Robert Musil: Als Papa Tennis lernte. (1931)
Als Papa Tennis lernte, reichte das Kleid Mamas bis zu den Fußknöcheln. Es bestand aus einem Glockenrock, einem Gürtel und einer Bluse, die einen hohen, engen Umlegekragen hatte als Zeichen einer Gesinnung, die bereits anfing, sich von den Fesseln zu befreien, die dem Weibe auferlegt sind. Denn auch Papa trug an seinem Tennishemd einen solchen Kragen, der ihn am Atmen hinderte. An den Füßen schleppten beide nicht selten hohe braune Lederschuhe mit zolldicken Gummisohlen, und ob Mama außerdem noch ein Korsett zu tragen hätte, das bis an die Achselhöhlen reichte, oder sich mit einem kürzeren begnügen dürfte, war damals eine umstrittene Frage. Damals war Tennis noch ein Abenteuer, von dem sich die verzärtelte heutige Generation keine Vorstellung mehr machen kann. O, rührende Frühzeit, als man noch nicht wußte, daß auf kontinentalen Tennisplätzen kein Gras gedeiht! Man behandelte es vergeblich mit der Sorgfalt eines Friseurs, der an einem an Haarausfall leidenden Kunden alle seine Mittel versucht. Aber man konnte auf solchen Grasplätzen bei Turnieren unerwartete Erfolge erzielen, wenn der Ball zufällig auf einen Maulwurfshügel fiel oder der Gegner über ein Grasbüschel.
Leider hat man diese romantischen Tenniswiesen bald aufgegeben und den modernen Hartplatz geschaffen, wodurch ein ernster Zug in den Sport kam. Die Figuren verschwanden, die man anfangs hatte sehen können, wie sie, scharf visierend, mit turnerischer Geschicklichkeit das Racket einem Flugball entgegenstießen, und es bildeten sich überraschend schnell die Schläge aus, die heute noch gebraucht werden, mit ganz wenigen Ausnahmen, die erst später dazugekommen sind. […] Der Zeitgeist schafft sich eben seine Werkzeuge. Was nach uns gekommen ist, war ebensowohl ein großes Wachsen des Durchschnittskönnens wie der Spitzenleistungen, aber wir sind es gewesen, welche die Gnade dieses Jahrhunderts empfangen haben, und daraus leite ich auch die Berechtigung ab, einiges von solchen Angelegenheiten zu erzählen.
Um noch einen Augenblick beim Tennis zu bleiben: man konnte noch vor zehn oder weniger Jahren in diesem Sport gewisse Spuren der ursprünglichen Moral beobachten. Wenn man von einer andren Sportstätte auf einen Tennisgrund kam, so war das, sofern man einen empfänglichen Blick für Kleidung hatte, nicht anders, als ob man von einem hellen, offenen Platz in einen hochstämmigen Wald träte. Hier reichten die Röcke noch bis zur halben Wade und die Taille bis zu den Handgelenken, als sich der Dreß anderswo längst schon auf die Größe eines Bogens Briefpapier, wenn nicht gar einer Eintrittskarte zusammengezogen hatte; ja, was die Herren angeht, so stecken sie bekanntlich heute noch in weißen Futteralen, und nur die Damen verlieren von den Armen und Beinen aus zusehends ihre Kleidung. Dieser konservative Grundzug des Tennis hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß es lange Zeit ein Sport der „Gesellschaft“ gewesen ist, die es zum Vergnügen spielte und die Nacktheit nicht für einen neuen Geist hielt, sondern für ein Geheimnis des Garderobeschranks, das man nur selten tragen darf, weil es immer das gleiche bleibt. In ähnlicher Weise ist ja auch ein anderer Sport der Gesellschaft konservativ geblieben, das Fechten, diese schwarzseidene Kavalierskunst, deren Anblick, wenn sie öffentlich auftritt, mehr vom achtzehnten Jahrhundert an sich hat als von den Formen der Gegenwart, und an sportlicher Geltung denn auch weit zurücksteht. Das Fechten war ein ritterlicher Sport und also eigentlich überhaupt keiner, oder ist nur noch in halb lebendiger, der trotz seiner hohen körperlichen Vollendung zusehen muß, wie ihn die Seele seiner Seele mit Boxern und Jiu-Jitsu-Kämpfern verlassen hat.
Seit Papa Tennis lernte, hat sich also immerhin einiges geändert, aber es betrifft mehr die Bewertung der Leibesübungen als diese selbst. Wohl gab es noch nicht die Verbindungen von Motortechnik mit menschlicher Kaltblütigkeit, aber von den eigentlichen „Körper-Sporten“ standen die Wesenszüge schon fest, mit wenigen Ausnahmen wie Golf und Hockey, die man noch nicht kannte, und abgesehen von der technischen Durchbildung, die aber ziemlich stetig erfolgte; denn von „revolutionierenden“ Stiländerungen fielen die der Reit-, Lauf- und Sprungtechnik schon in jene Zeit und sogar die Crawlmethode des Schwimmens, die erst später importiert worden ist, unterschied sich in der Arm- und Atemtechnik weniger von dem damals geübten Schnellschwimmen als dieses vom gemächlichen Mißbrauch des Wassers zur Großvaterzeit.
Was den Sport zum Sport gemacht hat, ist also nicht so sehr der Körper als der Geist. Ehe ich aber von diesem berühmten Geist beginne, muß ich eine Geschichte erzählen, die weitab davon anfängt, jedoch bald dahinführt. Man weiß, daß Wien die zweitgrößte deutsche Stadt ist; aber da ein großer Teil der Einwohnerschaft Wiens in Berlin wohnt, wo er sich als Schriftsteller, Ingenieur, Schauspieler und Kellner große Verdienste um die norddeutsche Sonderart erwirbt, bleibt zu Hause nicht immer genug übrig, was man außerhalb natürlich nicht so genau weiß. Aber so ist man auf einen Einfall gekommen, der sowohl für die Geschichte der Kultur wie für die des Sports sehr bezeichnend ist: Man baut nicht nur seit einem Jahr an einem großen olympischen Stadion, sondern opfert diesem auch die letzten Reste des Praters. Was das heißt, muß erklärt werden. Der Prater gehört zu den sieben Weltwundern, die ein im Ausland lebender Wiener aufzuzählen beginnt, wenn er Heimweh hat; sie heißen: Wiener Hochquellenwasser, Mehlspeisen, Backhendeln, die blaue Donau, der Heurige, die Wiener Musik und der Prater. […] Denn das war, eng an ja in die Großstadt geschlossen, ein stundenweiter Naturpark mit herrlichen alten Wiesen, Büschen und Bäumen; eine Landschaft, in der man sich als Mensch nur Gast fühlte: eine Überraschung, denn diese Natur war gut um hundert Jahre älter, als es die Natur ist, in deren Gesicht wir sonst blicken; kurz, es war eine jener Stellen, die man heute, überall, wo man sie noch besitzt, für unberührbar erklärt, aus irgendeinem Empfinden heraus, daß es doch noch etwas anderes als Kugelstoßen oder Autofahren bedeute, wenn sich der Mensch langsam, ja sogar oftmals stehenbleibend oder sich setzend, in einer Umgebung bewegt, die ihm Empfindungen und Gedanken eingibt, für die sich nicht leicht ein Ausdruck finden läßt. In der Zeit der Allonge-Perücken scheint man das gewußt zu haben, denn obwohl der Prater damals ein kaiserlicher Jagdpark war, worin man zur Hatz ritt, gibt es allerhand Zeugnisse dafür, daß dies nicht ganz ohne Empfinden für die Natur vor sich ging; in der langen Besitzerzeit Franz Josephs, wo sich unsere heutige Art zu leben und auszusehen herausbildete, hatte man wenigstens Scheu vor Änderungen und gab nur die Ränder frei, selbst der aristokratische Jockeiklub und der Trabrennverein mußten sich damit begnügen: erst seit wir uns selbst übergeben sind, und das ist eben das Bedeutsame daran, ist der Prater fast restlos zugrunde gegangen, was natürlich nicht hindern wird, daß wir weiter von ihm reden und nicht bemerkten werden, daß er nicht mehr da ist. An seine Stelle sind Sportplätze verschiedenster Art getreten, die von Zäunen und Eintrittsschranken umgeben sind, und es ist das gerade so, wie es sein mußte, denn man hätte dafür weit geeignetere Gegenden finden können, aber keine so vornehmen, keine solchen Siegesplätze über die Natur, nichts, wo sich der lächerliche Anspruch der Leibesübungen, eine Erneuerung des Menschen zu sein, so naiv, so protzig, so instinktsicher ausdrücken könnte wie in diesem Zusammenhang.
Gegen die Tatsache, daß wir heute eine Körper-„ Kultur“ besitzen, ist also nichts zu machen. Aber wessen Geisteskind ist sie eigentlich? An dieser Stelle muß ich zugeben, daß ich selbst sehr viel Sport getrieben habe. Schon ich bin in meiner Jugend, wenn ich vom Kolleg kam, täglich auf den Tennisplatz gefahren, um mich einem scharfen Trainingsspiel zu unterziehen, oder ich wurde eine halbe Stunde lang von meinem Maestro di scherma hart hergenommen und abends dann noch einmal eine Viertelstunde, und schließlich kamen noch die Assauts mit den Klubgrößen, unter denen sich vielgenannte Fechter befanden. Ich habe an Fecht- und Tennisturnieren teilgenommen, konnte auf den Händen stehen, Salto zu Wasser und zu Lande machen und bin etliche Male auf Schwimm-, Ruder- und Segelunternehmungen beinahe ertrunken; ich glaube, genügende Beweise dafür zu besitzen, daß der Geist des Jahrhunderts rechtzeitig in mich gefahren ist. Aber wenn ich mich frage, was mir damit eigentlich geschah, so muß ich mir die Antwort sorgfältig überlegen: In der Hauptsache war es wohl wirklich eine blinde Kraft, die mich trieb, irgendein Nichtwiderstehenkönnen, sobald man die Sache kennengelernt hatte; aber sichtlich war sie auch vermischt mit jener lebensunkundigen Eitelkeit der Jugend, die an ihrem gesunden Körper nicht nur Freude, sondern ein Wundergefühl empfindet, weil in diesem Zaubersack noch alle Erfolge der Welt stecken, ohne daß eine Enttäuschung davorgekommen wäre. Auch die Suggestion, die im Erlernen jeder Sache liegt, wenn man sich ihm erst einmal hingegeben hat, darf nicht vergessen werden; hat man etwa hundert Stunden und Anstrengungen zum Opfer gebracht, so opfert man ihm auch die hundertunderste und beginnt damit eine neue Reihe: man wird in dieser Art beim Training von seinem Körper gleichsam an der Nase weiter geführt.
Neben diesen Illusionen gibt es in der Sportübung aber auch eine Fülle wirklicher kleiner geistiger Anregungen, die sie vor der Gefahr bewahren, bloß eine seelische Erkrankung zu werden. Ich will das kurz fassen, da es ohnehin oft genug hervor gekehrt wird: da sind Mut, Ausdauer, Ruhe, Sicherheit, die man auf dem Sportplatz zwar nicht für alle Fälle des Lebens, aber immerhin so erwirbt wie ein Seiltänzer das Gleichgewicht auf einem Seil, das in der Höhe von einem Meter gespannt ist. Man lernt, die Aufmerksamkeit zu sammeln und zu verteilen wie ein Mann, der mehrere Spinnstühle beaufsichtig. Man wird angelernt, die Vorgänge im eigenen Körper zu beobachten, die Reaktionszeiten, die Innervationen, das Wachstum und die Störungen in der Koordination der Bewegungen, man erlernt die Beobachtung und Auswertung von Nebenvorgängen, die rasche intellektuelle Kombination; alles das ähnlich, wenn auch nicht in dem Maße wie ein Jongleur. Man erwirbt Bekanntschaft mit den Fehlleistungen, welche der wahrnehmbaren Müdigkeit voranschleichen; man lernt das eigentümliche Schweben zwischen zu viel und zu wenig Fleiß kennen, die beiden schädlich sind, den gewöhnlich ungünstigen Einfluß der Affekte auf die Leistung und andererseits die beinahe mirakulöse Natur des besonders guten Gelingens, wo der Erfolg sozusagen schon vor der Anstrengung da ist. Und obwohl man alles das auch bei anderen Gelegenheiten, etwa beim Kartoffelgraben, kennenlernen kann, so faßt es der Sport doch in einer überaus zugänglichen und reizvollen Weise zusammen, wozu noch die Anregungen kommen, die das Kampfspiel gewährt, das Überlisten, die Schwankungen zwischen den Gegnern, die Einschüchterung und die Siegesgewißheit, und so vieles andere, was man etwas geschwollen als Taktik und Strategie des Sports bezeichnet.
