatisch-diszipliniert und strategisch genial erwies. Die vielbesprochene Allianz zwischen rechts und links ist psychologisch nicht mehr unwahrscheinlich. Der Offizier, auch sein Vorbild, der Ritter, der Edling, sind Geschöpfe einer unkapitalistischen, rein ideologischen Welt. Sie verstehen zuinnerst tatsächlich das Seelenleben und die Werte des überzeugten militanten Bolschewiken besser als die technisch-ökonomische Interessenswelt der Plutokratie, von der sie freilich mit zunehmender Zivilisation aufgesogen wurden. Es ist also kein Zufall, daß in der russischen Armee begeistert deutsche Junker dienen und daß sowohl Lenin als Lunatscharsky Aristokraten sind.
Alle geistigen, d.h. nicht materiell kalkulierenden Menschen, alle, die nicht Erwerbsmehrung, sondern eine Art auskömmlicher Staatsbesoldung (wie Offiziere) wünschen, um ihren produktiven Neigungen fern vom ökonomischen Lebenskampf, in dem sie indifferent sind, zu leben, blicken heiß nach Rußland. Dort ist, wie immer man es drehen mag, der kulturpolitische Staat verwirklicht, wenn auch contra Kassa. Aber was schiert das den Offizier? Was den Künstler, den Denker, den Pädagogen? Die Künstler sind Schwerarbeiter und es geht ihnen allen gut, leider sogar den wenigen mittelmäßigen. Sie sind offizielle Persönlichkeiten. Sie erhalten Bau- und Schmuckaufträge, die Literaten sind zur Volksaufklärung und -besserung organisiert. Die Lehrer haben für ihre Ideen weitesten Spielraum. Das Erziehungswesen steht auf höchster Höhe. Übertreibungen, Verirrungen unterlaufen, die geistige Nahrung ist der Aufnahmefähigkeit des Schülerdurchschnittes oft unangemessen. Aber es wird gearbeitet, gedacht, verwirklicht, nirgends gibt es ein frischeres Tempo, wir Österreicher, verwirklichungsferner denn je, schielen mit Neid dort hinaus. Mit einem Schlage – gegen das Staatsportemonnaie – sind alle die lästigen Hemmungen wegefallen.
Das ist die Wirkung einer geistigen Forderung. Sie ist plötzlich, von Geistigen geführt, von Millionen getragen. Nur die Finanziers stehen grollend beiseite. Da gibt es also eine Menschheit, die nicht mehr auf sie hört? Die den praktischen Verstand in den Wind schlägt? Diese Menschheit gibt es heute, sie ist da. Wie zur Zeit des absinkenden Römerreiches, so schlägt heute eine geistige Forderung die materielle Schulung unserer Urteile nieder. Wir mögen eine Zeitlang Unterproduktion und Hunger haben: aber der Geist mag wie damals Gloria feiern.
Die geistige Forderung ist der Kern. Ihn hat das von Harald von Hoerschelmann (auch einem baltischen Junker) bei Diederichs, Jena, erschienene Büchlen „Person und Gesellschaft“ herausgeschält. Es ist das beste Buch, das man als objektive Analyse des Bolschewismus lesen kann. Es versetzt haargenau in die bolschewistische Seele, wo sie am tiefsten – und schönsten ist. Geistreich und scharfsinnig in der Deduktion, reich an Material und Beleg, kunstvoll geschrieben, lauter, beinahe weise verdient das Buch allgemeine Bekanntheit. Vielleicht sind in Wirklichkeit alle diese Dinge noch viel komplizierter, nuancierter, als Hoerschelmann sie sieht, der einen Bolschewismus ad usum des deutschen Delphini schnittmustert und Ideale des Anarchismus und der Aristokratie schon heute in Rußland verwirklicht sieht, die ich noch nicht sehen kann. Aber seine Konsequenzen sind anregend, er ist ein starker, aufbauender Geistpolitiker. Aufgabe der Gesellschaft ist nicht Sicherung einer Gemeinschaft, sondern aller schöpferischen Kräfte gegen die erstarrten, heißen sie jetzt Bürokratie oder Demokratie. Im gleichen (Diederichs) Verlage erschien von dem Weltreisenden Alfons Paquet das Buch „Im kommunistischen Rußland“. Eine dichterische Persönlichkeit mit starker sachlicher Begabung auch für das Amerikanisch-Statistische schildert persönliche Eindrücke so, daß uns dieses Rußland im ganzen sympathisch wird. Es steht ein gutes Volk, ein derbes, sinnliches, aber innerliches Volk hinter diesem Bolschewismus, und es ist dasselbe Rußland, das Dostojewsky hervorgebracht hat, ihn und die Anlässe seiner Kritik und Selbstironie; Langsamkeit, unpraktische Weltart, aber nachgiebig dem Guten, das dort meistens roh auftritt und uns darum erschreckt. Das Buch „Moskau 1920“, Tagebuchblätter von Dr. Alfons Goldschmidt (Rowohlt-Verlag, Berlin) sind brillant geschriebene Reisefeuilletons im letzten Impressionistenstil, wie er aus Kopenhagen und Paris kam. Das deutliche Urteil bleibt noch im Schatten, weil neben viel Anerkennung eine kräftige Portion Touristensarkasmus zu Worte kommt. Sehr zutreffend sind die Witze, die Goldschmidt der Konkurrenz, den britischen und amerikanischen Revolutionsbummlern, zukommen läßt, Menschen der flachsten Auffassung im Ja- und Neinfalle. Wir können mit Spannung erwarten, was Goldschmidt in seinem sachlichen Buche „Die Wirtschaftsorganisation Sowjetrußlands“, das in kurzem (bei Rowohlt) erscheint, zu sagen haben wird. Von dieser Art Literatur hängt viel ab, Europas Zukunft. Rußland macht Mode, ohne Zweifel!
