N.N. [Friedrich Austerlitz]: Dunkle Jahreswende. (1919)

Ein Jahr, verdunkelt durch ein Übermaß an Leiden und Sorgen, ist abgeschlossen, und überaus traurig umwölkt ist die Zukunft, die das neue Jahr eröffnet. Die lebenden Geschlechter sind die Opfer des Weltkrieges, der Millionen verschlungen, und der Weltwirtschaftskrise, die über Millionen Hunger und Siechtum verhängt hat. Diese Krise einer Gesellschaftsordnung, die auf Gewalt und Entrechtung aufgebaut ist, hat ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Das rasende Emporschnellen der Preise aller Gebrauchsgüter, die sprunghafte Entwertung der Lohnkrone, das beispiellose Anschwellen der Papiergeldflut, der drohende Zusammenbruch der Staatsfinanzen: all dies sind nur die Gradmesser der wachsenden Verarmung der arbeitenden Menschheit, für die die Welt, die noch immer dem Götzen des Kapitalismus dient, nicht genug Nahrung, nicht genug Kleider, nicht genug Güter zur Fristung eines selbst kümmerlichen Daseins zu finden fähig ist. Und wie sich hierzulande aus dem breiten, düsteren Untergrund der in Elend versinkenden Massen das wahnsinnige Schwelgen in Luxus und Üppigkeit der besitzenden Klassen erhebt, so auf dem Untergrund des sterbenden Mittel- und Osteuropa die Fülle von Güterreichtum und Wohlbehagen Westeuropas und Amerikas. Die Welt ist todeskrank; sie ist übermüde einer Ordnung, die sie durch Krieg und Krise jagt und ohnmächtig ist, das von ihr erzeugte Chaos zu bändigen; sie trotzt dem Klassensystem, das die Säuglinge, die Kinder der Armen verkümmern und hinsiechen, die arbeitenden Frauen in ihrer Blüte welken läßt, die arbeitenden Männer vorzeitig hinwegrafft – während sich die Genußsucht der Reichen keine Grenzen setzt; sie empört sich gegen die Herrschaftsmethoden der Gewalt, die Europa zerrissen und zerklüftet und ihm eine Staatenordnung aufgezwungen hat, die diesen Zustand der Zerrissenheit verewigt.

Auf keinem Volke der Erde lastet der Wahnsinn der kapitalistischen Gesellschaftsordnung so schwer wie auf dem arbeitenden Volke Österreichs. Der Friede, den die imperialistischen Mächte in Paris geschaffen haben, hat unser Land verstümmelt, es aus einer großen Wirtschaftsgemeinschaft heraus­gerissen und ihm den Anschluß an eine andere Wirtschaftsgemeinschaft, an das Deutsche Reich, versagt. und ihm den Anschluß an eine andere Wirtschaftsgemeinschaft, an das Deutsche Reich, versagt. So wurde Deutschösterreich zu einem lebensunfähigen Gebilde, Deutschösterreichs Volk zum Bettlerdasein verdammt, Deutschösterreichs Arbeitskraft zur Beute der Plünderer aus aller Herren Länder. Der Tiefstand der österreichischen Krone verwandelte das Land derer, die von der Gnade aller leben, zu einem Paradies von Festesfreuden, die nirgendwo wohlfeiler zu kaufen sind. So sickert seit zwei Jahren das letzte Hab und Gut ins Ausland, so vermindert sich täglich der armselige Güterfonds, so schwillt stündlich die Flut der Verelendung über dieses unglückliche Volk an. Fast ist der Kelch des Jammers bis zur Neige geleert, die Grenze des Er­träglichen erreicht: es kann so nicht weiter gehen! Der Zustand, in den der Vertrag von Saint-Germain Österreich versetzt, ist unerträglich. Sind die herrschenden Mächte unvermögend, das Dasein der österreichischen Völker aus eigenen Mitteln zu sichern, dann muß ihm die Freiheit gegeben werden, im An­schluß an die deutsche Republik Hilfe zu suchen. Das vergangene Jahr hat die Krise des österreichischen Staates allen Augen der Welt sinnfällig offenbart; das künftige Jahr heischt gebieterisch ihre Lösung.

Aber in der Krise Österreichs spiegelt sich die Krise des ganzen Europas. Die Siegesmächte haben das Festland zerstückelt und willkürlich, nach ihren Herrschaftsinteressen, aufgeteilt. Sie haben damit vor allem die Wirtschaftskräfte Deutschlands unterbunden, die Produktionsbasis des Deutschen Volkes in einem Maß eingeengt, daß sein Dasein schwer bedroht ist. Aber mit dem Gedeihen Deutschlands, mit der Wiederaufrichtung der deutschen Wirtschaft ist das Leben und Gedeihen aller europäischen Völker verbunden. Bricht Deutsch­land unter der Last der Friedensbedingungen zusammen, so begräbt sein Sturz, auch Frankreich, Italien, die Tschechoslowakei und Polen, also auch jene Staaten, die im Überschwang der Siegesgefühle dem Deutschen Reiche den Karthagofrieden aufgezwungen haben. Europa ist eben eine unlösbare Einheit, von der ein so lebenswichtiges Glied wie das sechzigmillionenköpfige deutsche Volk in seinem Aufstieg nicht gehemmt werden darf, wenn das Ganze darunter nicht schwer leiden soll.

So heischt die Existenz des ganzen Kontinents eine Revision des Versailler Friedenswerkes, die dem Deutschen Reiche Luft, Entwicklungsmöglichkeit, die Grundlagen der Arbeit wiedergibt. Der Revision widerstreiten die imperialistischen Interessen der Siegermächte, vor allem die Frankreichs. Die überragende Stellung auf dem Kontinent, die ihm sein Sieg über das wil­helminische Deutschland gab, erscheint in der Vorstellung der französischen Machtpolitiker gefährdet, wenn sich Deutschlands Wirtschaftskraft zur früheren Größe wieder erhebt. Noch beherrscht sie die Furcht vor der deutschen Revanche, die sie an der For­derung der Erfüllung des Versailler Friedens unerbittlich beharren läßt. Aber der Krisenzustand Europas kann nicht überwunden werden, solange die Gewalt nicht dem Rechte, der Siegerwille nicht der Völkerversöhnung weicht, solange nicht die Grundlagen eines wirklichen Friedens geschaffen sind. Indes aber mehr als zwei Jahre seit dem Waffenstillstand vergangen sind, ist die halbe Erde noch im Kriege verstrickt. Noch sind die unermeßlichen Gebiete Rußlands mit ihren unausschöpflichen Naturschätzen aus dem Weltwirtschaftsverkehr ausgeschlossen, noch dienen die Millionen Arbeitshände Polens und Rußlands dem Kriegswerk, noch wütet im ganzen Vorderasien kriegerisches Verderben. Der Imperialismus, der den Weltkrieg entfesselt, läßt die Erde nicht zur Ruhe kommen, Und die Jahreswende, an der wir stehen, läßt Hoffnungen auf eine bessere Zeit nicht aufkeimen.

So leuchtet durch das Dunkel der Zeit die Idee des Sozialismus als die einzige Rettung aus diesem Weltenchaos. Die Götzenwelt der kapitalistischen Gewaltordnung ist im Versinken; sie hat sich selbst das Fundament untergraben, auf dem sie ruhte. Ein neuer Geist, ein neuer Wille ringt durch all das Entsetzen zur Tat. An dem Kapitalismus ist die Welt zu Tode erkrankt, an dem Sozialismus wird sie genesen. Und wenngleich der Weg auch lang und voll an Leiden ist: es gibt keinen anderen, und das Jahr, das nun anhebt, soll uns an seiner Neige dem Ziele bedeutet genähert zu finden.

            In: Arbeiter-Zeitung, 1.1.1921, S. 1.

N.N.: Antisemitische Hetze in Wien. (1919)

Die Christlichsozialen und ihre alldeutschen Freunde wollen nicht locker lassen. Ihr kläglicher Zusammenbruch hat sie keineswegs eines Bessern belehrt. Noch immer glauben sie mit der Judenhetze ein „Geschäft“ machen zu können. Vor kurzem haben sie in Wien einen „Antisemitenbund“ gegründet, dessen Programm folgendermaßen lautet?

Was will der Antisemitenbund?

Er will das deutsche Volk über die große ihm von Seite der Juden drohende Gefahr aufklären. Das wird in Versammlungen geschehen, durch Flugschriften, durch eine zweckdienliche Bücherei sowie durch Zeitschriften, die das Treiben der Juden gegen uns erörtern. Das deutsche Volk soll planmäßig zur Bekämpfung des jüdischen Elnitusses auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens angehalten werden. […]

Der Antisemitenbund begnügt sich aber nicht mit dem theoretischen Programm, sondern er versucht auch, zur Tat überzugehen. Dieser Tage wurden in Wien folgende Flugzettel verbreitet:

Volksgenossen!

Die furchtbaren Massenmorde des Christenvolkes in Ungarn, sowie die vollständige Versklavung und Knechtung aller Nichtjuden durch die jüdischen Kommunistenführer, wie wir es in allen Ländern, wo das Kommunistenparadies errichtet wurde, in den scheußlichsten Formen erlebt haben, muß auch Euch, die ihr nicht dem vollständigen Untergang unseres Volkes ruhig zusehen wollt, im deutschösterreichischen Schutzverein Antisemitenbund, der unterschiedslos alle Parteien gegen dieses Wuchervolk vereinigt, als eifrige Mitkämpfer am Aufbau einer gesunden Volkswirtschaft vereinigt finden.

Erscheinet zu der am 14. Juli, um 7 Uhr abends, in der Jaroschauer Bierhalle, Endstation des 5-Wagens neben Zirkus Busch, stattfindenden Versammlung in der unter anderen Rednern, Schriftsteller Anton Orel „über die tieferen Ursachen und das Wesen des Judaismus“ sprechen wird.

Volksgenossen, nicht durch Jammern und Schimpfen werden wir das Judenjoch abschütteln, sondern, durch strammes Zusammenhalten. Erscheinen zur Versammlung ist daher Pflicht eines jeden Gutgesinnten.