Wie weitläufig wäre allein schon (obwohl sie gegeben werden kann) die Erklärung des Wunders, daß man auf die Entfernung des Anlaufs vorausbestimmen kann, mit welchem Fuß man abspringen wird! Das Wesen des Ich leuchtet in den Erlebnissen des Sports aus dem Dunkel des Körpers empor, und auch sonst leuchtet dabei allerhand Dunkles, aber dazu möchte ich nun auch gerne wissen, wie viele Sportleute sich überhaupt herbeilassen würden, nach solchen Dingen zu fragen oder auf solche Fragen zu hören?! […]
Auf solche Ideen wäre ich bei meinen naiven körperlichen Anstrengungen seinerzeit gewiß niemals verfallen. Ich war fast ganz und gar ungeistig, nur um am nächsten Tag geistig frisch zu sein. Es kam mir beim Ringen wenig Seelisches in den Sinn, und wenn ich mich wie ein Tier betrug, so war mir eben gerade das erwünscht. Ich bin heute noch der Meinung, daß Geistesabwesenheit außerordentlich gesund ist, wenn man Geist besitzt, unter anderen Voraussetzungen jedoch auf die Dauer recht gefährlich! Aber wozu noch länger vom Geist des Sportmanns reden, besteht doch das ganze Geheimnis darin, daß der Geist des Sports nicht aus der Ausübung, sondern aus dem Zusehen entstanden ist! Jahrelang haben sich in England Männer vor einem kleinen Kreis von Liebhabern mit der nackten Faust Knochen gebrochen, aber das war solange kein Sport, bis der Boxhandschuh erfunden worden ist, der es gestattete, dieses Schauspiel bis auf fünfzehn Runden zu verlängern und dadurch marktfähig zu gestalten. […] Zweiundzwanzig Männer kämpfen mit der Mäßigung von Berufsmenschen um einen Fußball, und einige Tausende, von denen die meisten einen solchen Ball niemals berührt haben, geraten in die Leidenschaft, die sich die Ausübenden ersparen. So entsteht der Geist des Sports. Er entsteht aus einer umfangreichen Sportjournalistik, aus Sportbehörden, Sportschulen, Sporthochschulen, Sportgelehrsamkeit, aus der Tatsache, daß es Sportminister gibt, daß Sportleute geadelt werden, daß sie die Ehrenlegion bekommen, daß sie immerzu in den Zeitungen genannt werden, und aus der Grundtatsache, daß alle am Sport Beteiligten, mit Ausnahme von ganz wenigen, für ihre Person keinen Sport ausüben, ja ihn möglicherweise sogar verabscheuen. Sofern man nicht an der Sache verdient, gibt man ihr eben nach. Man fühlt ein Vakuum, in das sich der Sport stürzt. Man weiß eigentlich nicht recht, was sich da stürzt, aber alle reden davon, und so wird es wohl etwas sein: so ist immer das zur Macht gekommen, was man ein hohes Gut nennt.
Wie ungerecht nur, daß man in diese Kultur noch nicht die Jongleure, überhaupt die Varieté- und Zirkuskünstler einbezogen hat, und vor allem: welches moralische Problem des kommenden Sportzeitalters liegt in der Vermählung von Erwerbssinn und körperlicher Geschicklichkeit bei den Taschendieben!
In: Der Querschnitt, Nr. 11 (1931), S. 247-252 (Auszüge)
Hugo Schulz: Dämon Alpinismus
Wenn man vom alpinen Sport spricht, so empfinden das viele Bergsteiger als eine Beleidigung. Sie gestehen nicht gern zu, daß ihr erhabenes Vergnügen ein Sport sei. Übrigens bestreiten auch die eigentlichen Sportsleute, daß der Alpinismus im eigentlichen Sinne als Sport zu qualifizieren ist. Ihnen scheinen nämlich Leistungen körperlicher Kraft und Gewandtheit nur dann die Wesensmerkmale des Sports zu tragen, wenn sie ihre Vervollkommnung im Wettkampf suchen. Das Charakteristische des Sports ist nach dieser Auffassung, daß er Rekordleistungen schafft, die exakte Maßstäbe für die Bewertung des
sportlichen Könnens abgeben. Wenn man nun selbst diese Auffassung, gegen die sich gar vieles einwenden läßt, uneingeschränkt gelten läßt, kann man dem modernen Alpinismus den Charakter eines Sportbetriebes nicht abstreiten, denn er trägt das eigentliche Wesensmerkmal des Sports an sich wie irgendein athletischer Wettkampf. Auf keinem Sportgebiet ist das Rekordwesen so vielgestaltig wie beim Alpinismus, nur hat es da die besondere Eigenheit, daß es keinen exakten Ausdruck durch arithmetische Verhältnisformeln gewinnen kann. Die Qualität touristischer Leistungen kann nicht gemessen, sondern nur geschätzt werden, aber die Alpinisten haben aus der Erfahrung allmählich Einheitswerte gewonnen, auf die bezogen sie jede Besteigung vollkommen
zuverlässig sportlich klassifizieren können. Wenn zum Beispiel ein Alpinist hört, daß jemand ohne Führer die Kleine Zinne bezwungen hat, so weiß er sofort genau, welchen Rang er dieser Leistung zuerkennen muß. Er hat ein ganz bestimmtes Bild von den Anforderungen, die diese Tour an die sportliche Leistungsfähigkeit stellt, und ist auch in der Lage, das Bild jeder andern Tour zu diesem in Beziehung zu bringen. In der Vorstellung der Touristen hat sich auf diese Weise ein vollständiges Rekordschema ausgebildet, das sehr feine und sogar subtile Unterscheidungen ermöglicht.
Wenn man nun weiß, daß der Alpinismus ein Sport ist, so hat man ihn deswegen noch lange nicht begriffen. Die moderne Bergsteigerleidenschaft hat entschieden etwas Mystisches, das aller exakten Erklärung zu spotten scheint und das sich nur dem aufhellt, der entschlossen ist, des Rätsels Lösung in den Tiefen des menschlichen Trieblebens zu suchen. Das Bergsteigen ist wohl Sport, aber nur in seinem Betrieb und nicht in seinem innersten Wesen.
Um im Rahmen der Hochalpenwelt Sport zu treiben, braucht man nicht die aussichtsarme Fünffingerspitze zu erklimmen. Eine scharfe Ruderfahrt über den Königssee leistet dem Körper und bei stürmischem Wetter auch der Seele ganz dasselbe wie eine schneidige Gipfeltour, ohne auch nur halb so anstrengend zu sein wie diese. Die Tatsache, daß auch beim Bergsteigen Naturfreude und Sportfreude einander durchdringen, vermag allein den besonderen Charakter des Alpinismus nicht zu begründen – die merkwürdige Lust, inmitten erhabener Schönheit Pfade des Todes zu wandeln, muß viel verborgenere Quellen haben.
Ich glaube, daß es mir gelungen ist. diesen Quellen näherzurücken, indem ich die Leidenschaft für schwierige Bergtouren aus einem Triebe erkläre, der bei vielen Menschen in stärkerem oder schwächerem Grade das Verhalten gegenüber ästhetischen Eindrücken bestimmt. Es gibt je nach dem Vorherrschen oder dem Fehlen dieses Triebes zweierlei Arten von ästhetischem Genuß; die beschauliche passive, die den Willen völlig auszuschalten vermag, und die begehrliche, bei der der Gegenstand des Genusses zugleich ein Gegenstand des Wollens ist. Der beschaulich Genießende gibt sich willenlos dem Eindruck des Schönen hin – „die Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht“. Anderseits aber gibt es Menschen, die selbst beim Anblick des Sternenhimmels ihre Begierde, davon auf irgendeine Weise Besitz zu ergreifen, kaum zu zügeln vermöchten, wenn er nicht gar so unnahbar wäre. Das sind die Naturen, die das Schöne nicht anders genießen können, als indem sie zugleich unstillbare Sehnsucht nach dem Besitz hegen. Was ihnen gefällt, wünschen sie ihrem persönlichen Dasein einverleiben zu können, sei es als gemeines Eigentum, sei es als Erlebnis, sei es als Eroberung ihres erkennenden Geistes. Das Schöne befriedigt sie nicht, solange sie es nicht ganz mit ihrer Persönlichkeit zu durchdringen, es zu gewinnen, zu meistern, von innen heraus zu begreifen oder auf irgendeine sonstige Art zu beherrschen vermögen. Die gemeinste Verkörperung dieses urmenschlichen Triebes sind jene Leute, die ein schönes Weib nicht sehen können, ohne danach zu begehren, seine höchste Verkörperung ist der gelehrte Forscher, der vor der Erhabenheit des Weltalls nicht in stummer Anbetung zusammensinkt, sondern in leidenschaftlichem Erkenntnisdrang den Weg sucht, der zur Pforte des Allerheiligsten führt.
Wie wird nun der Anblick des Hochgebirges auf ein solcherart sehnsüchtig und schmachtend veranlagtes Menschenkind wirken? Der beschauliche Naturfreund wird sich in stummer, wunschloser Verzückung dem Eindruck hingeben und dann, des Gottes voll, von bannen gehen in seligem Frieden. Den kann nun der begehrliche Naturfreund nimmer finden. Je erhabener sich die Bergwelt vor ihm entfaltet, desto unruhiger wird seine Seele. Eine unsagbare Sehnsucht erfüllt ihn plötzlich, diese wilde Schönheit nicht bloß anzuschauen, sondern auch zu erleben. Eine rauhe Tatkraft erwacht in ihm und jagt ihn hinein mitten in die Wildnis, in das Labyrinth der Gletscherpracht. damit er sich da als Herr fühlen könne, dem all diese Pracht angehört als erworbenes und erobertes Eigentum seiner Persönlichkeit. Dieses Ziel ist unerreichbar, und daher kennt die Sehnsucht des echten Alpinisten keine Befriedigung und kein Ende. Durch alle Poren sucht er in die Schönheit seiner geliebten Berge einzudringen und wühlt sich förmlich ein in sie, um sie ganz mit seiner Persönlichkeit zu durchsetzen. Auf den schwierigsten und gefährlichsten Pfaden fühlt er sich seinem Ziele am nächsten, er beweist seinen geliebten Bergen, daß er sie selbst dort, wo sie am sprödesten tun, zu meistern vermag. Aber die verführerische Schönheit des Hochgebirges ist nicht auszuschöpfen, immer neue Probleme bieten sich dem wilden Erobererdrang des Eindringlings, der im Reich der Klüfte herrschen mochte. So wird das Bergsteigen eine Leidenschaft – eine erhabene Leidenschaft zwar, aber im Grunde doch wesensverwandt der erotischen jener Leute, die den verborgensten Rätseln des Geschlechtslebens nachspüren. Die Hochtouristen sind die Don Juans der Berge. Ihr Tun ist ein heißes Werben um die Gunst jener spröden Gewalten, die den Busen der Geliebten mit Eis und Stein gepanzert haben. Je schwerer der Sieg zu erringen ist, desto heftiger lodert die Sehnsucht. Gerade dort, wo die Hindernisse sich am meisten häufen, lockt am stärksten die Aussicht auf das Ziel des Strebens, sich einmal völlig eins fühlen zu können mit der inbrünstig geliebten Schönheit des Weltalls.
In: Arbeiter-Zeitung, 29.6.1926, S. 12.
Paganus: Lichtbündlerischer Auftakt. Beginnende Nacktkultur in Österreich
Paganus [ ]: Lichtbündlerischer Auftakt. Beginnende Nacktkultur in Österreich. (1927)
Seit einiger Zeit mehrt sich auf meinem Schreibtisch – nein, auf dem Nebentisch – die sogenannte „Nacktliteratur“. Es scheint, daß die Autoren, Verleger und Propagandisten Österreich dieser für uns Terra incognita entdeckt haben. Oder vielleicht haben sie nur entdeckt, daß ich ihre Nacktkulturei entdeckt habe und betrachten mich nun als Spezialreferenten des Blattes. Jedenfalls wimmelt es seither bei mir von Büchern, Broschüren, Einladungen, Nacktsanatoriumsprospekten, Sonnenbadbildern und so weiter. Großes Geschütz wird von Pro und Kontra aufgefahren. Es ist ein Kampf um Leben und Tod, um Schwimmhose und Epidermis.