Ich möchte noch auf das von mir selbst geschriebene „Bolschewik und Gentleman“, das soeben im Erich-Reiß-Verlag, Berlin, erscheint, hinweisen; es behandelt die kulturpolitische Gradation, die Rußland dem westlichen Kulturkreis voraus hat.
In: Der neue Merkur, H. 6/1920, S. 11-12 (KS, II, 473-475)
Otto Bauer: Die Weltrevolution
N.N.[Otto Bauer] : Die Weltrevolution. (1919)
4. Die historische Funktion des Bolschewismus.
Die Kommunisten betrachten die Rätediktatur nicht als eine vorübergehende Phase, sondern als die abschließende, endgültige Form der Weltrevolution. Die Rätediktatur werde die Bourgeoisie „erdrosseln“, alles Privateigentum an Produktionsmitteln aufheben, die Spaltung der Gesellschaft in besitzende und besitzlose Klassen aufheben, die sozialistische Gesellschaftsordnung aufrichten, und sobald dieses Werk getan sei, werde der Staat überhaupt absterben, da es einer öffentlichen Gewalt nicht mehr bedürfe, sobald es keine unterdrückten und keine unterdrückenden Klassen mehr gibt. Die Rätediktatur, in einem Lande aufgerichtet, führt die Rätediktatur in den anderen Ländern durch die Macht ihres Beispiels herbei; nach wenigen Jahren werde der Kapitalismus in aller Welt überwunden sein.
Daß in allen besiegten Ländern starke Tendenzen zur Diktatur des Proletariats ganz unvermeidlich entstehen, unterliegt keinem Zweifel; ob aber die Diktatur des Proletariats wirklich jene Wirkungen herbeizuführen vermag, die die Kommunisten von ihr erhoffen, ist eine ganz andere Frage. Die Geschichte aller Revolutionen zeigt, daß sehr oft die objektiven historischen Wirkungen der Revolution ganz andere sind als die subjektiven Vorstellungen, Absichten und Hoffnungen ihrer Urheber und Träger.
Der Versuch des Proletariats, seine Alleinherrschaft aufzurichten und sich alle anderen Klassen zu unterwerfen, führt zunächst den Bürgerkrieg herbei. Selbst in Rußland kann sich die kommunistische Diktatur nur in ständigem blutigen Kriege gegen die konterrevolutionären Klassen erhalten; dieser Krieg gegen die Kornikow und Kaledin, die Denikin und Koltschak dauert nun schon mehr als anderthalb Jahre und sein Ende ist nicht abzusehen. Greift der Bolschewismus auf Mitteleuropa über, so wird er hier einen noch viel gewaltigeren, noch viel blutigeren Bürgerkrieg zu bestehen haben: denn hier würde ihm eine viel breitere, zahlreichere, widerstandsfähigere Bourgeosie und vor allem eine viel selbstbewußtere, viel besser organisierte und viel konservativere Bauernschaft gegenüberstehen als in Rußland. Der Bürgerkrieg zerstört aber die Produktivkräfte des Landes, er macht den Wiederaufbau der Industrie, die Wiederherstellung der Verkehrsmittel, die Wiederbelebung der Landwirtschaft unmöglich. Er bereitet dem Aufbau der Organisation des Proletarierstaates und der Organisierung der sozialistischen Produktion unüberwindliche Schwierigkeiten. Infolge der Desorganisation, die die Folge des Bürgerkrieges überhaupt und der passiven Resistenz der Bauernschaft im besonderen ist, ist die Rätediktatur nicht imstande, die Großstädte zu ernähren; selbst Moskau, das doch die Hauptstadt des größten und fruchtbarsten Agrargebietes Europas ist, hungert, selbst Budapest, die Hauptstadt der getreide- und viehreichen ungarischen Ebene, ist heute schlechter versorgt als Wien. Und aus denselben Gründen stockt in den Sowjetrepubliken auch die industrielle Produktion; infolge der Unmöglichkeit, die Zufuhr von Roh- und Hilfsstoffen zu organisieren, stehen in Rußland die meisten Fabriken still und die Arbeiter sind teils in die Bauerndörfer zurückgekehrt, teils in die Rote Armee eingetreten.
Trotzdem kann sich die Rätediktatur behaupten, wo sie aus den Erzeugnissen des eigenen Landes wenigstens notdürftig den dringendsten Bedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen zu decken vermag. Ganz andere Schwierigkeiten würden ihr in Ländern erwachsen, die, wie Deutschland und Deutschösterreich, die Zufuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus überseeischen Ländern nicht entbehren können. Wenn wir unsere Bevölkerung ernähren, unsere Fabriken und Eisenbahnen betreiben wollen, müssen wir Getreide, Fett, Fleisch aus überseeischen Ländern, Kohle aus der Tschecho-Slowakei und aus Polen, Rohstoffe aus aller Welt einführen. Und alle diese Waren können wir nur auf Kredit bekommen; denn da wir vorerst nichts auszuführen vermögen, können wir die einzuführenden Waren nicht bezahlen. Kredit aber können wir nur von den Ländern bekommen, die allein nach Kriege kapitalstark geblieben sind; vor allem also von England und von Amerika. Die englischen und die amerikanischen Kapitalisten werden aber keinem Lande Kredit gewähren, das ihnen nicht die notwendigen Sicherheiten zu bieten vermag. Sie werden nicht einem Lande kreditieren, in dem der Bürgerkrieg wütet. Sie werden nicht einem Land Kredit gewähren, das heute durch dieses, morgen durch jenes Dekret das Privateigentum aufhebt und die privaten Rechtsansprüche für nichtig erklärt. Die Räterepublik, unfähig, den Kredit der weltbeherrschenden kapitalistischen Länder zu erlangen, ist damit auch unfähig, ihre Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, ihre Industrie mit Rohstoffen zu versorgen. Die Folge ist gesteigertes Massenelend, verschärfte Hungersnot, fortschreitende Desorganisation des ganzen Wirtschaftslebens.