Die Ortsgruppe Leopoldstadt des deutschösterreichischen Schutzvereines Antisemitenbund


Der Antisemitenbund versucht also auch, Propagandaversammlungen abzuhalten. Freilich, damit hat er wenig Glück. Die Sozialisten und Kommunisten vereiteln die Bemühungen. So fand Montag abends in der Jaroschauer Bierhalle die vom Antisemitenbund einberufene Versamm­lung zur Gründung der Ortsgruppe Leopoldstadt galt, der auch zahlreiche Kommunisten beiwohnten. Es kam zu stür­mischen Szenen, weshalb sich die Leitung der Versammlung gezwungen sah, sie frühzeitig zu schließen. Schriftleiter Sedlak legte die Ziele des Antisemitenbundes dar, der als Schutzbund gedacht sei, um dem übermäßigen Einfluß des vordringenden Judentumes entgegenzuarbeiten. Der nächste Redner, Schriftsteller Orel, sprach unter fortwährendem Widerspruch der Versammlung. Zum Schlusse gab der Redner den Juden den Rat, nach Palästina auszuwandern und ruft in den Saal: „Was bleiben Sie denn in Oesterreich, wandern Sie doch aus!“ Mehr konnte er nicht mehr spre­chen, denn es entstand hierauf ein ohrenbetäubender Lärm, die ganze Versammlung sprang von den Sitzen auf, es drohte, jeden Moment zu Tätlichkeiten zu kommen. Schließ­lich wurde eine Ordnerkette gebildet, die Antisemiten konnten das Lokal verlassen, worauf dann unter Lärm und Absingen von Liedern die Kommunisten als letzte aus dem Lokal abzogen.

In der Gemeinderatssitzung vom 10. d. M. interpel­lierten die jüdisch-nationalen Gemeinderäte wegen dieser Judenhetze. Bürgermeister Reumann erwiderte: „Der Inter­pellation liegen Klebezettel mit verschiedenen Zuschriften und ein Flugzettel bei, in dem gesagt wird, daß der Vernichtungsfriede ein Werk der Juden ist. Ich glaube, es ist nicht interessant, daß ich Ihnen diese zur Verlesung bringe. Es ist tief bedauerlich, daß in dieser schicksalsschweren Zeit eine gewisse Clique, sich derartige verhetzende, die Bevölkerung aufwiegende Dinge erlaubt. Es muß dieses Beginnen auf das schärfste verurteilt und tief verabscheut werden. Gerade in der jetzigen Zeit, wo wir so viel Zündstoff angehäuft haben, ist es eine Gewissenlosigkeit, noch mehr Zündstoff anzuhäufen. Hoffentlich wird im Betretungsfalle gegen die Verbreiter solcher verhetzender Flugschriften mit jener Schärfe, die in der Gegenwart geboten ist, vorgegangen werden. Ich möchte aber noch bemerken, daß in Wien nicht der Boden für eine derartige Hetze gefunden wird und ich bin vollkommen überzeugt davon, daß die Mas­sen der Arbeiterschaft sich nicht zu Judenpogromen werden hinreißen lassen. Ichglaube, es genügt, wenn in öffentlicher Gemeinderatssitzung der Versuch zur Aufhetzung auf das schärfste verurteilt wird.

In der Gemeinderatssitzung vom 13. d. M setzte wie­der eine Hetze gegen die jüdischen Flüchtlinge ein.

Bürgermeister Reumann berichtete über die Erwerbung des Flüchtlingslagers in Steinklamm durch die Gemeinde Wien.

Dr. Glasauer (christlichsozial) äußerte Bedenken, ob die­ses Lager für den beabsichtigten Zweck geeignet ist. In Wien herrscht eine kolossale Wohnungsnot. Aus Lundenburg vertriebene deutschösterreichische Staatsbürger müssen auf einem Rangiergeleise in Hütteldorf ein Freilager halten, während noch 70.000 Flüchtlinge aus Galizien und der Bukowina allein hier sich aufhalten. Die Agitation mit den Flugschriften ist für die Juden gar nicht gefährlich. Die Flugschriften, die die Kommunisten haben, nämlich das Papiergeld, stehen den Antisemiten nicht zur Verfügung. Pogrome entstehen dadurch, daß sie von denjenigen, gegen die sie sich richten, veranlaßt werden. Wenn die Juden es überall so machen, wie die jüdischen Flüchtlinge in Wien, so kann ich Pogrome zwar nicht begrüßen, aber für verständlich und eventuell entschuldbar halten.

Dr. Schiwarz-Hiller: Warum für entschuldbar?

Dr. Glasauer: Ich kann sie für erklärlich halten.

Dr. Schwarz-Hiller: Diese Rede erinnert an eine Zeit, zu der in diesem Saale jede Gelegenheit benützt wurde, um eine Judendebatte hervorzurufen. Die Flüchtlinge wer­den immer als die Schuld der ganzen Verhältnisse hingestellt. (Rotter: Arme Hascherln!) Dr. Schwarz-Hiller: Jawohl, arme Hascherln! Die Sache liege aber nicht so unbe­denklich, wenn man gerade in einem Zeitpunkt, in dem gewisse Momente die Bevölkerung beherrschen, auf gewisse Leute mit dem Finger zeigt. Die Flüchtlinge haben das Anrecht des Hierseins, weil sie durch ihre Flucht die Be­jahung des Österreichertums gezeigt haben.

Nach weiteren Reden wird der Antrag angenommen.

In: Jüdische Korrespondenz, 18.7.1919, S. 4-5.

N.N. [Red. S. Finkelstein]: Große Massenprotestversammlung des Bundes Jüdischer Frontsoldaten (1933)

Im bis aufs letzte Plätzchen gefüllten Festsaal des Hotels Continental fand Montag, den 30. Jänner, eine vom Bund jüdischer Frontsoldaten einberufene Massenversammlung statt, die in schärfster Form gegen die judenhetzerischen Enunziationen des letzten Hirtenbriefes des Linzer Bischofs Stellung nahm.

Bundesführer Generalmajor Emil Sommer eröffnete die Versammlung mit folgender Ansprache:

In dieser schweren Zeit, da die würgende Wirtschaftskrise, der Kampf aller gegen alle auf den Höhepunkt gestiegen ist, mußten wir das traurige Schauspiel erleben, daß von einer Stelle, die berufen ist, das Wort der Nächstenliebe, der Milde und des Erbarmens zu predigen, ein Hetzruf in die ohnehin aufgeregten und zu Haß und Verfolgung geneigten Volksmassen geworfen wurde.

Der ‹Bund jüdischer Frontsoldaten Oesterreichs› weist diese Pauschalverdächtigungen der Juden zurück und wird es nicht dulden, daß auf dem Rücken des Judentums der Kampf nichtjüdischer Parteien ausgetragen werde.

Das Mitglied des Bundesvorstandes Robert Politzer führte u.a. aus:

Wir vom ‹Bund jüdischer Frontsoldaten Oesterreichs› haben auf keinerlei politische Bedenken Rücksicht zu nehmen; wer immer unsere Ehre antastet, ist gegen uns. Wir haben nicht nur die Legitimation, sondern auch unseren Gefallenen gegenüber die Pflicht, diesen Standpunkt zu vertreten. Vom Schulbuben bis zum Bischof von Linz hinauf glaubt jeder seine Schuhe an uns abstreifen zu dürfen. Sie bewegen sich auf der Linie des geringsten Widerstandes. Wenn wir aber einig sind, werden alle ihre Versuche zuschanden werden.

Regierungsrat Dr. Lenk sagte:

Im Hirtenbrief wird die Gesamtheit des Judentums als Urheber des Bolschewismus und Führer des Sozialismus und des Mammonismus bezichtigt. Wir kennen nur Juden. Wir werden uns zu wehren wissen, denn wir sind stärker als wir glauben. Wir sind stark, wenn wir zum wirklichen Urquell des Judentums zurückfinden.

Zum Schluß wurde einstimmig eine

                                               Resolution

gefaßt, in der es u.a. heißt:

            Die am 30. Jänner 1933 im Festsaale des Hotels Continental in Wien tagende Versammlung des ‹Bund jüdischer Frontsoldaten Oesterreichs› gibt ihrer tiefsten Entrüstung Ausdruck über die ungeheuerlichen Anklagen und Beschimpfungen, welche in dem letzten Hirtenbrief des Bischofs von Linz gegen die Gesamtheit des Judentums erhoben werden.

            Die jüdische Bevölkerung verwahrt sich entschieden dagegen, daß durch derartige Enunziationen, aus denen trotz aller Bemäntelungen krasser Antisemitismus spricht, noch neuer Zündstoff in die durch Not, Elend und Parteihader ohnehin erregte Bevölkerung getragen wird.

            Der ‹Bund jüdischer Frontsoldaten Oesterreichs›, dessen Mitglieder im Krieg ihre Pflicht dem alten Vaterlande gegenüber voll und ganz erfüllt haben und dessen Mitglieder ihre Pflichten auch dem neuen Oesterreich als loyale Staatsbürger getreu erfüllen, gibt seiner tiefsten Empörung darüber Ausdruck, daß von so hoher kirchlicher Stelle statt LiebeHaß und Verachtung gepredigt wird und fordert die gesamte Bevölkerung auf, Verhetzungen – von wo immer sie auch kommen mögen – kein Gehör zu schenken und alle Kräfte zu vereinen, um für eine bessere Zukunft Oesterreichs zu arbeiten.

In: Die Stimme. Jüdische Zeitung H. 256, 2.2.1933, S. 7.

Anitta Müller-Cohen: Das große Schweigen (1923)

                Wart Ihr schon allein in pfadloser Waldestiefe, als der letzte feiste Regentropfen fiel und plötzlich still ward? Launig schaukeln sich die Gräser und in allen Farben des Spektrums schimmert der Wald. Der Wald schweigt, wie das getränkte Kind, das im Schlaf lächelt. Es ist das Schweigen des kommenden Lachens.