Dabei hat die Bewegung schon ihre richtige Geschichte und Geschichtsschreiber, wie mich das im vorkämpferischen „Verlag der Schönheit“ erschienene Werk Die Nacktkultur-Bewegung von I. M. Seitz belehrt. Und die Geschichte wieder hat neben den hygienischen und ästhetischen ihre religiösen, rassischen, metaphysischen, juristischen und ethischen „Belange“, was die meisten von uns wohl kaum geträumt hätten. Wer sich darüber – mit dem beruhigenden Imprimatur des erzbischöflichen Generalvikariats zu Köln – orientieren will, wird gut tun, sich die streitbare Anti-Schrift des Jesuitenpaters Ph. Küble zu Gemüte zu führen, die der Jugendführungsverlag in Düsseldorf zu Nutz und Frommen des bedrohten katholischen Rheinlandes erscheinen lassen hat, ohne verhindern zu können, daß ein anderer „Theologus Christianus“ bei I. M. Seitz in München eine Anti-Antischrift drucken ließ, die haarklein, mit ebensoviel religiösen unethischen Argumenten aus dem Alten und Neuen Testament für das sogenannte Recht auf den nackten Leib eintritt. Nacktheit als Verbrechen nennt sich ein im Egestorfer Verlag Robert Laurer erschienenes, gut dokumentiertes, etwas kitschig illustriertes Buch, das die Leiden und Freuden der „Sonnenbündler“, soweit sie beim berühmten großen Nacktkultur-Prozeß zu Lüneburg erlebt wurden, in anklägerischer Breite erzählt und ein merkwürdiges Mentalitätsbild der deutschen Richter und Gerichte vom zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts enthüllt. Paul Isensfels wieder zeigt in seinen Getanzten Harmonien (Dieck & Co.) in prachtvollen Lichtbildern, daß die Nacktkultur als künstlerisches Akzidens bereits in großen Tanzschulen Deutschlands Eingang gefunden hat und nun dort ihren Kampf um die Daseinsberechtigung mit Hartnäckigkeit weiterkämpft. Therese Mühlhause versucht schließlich in ihrer Freien Lebensgestaltung (Verlag Laurer) das Recht auf Hüllenlosigkeit und Sonnenstrahlenmaximum in Weltanschauung und Familiendasein fürsorglich einzubetten, so daß der deutsche Spießbürger kaum mehr merkt, wie ihm geschieht.
Soweit von meinem Schreibtisch, respektive von seinem Nebentisch, dessen Rezensionsexemplare ihre pflichtgemäße Erledigung verlangen. Aber es erscheinen wohl hundertmal mehr Dinge am verlegerischen Nackthimmel Deutschlands, von denen sich Rezensent und Schulweisheit nichts träumen lassen.
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Und nun zu Wien. Langsam, aber sicher vollzieht sich der Nacktkultur-Anschluß an das Deutsche Reich. Die Kämpfe mit Gendarmerie, Gericht, Geistlichkeit und Polizei, die ihr pflichtgemäßes Ärgernis nehmen muß, locken auch hier die Kampflustigen. Zu ihnen gesellt sich die Schar der Naturschwärmer, Naturheiler, Gesundheitsapostel, Sonnenanbeter. Urzuständler, Weltanschauer, die glücklich sind, auf ein neues, unbekanntes, verheißungsvolles Evangelium schwören zu können. Und die noch größere Schar derer, die nichts wollen, als es auch einmal zu versuchen, wie hundertprozentige Sonnenstrahlung wirkt, oder die sehen wollen – gemäß den Lehren der Lehre – wie die Nacktheit die zur Last gewordene Erotik abstumpft und naiv macht. Bedenkt man’s recht, man sollte sie ruhig nach ihrer unbekleideten Fasson selig werden lassen und nicht durch überflüssige Kämpfe aus Sektierern Märtyrer machen. Was in Rußland, in der Ukraine, in Schweden schon seit langem – ohne Ärgernis Brauch, – wird auch uns nicht in eine Revolution stürzen. Und die Tatsachen der zahlreichen deutschen Nacktsanatorien, des jüngst beschlossenen Familien-Nacktbades der Gemeinde Berlin, des kürzlich eröffneten Nacktbadestrandes im Seebad Sylt zeigen, daß hier eine Bewegung im Entstehen begriffen, die sich einfach durchsetzen will, die neben vielen komischen Seiten und Auswüchsen aber auch einiges Gute mit sich bringen kann. Ob den nordisch-gymnastischen Neuhellenismus, von dem manche träumen, das allerdings sei heute noch dahingestellt.
Im kleinen Maßstab gibt es bei uns schon seit Jahren so etwas wie Nacktkultur, Sonnenbündlerei, Lichtfreundschaft, Freikörperkultur, die alle nur unterschiedene Varianten des selben Themas darstellen. Seit Jahren ziehen kleine Kreise Sonntags in die Donauauen, auf die Lobau, auf den Bisamberg, in entlegene Täler des Wienerwaldes, um nackt zu schwimmen, zu rudern, Gymnastik zu treiben, die Epidermis zu Pigmentieren, zu spielen oder um den – je nach dem Grade der Korpulenz – mehr oder weniger ästhetischen Anblick gegenseitig zu genießen. Hie und da hat es eine der Gruppen schon so weit gebracht, für die Abendstunden ein öffentliches Schwimmbad, für die Feiertage ein abgesondertes Gelände mieten zu können. Im übrigen ist man deutschnational, hakenkreuzlerisch, sozialistisch oder jngendbeweglerisch. Nur christlichsoziale Gruppen fehlen noch. Die Öffentlichkeit hat bisher wenig davon Notiz genommen, das heißt, man ließ sie nicht Notiz nehmen und lebte zurückgezogen. Polizei und Gendarmerie benahmen sich taktvoll und diskret.
Die Jüngsten und Radikalsten der „Sonnenfreunde“ wollen nun den gegenwärtigen latenten Zustand in einen manifesten verwandeln. Was von ihnen bisher als individuelle Wohltat genossen und empfunden wurde, wollen sie nun als „Ruf an Alle“ weitergeben, zu einer Volksbewegung umschaffen. Und sie hoffen, daß wir bereits reif dazu sind.
Selbst der komische Mißerfolg des ersten Auftaktes hat sie nicht abgeschreckt. Die erste Vorbesprechung in einem großen Stadtcafe, die jüngst an einem Sonntag vormittags stattfand, durfte nicht stattfinden. Nachdem die zukünftigen Lichtbündler gegessen und getrunken hatten – nicht früher –, erklärte ihnen der erschreckte Cafetier kategorisch, daß es in seinem anständigen Lokal „keine Nacktkultur nicht geben derfe“ und schloß die noch nicht eröffnete Versammlung. Konsequenz: bei der nächsten Einberufung erschienen doppelt so viel Lichtbündler. Zu seinem Erstaunen sah man Ärzte, Professoren, Ingenieure, Advokaten, Künstler, Offiziere, Frauen, Mädchen …, sogar schöne und anmutige. Nach den Berichten aus Deutschland und den sonstigen usuellen Diskussionsreden beschloß man den Bund für Freilichtkultur zu gründen und die Statuten einzureichen. Statuten von einer gewissen Rigorosität, die die Allzuneugierigen und Unberufenen fernhalten sollen; zugleich aber beschloß man auch, den Arierparagraphen der Anderen zu stürzen.
Ein Beginn ist gemacht. Ein Stück Anschluß an Deutschland vollzogen. Die Mitglieder strömen, wie man hört, in Menge zu. Gymnastische Kurse sollen demnächst beginnen. Ein Winter-Schwimmbad soll gepachtet wer den. Eine Donauinsel für den Sommer. Volksversammlungen werden geplant… Mit einiger Neugierde und Spannung darf man nun auf die Stimme der Gegenseite warten.
In: Der Tag, 21.11.1927, S. 3.
Emil Reich: Die Fußballstadt Europas
Wien ist die Fußballstadt des europäischen Festlandes. Das steht seit mehreren Jahren fest und wird von niemandem, selbst nicht von unseren erbittertsten Rivalen, angezweifelt. Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Es gibt keine andere Stadt auf dem Kontinent, die so viele Fußballvereine mit so viel Spielern besitzt wie Wien. Aber das ist nicht ausschlaggebend. Es kommt auf das Interesse an, das der Fußballsport in den breiten Massen findet, die sich nicht aktiv betätigen. In Spanien zum Beispiel, ist Fußball zum Nationalsport geworden, der die Stierkämpfe allmählich verdrängt. Gewiß, Barcelona oder Madrid zählt nicht so viel Einwohner wie Wien, aber auch verhältnismäßig genommen lockt dort der interessanteste Wettkampf nicht solche Zuschauermengen an wie bei uns. Man nenne eine Stadt in Europa außerhalb Englands, die auf 80.000 Zuschauer verweisen kann. Das ist jene Höchstziffer, die ein Wettspiel in Wien erreichte, wobei man, ohne sich einer Übertreibung schuldig zu machen, behaupten kann, es wären an jenem denkwürdigen Tage im Frühjahr 1923, an dem Österreich Italien gegenübertrat, über 100.000 Menschen auf der Hohen Warte zusammengeströmt, wenn die dortigen Anlagen einen größeren Fassungsraum gehabt hätten. Und welche Stadt sieht Sonntag für Sonntag selbst bei wenig einladendem Wetter zumindest 40.000 bis 50.000 Zuschauer auf allen Sportplätzen versammelt? Wo noch interessiert sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung für den Ausgang der Wettspiele, so daß man in den Abendstunden auf der Straße, in der Elektrischen, in den Gast« und Kaffeehäusern, im Kino und fast jeden zweiten Menschen von den Ergebnissen der Meisterschaftsspiele und von den Aussichten der Klubs in den nächsten Kämpfen sprechen hört? In dieser Beziehung hat Wien allen europäischen Städten den Rang abgelaufen, mag man das nun als einen Vorteil oder einen Nachteil betrachten.
Die Fußballkenner des Auslandes geben dies unumwunden zu, aber sie haben sich damit zu trösten versucht, daß sie sogleich, wenn sie von dem Rieseninteresse der Wiener Bevölkerung für Fußball sprachen, hinzuzufügen pflegten, der Fußballsport sei bei uns zwar in die Breite gegangen, aber nach der Höhe habe er sich nicht entwickelt und deshalb müsse sich Wien, was das Fußballkönnen betreffe, mit dem zweiten oder dritten Platz bescheiden. Dieser Trost war uns zwar von den Nachbarländern, der Tschechoslowakei und Ungarn, nicht leicht abgekauft, aber doch für diese sehr angenehm, zumal er aus den Tatsachen geschöpft wurde. Vor etwa drei Jahren machte sich eine wesentliche Verbesserung des tschechoslowakischen Fußballs geltend, soweit dies in Resultaten zum Ausdruck kam. Es soll damit gesagt sein, daß die Tschechen damals nicht etwa viel höheres Können an den Tag legten als in der Vorkriegszeit, aber in den internationalen Spielen, zu denen sie nach dem Umsturz viel mehr Gelegenheit hatten als früher, bewährten sie sich überraschend gut, und es gab eine Zeit, in der man sie für unbesiegbar hielt. Es war dies die Blütezeit des Athletikklubs Sparta, die durch einen rauhen Frost unterbrochen wurde, als die Amateure ihren herrlichen 5: 3-Sieg auf der Hohen Warte gegen die Sparta errangen. Dieser Erfolg wurde damals als ein Wunder angesehen, das nur durch das beispiellos schöne Spiel der Violetten zustande gebracht werden konnte. Aber noch immer galten die Sparta und die Slavia als die Fußballmatadore Europas, man dachte an das Sprichwort von der Schwalbe, die noch nicht den Sommer bringt und sagte: „No, haben wir nicht recht gehabt, als die Wiener Vereine in späteren Kämpfen gegen Prager Vereine wieder Niederlagen erlitten.“ Ungarn konnte in dieser Epoche nicht so blendende Erfolge erzielen wie die Tschechen, da sich die Abwanderung zahlreicher Spieler von Sonderklasse fühlbar zu machen begann, doch Österreich gegenüber schien es in Klubkämpfen noch immer überlegen zu sein. Man räsonnierte in Budapest über die Aufnahme ungarischer Fußballer in Wiener Vereine, doch auch dort hatte man einen Trost bei der Hand: Seht die Ergebnisse der Spiele mit den Wiener Vereinen.