Selbst im besten Falle also, selbst wenn die kapitalistischen Länder nicht zu offener Feindseligkeit gegen die Proletarierdiktatur übergehen, sondern ihr nur den Kredit verweigern, für den sie den Kapitalisten keine hinreichende Sicherheit zu bieten vermag, selbst in diesem Falle muß die Räterepublik in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten, die ihr der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung schier unmöglich machen müssen. Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es dabei nicht sein Bewenden haben wird, daß die kapitalistischen Weltmächte vielmehr gegen jede Räterepublik zum offenen Angriff übergehen werden, ganz so wie sie es gegen Rußland und gegen Ungarn getan haben. Denn die kapitalistischen Mächte fühlen durch die Existenz jeder Räterepublik ihre Interessen bedroht. Die besiegten Länder sind Schuldner der Sieger; ihr Staatsbankerott, ihre Einstellung der Schuldenzahlungen, ihre Expropriation des Privateigentums bedeutet daher den Versuch, den Siegern den geschuldeten Tribut zu verweigern. Die Rätediktatur in den besiegten Ländern bringt durch ihr Beispiel auch die kapitalistische Ordnung in den benachbarten kleineren Ländern in Gefahr, die die Sieger als ihre Vasallenstaaten aufgerichtet, als ihre wirtschaftlichen Interessenssphären und als Stützpunkte ihrer politischen Macht geschaffen haben: in Polen, in der Tschecho-Slowakei, in Jugoslawien und Rumänien. Und die Verbreitung der Proletarierdiktatur vom Osten nach dem Westen über immer weitere Teile Europas erschüttert schließlich auch die kapitalistische Ordnung in Italien, in Frankreich, in Belgien und gefährdet damit jene ungezählten Milliarden, die die angelsächsischen Länder diesen ihren Verbündeten geborgt haben. So widerstreitet die bloße Existenz der Räterepubliken den stärksten Interessen der herrschenden Klassen der weltbeherrschenden Staaten; deshalb suchen sie die Räterepubliken durch Blockaden zu erwürgen, durch materielle Unterstützung der Konterrevolutionäre niederzuwerfen. Der unvermeidliche Zusammenstoß zwischen den kapitalistischen Weltmächten und den proletarischen Räterepubliken treibt allerdings die soziale Entwicklung in den noch kapitalistischen Ländern weiter: denn die englische Arbeiterschaft ist erbittert über den Feldzug der englischen Herrenklassen gegen die Räterepubliken und die englische Bourgeoisie muß sie daher durch Zugeständnisse zu gewinnen, durch Beschleunigung der Demokratisierung und Sozialisierung in England selbst zu beruhigen und zu besänftigen suchen. Aber andererseits wird die Not der Räterepubliken durch den Angriff von außen furchtbar verschärft; und wenn auch große Agrarländer wie Rußland, die vom Ausland relativ unabhängig und von außen her schwer angreifbar [gesperrt gedr.] sind, sich des Angriffs der kapitalistischen Mächte zu erwehren vermögen, so müßten Industrieländer wie Deutschland und Deutschösterreich, die amerikanischen Lebensmittel und Rohstoffe, amerikanischen und englischen Kredit, amerikanischen und englischen Schiffsraum nicht entbehren können, diesem Angriff bald und unvermeidlich erliegen.
Die Verwüstung der Volkswirtschaft durch den Bürgerkrieg im Innern, die Verweigerung der Kredit- und Rohstoffhilfe durch das kapitalistische Ausland, schließlich gar der feindliche Angriff kapitalistischer ausländischer Mächte machen es den Räterepubliken unmöglich, die wirtschaftliche Lage der Arbeitermassen zu verbessern. Der Begeisterung der Arbeitermassen für die Diktatur des Proletariats folgt daher sehr bald die bittere Enttäuschung, die sich gegen die Rätediktatur, gegen ihre unvermeidlichen Begleiterscheinungen, wie den Terror, wie die Aufhebung des Streikrechtes, der Preß- und Versammlungsfreiheit, wie der Rekrutierung zur Roten //Armee, kehrt. Die Diktatur des Proletariats führt schließlich zur Auflehnung des Proletariats gegen die Diktatoren. In Rußland stand im Oktober 1917, in Ungarn im März 1919 sicher das ganze Proletariat hinter der Diktatur: heute sind da wie dort unzweifelhaft schon breite proletarische Schichten in Gegensatz gegen die Räterepublik geraten und der Terror der Diktatoren richtet sich nicht nur mehr gegen die Bourgeoisie und Bauernschaft, sondern auch gegen die opponierenden Schichten des Proletariats. Von außen bedrängt, im Innern von der Bourgeoisie und der Bauernschaft leidenschaftlich bekämpft, schließlich auch von immer breiteren Schichten des darbenden, hungernden, kriegsmüden Proletariats verlassen, verwandelt sich die Diktatur des Proletariats in eine reine Militärdiktatur, die sich auf nichts mehr stützt als auf die Bajonette der durch eiserne Disziplin zusammengehaltenen, durch wirtschaftliche Begünstigungen befestigten Roten Armee. Aber die alte Wahrheit, daß man auf Bajonetten nicht sitzen könne, gilt auch für Räterepubliken. Sobald das Proletariat von den Wirkungen der Diktatur enttäuscht ist und sich gegen die verschärfte Hungersnot und den erneuten Krieg auflehnt, ist die Rätediktatur verloren und die Militärdiktatur der Roten Armee wird abgelöst von der Militärdiktatur der Konterrevolution.