            Nicht von diesem Schweigen will ich sprechen, in dessen Heimlichkeit ein neuer Lebenssprudel sich gebärt, nicht vom Schweigen der Natur, sondern vom Schweigen der Menschen. Und wenn die Menschen schweigen, dann wird nicht in Liebe und Lachen Leben geboren, dann entsteht in Haß und Jammer der Tod. Der Mensch, verstummt nur, wenn er tot ist. Und seine Gesellschaft hat auch nur solange Bestand, bis sie ihr Wort unablässig gegen Unrecht und Sünde erhebt: schweigt sie, so ist sie nicht mehr.

            Nicht als ob das Geschrei um uns zu wenig wäre. Mordlust, Entrechtung und Unterdrückung feiern seit dem Weltkrieg lärmender ihre Orgien, denn je. Diesmal aber scheint das Gezeter ohne Widerspruch zu bleiben. Die Quecksilbersäule des Antisemitismus, das Fieberthermometer Europas steigt hoch und immer höher. Aber kein Eugen Richter, Virchow, kein Nothnagel und keine Baronin Suttner ersteht, um das Wort im Namen des Gewissens der Gesellschaft zu erheben. Heute sehen wir keine Nichtjuden, die sich des hasserfüllten Wahnsinns schämen, wie bei dem Dreyfus-Prozess und bei der Ritualmordhetze von Tisza-Eszlar. Wenn man über das wogende Meer hinwegblickt, wird einem bange. Ist eine Gesellschaftsordnung überhaupt noch da, wo das Todesröcheln, der Hundertausende Ermordeten der Ukraine, der Klagelaut Hundertausender Pogromwaisen kein Echo erweckt? Man kann füglich daran zweifeln.

            Aber nicht in Kriegen und Massakern wird das Schicksal der Menschheit bestimmt, jeder einzelne trägt dazu bei, der Geschichte ihre Richtung zu geben. In den kleinsten Dingen wird die Sünde begangen, die sich dann zur Katastrophe auswachsen kann. Die unterschiedlichen Vereine „zur Abwehr des Antisemitismus“ hatten ihre Erfolge niemals in großen politischen Aktionen, die sie zu unternehmen niemals stark genug waren, sondern in der Begegnung der kleinlichen Ausbrüche des Judenhasses zu verzeichnen, und hatten so eine Detailarbeit geleistet, die von „Politikern“ wohl oft verspottet, aber deren Notwendigkeit doch anerkannt worden ist.

            Heute aber ist der Eifer, der zu dieser Kleinarbeit notwendig ist, erlahmt. Die jüdische Frau, auf die ja dabei am meisten zu rechnen ist, schweigt, und ihr Schweigen, wo Ehre und Recht des Judentums sozusagen „ungefährlich“ angegriffen wird, ist teilweise auch Ursache des großen Schweigens , das auf politischem Gebiet sich über den wütenden Orkan des Antisemitismus breit macht. Solange wir selbst uns verteidigten, fanden wir Beschützer unter den Nichtjuden. Die Assimilation, die Selbstaufgabe, das apathische Gehenlassen der Juden, bringt nicht den Antisemitismus, sondern den Philosemitismus zum Schweigen.

            Es ist wichtig, daß der einzelne im Judentum es begreift, wieviel auf sein Wort ankommt, welche Bedeutung der stolzen und charaktervollen Stellungnahme der namenlosen, kleinen Leute, der einzelnen zukommt, wenn es sich um eine Entgegnung auf die in der Luft wie Bazillen verbreiteten böswilligen Anstreuungen, Nadelstichen und Verspottungen handelt. Tag für Tag hört man im täglichen Leben von den Fehlern der Juden erzählen. Hat man mit einem Juden zufällig ein schlechtes Geschäft gemacht oder ist man einem auf der Straße gerade in schlechter Laune begegnet, so unterläßt man es nicht, zu erklären, daß einem bei den Juden das oder jenes nicht passe. Und da bekanntlich, was Nichtjuden meinen oder sagen, sehr bald auch von den Juden, die sich gerne an die Ansichten ihrer Umwelt anschmiegen, wiederholt wird, hört man auch von Juden selbst das Märchen über die Fehler der Juden. Naturgemäß wäre es die dankbarste und leichteste Aufgabe, zu zeigen, wie aus diesen kleinlichen und scheinbar harmlosen Verallgemeinerungen der große, weltumfassende Judenhaß seine Nahrung zieht. Und nicht weniger leicht und dankbar wäre es zu zeigen, mit welchem geringen Aufwand von Mut und Stolz diese im geheimen verheerenden Bazillen vernichtet werden können. Es nützt nichts, wenn einzelne mehr oder weniger hervorragende Persönlichkeiten sich darauf spezialisieren, auf die Anfeindungen stets die stereotype Antwort zu erteilen: Es ist  eine Lüge, es ist eine ungerechtfertigte Verallgemeinerung. Man sah es an dem Beispiel des vor kurzem verstorbenen Dr. Josef Bloch, der mit dem Riesenapparat seines Wissens und seiner Klugheit nicht zu nachhaltigen Resultaten kommen konnte. Als Reichsratsabgeordneter hatte er sogar den politischen Einfluß gewonnen und konnte der antisemitischen Internationale öffentliche Niederlagen bereiten, die einfach vernichtend waren. Vernichtend im Auge der jüdischen und judenfreundlichen Zuhörer im Gerichtssaal, aber keineswegs vernichtend für die Antisemiten. Denen konnte man Lug und Trug und Fälschung hundert mal beweisen, man konnte die allergrößten Mächte zum Zeugen anrufen, ohne verhindern zu können, daß, nachdem das allerletzte liberale Provinzblättchen von dem „großen Prozeß“ zu schreiben aufgehört hatte, dieselben Lügen durch und für dieselben Menschen wieder in Umlauf gebracht werden.

            Keinerlei große gesellschaftliche oder politische Aktion wird je imstande sein, gegen den Antisemitismus mit nachhaltender Wirkung aufzutreten. Man kann nicht mit ungleichen Waffen kämpfen. Die Bekämpfung des Antisemitismus durch große Organisationen geschah stets mit den Mitteln des logischen Beweises, der ehrlichen Überzeugung und des Rechtes. Und diese Mittel versagten stets gegenüber den antisemitischen Waffen, die aus einem ganz anderen Eisen geschmiedet waren. Wenn man gegen Mörder mit Verleumdungsklagen, gegen gewerbsmäßig Rohlinge mit dem Wahrheitsbeweis kämpft, so kämpft man gegen einen Tiger mit der Kinderpistole. Es gibt nur zwei Arten der Bekämpfung der antisemitischen Umwelt für die Juden: entweder mit politischer Aktion gegen politische Aktion, mit wirtschaftlichen Maßnahmen gegen wirtschaftliche Maßnahmen und mit Gummiknüttel gegen Gummiknüttel – oder durch die Erziehung der Juden zur Selbstweht im täglichen Leben.

            Die erste Art eine bewußt jüdischen Politik würde von uns Juden die Aggressivität und Brutalität im Kampf verlangen, die ein vergeistigtes Volk, wie das unsrige, nicht mehr besitzt. Wir sind zu gut für unsere Gegner. Wenn auch von Zeit zu Zeit in überhitztem Eifer die Möglichkeit dieser Kampfmethode ins Auge gefaßt wird, so muß man im ganzen und großen zugeben, daß die realen Kräfteverhältnisse zwischen Juden und Antisemiten einen aggressiven Nationalismus unsererseits auch dann nicht in Frage kommen lassen würden, wenn in unseren Kreisen die Geneigtheit dazu vorhanden wäre. Wobei betont sein muß, daß auch von nationalistischen Politikern und Ideologen des Judentums der aggressive Nationalismus stets abgelehnt worden sei. So bleibt uns nur der zweite Weg.

            Die Selbstwehr im täglichen Leben ist dieser Weg. Ich verstehe darunter die Erziehung jedes einzelnen Mannes und jeder einzelnen Frau zum Kämpfer für das Judentum. Der Kampf des einzelnen ist kein aggressiver, denn er beschränkt sich auf ein den jüdischen // Interessen entsprechendes Verhalten im täglichen Leben. Der einzelne muß bei jeder noch so kleinen Gelegenheit seiner Umwelt zeigen, daß er ein Jude ist und daß er das ebenso sehr für eine Ehre hält, wie der Deutsche sein Deutschtum und der Franzose sein Franzosentum. Der Jude muß in seinem täglichen Leben auch nach außenhin sich die Selbstachtung gewöhnen. Innerlich wissen wir ja sehr wohl, daß jeder Jude zu dieser Selbstachtung disponiert ist, und es bedeutet das Verschwinden des letzten Restes des jüdischen Gefühls, wenn diese Selbstachtung schwindet. Aber nach außenhin stolz und aufrichtig sein Judentum zu bekennen und auch in den kleinsten Ereignissen des Alltags zu bekennen, das tut not, um den Kampf gegen den Antisemitismus aufnehmen zu können. Nicht durch Proteste und große Aktionen auf gesellschaftlichem und politischem Gebiete, sondern in dem Leben des einzelnen wird die Abwehr organisiert, und ihre Organisierung ist eine Frage der Erziehung der Juden zu selbstbewußten, charaktervollen und mit ihrem Volke innerlich verwachsenen Menschen.

            Solange der Einzeljude und die einzelne jüdische Frau ihr Wort auf der Straße, in der Markthalle, in der Schule und überall dort, wo Juden und Nichtjuden miteinander in Berührung kommen, nicht erhebt, solange die Rückgratlosigkeit als jüdische Eigenschaft gilt, muß das grausame Schweigen inmitten des antisemitischen Sturmes anhalten und wird eine Abwehr des Antisemitismus nicht möglich sein.

In: Menorah H.5 (1923), S. 17-18.