Es war vielleicht gut, daß die Nachbarn üppig wurden und unsere erstklassigen Vereine etwas bescheidener. Dadurch wurden diese gezwungen, nicht bloß die Wirkung in die Breite, das heißt die Wirkung auf die Massen und den Kassenerfolg im Auge zu behalten, sondern auch auf die Hebung der Spielkraft bedacht zu sein. Jetzt zeigt sich, daß Wien auch, was das Fußballkönnen anbelangt, im Begriffe ist, die Fußballstadt Europas zu werden. Seit dem Beginn der Herbstsaison feiern unsere Klubmannschaften einen Sieg nach dem anderen, ob sie nun mit unseren Nachbarn in der Heimat oder in der Fremde kämpfen. Die Vienna schlägt U.T.E. in Budapest 4:2 und den M.T.K. zuerst in Wien 6:4 und dann in der ungarischen Hauptstadt 2:1, die Amateure besiegte M.T.K. hier 2:0, in Budapest triumphieren Rapid und Hakoah über F.T.C., die Hütteldorfer 3:1, die Blauweißen 2:1. Das ist eine erfreuliche Auslese aus den Spielen mit den führenden Budapester Vereinen. Die Begegnungen unserer Klubs mit den hervorragendsten Mannschaften der Tschechoslowakei bringen jenen ebenfalls Erfolge. Es muß vorausgeschickt werden, daß es auf dem Prager Boden auswärtigen Gegnern stets schwer fällt, Siege zu erringen. Die Schiedsrichter tun dort ihr möglichstes, um den Spielen eine ihrem patriotischen Empfinden entsprechende Wendung zu geben, was erst jüngst das Match Amateure — D.F.C. bewiesen hat, das 1:1 endete. Deshalb ist dieses Ergebnis als ein Sieg der Wiener zu werten und ebenso das gleiche Resultat des Kampfes der Violetten gegen die Slavia, in dem der Schiedsrichter zwar ausnahmsweise einwandfrei amtierte, zu dem aber die Wiener, ermüdet durch das Spiel gegen den D.F.C. am Vortag, die Slavia-Mannschaft dagegen frisch antrat, da sie entgegen der Vereinbarung das Meisterschaftsspiel, das sie am vorhergehenden Tage hätte austragen sollen, im letzten Augenblick abgesagt hatte. Am letzten Feiertag spielten die Amateure in Wien die Sparta in Grund und Boden, und wenn nicht der Sparta-Tormann so glänzende Abwehrarbeit geleistet hätte, würde das Ergebnis für Sparta nicht 1:4, sondern weit schlimmer gelautet haben. Auch das Resultat 3:4, das Wacker in Prag gegen die Sparta erfocht, ist ein Triumph der Wiener Klasse, denn man darf nicht vergessen, daß Wacker gegen Sparta zum erstenmal spielte und in Kämpfen mit ausländischen Gegnern noch nicht die Erfahrung besitzt, wie etwa die Amateure oder Rapid. Schließlich muß noch erwähnt werden, daß die Admira in Brünn gegen den kräftigen Sportklub Zidenice mit 3:2 Sieger blieb und daß sogar der derzeit zweitklassige W.A.F. einer so routinierten Mannschaft wie dem Blue Star-Brünn ebenfalls in Brünn ein unentschiedenes (0: 0) Ergebnis abzuringen vermochte.
Morgen stehen einander die Vienna und Sparta sowie Hakoah und Slavia in Prag gegenüber, während Admira gegen den III. Bezirk-Turnverein in Budapest kämpft. Wie immer diese Wettspiele enden, die Tatsache, daß die Wiener Fußballklasse gegenwärtig die von Prag und Budapest überholt hat, wird, sollten auch unsere Mannschaften keine Erfolge erzielen, nicht umgestoßen werden. Verlieren die Wiener, dann gilt jetzt für die Gegenseite das Sprichwort, daß eine Schwalbe noch keinen Sommer macht.
In: Neues Wiener Journal, 15.11.1924, S. 17.
Arthur Ernst Rutra: Oesterreichs abendländische Sendung
Arthur Ernst Rutra: Oesterreichs abendländische Sendung (1936)
Der Begriff vom „Abendland“ wurde unserem geläufigen Wortschatz erst durch das Werk eines Philosophen eingebürgert, der dessen Untergang in einer fast gewalttätigen Vision heraufbeschworen hat. Es war das Verhängnis dieses Mannes, ja, es wirkt wie ein Satirspiel fast, daß er, der gewiß den Untergang des Abendlandes nicht wollte, im geistigen Raum mit der Wegbereiter einer Bewegung wurde, die dann, als sie als Umwälzung hereinbrach, vielfach dieses Abendland und seine Kultur zu bedrohen sich anschickte und wohl gefährdete. Der Mann, der Philosoph, hat dies erkannt und einmal, wenn auch mit schmerzlicher Zurückhaltung, mahnend und warnend seine Stimme erhoben. Zu einer neuerlichen und – wer ihn kannte, der wußte es – zu einer dem gewonnenen Abstand gemäßeren schärferen Absage hat der Mann, soviel bisher bekannt wurde, sich nicht mehr aufgerafft. In diesem Jahr, das nunmehr zu Ende geht, schied er überraschend schnell aus dem Leben, – ein gebrochener Mann nach Zeugnissen, die man aus seinem sehr spärlichen Bekanntenkreis vernahm, den der immerdar Stolze einer Ansprache würdigte. Über seinem jähen und heute, nach kaum paar Monaten, fast schon der Vergessenheit //überantworteten Ende schweben die düsteren Schatten einer verzweiflungsvollen Erkenntnis.
In dem Werk dieses Mannes, das bezeichnenderweise in seiner ersten, nicht durchgedrungenen Auflage in Wien erschienen ist, erhob sich zum ersten Male bewußt die gespenstische Vision eines in seinem Bestande bedrohten Abendland. Es ist aber zweifellos sein Verdienst, daß gerade damit die erste Mahnung an das europäische Gewissen aufstand, daß eine Verpflichtung zur Besinnung und Einkehr geweckt wurde. Im Rahmen dieser Verpflichtung , einer Verpflichtung zur Abwehr der Gefahren, einer Verpflichtung, von der sich kein Staatswesen ausschließen dürfte, das zur zur europäischen Gemeinschaft zählen will, ist Oesterreich eine besondere Aufgabe bestimmt. […]
Diese Erkenntnis hat längst sich schon durchgesetzt, und die Geschichte von Jahrhunderten und Jahrtausenden hat es immer aufs neue bestätigt, daß in dem Becken des größten europäischen Stromes, dort wo die alte Reichshaupt- und Residenzstadt Wien liegt, das Einfallstor für den Osten und das Ausfallstor in den Osten aufgerichtet ist. Wer Wien hat, hat den Schlüssel zur Macht über Europa, einer Macht, die um des Schicksals Europas willen, keinem anderen, und schon gar keinem anderen Mächtigen zufallen darf. Denn die gleiche Macht, die in den Händen desjenigen, der ihr rechtmäßiger Verwalter und Bewahrer ist, zum Segen und zum Wohle Europas sich auswirkt, verwandelt sich in den Händen eines anderen, der nur ein unrechtmäßiger Eroberer und Usurpator wäre, zum Unheil und Verhängnis für Europa und die gesamte abendländische Welt.
[…]
Österreichs abendländische Sendung ist nicht zu verstehen und wird von dem nicht begriffen werden, der nicht daran festhält, daß es ein katholisches Land ist. Der tiefe geistige, kulturelle, aber auch rein menschliche Wert dieser Sendung wurzelt in dieser Welt. Die Bedeutung dieser Sendung aber für die Gegenwart und für die Zukunft wird erst aus der Kenntnis der Geschichte geläufig, die immer wieder auf die einzigartige Stellung Österreichs im Verlauf der Weltgeschichte hinweist. Bis in die jüngste Vergangenheit noch, da Österreich, selbst in eine schwere Krise am ende des Weltkrieges gestürzt, immer noch eigene Kraft genug hat, um den Bolschewismus abzuwehren, den Ungarn und Bayern eine Zeitlang erlegen waren, der in vielen Teilen des Deutschen Reiches schwerste Kämpfe heraufbeschworen hat. Auch das war ein Teil der abendländischen Sendung, die das schwer heimgesuchte Land zu erfüllen vermocht hat.
Drei große Baumeister formten das neue Österreich und führten es aus dem Erbe eines altehrwürdigen Reiches seiner neuen Bestimmung zu. Seiner neuen Bestimmung? – ist sie wirklich neu? Sie hat sich in Wahrheit niemals gewandelt. Es galt nur die Anfechtungen und Versuchungen abzuwehren, die plötzlich aus einem national „aufgespalteten“ Europa – um ein heute beliebtes Wort zu gebrauchen – an die alten Grenzen heranbrandeten. Es war freilich nicht leicht für ein Volk, sich inmitten schlimmster materieller Bedrängnisse, in die es durch einen sinnlosen Friedensschluß geraten war, auf seine alten Bestimmungen zu besinnen. Seipel vollbrachte dies große europäische Werk, er räumte den Schutt fort, der sich über dem Grundstein angesammelt hatte und legte die Grundfesten an, die den neuen Bau tragen sollten. Als er vorzeitig abberufen wurde, stand der neue Mann schon da, der das Werk fortsetzen sollte. Er war nicht groß, der Mann, der von den Bauern herkam; 1.47 maß er nur, eine Höhe, die unter das Militärmaß fiel, und er hatte es dennoch erzwungen, daß er als Soldat für sein // Vaterland kämpfen konnte. Nun war er berufen, den schwersten Kampf seines Lebens zu fechten. Er hat ihn durchgefochten, bis zum bittersten Ende, das er als Märtyrer für sein Österreich erlitt. Mit diesem Ende aber, das den Mördern für ewige Zeiten das Kainszeichen auf die Stirn eingebrannt hatte, wuchs der kleine Körper des Mannes Dollfuß ins Riesengroße. Er wuchs so weit, daß er heute die Erde Österreichs bis an seine Grenzen deckt. Wer diese Grenzen anzutasten wagt, rührt mit frevler Hand an diesen teuren Toten und fordert eine furchtbare Vergeltung heraus. Auf diesem mit Märtyrerblut geweihten Boden setzt der dritte Baumeister Schuschnigg das Werk des Aufbaues, aber auch der Befriedung fort. Es ist nicht leicht und wird nicht leichter dadurch, daß jenes Europa, um dessetwillen Österreich besteht und bestehen muß, nicht immer die Unerläßlichkeit dieses Bestandes gebührend wertet. So mögen Anlage und Pläne dieses dennoch unbeirrbar schaffenden Baumeisters nicht immer gleich verständlich und übersichtlich sein. Doch fordert er Vertrauen und hat ein Recht es zu fordern.
Denn über allen, vielleicht zeitlich, vielleicht politisch bedingten Schattierungen, steht unverrückbar, untilgbar die abendländische Sendung Österreichs. Gewiß ist Österreich ein deutscher Staat, aber dieser Staat hat eine eigene deutsche Staatsnation, die die österreichische ist. Nationen sind nicht nur etwas Gewachsenes, sie entstehen auch, wenn ein Wille da ist, der sie schaffen will, mag der Träger dieses Willens ein einzelner, mag er ein ganzes Volk sein. Wilhelm von Oranien schuf die holländische Nation, Washington die amerikanische, in der Schweiz war es das ganze Volk. Wenn heute, sie einst, wieder von einer deutschen Mission Österreichs im Südostraum die Rede ist, so ist diese Mission eine abendländische, so kann sie keine andere sein. Sie ist das Bekenntnis zu einem europäischen, universalistischen und christlichen Deutschtum; zu einem Deutschtum, das niemals um seiner selbst willen antinational gegen andere Nationen war, sondern bestenfalls eben national in gleicher Gemeinschaft mit allen, und übernational zugleich. Gerade diese unschätzbare Bedeutung Österreichs für die gesamte Kulturwelt schöpft ihre sich ewig erneuernde Kraft aus dem katholischen Charakter des Landes. Aus diesem Quell wird das Versöhnende und Befreiende gespeist, das im Wesen der österreichischen Missionsarbeit liegt, aus diesem Quell aber auch die Beharrlichkeit und die in jahrhundertealten Kämpfen bewährte, unbesiegbare Widerstandskraft, wenn es dieses für eine Welt überantwortete Amt zu verteidigen gilt.
Es wäre ein Unrecht, nicht des Hauses zu gedenken, das in tiefer Gläubigkeit und in weiser Erkenntnis dem Lande den Vorzug dieser Gaben erhalten will. Es ist das Herrschergeschlecht, das sich selbst mit Stolz das Haus Oesterreich nennt. Sein Deutschtum ist von einer Weltweite, die der abendländischen Sendung des Landes Österreich entspricht, ja die sie grundgelegt und bewahrt hat; Herrscher, die durch Jahrhunderte auch deutsche Kaiser gewesen sind. Es mag der Vorsehung vorbehalten sein zu bestimmen, wann dieses Haus Österreich wieder mit seinem Lande Österreich vereint sein wird. Doch ist dies Eine gewiß: daß von diesem Tage an die abendländische Sendung Österreichs […] ihren tieferen Sinn und ihren durch nichts beirrbaren Bürgen erhalten wird.