Auch die Kommunisten wissen sehr wohl, daß die Rätediktatur scheitern muß, wenn sie auf die besiegten Länder beschränkt bleibt. Aber sie glauben, daß die Diktatur in den besiegten Ländern sehr bald die Revolution in den Ländern der Sieger auslösen werde, und darauf stützen sie ihre Hoffnungen. Diese Hoffnung ist trügerisch. Selbst wenn die soziale Revolution wirklich über die besiegten Länder hinaus greifen, selbst wenn sie auch Frankreich und Italien erfassen, auf dem ganzen europäischen Festland triumphieren sollte, selbst dann wäre der Kommunismus nicht gerettet. Denn alle wirtschaftliche Macht ist jetzt in den angelsächsischen Ländern, in England und Amerika, konzentriert; diese Länder allein verfügen über die Rohstoffe, über die Lebensmittel und über den Schiffsraum, die das ganze Festland braucht, und gerade in diesen Ländern fehlen die Voraussetzungen der Revolution. Die soziale Revolution der besiegten, der ohnmächtigen und abhängigen Länder scheitert unvermeidlich an der ungebrochenen Macht des Kapitals in den Ländern, die den Sieg errungen haben und die Welt beherrschen.
Aber wenn die Diktatur des Proletariats in dem großen Prozeß der Weltrevolution nur eine vorübergehende Phase ist, so ist sie darum doch keine bedeutungslose Phase. Der Krieg hat die Gesellschaft mit ungeheuren Schulden belastet; über den realen Produktivkräften, die den Reichtum der Gesellschaft erzeugen, ist ein ungeheures Gebäude papierener Rechtstitel getürmt. Wo dieser Ueberbau so drückend geworden ist, daß er mit den gesetzlichen Mitteln der Demokratie nicht mehr abgetragen werden kann, dort wird der Bolschewismus unvermeidlich. Er vernichtet alle die papierenen Rechtstitel und zerreißt alle die papierenen Schuldverpflichtungen. Und wenn dann sein Herrschaftssystem wieder zusammenbricht, dann lebt nicht wieder auf, was er zerstört hat. Die Gesellschaft, von der Last jener unerträglichen Schuldverpflichtungen, die der Krieg ihr zurückgelassen hat, befreit, kann nach dem verheerenden und vernichtenden, aber auch reinigenden Sturme darangehen, ihr Wirtschaftsleben von neuem aufzubauen. Der Bolschewismus ist nicht imstande, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen; aber wenn einem Lande unerträgliche Last aufgebürdet wird, die dem Wiederaufbau im Wege steht, dann kann er der eiserne Besen sein, der die Last hinwegfegt und dadurch den künftigen Wiederaufbau erst ermöglicht.
Der Bolschewismus ist ein Nachfahre des Jakobinertums vor 1793. Als die Jakobiner die Macht eroberten, glaubten sie durch den Terror des Pariser arbeitenden Volkes eine ewige Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit aufrichten und durch ihr Beispiel alle Länder zur Nachahmung zwingen zu können. Darin haben sie sich getäuscht. Die Jakobiner haben kein tausendjähriges Reich der Freiheit und Gleichheit aufzurichten vermocht, und ihr Beispiel ist von den anderen Ländern nicht nachgeahmt worden. Aber wenn die Jakobiner nicht das erreicht haben, was sie zu erreichen hofften, so hat ihre Herrschaft doch anderes erreicht, wovon nichts ahnten: ihre Schreckensherrschaft hat nach Marxens berühmten Worte mit eisernem Besen alle Ueberbleibsel der feudalen Gesellschaftsordnung hinweggefegt und dadurch die Basis geschaffen, auf der nach ihrem Sturze das neue kapitalistische Frankreich aufgebaut worden ist. So wird auch der Bolschewismus nicht das erreichen, was er zu erreichen wähnt; er wird nicht das tausendjährige Reich einer kommunistischen aufzubauen vermögen. Aber wo unerträgliches Kriegsergebnis und unerträgliche Friedensbedingungen der Gesellschaft ein Erbe hinterlassen, das sie zu erdrücken droht, dort wird seine vorübergehende Herrschaft dieses Erbe hinwegfegen, um den Boden zu reinigen, auf dem erst nach seinem Zusammenbruch in planmäßiger demokratischer Arbeit die neue soziale Ordnung wird aufgebaut werden können.
In: Arbeiter-Zeitung, 28.6.1919, S. 1-2.
Schlagworte
Vicki Baum: Lippenstift und Spitzenwäsche in Rußland
„Bringen Sie meinen Schwestern Lippenstifte mit“, sagte mir ein russischer Freund, als ich nach Moskau fuhr. „Das ist es, was ihnen am meisten fehlt. Sie wissen: Russinnen – und keine Schminken! Und wenn es geht: Parfüm!“
Ich packte also Lippenstifte und Parfüm ein; man darf davon nach Rußland mitnehmen, so viel man für den eigenen Gebrauch benötigt; das ist ein dehnbarer Begriff und übrigens ist die Grenzkontrolle Ausländern gegenüber sehr höflich und gar nicht kleinlich. In Rußland fand ich dann, daß den Russinnen so ziemlich alles fehlte, aber Lippenstifte – die hatten sie! „Ich habe sechs Stück in meinem Haar eingeschmuggelt“, sagte mir eine kleine Chemiestudentin, die ein paar Schuljahre in Deutschland verlebt hatte. Auch Parfüm hatten sie, Parfüm war sogar eines der ganz wenigen Dinge, die man in Läden zum Verkauf bereit sah. Und geschminkt waren viele von ihnen. Gut geschnittenes Haar hatten die meisten, sie lobten ihre Friseure, und die Aufschrift „Parruckmacherstaja“ ist in russischen Leitern oft genug zu lesen. Bolschewikinnen strenger Observanz schienen mir dem langen Haar und aufgesteckten Knoten zuzuneigen (was übrigens schön zu den breiten, stillen Bauersfrauengesichtern steht, die in Ämtern und Fabriken zu finden sind), farblose Kleidung, strenge Haltung und schlichte Frisur kennzeichnen – so schien es mir – eine bestimmte proletarische Oberschicht, wie sie in Deutschland etwas charakterisieren, das man „Potsdamer Stil“ nennen kann.
