Ernst Fischer: Das Unbehagen in der Kultur (1930)
Sigmund Freud, der große Begründer der Psychoanalyse, versucht mit wachsendem Bemühn, die Methoden und die Erkenntnisse seiner Lehre zur Deutung gesellschaftlicher Erscheinungen heranzuziehn. Waren schon Totem und Tabu und die Massenpsychologie bedeutende Versuche, Entwicklungsgeschichte und Sozialprozesse psychoanalytisch zu enträtseln, so sind seine beiden letzten Schriften Die Zukunft einer Illusion und Das Unbehagen in der Kultur großartige Auseinandersetzungen mit der Religion und mit der Kultur.
In dem ersten der beiden mit diamantener Klarheit und wunderbarer Präzision geschriebenen Bücher wird die Religion als infantile, kindische, illusionistische Weltanschauung entlarvt. Gedankenbeladener aber und perspektivenreicher als dieses mutige Bekenntnis eines freien Geistes ist die Untersuchung über das Wesen und die Problematik der menschlichen Kultur, die tiefe Analyse des „Unbehagens“, das untrennbar, unlösbar mit ihr verknüpft ist. Wir finden in dieser Schrift soziologische Gedankengänge, die höchster Bedeutung, eindringlichster Durchdiskutierung wert sind. Man wird sehen, daß dieser gewaltige Denker in seiner dialektischen Psychologie eine Ergänzung zu unserer dialektischen Geschichtsbetrachtung bringt, deren geistige Wirkung noch gar nicht abzuschätzen ist.
Das Buch beginnt als Kommentar zu der Religionskritik, die Freud in der Zukunft einer Illusion entwickelt hat. Ein Freund schreibt ihm, er habe die Religion nicht richtig verstanden, sie sei mehr als ein kindisches System, sie sei ein „ozeanisches“ Gefühl; Freud erwidert, er müsse bekennen, daß ihm dieses ozeanische Gefühl völlig fremd sei, trotzdem wolle er versuchen, ihm wissenschaftlich gerecht zu werden. Dieses ozeanische Gefühl sei zweifellos älter als das Ichgefühl und das Ichbewußtsein, es sei das Lebensgefühl des Säuglings, des kleinen Kindes, das noch nicht gelernt hat, sich von der Welt zu isolieren, das noch mit allen Dingen unmittelbar und hemmungslos verbunden ist wie mit der Mutterbrust. „Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weitumfassenden, ja eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entspricht.“ Das „ozeanische“ Gefühl des religiösen Menschen ist Erinnerung an das lebenstrunkene Glück des noch nicht zum Ichbewußtsein erwachten,// noch nicht zur Persönlichkeit verknoteten Menschen, ist ein Zurücktauchen in den Urzustand, in den Infantilismus. Das Lebensgefühl des Kindes, die Bindung an einen mächtigen Vater, der straft und lohnt, ist der entscheidende Inhalt aller Religionen.
Zwei Elemente aber wirken mit: die Frage nach dem „Zweck“ des Lebens und das „Schuldgefühl“ aller Menschen, das „schlechte Gewissen“, das Gewissen überhaupt.
Mit der intellektuellen Rechtschaffenheit des strengen Forschers lehnt Freud es ab, über den „Zweck“ zu philosophieren, all den tiefsinnigen Kauderwelsch über den „Sinn des Lebens“ wiederzukäuen. Metaphysik ist ihm zuwider; er überläßt sie den intellektuellen Falschmünzern aller Art und schlägt sich lieber mit den Dämonen der Tiefe als mit den spinnwebdünnen Engelsgestalten fragwürdiger Überwelten herum. Er schiebt also alle Behauptungen über den „Sinn des Lebens“, die von den Menschen vorgeschoben werden, sacht und behutsam wieder zurück und beschäftigt sich nur mit dem, was alle Menschen wirklich erstreben, was stets die Zweckrichtung ihres Denkens und Tuns bestimmt; das aber, was wir suchen, in mannigfaltigen Formen und auf vielfach verschlungenen Wegen, ist das Glück. Und das ist zweierlei: Lustgewinnung und Leidvermeidung. Positiv: die Erhöhung, die Steigerung des Lebensgefühls in Lust; negativ: die Sicherung des Lebens gegen Leid, gegen Schmerz.