In: Der Christliche Ständestaat, 13.12.1936, S. 1190-1192.
Julius Kugy: Die Berge
Julius Kugy: Die Berge. (1924)
Die Berge sollen nicht unsere Feinde sein. Ich liebte es nie, las ich irgendwo, daß man ihnen den „Fehdehandschuh“ hinwirft, daß man auszieht, sie zu „bekriegen“, daß man sie Feinde heißt, denen man seine eigene Kraft gegenüberstellt. Der Alpinismus ist kein Kampf und kein Kriegszustand. Kampf kann nur gelegentlich eine Episode, ein Bild sein. Die Grundlage des Alpinismus muß immer reine Liebe zur Natur und zu den Bergen sein, ein tiefsinniges Sichversenken in ihr Leben, ihr Wesen, in ihre Seele. Sind jene Redensarten auch nur bildlich gemeint, so klingt doch Unbescheidenheit und Anmaßung heraus. Es hört sich oft an wie das Schelten und Prahlen von Zwergen. Die beste Tugend des Bergsteigers ist die Bescheidenheit. Die Berge sind ja groß und so langmütig. Sie dulden so vieles. Gar mancher Sieg, der menschliche Energie und Geschicklichkeit ins hellste Licht zu rücken scheint, ist trotz allem ihrem Wohlwollen zu danken. Sie haben still zugesehen und wollten es nicht verwehren. Es ruhten ihre fürchterlichen Waffen. Holen sie aber einmal zum Schlag aus, so treffen sie unfehlbar und vernichtend. Welcher Wissende wird sich im Ernst stärker dünken, als sie sind? Kein kleines „Ich“ kann ihr Herr sein. Man liest so oft: „Meine Berge“ oder beispielsweise: „Meine Julischen Alpen“. Wäre es nicht richtiger, würde man den Gedanken anders fassen und sagen: „Ich gehöre ihnen“ und nicht: „Sie gehören mir“? Es scheint mir, daß kaum ein Ort weniger glücklich gewählt sein könnte, um dort die Herrennatur im Menschen hervorzukehren, wie das Hochgebirge.
Nur der Liebe öffnen die Berge ihren ganzen Reichtum und die Tiefen ihrer Seele. Sie wollen den ganzen Mann, volle Hingabe, beherzten Mut und wahrhafte Begeisterung. Dann geben sie aber auch Liebe um Liebe, und wen sie lieben, den heben sie hoch zu sich empor und machen ihn groß und reich. Wohl ihm, diesem Liebling der Berge! Sie bauen ihm die schönsten goldenen Brücken, und selbst da, wo sie in schreckhafter Größe und unerreichbar emporgebaut scheinen, lassen sie ihm oft ein kleines, wenn auch schwankes und schwindeliges Leiterlein stehen, daran er zu ihrem Hochsitz emporklimmen kann. Wohl nicht immer, auf daß man nicht übermütig werde und auch unterliegen lerne. Da empfangen sie ihm dann mit feierlichem Gepränge, sie schmücken ihn großmütig mit ihren Ehrenzeichen, sie reden zu ihm in der eindruck[s]vollen Sprache, die niemand vergißt, der sie je gehört und verstanden hat. Sie haben ihm ein schönes Plätzchen im warmen Sonnenschein bereitgestellt und heißen ihn freundlich sitzen, führen ihm mit ihrem Getier in Wäldern, Felsen, und Lüften, mit Farben, Schatten und Lichtern, mit tanzenden Nebeln und majestätisch einherziehenden Wolken ihre Zauberspiele; vor, die keine menschliche Phantasie fesselnder, kurzweiliger und prunkhafter ersinnen könnte, und breiten aus ihrem unerschöpflichen Schatzkästlein Kostbarkeiten in blitzenden Reihen zu seinen Füßen hin, die nur göttliche Kraft und Kunst zu schaffen vermögen. So stehen sie dann, ist man mit einem „Komm‘ bald wieder“ gnädig entlassen, unvergeßlich in unseren dankbaren und beglückten Herzen und können unser ganzes Leben erfüllen.
Sie haben klare Augen und beobachten scharf. Und erkennen sie, daß nicht Herzensbedürfnis, sondern Mode, Sport, Eitelkeit (oder zufällige Laune herangeführt haben, so blicken sie mürrisch mit verblaßten Farben, halten ihre Schätze mißtrauisch verborgen, und verschließen sich stolz, kalt und stumm. Diesem Fremdling haben sie nichts zu sagen, und er geht arm von ihnen, wie er gekommen ist. Oft kehrt er nicht wieder zu ihnen zurück. Wie viele „Bergsteiger“, die scheinbar glänzend begannen, habe ich so binnen kurzem verschwinden gesehen.
Treten wir in ihre Hallen ein, so seien wir bescheidene Gäste im Hause von Übermächtigen. Mein ganzes Leben hindurch habe ich mich an sie gelehnt wie an einen stärkeren Freund. Sie waren so gütig zu mir. Oft haben sie mich leise geführt, manchmal getröstet und aus schwerer Erdenpein wieder aufgerichtet. Das nenne ich ein Bergsteigerleben. So habe ich mich nach euch gesehnt, so bin ich vertrauensvoll zu euch gekommen, und so will ich, wenn es sein wird müssen, von euch scheiden, o, ihr schönen, ewigen Berge!
In: Ostdeutsche Rundschau, 19.9.1924, S. 10.[1]
[1] [redakt. Anm.] Wir bringen hier eine kurze Leseprobe aus dem im Hochalpenverlag im Druck befindlichen prächtigen Buche Dr. Julius Kugys „Aus dem Leben eines Bergsteigers“. Der Text erschien in der Beilag Wandern und Bergsteigen, verantwortet von Karl Sandtner.
Otto Koenig: Das proletarische Leben
Als Alfons Petzold zu Anfang dieses Jahres Franzl, die Geschichte einer Kindheit im Nestroy-Verlag erscheinen ließ, mochte in manchem Leser das Gefühl aufkommen, daß dieses drastisch-tragisch, psychoanalytisch packende Buch der Geschicke und Geschichte „eines armen Vorstadtwaserls“ zu den Bruchstücken einer großen Komposition zähle, wie das bei epischen Werken lyrischer Autoren zu allermeist zutrifft, wie das bei Alfons Petzold im Roman Erde und in den Novellen Von meiner Straße in erhöhtem Maße zutraf. Hat man aber Petzolds im Sommer dieses Jahres bei Ullstein erschienenen Roman (!) „Das rauhe Leben“ gelesen, dann weiß man, daß in äußeren Lebensschicksalen und in seelischer Veranlagung zwischen dem heißen, derben, prächtig veranlagten, aber verwahrlosten Franzl und dem scheuen, gar wohl erzogenen Alfons keine Beziehung besteht, daß Der Franzl nur den „Memoiren eines Auges“ angehörte, Das rauhe Leben aber denen des Herzens entsprungen ist. – Daß der ganze Franzl und sein zwischen Alkoholdünsten und Liebensbrünsten verelendeten Eltern und Älterer veramseligtes Dasein und unheimlich beschleunigtes Ende ehrlich geschaut, aus des Unterbewußtseins geheimnisvollem Wissen hervorgeholt wurde und eben deshalb trotz deutlicher Tendenz poetisch verdichtet erscheint, soll damit dem kleinen Werkchen, das sich so verblüffend autobiographisch gibt, nicht abgesprochen sondern ausdrücklich zugesprochen werden. Aber der Franzl verhält sich zum rauhen Leben wie innere Wahrheit zu äußerlicher Wirklichkeit und nicht der Franzl, aber Das rauhe Leben wird vom Verfasser, sei es aus literarischem Raffinement, sei es aus Bescheidenheit, ein Roman genannt. Ist aber, so sehr auch Petzold die jedem autobiographischen Werk unentbehrlichen Brücken, Einbauten und Umbauten mit Fontane, an dessen autobiographische Schriften sein Buch erinnert, wichtiger zu nehmen scheint als Rousseau, Goethe, Seume, Grillparzer, nicht mehr und nicht weniger als eine echte, rechte Selbstbiographie: die Schilderung des proletarischen Lebens, wie es Alfons Petzold erlebt hat. Im Drange der Wirklichkeitsschilderung, im natürlichen Eifer, seinen persönlichen Neigungen, Rücksichten und Abneigungen möglichst unverfälschten Ausdruck zu verleihen, hat Petzold in seiner mehr als fünfhundert Seiten starken Erzählung versäumt, zu ballen, zu kombinieren, zu bauen – wodurch ja doch erst die Kunstform des Romans entsteht – und sich wie viele Größere vor ihm mit der einfach linearen Anordnung der zeitlichen Aneinanderreihung , mit der einfachen Verknüpfung durch die Einheit seiner Person begnügt. Außer dem Umfang und den Kapitelüberschriften ist im Rauhen Leben nichts zu finden, was auf die konstruktive Eigenart der Romanform hindeutete. Das rauhe Leben ist kein Grüner Heinrich!
Aber gerade dieser Mangel verleiht dem neuen Buch seinen eigenen Wert. Nicht als ob die Geschichte des proletarischen Lebens gerade Alfons Petzold – dieses reichte bekanntlich bis Alland, worauf ein anderes begann – von vornherein die Anteilnahme der Allgemeinheit fordern dürfte. Noch kann das literargeschichtliche Interesse an Petzold nicht groß genug sein, um eine Selbstbiographie zu rechtfertigen, noch hat Petzold als Neununddreißigjähriger nicht die nötige Distanz zu seinem eigenen jugendlichen Ich, um jener Selbstanalyse fähig zu sein, die ein literarisches Selbstporträt erst ermöglicht. Endlich, des darf man gewiß sein, würde der Sozialist in Petzold die Wichtigkeit der Entwicklung und des Schicksals seiner Einzelindividualität so hoch unmöglich schätzen, um daraus Literatur zu machen, wenn er nicht mehr und Wichtigeres zu bieten hätte als seinen persönlichen Werdegang. Und tatsächlich, ein feines Empfinden hat diesen Titel geformt, heißt sein autobiographisches Buch Das rauhe Leben, nicht „Ein rauhes Leben“. Tatsächlich ist das rauhe Leben des Proletariers, das zu frühester Erschöpfung, Krankheit und elender Verendung hinreißende, erbarmungslose Leben des proletarischen Hilfsarbeiters, aller Proletarier in seinem typischen, zwangsläufigen Verlauf geschildert und die Person des Verfassers kommt nur in Betracht als die juridische Person des Anklägers, zum Sprecher wohl geeignet, da ja Petzolds „Auge und Ohr stets auf die Entdeckung der verborgensten Zeichen des Elends aus war“. Der Autor, der Erzähler, der Erleber, der frühzeitig gute Werke macht, vom Coupletfabrikanten zum lyrischen Dichter aufsteigt und nur weil er dieses wurde, durch Extrafürsorge aus den Krallen des Todes gerettet wird, nachdem die für Proletarier vorgesehene Kräfteausnützung und Scheinspitalpflege ihn bis hart an die dunkle Grenze getrieben hat, ist zufälliges Beiwerk und nebensächlich. Das heißt nur dann, wenn man nicht gerade dies wunderbare Ausnahmsschicksal, das einen einzelnen um einer Tätigkeit willen, die ihn im sozialen Sinne noch nicht zum wertvolleren Menschen macht, aus automatisch zerreibenden Räderwerk errettet, als die Probe auf das Exempel von der jämmerlichen Gesellschaftsordnung gelten lassen will.