Es gibt keine elegante Frau mehr in Rußland; oder doch: eine einzige. Sie ist auch in den europäischen Hauptstädten bekannt: Frau Lunatscharski. Man nimmt es ihr übel genug. Es wäre in diesem Land voll Hunger und Elend auch schlechter Geschmack, sich elegant anzuziehen, selbst wenn es sich eine oder die andere Frau leisten könnte. Auf den Botschaften, diesen europäischen Inseln im uferlosen Moskau, trägt man sich einfach, Wollkleider, Wollstrümpfe. „Sie werden bald einsehen, daß man hier keine Seide trägt“, hörte ich eine Botschafterin zu einer jungen Attachésfrau sagen, die im einfachen schwarzen Seidenkleid zum Lunch gekommen war. Nebenbei: Es gab gekochtes Ochsenfleisch als Hauptgang, und der Botschafter sagte mir: „Wir sind stolz, eine solche Delikatesse aufgetrieben zu haben.“
Die Russin ist von Natur aus „trés femme“, und man mag ihr so viel abstrakte Gedankenpanzer anziehen, das Allesgleichmachen bis auf das Geschlecht ausdehnen (gibt es doch für das Wort „Towarisch“ = „Genosse“ keine weibliche Form) die Frau kommt immer wieder zum Vorschein. Die Theater, in denen man keine angezogene Frau sieht, nur Genossinnen, die tragen was sie eben haben, riechen nach Parfüm. Im „Prophylaktum“, einem Heim zur Besserung von Prostituierten, hatte eine Leiter die Offenheit, mir zu sagen: „Für ein paar Seidenstrümpfe prostituieren sich so viele!“
Wirklich fand ich, daß der Seidenstrumpf den jungen Russinnen fast als ein Symbol erscheint für alles, was sie entbehren. Und sie entbehren viel; denn die Liebe gehört mit zu den Dingen, die man dort abgeschafft hat. „Es gibt noch ein bißchen Bett; keine Liebe, nichts vorher, nichts nachher. Keine Blumen –“ sagte mir eine junge Frau, und es war eine Welt von Traurigkeit darin. Diese reinen Arbeitsbienen, so farblos in ihren Kitteln und Strickkleidern – sie fangen zu zittern an, wenn sie ein Stückchen Seidenwäsche sehen oder gar verehrt bekommen. Als man vor der Revolutionsfeier ein paar Tage lang den Verkauf von Seidenblusen freigab, wurden ein paar Frauen totgedrückt, so schlimm ging es dabei zu…
Im „Grand Hotel“, wo in einem pompösen Speisesaal im Stil der Achtzigerjahre die Ausländer zu essen bekommen, ist nachts Jazz (sonst in Rußland als bourgeois verboten) und Tanz. Man fühlt sich gespensterhaft, zwischen Palmen und Seidenlampen, als wäre man Schaustück in einem Museum. In Moskau wird viel gemunkelt von der Pracht und Eleganz dieses in Spiritus konservierten Stückchens Europa im Sowjetstaat. In Wirklichkeit sieht man ein paar Ingenieure und Trustleute, ein paar Ausländerinnen, die geschmackvoll genug sind, sich aufs einfachste anzuziehen, und dann noch hier und da eine Russin, die aus irgendeinem Ziel und Grund ins „Grand“ gehen kann, ohne sich mißliebig zu machen. Diese Frauen haben alle das befangene Wesen von Menschen aus der äußersten Provinz; sie tragen ihr bestes Kleid – auch im Theater tragen sie manchmal ihr bestes Kleid. Es ist von kleinen Schneiderinnen nach verschollenen Moden gemacht, aus irgendeiner Seide, die man erwischt und mit mehr als 800 Kronen per Meter bezahlt hat. Ich wurde angefleht, eine Seite aus einem Modeblatt hinzuschicken, denn ganze europäische Zeitungen sind verboten, und sie wunderten sich sehr über unsre länger und knapper gewordene Kleider. Übrigens haben sie eine Art Modenzeitung auch dort – aber die macht Frauen nicht glücklich. Ein rührendes kleines Requisit der Eitelkeit sah ich, als ich mit ihnen ins Dampfbad ging: den Büstenhalter. Sie haben da einen Schnitt – ich denke, ihre Modenzeitung lanciert ihn – und eine besondere Methode, aus alten Spitzengardinen etwas einigermaßen Pikantes zurechtzukriegen. Es ist etwas wie der Sieg der Weiblichkeit mitten im Bankerott der Weiblichkeit. Und ich muß sagen, diese kleinen Büstenhalter aus Vorhandtüll haben mir eben so viel Eindruck gemacht und mehr verraten als der „Rote Platz“ mit den Hunderten von Menschen, die immer vor dem Grabmal Lenins warten …
In: Prager Tagblatt 24.1.1931, S. 3.
Arnold Höllriegel: Geist und Gesicht des Bolschewismus
A.H.[öllriegel]: Geist und Gesicht des Bolschewismus (1926)
Über die geistigen und künstlerischen Probleme der russischen Revolution ist bei uns noch nicht viel geredet worden. Aber gerade in diesen Tagen hat Westeuropa einige beträchtliche Proben der neurussischen Kunst zu sehen bekommen. Die Gastspielreise der „Habima“ nach dem Westen, noch mehr der große „Potemkin“-Film, von dem man in Berlin und in Wien eben so viel redet, hat bewiesen, daß es tatsächlich so etwas zu geben scheint, wie eine Kunst des Bolschewismus. Es ist zur rechten Zeit ein bemerkenswertes Buch erschienen, das über die geistigen Strebungen des heutigen Rußland die genaueste Auskunft gibt: Geist und Gesicht des Bolschewismus von René Fülöp-Millergeb. als René Philipp Müller am 17.3.1891 in Caransebes (heute Rumänien; ehem. Österreich-Ungarn) – gest. am... (Amalthea-Verlag, Wien). Es ist ein unendlich umfangreiches Buch, eines von jenen, die man leicht „monumental“ nennt, es enthält allein 500 Bilderseiten, darunter viele farbige, und ist eigentlich als eine Generaldarstellung der ganzen russischen Gegenwart gedacht. Indessen scheint es, daß der Autor den Geist des Bolschewismus schärfer erkannt hat, als sein Gesicht; das Buch ist ausgezeichnet, wo es Absichten, Tendenzen, Strömungen schildert; die Ergebnisse, das Zuständliche und Gegenwärtige sind vielleicht mit Absicht ein wenig undeutlicher dargestellt.