Die Tendenz der Kultur ist Leidvermeidung, Beseitigung, wenigstens Verminderung der Gefahren, Schmerzen und Leiden, die dem Menschen von der Natur, von den Mitmenschen und von den eigenen Trieben drohen. „Das Wort Kultur bedeutet die ganze Summe von Leistungen und Einrichtungen, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz der Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“, definiert Freud in erfreulichem Gegensatz zu den Mystikern und romantischen Schwindlern, die uns einreden wollen, „Kultur“ sei ein geheimnisvolles, überirdisches Wesen und unterscheide sich ganz und gar von der „Zivilisation“. Vielleicht müßte man ergänzend noch sagen, daß die Kultur nicht nur die Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen, sondern auch die Beziehungen des Menschen zu sich selber, zu seinem eigenen Ich, zu regeln versucht; aber davon wird noch die Rede sein.
Die Grundelemente der Kultur sind nach Freud: Naturbeherrschung, Reinlichkeit, Ordnung, Schönheit, Geistigkeit und Gerechtigkeit. Die meisten dieser Kulturelemente müssen teuer bezahlt werden: mit einer ungeheuren Einschränkung der Triebfreiheit, mit einem Verzicht auf hemmungslose Lustgewinnung, mit einer Unterwerfung des Menschen unter mannigfaltigen Zwang; denn der Mensch ist durchaus nicht reinlich, ordentlich, geistig und gerecht. Die Kultur produziert also nicht nur Dämme gegen das Leid, nicht nur Sicherungen und Annehmlichkeiten, sondern auch Unlustgefühle; denn jede Drosselung eines Triebes bringt Unlust. Es entsteht daher zweierlei: ein Mißtrauen des Menschen gegen die Leistungen und Einrichtungen der Kultur, die dumpfe Frage, ob all der Komfort nicht zu teuer bezahlt, ob all der Fortschritt nicht ein Betrug sei, und eine leidenschaftliche Sehnsucht nach der Freiheit und Anarchie des Urzustandes, der phantastisch verklärt und überwertet wird. Das Märchen von einem verlorenen Paradies, einer „ozeanischen“ Freiheit und Seligkeit bemächtigt sich vieler Menschen; das „Unbehagen in der Kultur“ wird zur Kulturfeindschaft, zur Rebellion gegen die Kultur. Diese Rebellion ist entweder eine kindische Verneinung aller Kultur oder eine Verneinung dieser unvollkommenen, widerspruchsvollen Kultur, in der wir leben (reaktionäres Rebellentum der Maschinenstürmer aller Art oder revolutionäres Rebellentum des Sozialismus). Schließlich bleibt für den einzelnen, der sich um sein Triebleben geprellt, allzu vieler Lustmöglichkeiten beraubt sieht, noch die Flucht in Rausch und Neurose, der Auflehnungsversuch der Psychose.
In diesem Zusammenhang prägt Freud ein Wort von erschreckender Intensität. Er weist darauf hin (schon Nietzsche hat darauf hingewiesen), daß wir den Göttern der alten Religionen immer ähnlicher werden; sie waren „geschwind wie der Wind“, flogen über Länder und Meere, lebten hoch im // Gebirge, das kein Mensch erstieg— unsere Technik hat diese ältesten Menschheitsträume zum Teil verwirklicht, „die Götter waren Kulturideale“, wie Freud das formuliert. Aber es wird uns vor unserer Gottähnlichkeit bange, wir sind abhängig von Apparaten und Maschinen, es fehlt uns die schwebende Heiterkeit des Olymps. Der Mensch der Technik ist ein „Prothesengott“. Es gibt nur wenige Worte, die mit solch unheimlicher Sicherheit unser Schicksal demaskieren.