Karl Marilaun: Gespräch mit Bela Balazs. Dichter und Flüchtling. (1920)

Die Neue Wiener Bühne führt heute seine „Tödliche Jugend“ auf und wie die Dinge gegenwärtig liegen, dürfte man in Budapest von einem Erfolg oder Nichterfolg dieses mit der ungarischen Boulevarddramatik nur sehr lose verknüpften Herrn Bela Balazs nicht viel Kenntnis nehmen. Denn dieser noch junge Mann ist heute im Budapest Horthys das, was man einst im Österreich des Grafen Stürgkh „subversive Elemente“ nannte. Ein politisch Bemakelter, der nach dem Zusammenbruch des Kom­munismus aus Ungarn flüchten mußte, weil auch er — reineren Herzens als mancher Budapester Terrorist und Desperado — an den Anbruch eines goldenen Zeitalters glaubte und das vermutlich todeswürdige Verbrechen beging, den Budapester Proletariern die Theaterlogen der Vertriebenen vom Jockeiklub aufsperren zu lassen.

Da der Jockei- und Gentryklub inzwischen wieder in seine gottgewollten Rechte eingesetzt wurde, ist es ziemlich selbstverständlich, daß der Name des Herrn Balazs nicht mehr wie einst in den Literaturzeitschriften des jüngsten Ungarn, sondern auf jener ominösen Liste geführt werden dürfte, die sich mit den Auslieferungsmöglichkeiten der ins Ausland geflüchteten Kommunisten befaßt. Grund genug, daß er auf eine Budapester Uraufführung eines Stückes wenig Werk legt und momentan nicht einmal darauf rechnen darf von der ungarischen Kritik teils in einen rot-weiß-grünen Himmel gehoben und teils auf der Erde der Boulevardkaffeehäuser in Fetzen zerrissen zu werden.

„Etwas Ähnliches“, sagt er, „war ja jahrelang mein Budapester Schicksal. Wenn ich als Zweiundzwanzigjähriger, nach der Premiere meines Erstlingsstückes Fräulein Doktor, Anlagen zum Größenwahn gehabt hätte, würde nichts im Wege gestanden sein, mich nicht nur für den jüngsten, sondern ungefähr auch für den vielversprechendsten ungarischen Autor zu halten. Zu jener Zeit war ich wahrhaftig berühmt, aber man soll einen Dichter nicht vor seiner zweiten Premiere loben. Das Schicksal meines zweiten Stückes, das mir weit mehr als mein erster dramatischer Glücksfall am Herzen lag, und in dem ich ein mich wirklich bewegendes Problem zu gestalten versucht hatte, war recht merk­würdig. Frühere Anhänger fielen von mir ab, und so enthusiastisch sie mich einst gelobt hatten, so empört rückten sie jetzt von mir weg. Nur die Jugend, die allerdings nicht gerade zur Gefolg­schaft der gewissen erfolgreicheren Budapester Boulevarddichter ge­hört, blieb mir jetzt erst recht treu; und da Gegensätze bei uns seit jeher ziemlich lebhaft ausgetragen zu werden pflegen, mußte ich mich daran gewöhnen, daß die einen jedes von mir geschriebene Wort als Dogma betrachteten und die andern gereizt auffuhren, wenn überhaupt nur mein Name, das rote Tuch, genannt wurde.

Ich habe mich mit diesen Dingen ziemlich gelassen abzu­finden versucht, denn schließlich glaube ich nicht, daß noch so laute Anerkennung oder noch so heilige und gereizte Ablehnung am Wert oder Unwert des Geschaffenen irgend etwas zu ändern imstande sind. Ich schrieb, was und wie ich mußte, und nahm mir vor allem kein Blatt vor den Mund, wenn ich in den von uns Jungen gegründeten und gelesenen Zeitschriften zu künstlerischen, kulturellen und Theaterproblemen Stellung zu nehmen versuchte. Ich mag, wie jeder ehrliche junge Künstler, als radikal gegolten haben, weil ich die Kunst in den Händen ihrer privilegierten Hüter für schlecht aufgehoben hielt; weil ich mit dem Betrieb unserer heutigen Theater niemals einverstanden war und der Bühne eine ideale Mission zuteile, an die allerdings solange nicht gedacht werden kann, als unsere Theater der platten Unter­haltung geistig unbemittelter und nur finanziell leistungsfähiger Kreise dienen zu müssen glauben.

Ich war also, wenn man will, schon zu einer Zeit „Kommunist“, da der Kommunismus wohl etwas wie die Religion und das Glaubensbekenntnis eines anständigen Menschen sein konnte, aber jedenfalls noch nicht in Politik, Macht und Parteischlagworte umgemünzt war. Und ich brauchte nichts von meiner inneren Orientierung aufzugeben, als man während der kommunistischen Ära an mich herantrat und mir sagte: „Nun hast du die Gelegenheit, deine Ideen in die Wirklichkeit umzu­setzen, das Theater zu einem Erziehungsmittel auszugestalten, die Jugend, das Volk, den Proletarier an der Kunst teilnehmen zu lassen.“

Was sollte ich nun tun? Ich bin kein Politiker, war es nie und werde mich nie für politische Dinge in dem Maße interessieren, daß ich einem Parteistandpunkt meine  künstlerischen und geistigen Interessen unterzuordnen vermöchte. Ich verhielt mich innerlich zu der Frage, ob der Kommunismus als politische Partei die Menschheit glücklich oder besser machen kann, durchaus passiv und wahrscheinlich auch skeptisch, aber ich habe natürlich die Möglichkeit, das Volk mit wirklicher Kunst ver­traut machen zu dürfen, mit Begeisterung ergriffen. Ich öffnete, da man mir eine Intendantenstelle und damit gewisse Machtbefugnisse über die mir anvertrauten Theater anbot, das Theater dem  Proletarierpublikum, ich rief unsere Jugend; ich spielte vor Leuten, die vielleicht noch nie im Theater waren, vor „Ungebildeten“ und Unverbildeten, unsere Klassiker und sah, daß sie hier wirkten wie am ersten Tag; ja, daß wir selbst Bernhard Shaws Candida mit tiefster Wirkung spielen konnten. Mit Politik und Parteikommunismus hatte dies alles wohl sehr wenig zu tun und ich war als der von den Kommunisten ernannte Theaterintendant nicht der Politiker eines zufälligen Macht­regimes, sondern einfach ein Künstler, der das, wofür er theoretisch schon seit Jahren kämpfte, nun endlich in die Tat umsetzen konnte. Als ich das Volk ins Theater rief, tat ich es nicht als politisierter Handlanger einer Partei, sondern in der festen Überzeugung, daß ich es mir selbst schuldig sei, nicht in dem Augenblick auszukneifen, in dem mir ein Glücksfall die Möglichkeit in den Schoß wirst, meine Ideen zur Ausführung zu bringen.

An der kommunistischen Machtpolitik hatte ich als Künstler keinen Teil, keinen Nutzen, kaum ein Interesse, (wenn ich mir vielleicht auch sage, daß ich mich selbst als Antipolitiker noch eher zu einem problematischen Parteikommunismus als zu einer Horde machtberauschter, königlich ungarischer Husaren schlagen würde. Diese innere Orientierung bin ich mir schuldig, solange ich vor mir selbst als anständiger Mensch bestehen will. Die Konsequenz dieser Überzeugung fühle ich gegenwärtig am eigenen Leib. Ich lebe im Exil, mein Vaterland ist mir verschlossen, meine Zukunft liegt ganz im Unbestimmten. Ich trage die schlechten Kleider eines Flüchtlings und weiß nicht, ob und wann wieder ein Werk von mir in der Sprache, in der es gedacht, gefühlt und niedergeschrieben ist, auf eine Bühne der Heimat, kommen wird, der ich als Verfemter gelte. Tragisch empfinde ich das nicht als Mensch, der sich nichts vorzuwerfen hat, sondern nur als Dichter, der sein Werk bis auf weiteres heimatlos weiß.“

In: Neues Wiener Journal, 27.2.1920, S. 3.

Hanns Margulies: Frauen schreiben gute Bücher (1934)

Das Mißtrauen gegen schreibende Frauen lebt noch immer, obwohl wir doch in den letzten Jahrzehnten oft und oft Gelegenheit hatten, Bücher, die von Frauen geschrieben wurden, als schön und gut und wertvoll anzuerkennen. Wie unrichtig diese generelle Voreingenommenheit aber ist, soll sich heute wieder erweisen, wo ausschließlich auf Frauenbücher hingewiesen werden wird, die zu lesen ehrlich und ernsthaft angeraten wer­den muß.

Von Hermynia Zur Mühlen war hier vor Monaten schon die Rede. Inzwischen hat sie einen neuen Roman vorgelegt.

Reise durch ein Leben

(Gotthelf-Verlag, Bern), sich und uns zur Feier ihres fünfzigsten Geburtstags. Nun müßte an Lob und Anerkennung alles wiederholt werden, was von ihren früheren Büchern gesagt wurde, wenn nicht die Notwendigkeit bestehen würde, aufzuzeigen, daß Hermynia Zur Mühlen durch ihr Werk die Erbschaft einer der gütigsten und besten Schriftstellerinnen des alten Österreich, der leider und zu Unrecht heute viel zu wenig gelesenen Marie von Ebner-Eschenbach ange­treten hat. Gleich ihr, stammt sie aus jenem Teil der österreichischen Aristokratie, der bewußt mehr Wert auf Geistesadel als auf Namensadel legt, der sich die Auszeichnung der Geburt nicht genügen läßt, sondern sich durch Wissen und Kultur erst eine menschlich gültigere Anerkennung erwirbt.

Und dort, wo Hermynia Zur Mühlen aus ihrem Milieu heraus erzählt, erreicht sie auch die reifste Meisterschaft. Hier berichtet sie von einer kleinen Komtesse, die nach zwei Seiten ans dem ihr gezogenen Kreis ausbricht: durch ihre Freundschaft zu einem Proletariermädchen und durch ihre Liebesheirat zu einem preußischen Juristen. Sie steckt an. An der unüberbrückbaren Gegensätzlichkeit zwischen dem im allerbesten Sinn altösterreichischen Wesen und dem preußischen Kasernenideal zerbricht ihre Ehe und die Freundschaft mit der ehemaligen Schulfreundin verebbt an der trotz aller Bemühungen nicht unüberbrück­baren Divergenz zwischen den Lebensformen und dem Lebensinhalt der beiden Frauen.