*
Das Buch beginnt mit einer Photographie: Die Masse. Tausend oder zehntausend russische Köpfe auf einer Platte. Wer zählt? Das ist der Held der russischen Revolution, das Objekt ihrer Kunst.
„Einhundertfünfzig Millionen“, sagt der rote Dichter Majakowski am Eingang seines Hauptwerkes,
„Einhundertfünfzig Millionen:
Das ist der Name des Dichters dieses Gedichts.
Geschosshagel prasselnd:
Dies ist der Rhythmus.
Feuerböen geschleudert zickzack,
Schlagwetter, Tretminen –
Plätze platzen,
Haus hüpft an Haus. –
Eine Sprechmaschine bin ich.
Pflastersteine wirbelten.
Eure Schritte preßten den Böden sich ein
Klirrend, als Buchstaben:
Einhundertfünfzig Millionen:
Stampft!
Und also gedruckt war hier diese Ausgabe.“
(Nachdichtung von Johannes R. Becher)
Wladimir Majakowski ist, wie man aus Fülöps Buch erfährt, ein esoterischer Ex-Snob. Vor der Revolution hieß einer seiner Gedichtbände: Majakowski lacht, Majakowski lächelt, Majakowski macht sich lustig. Jetzt macht er sich – unwichtig. Er wie alle Dichter, wie alle Künstler des revolutionären Rußland, kennt nur noch ein Ziel: in der Masse verschwimmen.
Das sind noch ein paar Verse von Majakowski:
Rück an die Rippen, eisenspitz, die Ellenbogen,
Knall‘ die Faust dem frackgedrechselten Wohl-
Tätigkeitsherrn dort in die Fresse!
„Den Schlagring aufs Nasenbein!
Tabula ras!
Schleif dein Gebiß,
Beiß dich ein in die Zeit,
Durchnage die Gitter!…
Neue Antlitze!
Neue Antlitze! Neue Träume!
Neue Gesänge! Neue Visionen!
Neue Mythen hinschleudern wir,
Aufzünden wir eine neue Ewigkeit…“
*
Den Kampf gegen „das kleine, rhachitische, von Angst zuckende Ich, geistig verarmt, verwirrt im Dunkel der Widersprüche“ hat schon vor der Revolution der proletarische Dichter Maxim Gorki angekündigt; er ist der Vorläufer, der Johannes des neuen Heilstraums vom „Kollektiven Menschen“, vom „Dividuum“, dem „Massenmenschen“. Diese Masse, als ein Gesamtwesen zu sehen, halb als lebendes Tier, als Tausendfüßler, halb als eine ungeheure Maschine, blieb den nachrevolutionären Theoretikern der bolschewistischen Idee vorbehalten. Fülops Buch ist voll von Zeichnungen und Plakaten, auf denen immer eines versucht wird: eine große Menschenmasse so zu zeichnen, daß ihre Arme und Beine nur noch aussehen wie Hebel, Hämmer oder Greifzangen, ihre Leiber und Köpfe wie Nägel und Schrauben, das ganze Getümmel der Masse wie eine riesige seelenlose Maschinerie. Ein berühmter Zeichner, Krinski, zeichnet fortwährend den „mechanisierten Arbeitsmenschen“ als Fortsetzung und Bestandteil der Maschine. Und wenn die heutige russische Zivilisation die Maschine anbetet – sie wahrhaftig über den Altären entweihter Kirchen erhöht und sie in den Hintergrund der aller Dekoration entblößten Theaterbühnen stellt – dann ist irgendwie immer die kollektive lebendige Maschine gemeint, die menschliche, doch irgendwie entmenschlichte Masse. Statt von einem himmlischen Jerusalem träumt die russische Seele heute von einem immensen irdischen Chicago. Wladimir Majakowski phantasiert:
Chikago: Stadt,
Auferbaut auf einer Schraube!
Elektro-dynamo-mechanische Stadt!
Spiralförmig –
Auf einer stählernen Riesenscheibe –
Jeden Stundenschlag
Sich um sich selbst drehend –
5000 Wolkenkratzer –
Granitene Sonnen!
Die Plätze:
Kilometerhoch in den Himmel galoppieren,
Menschenmillionenüberkrabbelt,
Aus Stahltrossen geflochten,
Fliegende Broadways.
An den Wimperspitzen
Klebt knisternd dir
Elektrisches Licht. . .
Rauchplakate in den Lüften –
Phosphoreszierende Inschriften!“
(Nachdichtung von Johannes R. Becher)
So plätschern durch dir Lieder des Durstlandes Arabien die kühlen Wässer des Paradieses: das Rußland von heute seufzt, lechzt nach einer hypertrophischen Technik, eben, weil es nichts dergleichen besitzt.
*
Diese neue kollektivistische Kunst, Philosophie, Religiosität des herrschenden Bolschewismus meint immer das Volk, die Masse – singt von ihr, betet zu ihr; wird das Gebet erhört? Fülöps Buch läßt die Antwort zweifelhaft erscheinen. Sicherlich ist das Pathos dieses Wollens sehr stark, oft wohl wahrhaft hinreißend. Fülöp-Miller schildert gewisse gewaltige Konzerte, bei denen die Instrumente Fabriksirenen sind und die Dirigenten Männer mit roten Fahnen, die von der Höhe der Fabriksschlote Zeichen geben:
„Schon im Jahre 1918 wurden in Petersburg und später in Nishnij Nowgorod Versuche mit derartigen Fabrikspfeifensymphonien angestellt; am 7. November 1923 erfolgte in Baku die erste Aufführung großen Stils. An ihr nahmen die Nebelhörner der gesamten Kaspischen Flotte, alle Fabrikssirenen, zwei Batterien Artillerie, einige Infanterieregimenter, eine Maschinengewehrabteilung, etliche Hydroplane und schließlich Chöre teil, bei welchen sämtliche Zuschauer mitwirkten. Die Feier soll sehr eindrucksvoll gewesen sein; es ist nicht zu verwundern, daß diese ‚Musik‘ weit über die Mauern der Stadt Baku hinaus zu vernehmen war.