Die Geschichte des nach verunglückten Lehrbubendebüts als Hausknecht, Fensterputzer, Austräger, Zughund herumgestoßenen Hilfsarbeiters aus der industriellen Reservearmee der Großstadt, deren frühe Invalide mit sorgsamer Kaltherzigkeit „ohne Aufsehen“ durchs Spital- und Friedhofstor ins Schachtgrab spediert werden, war und ist durch ihre ewige Wiederholung geeignet, in einem weit größeren Kreise von Proletariern Mitgefühl und Interesse zu erwecken als die nach Berufszweigen oder Heimatszugehörigkeit in ihrer unmittelbarsten Wirkung beschränkten Memoiren von Bromme, Fischer, Holek, Köhler, Rehvein oder was wir sonst an Arbeiterlebensbildern haben. So ist Das rauhe Leben von Petzold schlechthin „Das proletarische Leben“, mit der ausdrucksamen Bildersprache des Lyrikers geziert, durch die Überempfindlichkeit des Kränklichen in seiner gemütlichen Wirkung gesteigert, ein Buch, wohl wert, in unseren Arbeiterbibliotheken Heimat und fruchtbare Verwendung zu finden. Nur stutze der junge oder alte Proletarier, der es mit tiefer Anteilnahme lesen wird, nicht, wenn er gegen Ende darauf kommt, daß sich der proletarische Verfasser des „Empörerwahns“ bezichtigt. Petzold kann nach seinen Erfahrungen gar nicht meinen, daß Empörung Wahnsinn sei oder daß es Wahn war, daß er sich empört fühlte. Er meint nun – wie könnt‘ es anders sein, wenn er nicht frivol sein Buch und sein Leben um Ernst und Weihe bringen will – daß sich seine Empörung über ein normales Maß hinaus gesteigert hat. Aber diese Mißverständlichkeit, deren Erklärung unvermeidlich ist, wenn man den Autor nicht boshafterweise in schiefem Lichte schauen will, ist ein Anzeichen jenes großen Gebrechens, das nun Petzolds neues Buch leider von literarischen Büchern im ästhetischen Sinn unterscheidet: Ärger noch als im Franzl ist das Deutsch im „Rauhen Leben“! so schlampig, so schludrig, so salopp, so von gedankenlos schlecht gewählten Worten, papiernen Fügungen und umgangssprachlichen Unarten durchsetzt, daß man den durch seines Lebens Schicksal und seiner Lyrik Geschick gleich sympathischen Autor wohl mahnen muß, er möge im treuen Gedenken der schönen, sicheren Zielstrebigkeit seines autodidaktischen Bildungsganges die Mühe nicht scheuen, die es gar vielen guten Lyrikern macht, gute Prosa zu schreiben.
In: Arbeiter-Zeitung, 8.12.1920, S. 2.
Robert Musil: Als Papa Tennis lernte
Als Papa Tennis lernte, reichte das Kleid Mamas bis zu den Fußknöcheln. Es bestand aus einem Glockenrock, einem Gürtel und einer Bluse, die einen hohen, engen Umlegekragen hatte als Zeichen einer Gesinnung, die bereits anfing, sich von den Fesseln zu befreien, die dem Weibe auferlegt sind. Denn auch Papa trug an seinem Tennishemd einen solchen Kragen, der ihn am Atmen hinderte. An den Füßen schleppten beide nicht selten hohe braune Lederschuhe mit zolldicken Gummisohlen, und ob Mama außerdem noch ein Korsett zu tragen hätte, das bis an die Achselhöhlen reichte, oder sich mit einem kürzeren begnügen dürfte, war damals eine umstrittene Frage. Damals war Tennis noch ein Abenteuer, von dem sich die verzärtelte heutige Generation keine Vorstellung mehr machen kann. O, rührende Frühzeit, als man noch nicht wußte, daß auf kontinentalen Tennisplätzen kein Gras gedeiht! Man behandelte es vergeblich mit der Sorgfalt eines Friseurs, der an einem an Haarausfall leidenden Kunden alle seine Mittel versucht. Aber man konnte auf solchen Grasplätzen bei Turnieren unerwartete Erfolge erzielen, wenn der Ball zufällig auf einen Maulwurfshügel fiel oder der Gegner über ein Grasbüschel.
Leider hat man diese romantischen Tenniswiesen bald aufgegeben und den modernen Hartplatz geschaffen, wodurch ein ernster Zug in den Sport kam. Die Figuren verschwanden, die man anfangs hatte sehen können, wie sie, scharf visierend, mit turnerischer Geschicklichkeit das Racket einem Flugball entgegenstießen, und es bildeten sich überraschend schnell die Schläge aus, die heute noch gebraucht werden, mit ganz wenigen Ausnahmen, die erst später dazugekommen sind. […] Der Zeitgeist schafft sich eben seine Werkzeuge. Was nach uns gekommen ist, war ebensowohl ein großes Wachsen des Durchschnittskönnens wie der Spitzenleistungen, aber wir sind es gewesen, welche die Gnade dieses Jahrhunderts empfangen haben, und daraus leite ich auch die Berechtigung ab, einiges von solchen Angelegenheiten zu erzählen.
Um noch einen Augenblick beim Tennis zu bleiben: man konnte noch vor zehn oder weniger Jahren in diesem Sport gewisse Spuren der ursprünglichen Moral beobachten. Wenn man von einer andren Sportstätte auf einen Tennisgrund kam, so war das, sofern man einen empfänglichen Blick für Kleidung hatte, nicht anders, als ob man von einem hellen, offenen Platz in einen hochstämmigen Wald träte. Hier reichten die Röcke noch bis zur halben Wade und die Taille bis zu den Handgelenken, als sich der Dreß anderswo längst schon auf die Größe eines Bogens Briefpapier, wenn nicht gar einer Eintrittskarte zusammengezogen hatte; ja, was die Herren angeht, so stecken sie bekanntlich heute noch in weißen Futteralen, und nur die Damen verlieren von den Armen und Beinen aus zusehends ihre Kleidung. Dieser konservative Grundzug des Tennis hängt wahrscheinlich damit zusammen, daß es lange Zeit ein Sport der „Gesellschaft“ gewesen ist, die es zum Vergnügen spielte und die Nacktheit nicht für einen neuen Geist hielt, sondern für ein Geheimnis des Garderobeschranks, das man nur selten tragen darf, weil es immer das gleiche bleibt. In ähnlicher Weise ist ja auch ein anderer Sport der Gesellschaft konservativ geblieben, das Fechten, diese schwarzseidene Kavalierskunst, deren Anblick, wenn sie öffentlich auftritt, mehr vom achtzehnten Jahrhundert an sich hat als von den Formen der Gegenwart, und an sportlicher Geltung denn auch weit zurücksteht. Das Fechten war ein ritterlicher Sport und also eigentlich überhaupt keiner, oder ist nur noch in halb lebendiger, der trotz seiner hohen körperlichen Vollendung zusehen muß, wie ihn die Seele seiner Seele mit Boxern und Jiu-Jitsu-Kämpfern verlassen hat.
Seit Papa Tennis lernte, hat sich also immerhin einiges geändert, aber es betrifft mehr die Bewertung der Leibesübungen als diese selbst. Wohl gab es noch nicht die Verbindungen von Motortechnik mit menschlicher Kaltblütigkeit, aber von den eigentlichen „Körper-Sporten“ standen die Wesenszüge schon fest, mit wenigen Ausnahmen wie Golf und Hockey, die man noch nicht kannte, und abgesehen von der technischen Durchbildung, die aber ziemlich stetig erfolgte; denn von „revolutionierenden“ Stiländerungen fielen die der Reit-, Lauf- und Sprungtechnik schon in jene Zeit und sogar die Crawlmethode des Schwimmens, die erst später importiert worden ist, unterschied sich in der Arm- und Atemtechnik weniger von dem damals geübten Schnellschwimmen als dieses vom gemächlichen Mißbrauch des Wassers zur Großvaterzeit.
Was den Sport zum Sport gemacht hat, ist also nicht so sehr der Körper als der Geist. Ehe ich aber von diesem berühmten Geist beginne, muß ich eine Geschichte erzählen, die weitab davon anfängt, jedoch bald dahinführt. Man weiß, daß Wien die zweitgrößte deutsche Stadt ist; aber da ein großer Teil der Einwohnerschaft Wiens in Berlin wohnt, wo er sich als Schriftsteller, Ingenieur, Schauspieler und Kellner große Verdienste um die norddeutsche Sonderart erwirbt, bleibt zu Hause nicht immer genug übrig, was man außerhalb natürlich nicht so genau weiß. Aber so ist man auf einen Einfall gekommen, der sowohl für die Geschichte der Kultur wie für die des Sports sehr bezeichnend ist: Man baut nicht nur seit einem Jahr an einem großen olympischen Stadion, sondern opfert diesem auch die letzten Reste des Praters. Was das heißt, muß erklärt werden. Der Prater gehört zu den sieben Weltwundern, die ein im Ausland lebender Wiener aufzuzählen beginnt, wenn er Heimweh hat; sie heißen: Wiener Hochquellenwasser, Mehlspeisen, Backhendeln, die blaue Donau, der Heurige, die Wiener Musik und der Prater. […] Denn das war, eng an ja in die Großstadt geschlossen, ein stundenweiter Naturpark mit herrlichen alten Wiesen, Büschen und Bäumen; eine Landschaft, in der man sich als Mensch nur Gast fühlte: eine Überraschung, denn diese Natur war gut um hundert Jahre älter, als es die Natur ist, in deren Gesicht wir sonst blicken; kurz, es war eine jener Stellen, die man heute, überall, wo man sie noch besitzt, für unberührbar erklärt, aus irgendeinem Empfinden heraus, daß es doch noch etwas anderes als Kugelstoßen oder Autofahren bedeute, wenn sich der Mensch langsam, ja sogar oftmals stehenbleibend oder sich setzend, in einer Umgebung bewegt, die ihm Empfindungen und Gedanken eingibt, für die sich nicht leicht ein Ausdruck finden läßt. In der Zeit der Allonge-Perücken scheint man das gewußt zu haben, denn obwohl der Prater damals ein kaiserlicher Jagdpark war, worin man zur Hatz ritt, gibt es allerhand Zeugnisse dafür, daß dies nicht ganz ohne Empfinden für die Natur vor sich ging; in der langen Besitzerzeit Franz Josephs, wo sich unsere heutige Art zu leben und auszusehen herausbildete, hatte man wenigstens Scheu vor Änderungen und gab nur die Ränder frei, selbst der aristokratische Jockeiklub und der Trabrennverein mußten sich damit begnügen: erst seit wir uns selbst übergeben sind, und das ist eben das Bedeutsame daran, ist der Prater fast restlos zugrunde gegangen, was natürlich nicht hindern wird, daß wir weiter von ihm reden und nicht bemerkten werden, daß er nicht mehr da ist. An seine Stelle sind Sportplätze verschiedenster Art getreten, die von Zäunen und Eintrittsschranken umgeben sind, und es ist das gerade so, wie es sein mußte, denn man hätte dafür weit geeignetere Gegenden finden können, aber keine so vornehmen, keine solchen Siegesplätze über die Natur, nichts, wo sich der lächerliche Anspruch der Leibesübungen, eine Erneuerung des Menschen zu sein, so naiv, so protzig, so instinktsicher ausdrücken könnte wie in diesem Zusammenhang.
Gegen die Tatsache, daß wir heute eine Körper-„ Kultur“ besitzen, ist also nichts zu machen. Aber wessen Geisteskind ist sie eigentlich? An dieser Stelle muß ich zugeben, daß ich selbst sehr viel Sport getrieben habe. Schon ich bin in meiner Jugend, wenn ich vom Kolleg kam, täglich auf den Tennisplatz gefahren, um mich einem scharfen Trainingsspiel zu unterziehen, oder ich wurde eine halbe Stunde lang von meinem Maestro di scherma hart hergenommen und abends dann noch einmal eine Viertelstunde, und schließlich kamen noch die Assauts mit den Klubgrößen, unter denen sich vielgenannte Fechter befanden. Ich habe an Fecht- und Tennisturnieren teilgenommen, konnte auf den Händen stehen, Salto zu Wasser und zu Lande machen und bin etliche Male auf Schwimm-, Ruder- und Segelunternehmungen beinahe ertrunken; ich glaube, genügende Beweise dafür zu besitzen, daß der Geist des Jahrhunderts rechtzeitig in mich gefahren ist. Aber wenn ich mich frage, was mir damit eigentlich geschah, so muß ich mir die Antwort sorgfältig überlegen: In der Hauptsache war es wohl wirklich eine blinde Kraft, die mich trieb, irgendein Nichtwiderstehenkönnen, sobald man die Sache kennengelernt hatte; aber sichtlich war sie auch vermischt mit jener lebensunkundigen Eitelkeit der Jugend, die an ihrem gesunden Körper nicht nur Freude, sondern ein Wundergefühl empfindet, weil in diesem Zaubersack noch alle Erfolge der Welt stecken, ohne daß eine Enttäuschung davorgekommen wäre. Auch die Suggestion, die im Erlernen jeder Sache liegt, wenn man sich ihm erst einmal hingegeben hat, darf nicht vergessen werden; hat man etwa hundert Stunden und Anstrengungen zum Opfer gebracht, so opfert man ihm auch die hundertunderste und beginnt damit eine neue Reihe: man wird in dieser Art beim Training von seinem Körper gleichsam an der Nase weiter geführt.