*

Gina Kaus, auch eine Österreicherin, hat in ihrem neuen Roman:

Die Schwestern Kleh

(Verlag Allert de Lange, Amsterdam), einen gewaltigen Schritt nach vorne ge­macht. Schien es in ihren letzten Büchern, als ob sie ihr unbestritten starkes Erzähler­talent auf letzten Endes zu leichte Art an die Oberflächlichkeit bewegter Erzählungen verschwenden wollte, so beweist ihr neues Buch das gelungene Streben, sich mit den Untiefen und Klippen menschlichen Wesens in aller Ernsthaftigkeit auseinanderzusetzen. Und es ist ihr gelungen. Sie erzählt von den Wegen, die die Töchter einer Wiener Patrizierfamilie gehen müssen und wenn es auch mitunter Abwege sind; Gina Kaus überzeugt uns, daß den Schwestern kein Ausweg offen stand, daß sich ihr Leben, ans eigener Veranlagung und unter dem Zwang des Geschehens so, wie sie berichtet und nicht anders entwickeln muß.

Gina Kaus hat es sich nicht leicht gemacht, aber gerade dadurch erreichte sie, was ihr vor­geschwebt haben mag: keine Unterhaltungsliteratur im schlechten Sinn zu geben, sondern ein Buch, das durch seine innere Wahrhaftig­keit, durch die Zwiespältigkeit der Charaktere packt, fesselt und festhält.

*

Christa Winsloe wandelt ein Thema dreifach ab. Als Theaterstück, vor allem aber als Film unter dem Titel: Mädchen in Uniform hat sie Hunderte und Abertausende mit dem Schicksal eines kleinen Mädchens, das in die preußiiche Zucht, wie sie in einem Offizierstöchterinstitut wütet, gerät, gerührt und gepackt. In Romanform gelingt ihr das genau so, vielleicht sogar noch stärker, denn hier kann sie auf ein unnatürliches happy end ver­zichten.

Das Mädchen Manuela

heißt das Buch, das im Verlag Allert de Lange, Amsterdam, erschienen ist.

Wer noch nicht weiß, was die Kasernen­erziehung preußischen Ungeistes bedeutet der erfährt es aus diesem Buch. (Wie er aus Ernst von Salomons Bericht: Die Kadetten, Rowohlt-Verlag, Berlin, lernen kann, wie aus Knaben Untertanen fabriziert werden.)

Wenn es sich auch dadurch, daß der Inhalt des Romans durch Theater und Film schon bekannt ist, erübrigen mag, von ihm zu be­richten, so muß doch festgestellt werden, daß das Buch zu den lesenswertesten Büchern unserer Tage gehört, und daß Christa Winsloe auch im Roman Menschen in ihrer ganzen Leben­digkeit festzuhalten verstand, so daß sie uns, wie etwa das Fräulein von Bernburg, eine Lehrerin, von nun an als Freundin durch das Leben begleitet.

*

Viktoria Wolf, deren erster Roman: Mädchen, wohin? schon berechtigtes Inter­esse erregte, hat sich mit ihrem zweiten Buch:

Eine Frau hat Mut

(wieder bei Paul Zsolnay, Wien) bewiesen. Sie erzählt von dem Leben einer jungen Frau, deren Mann seinen Posten verloren und aus den geordneten angenehmen bürgerlichen Verhältnissen hinabstürzt in das Nichts, nachdem der Versuch, sich auf diesem Absturz noch unterwegs anzuklammern, an der Ablehnung der ihm gemachten kriminellen Vorschläge scheitert.

Wirklich mutig stellt sich die Frau, Tochter eines Generals, dem Leben, wird Verkäuferin in einem Warenhaus und steht den Kampf durch, trotzdem ihr Mann ihn schließlich aufgibt und ein Leben, das ihm immer mehr zur Qual wurde, an dem er nicht mehr teilhaben durfte, von sich wirft.

Sibylle aber ist tapfer für sich und ihr Kind. „Mut und Kraft sind die schönsten Worte, die das Leben kennt,“ sagt sie und damit endet das Buch.

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Seitdem der Zinnen-Verlag, Wien, mit dem wundervollen Buch Die gute Erde die Amerikanerin Pearl S. Buck in die deutsche Literatur eingeführt hat, wetteifert der Ver­lag Paul Zsolnay mit ihm in der Herausgabe ihrer chinesischen Romane. Er publi­ziert zuerst die Fortsetzung der Guten Erde

Söhne,

worauf wieder der Zinnen-Verlag einen Roman herausbrachte

Der junge Revolutionär

und jetzt meldet sich der Verlag Zsolnay mit dem vierten Roman:

                                               Ostwind — Westwind.

Die amerikanische Schriftstellerin, die lange Zeit als Missionärin in China gelebt hat, ist eine der besten Kennerinnen des Reiches der Mitte geworden und hat das Geheimnis dieses uralten Kulturvolkes wirklich mit der Seele erfaßt. Aber ihr ist auch die Gabe zu­teil geworden, ihr Wissen in so anschaulicher und überzeugend schöner Form zu vermitteln, daß sie mit ihren Romanen weitaus mehr zur Kenntnis Chinas und ihrer Menschen beigetragen hat, als zahllose Gelehrte mit dickleibigen Büchern.

Während die ersten drei Romane sich mit dem in sich abgeschlossenen Leben des chinesi­schen Bauern beschäftigen, spiegelt der vierte das Eindringen der amerikanischen Welt in die Abgeschlossenheit jahrtausendalter Tradi­tion wider. Es ist die Lebens- und Liebes­geschichte einer vornehmen Chinesin, die, ganz noch in den alten Sitten erzogen, durch ihren schon in Amerika ausgebildeten Mann in den Zwiespalt der Kulturen gestellt wird und den Kampf zwischen Altem und Neuem, zwischen Jung und Alt, nicht nur selbst erlebt, son­dern auch in dem Schicksal ihres Bruders, der eine Amerikanerin als Frau in die Ge­bundenheit der starren chinesischen Familiengesetze mitbringt, erlebt.

Gefragt, welchem dieser vier Bände der Vorzug gegeben werden soll, ist nur eine Ant­wort möglich: keinem, denn alle vier wollen und sollen gelesen werden.

In: Der Tag, 19.3.1934, S. 4.

Hanns Margulies: Deutschland 1933. 30 neue Erzähler des neuen Deutschland. (1934)

Der Malik-Verlag, Berlin, hat eine Sammlung deutscher Prosaarbeiten in einem Band vereint und nennt sie:

30 neue Erzähler des neue Deutschland.

Wir wissen: Malik-Verlag — das ist der Sammelpunkt der linksgerichteten Literatur. Diese 30 neuen Erzähler — die wenigsten von ihnen führen bekanntere Namen— aber bekunden nicht nur ihre politische und weltan­schauliche Einstellung, sondern geben einen Aspekt vom Deutschland dieser Jahre, der er­schütternd ist in seiner Verzweiflung und in feiner verbissenen Revolte.

Wir lesen täglich von den Auswüchsen des politischen Lebens, Zusammenstöße, Straßen­kämpfe sind gewohnte Ereignisse geworden. Wir hören von der Not, von dem ununter­brochenen Anwachsen der Arbeitslosigkeit, von den Versuchen durch Gewalttätigkeit (ließ: innere Politik) wieder Ruhe und Ord­nung in Deutschland herrschen zu lassen. Aber erst diese dreißig neuen Erzähler vermitteln uns ein anschauliches Bild vom heutigen Deutschland wie es wirklich aussieht.

Eine literarische Würdigung dieser Samm­lung sei denen überlassen, die angesichts der Verzweiflung, die aus diesen 30 Erzählungen spricht, noch den Mut zum Ästhetizismus be­sitzen. Ich muß sie mir versagen. Mir genügt die Feststellung, daß alle Dreißig, der eine künstlerischer, gerundeter, gereifter, der andere stürmischer, noch unausgegorener, ihr Bestes geben, und daß dieses Beste gut ist. Aber wich­tiger als das Wie, ist das Was, das sie schildern.

Und das ist: das unterirdische Grollen des Unterdrückten, die verbissene Wut des Mißhandelten, der Aufstand der Herzen und der Fäuste, der Hunger, die Verzweiflung, die Ausbeutung, die Sinnlosigkeit — das Bild Deutschlands in allen seinen Teilen, seiner Elendsquartiere, die ein einziges, unermeßliches Elendsquartier sind — Deutschland.

Der Chor der Dreißig ist ein ungeheures Warnungssignal. Was aus ihm spricht, ist nicht Politik und nicht politische Verhetzung. Er schreit die Not, die Verzweiflung, die Wut, die finstere Drohung in alle Welt. Jeder für sich und alle gemeinsam verkünden den drohenden Untergang der Nachkriegsgenerationen und drohen den Untergang der Schuldigen an.

Deutschland (wie Österreich) hat eine Revo­lution ohne Revolutionäre gehabt. Der Um­sturz brach herein, wurde nicht vorbereitet. Das ist die Ursache für den gewaltigen, den unerhörten Nackenschlag, den die Revolution erleiden mußte. Entwicklungen lassen sich nicht überstürzen, aber auch nicht aufhalten. Das, was damals gefehlt hat, das Funda­ment, der geistige Gehalt der Revolution, jetzt, unter dem Druck der Niederlage, wird es nachgeholt. Die dreißig neuen Erzähler des neuen Deutschland legen dafür Zeugnis ab.

Ob sie nun bekannt sind, wie Erich Kästner, Ernst Gläser und Andreas Latzko, ob sie kaum begonnen haben, sich einen Namen zu machen, wie Ludwig Tureck, F. C. Weiskopf, Oskar Maria Graf, Walter Bauer, Ernst Fischer und Theodor Plivier, oder noch unbekannt blieben wie die anderen, ist letzten Elches gleichgültig. Wichtig aber ist, daß jede einzelne Erzählung, jeder einzelne Satz Anklage und Drohung zu­gleich ist, geistiger Gehalt und Fundament für das, was über kurz oder lang unausbleib­lich ist: für den sozialen Ausgleich, für die Revolution, die aber diesmal keine karneva­listische Episode in der deutschen Geschichte bleiben wird.