Dieser Prothesengott, der die Natur seinem Willen zu unterwerfen versucht, muß auch die eigene Natur den kulturellen Leistungen und Einrichtungen unterwerfen. Er muß auf anarchische, die Ordnung, die Reinlichkeit, die Gerechtigkeit gefährdende Triebe verzichten, er muß andere, mit Urgewalt das Leben vorwärtstreibende Triebe sublimieren. Wie er den Wasserfall zwingt, in tausend Gassen und Stuben elektrisch leuchtende Augen aufzuschlagen, so muß er seine Sexualität zwingen, in Arbeit und Politik, in Kunst und Wissenschaft sich schöpferisch zu wandeln. Die Einschränkung des Sexuallebens ist eine der wichtigsten Kulturforderungen. Die „vollsinnliche Liebe“, die sich naturhaft-tierisch im Sexualakt befriedigt, wird zurückgedrängt, die „zielgehemmte Liebe“, der Eros, der Ideale produziert und gesellschaftliche Leistungen vollbringt, gewinnt an Macht und Einfluß. „Das Sexualleben des Kulturmenschen ist schwer geschädigt; es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung begriffenen Funktion, wie unser Gebiß und unser Kopfhaar als Organe zu sein scheinen.“ Eine der bedeutendsten Möglichkeiten der Lustgewinnung, vielleicht die bedeutendste, die Sexualität, wird also mehr und mehr der Kultur, der Sicherung des Menschen, zum Opfer gebracht; man könnte — und auch da findet man bei Freud Grundlegendes — von einer teilweisen „Kastration“ der Menschheit durch die Kultur sprechen. Kein Wunder, daß ein wachsendes Unbehagen in der Kultur entsteht!
Aber wichtiger noch als die Einschränkung der Sexualität ist die Einschränkung
des „Aggressionstriebes“, wie Freud die asozialen und antisozialen Instinkte des Menschen nennt. Der Mensch ist der Feind des Menschen — die Kultur aber fordert: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Diese „Idealforderung“ ist übertrieben und unerfüllbar; mit großer Skepsis lehnt Freud sie ab, nicht nur, weil der „Nächste“ keineswegs liebenswert ist, sondern auch, weil eine so allgemeine und allumfassende Liebe den Eros verdünnt und entwest. Aber der Forscher konstatiert: Wie mächtig, wie unüberwindlich muß der Aggressionstrieb sein, wenn die Kultur ihm solche extreme Gebote entgegenschleudert, wie leidenschaftlich das Verlangen, ihn zu befriedigen, wenn als Sicherung gegen ihn das Unmögliche gefordert wird! Der Mensch darf den „Nächsten“ nicht schlagen, nicht quälen, nicht töten— nein, er soll ihn lieben, er soll ihn wenigstens unangetastet lassen. „Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht.“ Die Entladung des Aggressionstriebes ist Lustgewinnung, der Mensch ist nicht gut — aber die Sicherheit gebietet, daß man ihm diese Lustgewinnung verwehrt.
Die Gewalt des Aggressionstriebes erkennend — und wahrlich: nur ein oberflächlicher Optimist kann leugnen, daß in jedem Menschen ein wildes Tier nach Entfesselung lechzt! —, ist Freud gezwungen, nicht nur einen Urtrieb, die Sexualität, den Eros, anzunehmen, sondern ihm einen zweiten entgegenzusetzen, den Zerstörungstrieb, den Destruktionstrieb, den Todestrieb. So verführerisch das klingt— Freud selber scheint bei der Einführung des Todestriebes in sein System ein leises Unbehagen zu fühlen. Er findet, wie er selber sagt, für den Nachweis des Todestriebes nicht das große wissenschaftliche Material wie für andere Elemente seiner Lehre, und er sieht sich außerdem genötigt, eine Theorie, die ihm besonders lieb war, die Libido-Theorie, wesentlich einzuschränken. Er hat lange Zeit hartnäckig behauptet, daß die Libido (das sexualbetonte Verlangen), das Urwesen jedes Triebes, das Urphänomen des Lebens sei. Nur langsam hat er, in unterirdischen Auseinandersetzungen, mit Alfred Adler und C. G. Jung, die Libido-Theorieabgeschwächt: Adler lehrt, die Libido, der Sexualtrieb, sei nur eine Form des // Geltungstriebes, des Willens zur Macht; Jung behauptet, die Sexualität sei die einzige Urkraft, aber ein Stück dieser Urkraft sei von der Kultur aufgesogen, umgewandelt, „desexualisiert“ worden und stehe nun der Sexualität als etwas Fremdes gegenüber. Nach tiefem Zögern hat Freud sich veranlaßt gesehen, der Sexualität einen anderen Trieb, den Todestrieb, entgegenzusetzen, und die Libido-Theorie folgendermaßen zu formulieren: „Ein jeder Trieb ist Libido belegt, aber nicht alles an ihm ist Libido.“ Eros und der Todestrieb sind die großen Gegenspieler.