Neben diesen Illusionen gibt es in der Sportübung aber auch eine Fülle wirklicher kleiner geistiger Anregungen, die sie vor der Gefahr bewahren, bloß eine seelische Erkrankung zu werden. Ich will das kurz fassen, da es ohnehin oft genug hervor gekehrt wird: da sind Mut, Ausdauer, Ruhe, Sicherheit, die man auf dem Sportplatz zwar nicht für alle Fälle des Lebens, aber immerhin so erwirbt wie ein Seiltänzer das Gleichgewicht auf einem Seil, das in der Höhe von einem Meter gespannt ist. Man lernt, die Aufmerksamkeit zu sammeln und zu verteilen wie ein Mann, der mehrere Spinnstühle beaufsichtig. Man wird angelernt, die Vorgänge im eigenen Körper zu beobachten, die Reaktionszeiten, die Innervationen, das Wachstum und die Störungen in der Koordination der Bewegungen, man erlernt die Beobachtung und Auswertung von Nebenvorgängen, die rasche intellektuelle Kombination; alles das ähnlich, wenn auch nicht in dem Maße wie ein Jongleur. Man erwirbt Bekanntschaft mit den Fehlleistungen, welche der wahrnehmbaren Müdigkeit voranschleichen; man lernt das eigentümliche Schweben zwischen zu viel und zu wenig Fleiß kennen, die beiden schädlich sind, den gewöhnlich ungünstigen Einfluß der Affekte auf die Leistung und andererseits die beinahe mirakulöse Natur des besonders guten Gelingens, wo der Erfolg sozusagen schon vor der Anstrengung da ist. Und obwohl man alles das auch bei anderen Gelegenheiten, etwa beim Kartoffelgraben, kennenlernen kann, so faßt es der Sport doch in einer überaus zugänglichen und reizvollen Weise zusammen, wozu noch die Anregungen kommen, die das Kampfspiel gewährt, das Überlisten, die Schwankungen zwischen den Gegnern, die Einschüchterung und die Siegesgewißheit, und so vieles andere, was man etwas geschwollen als Taktik und Strategie des Sports bezeichnet.
Wie weitläufig wäre allein schon (obwohl sie gegeben werden kann) die Erklärung des Wunders, daß man auf die Entfernung des Anlaufs vorausbestimmen kann, mit welchem Fuß man abspringen wird! Das Wesen des Ich leuchtet in den Erlebnissen des Sports aus dem Dunkel des Körpers empor, und auch sonst leuchtet dabei allerhand Dunkles, aber dazu möchte ich nun auch gerne wissen, wie viele Sportleute sich überhaupt herbeilassen würden, nach solchen Dingen zu fragen oder auf solche Fragen zu hören?! […]
Auf solche Ideen wäre ich bei meinen naiven körperlichen Anstrengungen seinerzeit gewiß niemals verfallen. Ich war fast ganz und gar ungeistig, nur um am nächsten Tag geistig frisch zu sein. Es kam mir beim Ringen wenig Seelisches in den Sinn, und wenn ich mich wie ein Tier betrug, so war mir eben gerade das erwünscht. Ich bin heute noch der Meinung, daß Geistesabwesenheit außerordentlich gesund ist, wenn man Geist besitzt, unter anderen Voraussetzungen jedoch auf die Dauer recht gefährlich! Aber wozu noch länger vom Geist des Sportmanns reden, besteht doch das ganze Geheimnis darin, daß der Geist des Sports nicht aus der Ausübung, sondern aus dem Zusehen entstanden ist! Jahrelang haben sich in England Männer vor einem kleinen Kreis von Liebhabern mit der nackten Faust Knochen gebrochen, aber das war solange kein Sport, bis der Boxhandschuh erfunden worden ist, der es gestattete, dieses Schauspiel bis auf fünfzehn Runden zu verlängern und dadurch marktfähig zu gestalten. […] Zweiundzwanzig Männer kämpfen mit der Mäßigung von Berufsmenschen um einen Fußball, und einige Tausende, von denen die meisten einen solchen Ball niemals berührt haben, geraten in die Leidenschaft, die sich die Ausübenden ersparen. So entsteht der Geist des Sports. Er entsteht aus einer umfangreichen Sportjournalistik, aus Sportbehörden, Sportschulen, Sporthochschulen, Sportgelehrsamkeit, aus der Tatsache, daß es Sportminister gibt, daß Sportleute geadelt werden, daß sie die Ehrenlegion bekommen, daß sie immerzu in den Zeitungen genannt werden, und aus der Grundtatsache, daß alle am Sport Beteiligten, mit Ausnahme von ganz wenigen, für ihre Person keinen Sport ausüben, ja ihn möglicherweise sogar verabscheuen. Sofern man nicht an der Sache verdient, gibt man ihr eben nach. Man fühlt ein Vakuum, in das sich der Sport stürzt. Man weiß eigentlich nicht recht, was sich da stürzt, aber alle reden davon, und so wird es wohl etwas sein: so ist immer das zur Macht gekommen, was man ein hohes Gut nennt.
Wie ungerecht nur, daß man in diese Kultur noch nicht die Jongleure, überhaupt die Varieté- und Zirkuskünstler einbezogen hat, und vor allem: welches moralische Problem des kommenden Sportzeitalters liegt in der Vermählung von Erwerbssinn und körperlicher Geschicklichkeit bei den Taschendieben!
In: Der Querschnitt, Nr. 11 (1931), S. 247-252 (Auszüge)
N.N.: Das Stadion
N.N.: Das Stadion. (1931)
Gestern wurde das große Stadion der Gemeinde Wien feierlich eröffnet. Der
Bundespräsident Miklas, Bürgermeister Seitz und Stadtrat Tandler haben in dem Riesengebäude des Massensports über die hohe Bedeutung der Körperkultur gesprochen, Arbeitersportler haben vor fünfundzwanzigtausend Zuschauern gezeigt, was sie können.
Der einzigartige Aufstieg des Sports, der noch vor gar nicht langer Zeit offiziell kaum zur Kenntnis genommen wurde, der als Eindringling in das Gehege der Bürgerwelt galt, wird an solcher Feier, undenkbar in der Vorkriegswelt, auch den Abseitsstehenden offenbar; daß der Sport ein gewaltiger Kulturfaktor ist, daß er einen neuen Menschentypus formt, wird heute kaum noch geleugnet. Aber so sehr auch die Bürgerwelt geneigt ist, das zuzugeben, so wenig ist sie in Österreich geneigt, allzuviel für die Sportbewegung zu tun; meistens ist es bei schönen Worten und unverbindlichen Redens arten geblieben. Erst die sozialdemokratisch verwaltete Gemeinde Wien hat in der Förderung des Sports eine soziale Aufgabe und Verpflichtung erkannt und diese Erkenntnis produktiv gemacht; das Stadion ist ein großartiges Monument dieser Erkenntnis. Dienst an der Jugend des Volkes, an der Generation der Zukunft, das ist das große Prinzip. Säuglingsfürsorge, Kindergärten, Kinderbäder, Ferienkolonien, Sportplätze, Badeanlagen, menschenwürdige Wohnungen – all das ist Verwirklichung dieses Grundprinzips, dem nun auch das Stadion dient. Der Kampf um die Volksgesundheit – ein Kampf, der nicht nur gegen hundert objektive Schwierigkeiten, sondern auch gegen das Unverständnis, gegen die dumpfe Gehässigkeit der bürgerlichen Parteien geführt werden mußte und weiterhin geführt werden, muß – das ist der Kampf, den die Wiener Sozialdemokratie um das Stadion zu führen hatte, wie um jeden Wohnbau, um jede neue Fürsorgeaktion. Die Jugend, die da in der kapitalistischen Welt heranwächst, ihren Maschinen, ihrer Ausbeutung, ihren Todesgiften preisgegeben, muß verzweifelt und mit allen Mitteln um ihre Gesundheit ringen – sie braucht den Sport, um nicht zugrunde zu gehen, sie hat mit dem Sport einen Schimmer von Freiheit und Schönheit, in diese nicht sehr freie und nicht sehr schöne Welt gebracht. Sie darin zu unterstützen, gegen alle Spießer und alle Dunkelmänner, halten wir Sozialisten für eine hohe Notwendigkeit; bis an die Grenzen des Möglichen ist die Gemeinde Wien dieser Notwendigkeit gerecht geworden.
Zum zehnjährigen Bestand der Republik hat die Gemeinde Wien den Beschluß gefaßt, der Jugend der Republik ein Geschenk zu machen und zugleich der Republik ein Denkmal zu stiften, das nicht Erinnerung in Marmor, sondern Wirkung in die Zukunft ist. Dieses Geschenk an die Jugend, dieses Denkmal der Republik ist das Stadion; hier soll sich die Freude am Körper, von den Muckern verpönt und von den Hütern des Ewig-Gestrigen mit Beunruhigung wahrgenommen, ungestüm entfalten, hier sollen die Kraft und Bewegtheit, die freie Haltung und die formgebändigte Energie der jungen Generationen; die Leistung des einzelnen und der Sieg der Gemeinschaft den Menschen ein Wohlgefallen sein. Die Republik braucht keine Traditionen, keine Kostüme der Vergangenheit, sie braucht ein junges Geschlecht, geformt nach dem Bilde der Freiheit, zu lachen, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich und nicht zu achten der Götzen von gestern. Im Sport soll dieses Geschlecht sich stärken und stählen für seine größte Aufgabe: völlige Befreiung des Körpers und des Geistes, der Arbeit und des Lebens aus allen Fesseln der Vergangenheit.
Daß der Sport nicht zum Selbstzweck erstarre, sondern Element einer allgemeinen, einer durchaus neuen Kultur sei, dafür bürgt die Arbeiterbewegung, die aus der Sportbewegung neue Formen gewinnt und der Sportbewegung neuen Inhalt verleiht. Der Arbeitersport, der in das Stadion seinen Einzug gehalten hat, das wahre Kind dieser Zeit; die aufsteigende Arbeiterklasse und der aufsteigende Sport haben sich vereinigt, um eine neue Kultur des Körpers und des Geistes zu zeugen Daß der Arbeiter, der einst ausgeschlossen war von allen Festen und allen kulturellen Gütern der Bürgerwelt, heute Sport betreibt wie der Bürgerliche, bedeutet an sich schon viel, trotzdem ist es nicht das Entscheidende; entscheidend ist vielmehr, daß der Arbeiter heute anders Sport betreibt als der Bürgerliche, daß er in ihm die Harmonie sucht, die der kapitalistische Betrieb zerstört, die Gemeinschaft- die der bürgerliche Sport durch Einzelrekorde sprengt, die Befreiung von den Konventionen der alten Unkultur. Daß die Gemeinde Wien das Stadion nicht nur sportlichen, sondern auch künstlerischen Veranstaltungen widmen will, entspringt völlig der Tendenz, die der Arbeitersport verfolgt; der proletarische Kampfeswille und der sozialistische Kulturwille sind die Adlerflügel, die den Arbeitersport über den bürgerlichen Sportbetrieb hinaustragen.
All das wird bald im Stadion weithin sichtbar werden; wenige Tage nur trennen uns von der ArbeiteroIympiade, von dem internationalen Massenfest in Wien. Aus allen Ländern kommen junge Sportler, junge Sozialisten nach Wien, um hier mit der Kraft ihrer gestählten Körper für den Sport, mit der Leidenschaft ihrer Gesinnung und der Schwungkraft ihrer Solidarität für den Sozialismus zu demonstrieren. Diese Stadt wird ein wundervolles Schauspiel erleben: über den drückenden Alltag und die lähmende Sorge hinaus wird uns die sozialistische Jugend den Schimmer einer schöneren Zukunft zeigen, die Ahnung einer helleren Welt verleihen. Und diesem Schauspiel sozialistischen Kulturwillens wird der
Kongreß der Internationale folgen, sozialistischer Kampfeswille wird die Waffen prüfen und die Richtung weisen. Bekenntnis zu einer neuen Kultur, die den Körper heiligen und den Geist nicht zum hochmütigen Tyrannen, sondern zum treuen Diener der Gemeinschaft machen soll, Lebensform der jungen Generation und Fahnenweihe der Zukunft – das wird die
Arbeiterolympiade sein. Bekenntnis zum Klassenkampf des Proletariats gegen den Kapitalismus, Abschätzung aller Möglichkeiten und Wahl der richtigen Methoden, Vorbereitung einer Welt, in der solche Olympiaden nicht Flammensignale in der Finsternis, sondern taghelle Siegesfeste sind – das wird der Kongreß der Internationale sein.