An dem Fanale, das diese dreißig neuen Erzähler des neuen Deutschland entzündet haben, soll niemand vorübergehen, der Sinn für den Ernst der Zeit, der Gewissen für die soziale Not, der Interesse für das Gesicht der Zeit hat.

In: Der Tag, 30.1.1933, S. 4.

m.f.: Wer ist der Antichrist? (1933)

Die Herkunft der „Protokolle“
In der weiteren Erwiderung auf die ver­leumderische Schrift Das Judentum und die Schatten des Antichrist müssen wir vorder­hand die „ritterliche“ Person des Herrn Ritt­er beiseite lassen und uns etwas näher mit dem Werke befassen, das für ihn ein zweites Evangelium zu sein scheint und das er übri­gens in ganzen Kapiteln abschreibt: mit den Protokollen der Weisen von Zion. Ist die Echtheit der „Protokolle“ wirklich so unan­fechtbar, wie es Gaston Ritter[1] seinen Lesern einzureden versucht? Wir bezweifeln es, ja noch mehr: Wir können Beweise erbringen, die jedermann nachkontrollieren kann, daß die „Protokolle“ gefälscht sind. Sie sind die größte, wahnwitzigste, gemeinste Fälschung des Jahrhunderts.

In deutscher Sprache erschienen sie zum ersten Male im Jahre 1918. Ihr Herausgeber und Übersetzer war Gottfried zur Beek[2]. Dieser Herr erzählt über die Her­kunft der Protokolle folgendes: Sie wur­den im Jahre 1897 in Basel, in geheimen Sitzungen des ersten Zionistenkongresses ver­lesen. Davon hat die Außenwelt nichts erfahren, nur Zar Nikolaus II. hat Wind davon bekommen. Flugs hat er einen Agenten nach Basel geschickt, dem es gelungen ist, für schweres Geld eine Abschrift der Protokolle zu bekommen. Diese Abschrift wurde dann einem gewissen Sergej Nilus[3]übergeben, der sie ins Russische über­setzt hat.— Herr zur Beek beruft sich also auf die russische Originalausgabe, die im Jahre 1905 gedruckt wurde. Diese Jahreszahl muß stutzig machen. Die Protokolle sind doch an­geblich 1897 gekauft worden. Waren sie so unwichtig, daß man sie unveröffentlicht sieben Jahre in der Schublade liegen ließ?

Diese Tatsache allein ist schon unbegreif­lich. Aber nur Geduld: es kommt noch besser! Riluß erzählt folgendermaßen, wie er in den in den Besitz der Protokolle gekommen ist: „Alles dies wurde durch meinen Korrespondenten aus, dem gleichen Verlies der zionistischen Hauptkanzlei herausgeholt, die sich auf französischem Territorium be­findet.“ Da Basel bekanntlich auf schweizerischem und nicht französischem Territorium liegt, straft Nilus Herrn zur Beck Lügen. Er widerspricht sich aber auch selbst: Im Jahre 1911 erschien eine Neuausgabe der Protokolle und diesmal hat Nilus seinen Lesern folgendes Märchen glaubhaft machen wollen: Die Protokolle seien „eine getreue Kopie-Übersetzung der Originaldokumente, die eine Frau bei einem der höchsten und einflußreichsten Führer der Freimaurer nach einer geheimen Sitzung gestohlen hätte“. Also, nicht mehr Zionisten — Freimaurer sind es …

So weiß die rechte Hand des Verleumders nicht, was seine linke tut. Aber auch ein Übersetzer dieser Fälschung diskreditiert den anderen. Der Herausgeber der neuesten, deutschen Ausgabe der Protokolle, Theodor Fritsch[4], erzählt über deren Herkunft folgen­des im Vorwort zu seiner Übersetzung: „Die russische politische Polizei fand im Jahre 1901 bei einer Haussuchung in einer jüdischen Wohnung ein größeres Manuskript in hebräischer Sprache, dessen Übersetzung dem Orientalisten Prof. Nilus übertragen wurde.“

Was ist also wahr: das, was uns Beek, das, was uns Nilus oder das, was uns Fritsch erzählt? Wurden die Protokolle in Basel, in Frankreich oder in Rußland ge­funden? Und wann: im Jahre 1897 oder im Jahre 1901?

Was von all dem wahr ist? Nichts! Alle haben sie gelogen: Beek, Nilus und Fritsch, und waren dabei noch so ungeschickt, sich einander zu widersprechen. Der wilde Eifer des Hasses hat sie blind gemacht. Sie rechneten wohl damit, daß unkritische Menschen die Daten und die Einzelheiten nicht nachkontrollieren werden. Sie haben Ieider nicht ganz unrecht behalten. Denn es finden sich immer wieder solche, die die Unverfrorenheit haben, zu behaupten, daß die Protokolle echt sind. Herr Pfarrer Gaston Ritter gehört auch zu denen.

Philipp Graves entdeckt die Fälschung

Jeder einsichtige, jeder vernünftige Mensch wird nach der Lektüre der Protokolle sie zweifellos mit einem Achselzucken beiseite legen: er muß, wenn er noch seine fünf Sinne beisammen hat und kein Hetzer ist, diese Schrift als eine Häufung von Lügen ansehen. Aber es gibt auch Beweise, klare, unzweideutige Beweise, daß die Protokolle gefälscht sind.

In Konstantinopel lebte im Jahre 1921 Philipp Graves[5], Journalist und Bericht­erstatter des größten englischen Blattes „Times“. Er wurde mit einem aus Rußland geflüchteten zaristischen Offizier bekannt, der ihm einmal ein stark abgenütztes französisches Buch ohne Titelblatt als bibliophile Selten­heit interessanten Inhaltes zum Kaufe anbot. Graves, der dem armen Teufel helfen wollte, kaufte das Buch und als er las, entdeckte er dann zu seinem Staunen ganze Seiten lang dieselben Stellen, die er aus den Protokollen der Weisen von Zion kannte. Da das Titelblatt fehlte, wußte er nicht, wie der Autor heißt und wie der Titel lautet. Nach Forschungen gelang es ihm, es zu ermitteln. Da stellte sich heraus, daß es sich um ein Buch aus der Feder Maurice Joly’s handelt[6], das unter dem Titel Zwiegespräch in der Unterwelt zwischen Macchiavelli und Montesquieu im Jahre 1865 erschienen ist. Das Werkchen des Pariser Advokaten Maurice Joly war ein verschleiertes Kampfbuch gegen die Politik des Napoleon III. Dieser Herrscher hatte den Ehr­geiz, die Fäden der Weltpolitik in seinen Händen zu vereinigen und Paris zum Hirn der Welt zu machen. Solche Pläne kosten Geld und da die französischen Steuerzahler sich das nicht gefallen lassen wollten, wurde die Preßfreiheit aufgehoben. Joly konnte es  unter diesen Umständen nicht wagen, offen gegen die ihm verderblich scheinende Politik Napoleon III. auszutreten und deshalb schrieb er seine Kampfschrift in der Form einer Vision aus dem Jenseits.

Philipp Grave begnügte sich aber auch nicht mit dieser Feststellung allein. Er unterzog die Protokolle einer ge­nauen vergleichenden Prüfung mit der Schrift Joly’s, und mühelos kam er zum Ergebnis, daß die Protokolle nichts anderes als eine Abschrift der Zwiegespräche des Maurice Joly sind, mit dem Unterschied allein, daß das, was Joly den Macchiavelli an Bösem und Rachsüchtigem sagen läßt, in den Protokollen als jüdische Äußerung und Plan erscheint. Um die Fälschung als solche anzuprangern, veröffentlichte Graves in der „Times“ am 16., 17. und 18. August drei große Aufsätze, die in der Öffentlichkeit der ganzen Welt Aufsehen erregten.

Die Fälschung ist also unzweideutig bewiesen. Und Herr Gaston Ritter kann eventuell, wenn er will, den Macchiavelli, wie ihn Joly sieht, als einen Anti­christ ansehen, aber hat gar kein Recht, das jüdische Volk zu verleumden. Er hat kein Recht, aber er tut es und nennt Lüge Wahrheit und Verleumdung Wirklichkeit. Und selbst nennt er sich Christ? Mit welchem Recht? Seine Schrift ist nichts weniger als von christlichen Motiven geleitet. Was noch in unserem Blatte zur Genüge bewiesen werden wird.

In: Gerechtigkeit, 14.12.1933, S. 3.[7]


[1] G. Ritter (= Arbogast Reiterer, 1886-1956): Publizist, Priester des Deutschen Ritterordens in Südtirol. Die Schrift Das Judentum und die Schatten des Antichrist erschien 1933 im Styria Verlag (Graz) und 1938 (in 3. Aufl.) im Ulrich Mosers Verlag (Graz)

[2] G. v. Beek (= Ludwig Müller von Hausen, 1856-1926): deutschvölkischer Publizist, Verleger, Mitglied in verschiedenen völkischen und antisemitischen Vereinigungen bzw. deren Mitbegründer wie z.B. Verband gegen die Überhebungen des Judentums (1912ff.), Deutschvölkischer Schriftstellerverband, Germanenorden, Vorsitzender der Thule-Gesellschaft (berüchtigt für ihre Femeurteile und -morde). Erster Verleger der Protokolle der Weisen außerhalb Russlands. Vgl. dazu Elke Kimmel: Müller von Hausen, Ludwig [Pseudonym: Gottfried zur Beek] In: W. Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 2, Berlin: DeGruyter 2009, S. 566-567 bzw.: Reinhard Markner: Ludwig Müller von Hausen (1851–1926). In: Helmut Reinalter: (Hg.): Handbuch der Verschwörungstheorien. Leipzig: Salier 2018, S. 189-193.