Außenstehenden war die Libido-Theorie nie so wichtig wie den orthodoxen Psychoanalytikern; trotzdem scheint die neue Formel nicht unbedenklich. So sehr der düstere Dualismus Freuds, die Lehre, daß ewiger Zwiespalt, ewige Gegensätzlichkeit das Wesen des Lebens ist, unserem Dasein und seinen Problemen gerechter wird als jeder „Monismus“, jede Erklärung menschlichen Fühlens, Denkens und Tuns aus einer einfachen Wurzel — so regt sich doch die Frage, ob diese Gegensätzlichkeit, das Widerspiel „Eros — Todestrieb“ unser Leben beherrscht. Daß der Zerstörungstrieb, der Todestrieb nicht etwas Krankhaftes, „Unnatürliches“ ist, sondern ein urgewaltiges Element, könnte hundertfältig nachgewiesen werden: aber ist es methodisch richtig, diesen Destruktionstrieb vom Eros zu trennen, ihn dem Eros entgegenzusetzen? Ist er nicht vielmehr mit dem Eros identisch, ein Teil von seiner Kraft, enthalten im Wesen aller Lust? In vielen alten Mythologien ist der Gott der Lust auch der Gott der Zerstörung, sind Zeugung und Vernichtung nur zwei Funktionen einer dämonischen Macht. Und daß sie sich selber vernichten will, ist charakteristisch für jede Lust. Sollte die Dialektik des Lebens, der tragische Zwiespalt unseres Daseins, nicht in einer anderen Antithese, in einer anderen Gegensätzlichkeit zu suchen sein?
Ehe wir versuchen, diese Frage zu beantworten (mag sein, daß die Antwort falsch sein wird!), müssen wir uns mit der entscheidenden sozialpsychologischen Entdeckung Freuds beschäftigen.
Untrennbar verknüpft mit aller Kultur ist das Schuldgefühl, das schlechte Gewissen, das Gewissen überhaupt. Was aber bedeutet das?
Die Kirchengläubigen machen sich die Antwort leicht: „Das Gewissen ist die Stimme Gottes in den Menschen — und damit Schluß!“ Wir hingegen haben uns daran gewöhnt, zu sagen: „Das Gewissen ist die Stimme der menschlichen Gesellschaft im Individuum.“ Aber so richtig das ist, immer bleibt doch die Frage bestehen: Und wie gelingt es der menschlichen Gesellschaft, in jedem einzelnen zur Instanz des Gewissens zu werden? Wie verwandelt sich die Autorität in eine „innere Stimme“? Wie Angst vor der Strafe in Schuldgefühl? Durch welchen Mechanismus wird es bewirkt, daß objektive gesellschaftliche Notwendigkeiten (Sitte, Sittlichkeit, Moral) zu subjektiv empfundenen ethischen Verpflichtungen werden? Daß wir uns vor Strafe fürchten, ist durchaus plausibel— aber daß wir uns selber für Gedanken und Wünsche, deren Realisierung von der Gesellschaft bestraft würde, mit schlechtem Gewissen strafen, wie wollen wir das erklären?
Freuds Genialität hat eine Erklärung gefunden.