Auch in Moskau sind wiederholt Experimente mit Fabrikspfeifensymphonien unternommen worden, ohne daß jedoch besonders erfreuliche Resultate damit erzielt worden wären; einerseits war die Modulationsfähigkeit der verwendeten ‚Instrumente‘ nicht eben groß, anderseits waren die aufgeführten ‚Kompositionen‘ viel zu kompliziert. Obwohl die „Dirigenten“, auf hohen Kommandotürmen postiert, durch Fahnenschwenken das Einsetzender verschiedenen örtlich sehr weit auseinanderliegenden Sirenen und Dampfpfeifen regulierten, war es doch nicht möglich, einen einheitlichen akustischen Eindruck zu erzielen; die Verzerrungen waren derart, daß das Publikum nicht einmal die so bekannte und vertraute ‚Internationale‘ zu erkennen vermochte.“
Die Frage ist nur, ob so viel Wagemut im Erneuern etwa das reaktionäre alte Volkslied aus den Seelen, aus den vielen einzelnen, hoffnungslos unmechanischen Seelen eines ganzen Volkes zu reißen vermag – –
In: Der Tag, 13.6.1926, S. 10.
Ernst Fischer: Legende: Lenin
Ernst Fischer: Legende: Lenin (1927)
Der schöpferische, der staatengestaltende, der zukunftsbestimmende Mensch – das war bisher der große, leidenschaftliche, sich selber in allen Geschehen projizierende Egoist, der sein Privatleben ins Gigantische, Weltgeschichtliche steigerte. Alexander, der Knabe, der wagende Abenteurer, Cäsar, der Mann, der ehrgeizige Zyniker, Napoleon „Unmensch und Übermensch“, wie Nietzsche ihn nannte, Bismarck, das prachtvolle preußische Raubtier, sie alle, unberechenbar, überschäumend, wollten ihre Persönlichkeit und nichts als ihre Persönlichkeit durchsetzen, durchstoßen, wollten keine allgemeine Idee, sondern nur den eigenen Willen zur Macht verwirklichen. Sie alle waren – in höherem Sinne – ideenlos, glaubten an das eigene Genie und an die Dummheit der andern, an den eigenen Sinn und an den Unsinn der Welt, an den eigenen Aufstieg und an die Unveränderlichkeit der Masse. Sie siegten von Situation zu Situation und verachteten alle Systeme, sie meinten, die Herren einer Entwicklung zu sein, deren Werkzeuge sie waren.
Die Gegenspieler dieser fanatischen Hasardeure waren die fanatischen Bekenner einer Idee, gegen die Tat erhob sich das Wort, gegen das Leben die Lehre, gegen die Macht der Geist. Aber so stark diese Männer in der Formulierung des Richtigen waren, so schwach waren sie, wenn es galt, das Richtige zu tun, und je mehr sie die Zukunft für sich hatten, desto mehr hatten sie die Gegenwart gegen sich. So schien es, als müsse ewig der Heiland gegen den Cäsar stehen, als gäbe es zwischen dem Genius der Erkenntnis und dem Genius der Tat keine Verständigung, als sei die Idee der Gemeinschaft unvereinbar mit der Gewalt der Realpolitik (denn Realpolitiker nannte man alle die großen Abenteurer, die Erfolg hatten). Hier der Mann der Idee, der Idealist, der Träumer, der Prophet – dort der Mann der Aktion, der Realist der Diktator, der Politiker, das war die Antithese, die man für selbstverständlich hielt.
Auf einmal aber geschah das Unerhörte, das, was niemand erwartet hatte. Einer, der so fanatisch, so hartnäckig, so unerschütterlich an ein System, an eine Lehre glaubte wie selten ein Mensch, der den meisten als ein verbohrter Dogmatiker, als ein unbelehrbarer Irrealist galt, wurde über Nacht der Führer einer ungeheuren Bewegung, der Diktator eines gewaltigen Staates, ein Politiker von napoleonischer Intensität. Und er blieb dabei der gläubige Bekenner einer Idee, der von einer unantastbaren Überzeugung Besessene, der über alles Privatleben hinausragende Puritaner, wie eh und je. Und er war, obwohl er so rein und so bewußt der Diener einer überpersönlichen, einer allgemeinen Sache blieb, obwohl er den Geist an die Macht nicht verriet, die Zukunft an die Gegenwart nicht verkaufte, allen „Realpolitikern“, allen Diplomaten und allen Staatsmännern gewachsen. Das ist das Große an Lenin: die „Synthese von nüchternem Realismus und revolutionärem Enthusiasmus“, von der Otto Bauer1881 als Sohn des wohlhabenden jüdischen Textilindustriellen Philipp Bauer in Wien geboren, setzte er sich bereits wäh... am Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie sprach, die Aufhebung des Gegensatzes von Gläubigkeit und Politik, die Vereinigung von Tat und Idee in einem einzigen Menschen. In hoher Vollkommenheit verkörperte er den Typus des marxistischen Politikers und, darüber hinaus, den Typus kommender Generationen, für die der alte Zwiespalt jeder Klassengesellschaft, der Zwiespalt zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit, zwischen Denken und Tun in seiner tragischen Härte nicht mehr existieren wird. Er verkörpert den Typus des marxistischen Politikers wie Jaurés, wie Bebel – nur unter andern historischen Voraussetzungen, in einer anders gearteten Umwelt. Jaurés, der in einem demokratischen Staat mit revolutionären Traditionen um jeden Beistrich einer Resolution kämpfte, der das Kleinste und Unscheinbarste beachtete, um plötzlich mit hymnischem Schwung über alles hinauszubrausen und letzte Ziele zu weisen, Bebel, der mit verbissener Sachlichkeit für die unbedeutendsten sozialpolitischen Forderungen eintrat, um plötzlich in apostolischer Ergriffenheit die Wandlung der Welt zu predigen, sie waren bei allen Verschiedenheiten Lenin im wesentlichen verwandt. Aber die Situation, in der Lenin eingriff, war an Spannungen reicher, verlangte das Äußerste, die Übersteigerung aller Möglichkeiten.