Die jungen Sportgenossen werden in Wien das Stadion finden, den idealen Schauplatz für ihre Veranstaltungen. Die Internationale aber wird in Wien eine Stätte finden, wie kaum in einer Stadt: eine Partei, die das ganze, das einige Proletariat verkörpert, wird ungezählte Arbeiter herzen, in denen der Sozialismus nicht ein kaltes Denkmal, sondern lodernde Flamme ist.
In: Arbeiter-Zeitung, 12.7.1931, S. 3.
N.N.: Bilder vom Wiener Elend
N.N.: Bilder vom Wiener Elend (1919)
Das Elend der Erwerbslosen ist so grenzenlos, daß sich von seiner Tragik niemand einen Begriff machen kann. Der „Verein soziale Hilfsgemeinschaft“, dem Frau Anitta Müller vorsteht, sucht die zur Bekämpfung des Elends geschaffenen Institutionen weiter auszubauen und ruft die ganze Bevölkerung zur organisierten Mithilfe auf. Im Zuge dieser sozialen Aktion veranstaltete der Verein gestern abends im mittleren Konzerthaussaal einen Lichtbildervortrag. Wie Schriftsteller Bruno Frei, der als erster am Vortragspult stand, betonte, nütze alle private Wohltätigkeit angesichts der maßlosen Dimensionen des Elends nichts; der Abend sei vor allem der Aufklärung und Organisation der Besitzenden gegen das Elend gewidmet, es könne künftig nicht bei einem Almosen bleiben, der Schenkende müsse für den Sehnsuchtsschrei nach dem Leben, der ihm aus den Elendsquartieren entgegenschallt, ein Stück seines Lebens, ein Stück seiner Freude geben. Frau Anitta Müller, die ihm im Vortrag folgte, sprach auf die gleiche entschlossene Weise. Wenn schon das gesprochene Wort eine Anklage gegen das bisherige soziale System, ein gequälter Aufschrei aus einem tiefen Verstehen war, so zwang die große Reihe von Lichtbildern, die im wahrsten Sinn des Wortes Schattenbilder menschlichen Schicksals sind, zu einem geradezu grauenhaften Erkennen der unausprechlich traurigen Lage, in der sich viele Tausende der in unserer nächsten Nähe wohnenden Mitmenschen befinden. Die Wiener Spaziergänge, die man da hauptsächlich durch Favoriten, Lichtental und den zweiten Bezirk machte, enthüllten nicht etwa Armut, nein, ein schwärendes Dahinsiechen, ein körperliches und seelisches Verkrüppeln, einen Herd von Volksseuchen und unerhörtesten Verwahrlosungen. Ihrer Elf in eine Küche gesperrt, mit Tuberkulose, Rachitis, Rheumatismus und nagendem Hunger, lichtlos, freudelos, hoffnungslos. Kinder mit rachitisch aufgeweichten Beinen rutschen jahrelang in feuchten, schimmligen, unmöblierten Kellerlöchern herum, haben vielleicht nie die Sonne gesehen. Den Erwachsenen geht es nicht besser. Eine alte Pfründnerin, tuberkulos, liegt seit Jahren im feuchten, schmutzstarrenden Bett, sie ist von der Welt völlig abgeschlossen, und die Handreichungen der Menschen, die sich ihr nahen, bewirken nur soviel, daß sie nicht plötzlich auslischt, sondern in einer entsetzenerregenden Einsamkeit langsam dahinstirbt. Ist es leichter, das Elend zu ertragen, wenn man es gesellig erträgt? Da liegen in den Massenquartieren, in denen ein Bett für eine Nacht heute mit K. 1.- bis 1.50 bezahlt werden muß, ihrer sechzig beisammen. Es gibt Leute, die schon seit Jahrzehnten Stammgäste in den Massenquartieren sind; absoluter Mangel an Licht, Luft und Reinlichkeit zehren schwer am Leben. Es greift aber nichts so schwer ans Herz als die schier unendliche Bilderserie vom Kinderelend in Wein, die, wie Anitta Müller erzählt, nur ein ganz geringes Bruchstück der Wirklichkeit ist. In der Tat, da ist mit halben Maßregeln nichts ausgerichtet. Es muß in vollem Umfang geholfen werden. Und es ist nicht die geringste Zeit dazu, zu zaudern. Sonst haben wir keine Gegenwart und keine Zukunft.
In: Der neue Tag, 23.5.1919, S. 14.
Innozenz: Des Bischof grüner Tisch
Innozenz [ ]: Des Bischof grüner Tisch. (1928)
Der interessante Fall ergibt sich, daß ein streitbarer Kirchenfürst, der durch seine Hirtenbriefe und theoretischen Überzeugungen in der letzten Zeit mit den Meinungen und Taten seiner eigenen Glaubensgenossen in argen Widerspruch geraten ist, in die Öffentlichkeit flüchtet und einer Wiener Lokalkorrespondenz eine moraltheologische Abhandlung übergibt, um vielleicht doch noch über den Weg der Presse das Ohr des großen Publikums zu finden, das auf dem Wege normalseelsorgerischer Tätigkeit anscheinend nicht mehr gefunden wird. Wir reden vom Linzer Bischof Johannes Gföllner, der für die nächste Woche das seltene Synedrion einer Diözesansynode in seine Stadt zusammengerufen hat, um wieder einmal engeren Kontakt mit den anderen Seelsorgern seiner Diözese zu gewinnen, von jenem Bischof, über dessen Versetzung in ein römisches Ausgedingamt seit einiger Zeit so viel gemunkelt wird, der nun aber in einer Art Hilferuf an die Öffentlichkeit den Schwanengesang vorbereitet.
Das Thema der bischöflichen Ausführungen ist nicht gang neu. Es ist unter den großen Fragen, die heute an die katholische Kirche herantreten, auf die sie aber in ihrer Hilflosigkeit keine rechte Antwort mehr weiß: Krieg, soziale Frage, Körperkultur, nicht die unbedeutendste. Körperkultur ist nun einmal die Signatur unserer Zeit und noch stärker vielleicht der kommenden. Wir haben uns fast zweitausend Jahre verhäßlicht, geschwächt, verschmutzt und sind trotz intensivsten Seelenkults nicht um einen Deut moralisch weitergekommen. Nun will sich wenigstens der Körper aus Scholastik, Dogmatik und Intellektualisierung retten — und das ist der Sinn der neuerwachten Wanderlust, des Sportes, der Gymnastik, der Rhythmik, der Badekultur, des Weekends. So groß, so unwiderstehlich, so hinreißend ist die Bewegung, daß sich selbst die engsten Glaubensfreunde der Bischöfe ihr nicht mehr entziehen können. Katholische Mädchen wandern mit katholischen Knaben, katholische Turnerinnen üben und zeigen sich im Schauturnen neben katholischen Jünglingen, katholische Touristen klettern auf die Berge mit katholischen Touristinnen und müssen nicht selten gemeinsam auf dem Heulager nächtigen, katholische Bürgermeister errichten ausgezeichnete Strandbäder. Es ist ein Prozeß, der selbst in unserem kleinen Österreich schon Millionen erfaßt hat. Und katholische Mädchen machen voll Begeisterung die hygienische Mode der kurzen Haare und Kleider mit. Mit einem Wort: die Hirtenbriefe predigen ins Leere, die Bischöfe bleiben Rufer in der Wüste.
Es ist das tragische Schicksal der katholischen Kirche, die in einem tieferen Sinne ihre historische Mission noch nicht beendet haben müßte, daß sie gegenüber den Ereignissen, den Wissenschaften und den Forderungen des Tages stets um ein Beträchtliches zurück bleibt und erst allzuspät einlenkt. So war es vor Jahrhunderten mit der Entthronung der geträumten Sonderstellung der Erde im Weltmittelpunkt, im 19. Jahrhundert mit dem Entwicklungsgedanken, so ist es heute mit den praktischen Forderungen, die sich aus Pazifismus, sozialer Not und körperlicher Renaissance ergeben. Man weiß, die Kirche wird eines Tages nachhinken und die Forderungen der Zeit erfüllen. Man weiß aber auch, es wird zu spät sein.
Innerhalb der retardierenden Elemente der Kirche gibt es nun Persönlichkeiten, die stärker erkennen, wo in diesem oder jenem Punkte unsere Zeit der Schuh drückt, und andere, die gänzlich den Kontakt mit ihr verloren haben. So behaupten nun die Franzosen beispielsweise, daß ihr Pariser Erzbischof Dubois ein durchaus zeitgemäßer Mann sei. Die Pazifisten und Kriegsgegner behaupten Ähnliches von unserem Professor
Ude. Sogar von katholischen Priestern hört man hie und da, die für die sozialen Notwendigkeiten unserer Generation volles Verständnis aufbringen. Zu den anderen Persönlichkeiten aber, die blind durch ihre Epoche gehen und nur mehr wenig lernen können, gehört der Linzer Bischof, dem sogar die geistlichen Musikkonzerte in den Kirchen ein Greuel sind. Hätte er sehende Augen und ein weises Herz, er hätte längst sehen können, wie // die Körperkultur unserer Tage – von wenigen Ausnahmen und Übertreibungen abgesehen – und der Sport in unsere reineren Leiber neue, reinere Seele einziehen läßt, wie die Ferien vom Stadt-, Geschäfts- und Profitleben auch Ferien vom Herz- und seelenlosen Wirtschafts-Materialismus unserer Epoche bedeuten, wie neue psychische Qualitäten — Hilfsbereitschaft, Hochherzigkeit, Aufopferung, Ritterlichkeit, Heldentum – im gemeinsamen Kampfe mit Raum und Zeit und Widrigkeiten der Natur erwachsen. Hätte er sehende Augen…! Aber welcher dieser streitbaren Männer war je in den Felsen und Schutzhütten, in den Strömen und Strandbädern, bei Turn- oder Tanzfesten? Sie urteilen nur nach dem Hörensagen und sind daher zur Blindheit verdammt. Darf man sich wundern, daß dann die eigenen Schafe den Hirten nicht mehr vertrauen! Was soll ein katholischer Turner – der täglich von sportlichen Wettkämpfen liest und sonntags mit Kind und Kegel selbst auf den Sportplatz als Zuschauer zieht – denken, wenn er hört, sein Bischof verlange, daß er Weib und Tochter zu Hause lasse? Daß das öffentliche Schauturnen „möglichst“ eingeschränkt, daß die gymnastischen Feste „tunlichst“ nicht von beiden Geschlechtern gemeinsam veranstaltet werden? Im ganzen Leben spielt sich heute alles in gemeinsamer Arbeit von Mann und Frau, die mehr und mehr Kameraden werden, ab und gerade beim Turnen sollen die Geschlechter einander fliehen? Und was sollen übrigens in solch „seelenwichtigen Belangen“, wie sie Bischof Gföllner aufzählt, ein „tunlichst“ und „möglichst“ bedeuten? Wenn die Seele wirklich in Gefahr ist, da sollte es doch nur ein „Entweder – Oder“ geben! Und warum auf einmal – nur dem Badner oder Gmundner Bürgermeister und ihrer Gemeindekasse zuliebe – die Konzession des gemeinsamen Badens von Männern und Frauen (bloß die Ankleideräume sollen getrennt werden!), nachdem man jahrelang das Familienbad perhorresziert und anathematisiert hatte! Glaubt man denn wirklich, die Gläubigen vergessen so schnell? Glaubt man wirklich, die Vernunft sei uns allen schon so durchgegangen, daß nur etwas für Schwimmer, Badende und Strandflaneure bischöflich gutheißen lassen, aber für Gymnastiker und Rhythmiker mit dem Bann belegen?
Die katholische und die übrige Welt wird die Auslassungen Dr. Johannes Gföllners mit mehr als gemischten Gefühlen hinnehmen. Selbst wo sie Richtiges und Treffendes in ihnen entdecken wird— und bei gutem Willen wird man auch manches Vernünftige dort finden— wird sie beklagen müssen, daß es sich selbst entwertet und im Wust, zeitfremder Pseudodogmatik und Moraltheologie untergeht. Sie wird erkennen, daß die Einsichten am grünen Tisch des bischöflichen Palais entstanden sind und nicht im lebendigen Leben. Der grüne Tisch des Bischofs aber und die Sehnsucht der Welt nach Gesundheit, Kraft, Schönheit, Tatenlust und Naturverbundenheit, das sind Dinge, die nicht mehr zur Deckung zu bringen sind. Und daher muß die Welt – auch die katholische – an den Produkten des zeitfressenden, grünen Tisches lächelnd vorübergehen. Innozenz.
In: Der Tag, 17.8.1928, S. 1-2.