Der Meister der Psychoanalyse sagt: Das Gewissen ist nichts anderes als der Aggressionstrieb, der Zerstörungstrieb, dem es verwehrt wird, nach außen zu wirken, der sich daher nach innen entlädt. Dem „Ich“ wird ein sadistisches „Über-Ich“ zugesellt, das mit der Kultur, mit all den Hemmungen und Zurückdrängungen des Destruktionstriebes wächst. Denn der Destruktionstrieb ist unsterblich: läßt die Gesellschaft ihn nicht frei, so rächt er sich am Individuum.
Und wie entsteht dieses „Über-Ich“, dieser grausame Peiniger, dem sich das „Ich“ unterwirft?
Zuerst, so lehrt Freud, entsteht das „Ich“. Daß das „Ich“, das Persönlichkeitsbewußtsein, nicht mit uns geboren wird, daß es sich erst allmählich kristallisiert, wissen wir alle erfahrungsgemäß. Der Säugling ist aufgelöst in dem „ozeanischen“ Gefühl, von dem schon die Rede war; er fühlt sich eins mit dem Mutterleib, mit allem, was ihn umgibt. Langsam wird er gezwungen, // zu unterscheiden: war die Geburt die erste Trennung, das erste Zerreißen allumfassender Zusammenhänge, so ist die Verweigerung der Mutterbrust, die Entdeckung des eigenen Körpers eine weitere Trennung. Und nun wird ununterbrochen das Leben des Kindes eingeschränkt; die erste „Erziehung“, das Aufrichten mannigfaltiger Hemmungen beginnt. Andererseits aber reißt das Kind Stücke der Welt, aus der es sich löst, gierig in sich hinein; was wir „Nachahmung“ nennen, ist nichts anderes als der Prozeß der Aneignung, ja, der Identifizierung mit den Menschen rings um das Kind, in erster Linie also mit den Eltern. Das Kind stopft immer mehr Umwelt in sich hinein, erfüllt sich mit Wort und Bewegung, mit reichem Lebensmaterial; es unterscheidet die Dinge, die Menschen, es scheidet, unterscheidet sich selbst von der Umwelt— aber noch immer ist es kein „Ich“. Jeder weiß, daß das Kind längst schon eine „Persönlichkeit“ ist, aber noch immer von sich und den anderen Menschen in der dritten -Person spricht, daß es längst schon einen trotzig-betonten Eigenwillen hat, aber ohne das dazugehörige „Ich“. Nicht: „Ich mag nicht!“, sondern: „Der Poldi mag nicht!“ ist die Kundgebung dieses seines Willens.
Das „Ich“ entsteht nun (allerdings schon in frühem Stadium, lange vor der Bewußtwerdung) aus der Liebe des Kindes zu seinem eigenen Körper, zu seinem eigenen Selbst. Diese frühe Sexualität, diese „Autoerotik“, wird schöpferisch und erfindet, zur eigenen Lust, das eigene „Ich“, das Subjekt-Objekt der Liebe, bündelt alles der Umwelt entrissene Material zusammen, eignet es im „Ich“ sich selber zu, sich selber an.
Und das „Über-Ich“? Das Kind empfängt alles von den Eltern (oder von den stellvertretenden Erwachsenen), es „identifiziert“ sich mit ihnen, es liebt in ihnen sein eigen Ich. Aber auch alles Unangenehme kommt von den Eltern, alle Einschränkung der Freiheit, alle Hemmungen der Triebe, alle Unlust des Verzichtenmüssens; so haßt das Kind in den Eltern auch das ordnende, das strafende, das „kulturele“ Prinzip, die Gewalt der Autorität und die Macht des Gesetzes. Untrennbar verschlungen sind beide Elemente: Liebe und Haß, Eros und Aggressionstrieb. Das Kind will seinen Eltern gleichen, den großen, allwissenden und allmächtigen Göttern, es spielt „Vater und Mutter“, es identifiziert sich mit den Allesüberragenden. Gleichzeitig will sich das Kind an den Eltern rächen, will es das Verhältnis umkehren, will es sie schlagen und „erziehen“, wie es selber geschlagen und „erzogen“ ird — aber wie kann es das in seiner Schwäche und Ohnmacht? Es wendet, so sagt Freud, den Aggressionstrieb gegen sich selber, gegen Vater und Mutter, die es in sein eigenes Ich aufgenommen, mit denen es sich identifiziert hat. Der Mechanismus der „nach innen verschobenen Aggression“ produziert das Gewissen, das „Über-Ich“.