Man vergegenwärtige sich das Leben Lenins: als blutjunger Mensch wird er von der Idee des Marxismus gepackt, sein leidenschaftlicher Intellekt treibt diese Idee zu letzten, unerbittlichen Konsequenzen, steigert sie zu einem radikalen System – und diesem bleibt er treu, zwanzig Jahre lang im Exil, vor und nach dem fehlgeschlagenen Experiment im Jahre 1905, die Richtigkeit dieses Systems verteidigt er theoretisch gegen alle, die andrer Meinung sind. Liest hundert und hundert Bücher, tausend und tausend Broschüren, Zeitschriften, Zeitungen, polemisiert zornig, schonungslos, unduldsam gegen seine Widersacher, prophezeit, daß die Geschichte ihm recht gebe, daß er einen ungeheuren historischen Wahrheitsbeweis führen werde, konzentriert alle Gedanken, alle Gefühle, alle Energien in diesen mit Logik und Wissenschaft gepanzerten Traum und wartet, wartet. – Revolution in Rußland! Zwanzig Jahre lang hat er gewartet, nun wartet er keine Sekunde mehr: er kehrt in die Heimat zurück und schleudert, kaum angekommen, den Männern der Frühjahrsrevolution sein System wie eine Kriegserklärung entgegen. Und es beginnt das grandiose, das atemraubende Schauspiel des Eindringens der Idee in die Wirklichkeit, der Wirklichkeit in die Idee, der Verschmelzung dessen, was der Augenblick, was die politische Situation fordert mit dem, was von der Zukunft, von der Entwicklung gefordert wird. Es beginnt der Prozeß der Realisierung, in dem dieser maßlose Mensch, der zwanzig Jahre lang wartete und nun in wenigen Monaten alles vollbringen möchte, bis Maße des Möglichen kennengelernt und begreift, in dem die Theorie des Fanatikers nichts von ihrer diamantanen Unantastbarkeit verliert, der Fanatiker aber eine Geschmeidigkeit der Taktik gewinnt, die beispielslos ist. Es beginnt die Synthese von nüchternem Realismus, der zur Landverteilung, zur Neppolitik, zu den Auslandskonzessionen führt, mit revolutionärem Enthusiasmus, der durch den immer dichter werdenden Nebel der Gegenwart die Flamme der Zukunft nicht weniger deutlich sieht als einst.
Und dieser Diktator, dieser phantastisch mächtige Mensch hat kein Privatleben, verzichtet auf alles, was nicht zur Sache gehört, scheint eine Fleisch und Blut gewordene Idee, das lebendige Symbol einer welthistorischen Bewegung zu sein. Die ganze Ungeduld der Arbeiterklasse, die über alle Vernunft hinaus an das Wunder glaubt, und die ganze Geduld der Arbeiterklasse, die gelernt hat, auf ihre Zeit zu warten, ihr ganzer Trotz und ihre ganze Klugheit, ihr ganzer wagender Mut und ihre ganze wärmende Vernunft, das alles vereinigt sich in ihm. Persönliches hat keinen Platz: Lenin liebt die Musik Beethovens, sie rührt an sein Herz, er will die Menschen umarmen und gut und brüderlich sein, wenn er sie hört – und darum versagt er sich diese Musik, denn es ist in dieser Zeit seine Aufgabe, hart zu sein und zu hassen. Vielleicht ist diese Anekdote nur eine Legende, jedenfalls aber trifft sie das Wesentliche: Napoleon, der Typus, den er verkörpert, lebte sein Leben, verschwenderisch, wild und bunt, Lenin lebt das Leben der Arbeiterklasse, das anonyme, das fachliche, das knappe Leben des Proletariats. Napoleon wall, daß sein Name, Lenin, daß seine Sache ewig sei. Napoleon ist das anarchische, Lenin das organisierte Genie.
Auch Robespierre lebte sie wie Lenin. Nur daß jener die Wirklichkeit nicht anerkannte und ein ethisches Programm um jeden Preis durchsetzen wollte, nur daß er, der große Pendant, die Geschichte, die er schulmeisterte, nicht zu meistern vermochte, daß das papierene Gebäude seiner Theorie in dem allzu reichlich vergossenen Blut sich auflöste – und daß dann Napoleon kam, der große Gegenspieler aller Robespierres. Lenin war die Synthese: die abstrakte Reinheit des einen war in ihm und die realistische Kraft des andern, ein starres Prinzip, wie in Robespierre, aber durchstürmt von lebendiger Flamme, brutaler Lebensfülle, wie in Napoleon, aber organisiert wie eine Maschine, wie eine Partei. „Marx plus Elektrifizierung“, das war die Formel, auf die man die Revolution in Rußland brachte. Diese Formel bedeutet: „Revolutionärer Enthusiasmus und nüchterner Realismus!“ Diese Formel gilt überall, wo eine Arbeiterpartei nicht nur für eine Idee wirbt, sondern auch ein Stück Wirklichkeit verwaltet, sie gilt in Wien wie in Rußland. Diese Formel ist Mensch geworden in Lenin.
Und so ist Lenin für alle Marxisten, für alle Arbeiter, gleichgültig, welcher Partei sie angehören, gleichgültig, ob sie die politische Taktik, die er lehrte, anerkennen oder ablehnen, als Persönlichkeit, als Typus und als Symbol die Verkörperung ihres Wesens, ihres Begriffes von menschlicher Größe – hinausragend über die Geschichte in die Legende.
In: Arbeiter-Zeitung, 6.11.1927, S. 17.