[3] S. Nilus (1862-1929): russischer Jurist, Publizist und Antisemit. 1905 veröffentlichte er eine Schrift Das Große im Kleinen, dem erstmals als Anhang auch die Protokolle der Weisen beigefügt waren. Vgl. dazu: Michael Hagemeister: Sergej Nilus und die Protokolle der Weisen von Zion. Überlegungen zur Forschungslage. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Bd 5, Frankfurt a. M.- New York: Campus 1996, S. 127–14.

[4] Th. Fritsch (1852-1933): völkisch-antisemtischer Publizist und Verleger (z.B.: Hammer-Verlag, Antisemitische Correspondenz u.a.m.), Wegbereiter des Nationalsozialismus. Mitbegründer der Deutschen Antisemitischen Vereinigung (1886), Verfasser u, Hg. des Antisemiten-Catechismus (49 Auflagen bis 1945). Vgl. dazu Elisabeth Albanis: Anleitung zum Hass: Theodor Fritschs antisemitisches Geschichtsbild. Vorbilder, Zusammensetzung und Verbreitung. In: Werner Bergmann/Ulrich Sieg (Hgg.): Antisemitische Geschichtsbilder. Essen: Klartext 2009, S. 167-191; ferner Eintrag von Thomas Gräfe in W. Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd 6: Publikationen. Berlin: De Gruyter 2013, S. 193–196.

[5] Philip Graves (1876-1953): britischer Journalist und Sachbuchautor, der v.a. als Auslandskorrespondent der Times arbeitete und die Protokolle als erster als Fälschung entlarvte. Vgl. dazu den ersten Teil seiner entsprechenden Artikelserie unter dem Titel „Jewish World Plot“. An Exposure. The Source of the Protocolls. In: Times, 16.8. 1921, S.9; Original: http://tenc.net/antisem/first.pdf (Zugriff 1.11.2023)

[6] M. Joly (1829-1878): französischer Anwalt und Autor. Als sein Hauptwerk gilt der hier genannte Dialogue aux Enfers entre Macchiavelli et Montesqueui (1864, nicht 1865 wie angegeben), der als Vorlage für die Protokolle identifiziert wurde. Vgl. dazu: Michael Hagemeister: Die „Protokolle der Weisen von Zion“ vor Gericht. Der Berner Prozess 1933–1937 und die „antisemitische Internationale“. Zürich: Chronos 2017.

[7] Eine weitere Folge erschien in der Gerechtigkeit, 21. 12. 1933, S. 3, in der auch ein Beitrag unter dem Titel Gegen den Rassenhaß in der Kirchenpolitik (gez. Friedrich Jakonvic), ebd. veröffentlicht wurde.

Julius Löwy: Was wir wollen. (1919)

            Die schweren Kämpfe, unter denen sich jetzt ganz Europa windet, deuten an, daß wir uns an der Schwelle einer neuen Zeit befinden. Wenn einmal nach Jahrhunderten die Geschichte Europas geschrieben werden wird, so wird eine Änderung der Epocheneinteilung erfolgen müssen. Das Mittelalter wird nicht mehr reichen bis zur Entdeckung Amerikas, bis zum Fall Konstantinopels, bis zur Ausweisung der Juden aus Spanien, sondern es wird sich erstrecken bis zum Jahr 1918, das den Fall der letzten Bollwerke mittelalterlichen Denkens und Fühlens, der Zarismus in Rußland und der Militärmonarchien in Mitteleuropa brachte. Eine neue Zeit ist da, ein neues Ideal dämmert herauf, das der Selbstbestimmung der Völker, über das noch vor einem Jahre die mitteleuropäischen Staatsmänner gespottet und gelacht haben. All das Weh und Leid, das jeder Einzelne durchzumachen hat, soll einst reichlichen Lohn finden in dem Bewußtsein, zur Erreichung dieser Ideale beigetragen zu haben. Aus dem Leid der Völker soll sich das Glück der Menschheit formen, die sich aus einer Familie der Völker zusammensetzen soll.

            An das Tor, das zu dieser lichten Zukunft führt, pocht jetzt auch das jüdische Volk, das eine Phase seiner Geschichte vollendet hat. Es hat bisher versucht, die Frage seiner Emanzipation länderweise für seine einzelnen Glieder zu lösen. Dieser Versuch ist mißlungen. Kein Volk hatte bisher so sehr unter den Bedrückungen und den Ketten der mittelalterlichen // Auffassung zu leiden wie das jüdische Volk. In Österreich bis zum Jahre 1867 ausgeschlossen von allen politischen und wirtschaftlichen Rechten – von Freiheit und Gleichheit gar nicht zu reden – hatte es in den letzten fünfzig Jahren schwer zu kämpfen, um seine geistigen und wirtschaftlichen Fähigkeiten zu entfalten. Politisch konnte es als Volk überhaupt nicht zur Geltung kommen. Nicht etwa allein von den politischen Parteien, die sich Aufrechterhaltung der Vorrechte einzelner Klassen und Konfessionen zur Aufgabe machten, sondern von der Organisation des Staates selbst, von der „Allerhöchsten Stelle“ bis zum letzten Straßenräumer wurde die Ausschaltung des „jüdischen Einflusses“ als eine der wichtigsten Angelegenheiten betrachtet. Jüdischen Einfluß nannte man es, wenn der Jude seine Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit stellen wollte. Jüdischen Einfluß nannte man es, wenn die Juden an dem großen wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben wollten. Und daraus entspann sich ein unterirdischer Kampf zwischen den Kräften dieses so regsamen Volkes und seinen Unterdrückern. Das Judentum führt diesen Kampf nicht in geschlossener Front, nicht auf ein Ziel konzentriert, nicht von einem einheitlichen Willen beseelt. Die Juden nahmen anfänglich in dem dunklen Drange, sich politisch auszuleben, teil an den nationalen Kämpfen zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen Polen und Ruthenen, während sie in Ungarn ganz in das Lager des Magyarentums abschwenken. Mit der fortschreitenden Politisierung der Öffentlichkeit trat ein Teil der jüdischen Intelligenz in das sozialdemokratische Lager ein. An allem nahmen die Juden teil, nur nicht am jüdischen Leben; überall versuchten sie ihre Gleichberechtigung zu erzwingen, und wo dies nicht ging, beugten sie sich der aus dem Mittelalter überkommenden Auffassung, daß der Jude nur infolge seiner Konfession ein Fremder sei. Legten sie die Konfession ab, so waren sie voll- und gleichberechtigt. Die Taufseuche hat dem Judentum viele wertvolle und gute Kräfte genommen. Unerhörte Opfer an Menschen hat das Judentum fremden Interessen gebracht, es hat fast seine Kraft verzehrt. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts begann sich eine innere Wandlung vorzubereiten. Die jüdische Jugend erkannte, daß das Judentum, wenn es sich noch weiter als bloße Religionsgemeinschaft betrachtete, verdorren müsse, sie erkannte, daß die individuelle Emanzipation unmöglich sei, daß das Judentum als Nation seine Befreiung aus dem unwürdigen Sklavendasein fordern, erstreben und erkämpfen müsse.

[…]

            Wir haben oben gesagt, daß das Judentum den Kampf um seine Existenz ohne einheitlichen Willen führte. Aber seine traurige Lage wurde auch noch durch einen anderen Umstand mitgeschaffen: Durch die Verständnislosigkeit, mit der Staaten und Völker dem Judentum gegenüberstanden und noch stehen. Was weiß unsere Umgebung von uns? Wir sind ihr Fremde, die religiösen Gebräuche des Judentums erscheinen ihr bizarr oder mystisch, jedenfalls aber unerklärlich. Unsere Umgebung hat mehr Interesse für Eskimos und Azteken als für ein Volk, das in ihrer eigenen Mitte lebt. Und aus dieser Verständnislosigkeit, aus dieser Unkenntnis der jüdischen Art, der jüdischen Seele erklärt sich drei Viertel jener barbarischen Strömung, die man Antisemitismus nennt. Das letzte Viertel ist der Haß gegen das Fremde überhaupt.

            Wir wollen Achtung für unser Volk, Respekt vor seinen unleugbaren, großen geistigen Fähigkeiten. Wir wollen ehrliche, offene Aussprache mit allen, die eines redlichen Willens sind. Kein Volk und kein Staat hat mit dem „Hepp-Hepp“ etwas anderes erzielt, als daß der Kampf gegen die Juden sich schließlich zu einem Kampf der einzelnen Klassen erweiterte. Aus den Pogromen in Rußland – ist diese Lehre schon vergessen? – ist schließlich der Anarchismus und der Nihilismus geworden. Die Judenhetzen in Rumänien führten letzten Endes zu dem Bauernsturm gegen die Schlösser der Adeligen. Wenn sich die Völker und die Staaten mit uns auseinandersetzen, wenn sie uns das Recht zuerkennen, unser Schicksal selbst zu bestimmen, unsere Gemeinden in Volksgemeinden zu verwandeln, wenn sie unseren Anspruch auf Freiheit und Land anerkennen, dann wird es für sie und für uns besser sein.

            Das Judentum wird für sich arbeiten können, es wird im Bunde der Völker kraft seines Genies sicherlich nicht an letzter Stelle stehen – die Resultate seiner Arbeit werden eine Bereicherung der Menschheit sein.

 In: Wiener Morgenzeitung, 19.1.1919, S. 1-2.

Sophie Lazarsfeld: Erziehung zur Ehe. (1926)

„Vater werden ist nicht schwer, Vater sein hingegen sehr“, sagt Wilhelm Busch in seiner knappen und lebensklugen Art. Man braucht nur statt Vater „Gatte“ setzen (oder natürlich auch „Gattin“) und das ganze Eheproblem ist darin zusammengefaßt, denn wie leicht tun sich zwei zusammen und wie selten wird eine wirkliche, dauernde Ehegemeinschaft daraus! Woher kommt das, wo liegen die Gründe und wo finden wir eine Besserungsmöglichkeit?