Entwicklungsgeschichtlich stellt sich das in einem wissenschaftlichen Mythos dar, für den exakte Beweise fehlen, der aber recht überzeugend klingt: Die Söhne der „Urhorde“ erschlagen“ den Urvater, den fürchterlichen Tyrannen. Da er tot ist, erlischt der befriedigte Haß und das Gefühl erwacht: Wir haben einen Menschen getötet, den wir liebten. So entsteht das Schuldbewußtsein, die Reue — vor dem Schuldgefühl und dem Gewissen. Dann aber wird das „Über-Ich“ aufgerichtet: die Angst, ermordet zu werden, wie der Vater ermordet wurde, produziert gesellschaftliche Sicherungen dagegen, der gehemmte Zerstörungstrieb wendet sich nach innen, gegen das „Ich“, das sich mit dem toten Vater identifiziert. Mit einem Mord hat die Kultur begonnen; sie setzt dem Vernichtungstrieb „Leistungen und Einrichtungen“ entgegen, aber der Dämon ist unüberwindlich. Er zerfleischt nicht mehr den Vater, den Bruder, den Mitmenschen (wenigstens ist das Nicht die Regel), er zerfleischt, nach innen wütend, den Vater, den Bruder, den Mitmenschen in der Seele des Individuums. „Das Gewissen entsteht durch Unterdrückung einer Aggression und verstärkt sich durch jede neue Unterdrückung.“ So wächst mit der Kultur das Gewissen, das Schuldgefühl, das „Über-Ich“ — und mit ihm das Unbehagen in der Kultur.
Damit werden auch zwei scheinbare Widersprüche erklärt: daß das Gewissen desto feiner, desto unerbittlicher funktioniert, je weniger der Mensch „sündigt“, und daß Unglück das Schuldgefühl steigert. Der Mensch, dessen Aggressionstrieb weniger gehemmt ist, entlädt ihn weniger nach innen als der Mensch, der nichts „Böses“ tut und daher alles in seinem „Über-Ich“ aufspeichert. Oder: das Kind, das weniger geschlagen wird, findet weniger äußere Anlässe, gegen die Eltern loszugehen als das verprügelte, verwahrloste Kind — daher wächst sein Gewissen, sein Schuldgefühl. Das Unglück jedoch wird instinktiv als Strafe gewertet: wer aber straft, an wem soll der Mensch sich rächen? Er findet im eigenen Ich den strafenden Vater und züchtigt ihn mit Schuldgefühl und schlechtem Gewissen.
Ist dieser Mechanismus zu kompliziert? Nun: alles, was die Menschen als „selbstverständlich“ abtun, ist in Wahrheit verteufelt kompliziert. Trotzdem glaube ich, daß manches anders, wenn man will, „einfacher“, zu deuten wäre als Freud es deutet. Er hat uns den Weg gezeigt und die Mittel gegeben — versuchen wir, mit seinen Elementen unsere Auffassung, das Gewissen sei die Stimme der menschlichen Gesellschaft im Individuum, zu stützen.