Die immer höher emporschnellende Zahl der Ehescheidungen rechtfertigt wohl eine solche Fragestellung, auch wenn man von den unbedenklich geschlossenen und ebenso wieder gelösten Kriegsehen absieht. Wenn die erleichterte Möglichkeit der Ehetrennung als Grund angegeben wird, so ist das ein falscher Schluß, denn die ist ja nur der Niederschlag einer allgemeinen seelischen Einstellung, der sie Rechnung trägt. Daß anderseits Trennungsverbote Ehen nicht verbessern, ist eine solche Selbstverständlichkeit, daß es genau dazu kaum des Hinweises auf die unglücklichen katholischen Ehen bedürfte, deren Prozentsatz sich nicht von denen der andern Konfessionen oder der Konfessionslosen unterscheidet. Nicht Zwang, nur Wille zur Dauer also kann hier helfen.

Woran aber liegt es, daß wir diesen Willen so selten und so mangelhaft ausgebildet finden? Wir wissen heute durch unsere moderne Seelenforschung, daß der Mensch nur diejenigen Eigenschaften entwickelt, die er zur Hebung seines Selbstgefühls braucht. Sucht er zum Beispiel lauten rauschenden Erfolg, dann wird er die zu diesem Zweck geeigneten Mittel anwenden, er wird darauf „trainieren“ und so auch wirklich die Eigenschaften erwerben, die ihm den gewünschten Erfolg sichern. Verzichtet er hingegen auf äußere Anerkennung, so wird sich das auch im Training seiner Eigenschaften ausdrücken. Die Eigenschaften selbst sind nur Folge des gesteckten Zieles und können nicht an sich geändert oder beeinflußt werden. Nur die geänderte Zielrichtung bringt – dann aber zwangsläufig und unvermeidlich – eine Änderung der dazu erforderlichen Eigenschaften mit sich. Nun ist erotische Machtstellung zweifellos ein sehr gesuchtes Ziel, an dessen Erreichung viel, manchmal sogar alles gesetzt wird, und zu dem zwei Wege führen. Der eine Weg führt zu vielfachen Erfolgen, der andre verzichtet auf die Mannigfaltigkeit und sucht dauernden Erfolg. Wer sich für die Mannigfaltigkeit, den immer und neu wiederholten Erfolg entschließt, wird die dazu gehörigen Eigenschaften erwerben auf Kosten andrer, die ihm dabei hinderlich wären, er wird zum Beispiel keine Geduld, kein Vertrauen, wenig Gedächtnis haben, weil das durch unerwünschtes Mahnen und Vergleichen unbequem und störend würde. Wer hingegen die Dauer will, der braucht wieder diese Eigenschaften, besonders Gedächtnis, denn dieses wird ihm zum Stützpunkt für die Erinnerung und gibt ihm dadurch die gewünschte Bindung an das einmal erlebte, die Ausdauer, die Fähigkeit der Treue. Mit diesem Zielstreben stellen sich auch die andern für eine dauernde Gemeinschaft nötigen Eigenschaften ein. Alfred Adler bezeichnet sehr richtig die Ehe als eine „Aufgabe“ die im wesentlichen mit den gleichen Mitteln gelöst werden muß, wie alle andern Aufgaben des Lebens. Und wer hier schlechter Partner ist, wer sich in seinem Beruf, in seiner täglichen Tätigkeit nicht verläßlich, nicht rücksichtsvoll, nicht ausdauernd erweist, der wird es auch in der Ehe nicht sein, der wird hier wie dort Gründe finden, sich zu drücken, sich durch Finten und Kniffe seinen Aufgaben zu entziehen. Zu den beliebtesten gehört es, Angewohnheiten des Partners plötzlich nicht mehr ertragen zu können oder selbst störende Gewohnheiten an den Tag zu legen, beides sichere Zeichen einer schlechten Vorbereitung für die Ehe, Zeichen des Willens zu Unterbrechung, zum Wechsel.

Wenn wir die Einehe wollen, auf deren Seite zweifellos die großen seelischen Werte liegen, wenn wir die Neigung zur Unbeständigkeit steuern wollen, dann müssen wir schon beim kleinen Kind mit dem Training der dazu erforderlichen Eigenschaften beginnen, indem wir seine Zielsetzung entsprechend beeinflussen. Ein Kind, das nicht mehr mit dem Wunsch aufgewachsen ist, die schönste Puppe, das meiste Spielzeug besitzen zu wollen, das wird auch als Erwachsener nicht mehr Erfolge auf erotischem Gebiet sammeln wollen, das Don-Juan-Ideal wird in Vergessenheit geraten.

Es ist sehr bezeichnend, daß wir in Geschichte und Literatur kein weibliches Gegenstück zum Don Juan besitzen. Messalina, die man dafür ansehen könnte, ist es nicht, auch nicht Wedekinds Lulu. Diesen haftet etwas Gefrässiges an, sie sind nicht wählerisch, sie nehmen, was sie bekommen können, was der echte Don Juan nie tut. Das kommt daher, weil der Mann auf Grund seiner wirtschaftlichen Überlegenheit das sexuelle Wahlrecht ausschließlich für sich bewahrt und dadurch die Frau gezwungen hat, das Wahlresultat untätig abzuwarten. Bekommt nun solch eine schlecht vorbereitete Frau die Wahlmöglichkeit, dann schlägt sie ganz ins Gegenteil um und überbietet die beneidete Freizügigkeit des Mannes durch vollkommene Zügellosigkeit. Damit halten wir bei einem Punkt in unserer Mädchenerziehung, der sein reichliches Teil zum Prozentsatz der unglücklichen Ehen beigetragen hat. Die kapitalistische Gesellschaftsmoral hat es zuwege gebracht, dem jungen Mädchen beizubringen, daß sie möglichst viel erotischen Erfolg haben müsse, denn die Stellung der Frau wurde ausschließlich danach bewertet, welchen Mann sie sich zu erobern imstande war. Die Gesellschaft hat es also verstanden, die Frauen zu einer ausschließlichen Vervollkommnung derjenigen Eigenschaften zu veranlassen, die zur Erreichung dieses Zweckes nützlich sein konnten, und hat sie dadurch völlig aus ihrer natürlichen Entwicklung gedrängt.

Anderseits mußte das letzte Ziel des erotischen Erfolges dem jungen Mädchen sorgfältig verborgen werden, es sollte möglichst ohne Ahnung dieses Zieles an das Ziel selbst herangeführt werden. Es wäre Irrtum, zu glauben, daß die unbehüteten Proletariermädchen in diesem seelischen Sinne besser daran seien. Auch diese erfahren – und meistens in viel zu frühem Alter – zuerst an sich selbst die praktische Auswirkung dessen, was man ihnen bis dahin durch Geheimniskrämerei oder Zoten als etwas zu Verheimlichendes, also Böses, hingestellt hat. Der ungeheure Prozentsatz empfindungsarmer Frauen, die Statistik nennt 60 Prozent, in manchen „kalten“ Ländern 80 Prozent, geht darauf zurück, denn wo findet sich – außer in geringen Ausnahmen – der Mann, der genug Gemeinschaftsgefühl und die daraus entspringende Zartheit besitzt, um die Frau ohne ihren seelischen Schaden über diese ihr Selbstgefühl gefährdende Klippe hinwegzuführen?

Solche Frauen sind es dann auch, die sich im Falle einer vom Manne gewünschten Trennung am zähesten weigern, weil sie, durch den Mißerfolg entmutigt, weder die Kraft zu einem neuen Versuch noch das Vertrauen zu einem auf sich selbst gestellten Leben aufbringen. Die Hölle einer schlechten Ehe aber, in der der eine Teil den andern gegen dessen Willen festhält, braucht nicht erst ausgemalt zu werden. Wobei es nicht nötig ist, daß die Frau die Scheidung in Worten verweigert, manche erreichen den gewünschten Zweck viel sicherer durch ein scheinbares Verlangen nach der Trennung. Auch hier, wie überall, ergreift der Mensch ganz unfehlbar die zur Erreichung seines Zieles nötigen Mittel.

Aber auch die Umgebung müßte dazu erzogen werden, die Dauer einer Ehe zu fördern, besonders die Eltern, von deren Einfluß viel abhängt. Adler nennt sie „kriegsgeübte Gegner“, die es nicht verwinden können, daß ihr Sprößling zum erstenmal selbständig handelt, und die ihre Herrschaft etwa in Form von bösen Voraussagungen fortzusetzen trachten. Wenn dann die jungen Ehegatten ängstlich und gegeneinander mißtrauisch geworden sind, dann darf man sich nicht wundern, die bösen Prophezeihungen in Erfüllung gehen zu sehen.

Vieles ließe sich dazu noch sagen, aber schon dieses wenige zeigt, wieviel Entscheidendes auf diesem Gebiet wir noch zu lernen haben. Für unsere Generation kann ja leider nicht mehr viel geschehen, hier kann wohl manches gemildert, aber kaum noch Grundlegendes gebessert werden. Wir werden uns wohl damit begnügen müssen, wenigstens die Formen, in denen jetzt die nicht glücklichen Ehen verlaufen, etwas menschlicher zu gestalten, zum Beispiel das Täuschen und Lügen möglichst daraus zu verbannen, das seinen Grund auch nur darin hat, daß bei Eingeständnis einer Gefühlsabirrung das Selbstgefühl des Gestehenden und noch mehr des Teiles, der das Geständnis empfängt, schwer betroffen werden. Ehrlich zu sein, aber die Ehrlichkeit des andern auch zu ertragen, ist eine schwere Kunst, die nur durch Hintansetzung des eigenen Machtgefühls zugunsten eines gemeinsamen zu Erhaltenden erlernt werden kann. Aber diese Mühe lohnt, und es straft sich selbst, wer anders handelt. Hoffmannsthal hat das wunderschön ausgedrückt in seinem „Rosenkavalier“:

Nicht quälen will ich dich, mein Schatz.

Ich sag‘, was wahr ist, sag’s zu mir so gut wie zu dir.

Leicht will ich’s machen dir und mir,

Mit leichtem Herzen und leichten Händen

Halten und nehmen, halten und lassen,

Die nicht so sind, die straft das Leben

Und Gott erbarmt sich ihrer nicht.

In: Arbeiter-Zeitung, 21.2.1926, S. 13-14v.