Wir haben geschildert, wie das „Ich“ entsteht: aus einer Fülle von Elementen, die das Kind sich aneignet, die es, alle Erwachsenen „nachahmend“, in sich aufnehmend, in sich aufstapelnd, zu einem Bündel zusammenfaßt, der Umwelt entreißt und im Ichbewußtsein ordnet; dazu kommen alle die Einschränkungen, alle die Hemmungen und Zwänge, die das uferlose Lebensgefühl dämmen und in Maß und Regel zurückdrängen. Wesentlich daran ist, daß sich das „Ich“ aus lauter gesellschaftlichen Elementen zusammensetzt; denn alles, was die Eltern, die ersten Erzieher, sagen und tun, ihr Gang und ihre Sprache, ihre Meinungen und ihre Gewohnheiten, sind ja allgemeinstes Gesellschaftsgut. Nicht sie haben die Worte erfunden, die das Kind von ihnen lernt, die Gesellschaft hat sie produziert, sie sind das eigentliche Medium des Sozialen, der menschlichen Beziehungen, nicht sie haben ihre Meinungen und ihre Gewohnheiten erdacht, sie teilen sie mit Millionen, sie sind, als Erzieher und als Vorbilder, einfach die Repräsentanten des Menschengeschlechtes, der menschlichen Gesellschaft, Menschheitsgöttern gleich über das Kind geneigt. Das ganze Material des „Ich“, alle Erfahrungen, alle Erkenntnisse, alle Einschränkungen, sind also nur ein Stück Gesellschaft; trotzdem ist das „Ich“, in sich selber verliebt, Isolierung von der Gesellschaft, Loslösung, Losreißung von der ganzen Umwelt, lustvolle Verkrampfung in das eigene Wesen. Daher ist der Zwiespalt von allem Anfang an da: aus gesellschaftlichen Elementen bestehend, ist das „Ich“ gleichzeitig das, was sich in schroffsten Gegensatz zu allem „Nicht-Ich“ stellt — und diese dialektische Spannung, diese Vereinigung tiefster Widersprüche ist sein wahres Wesen. So entsteht gleichzeitig mit dem „Ich“ das „Über-Ich“, die Gesellschaft im Individuum, die Summe aller Erfahrungen, Erkenntnisse, Einschränkungen, denen das „Ich“ seine Existenz verdankt.
Das Ich hat nur eine Tendenz, kennt nur einen Trieb— den leidenschaftlichen Willen, sich immer radikaler zu isolieren, sich selber in höchster Freiheit und Macht, in höchster Erotik und Schöpferkraft zu genießen, sich immer mehr Umwelt anzueignen, in Liebe und in Zerstörung, in Selbstvergottung und Weltvernichtung. Die Gesellschaft hat nur eine Tendenz: sich gegen Gefahr und Zerstörung, gegen den hemmungslosen Lust- und Vernichtungstrieb zu schützen, zu konservieren, zu erhalten, zu mäßigen. Zwei Urtriebe prallen gegeneinander, in der Geschichte und in der Seele jedes Menschen: der Erhaltungstrieb (Arterhaltungstrieb, Selbsterhaltungstrieb, „Wille zum Leben“) und der Steigerungstrieb (Lusttrieb, „Wille zur Macht“, die Terminologie ist nicht so wichtig). Der dionysische Lust- und Todestrieb, der das „Ich“ erzeugt hat, und der apollinische Erhaltungstrieb, der die Gesellschaft produziert und das Leben zu sichern bemüht ist, sind aber so ineinandergekettet, ineinandergewoben, daß einer ohne den anderen nicht bestehen kann, obwohl einer der Todfeind des anderen ist. Sie sind das „Ich“ und das „Über-Ich“, verknotet in einer Seele, diese Seele ununterbrochen // gestaltend, sie sind die Persönlichkeit und die Gesellschaft, der Eros und die Vernunft. Ja, ihre Verschlingung ist so intensiv, daß einer sich oft die Maske des anderen leiht, daß einer sich oft des anderen bedient, um seine Pläne durchzusetzen: Der Erhaltungstrieb bedient sich bei der Fortpflanzung des Lusttriebs, der Lusttrieb bedient sich des Erhaltungstriebes, wenn er den Menschen vorgaukelt, irgendein Abenteuer, ein Nordpolflug oder die Jagd nach einer Frau seien eigentlich sehr nützlich und vielleicht sogar ein Dienst an der Menschheit. Darin, in diesem tragischen Dualismus, in diesen ewigen Versuchen des Ich, alle Hemmungen zu zerstören und allen Schranken zu entfliehen (was ihm im Tode, sich selbst vernichtend, gelingt), und in den ewigen Versuchen der Gesellschaft, jede Regung des Ich zu unterdrücken, mag das innerste Wesen des Lebens, mag alles Dasein begründet sein.
Aber Freud selbst deutet auf den letzten Seiten des Buches diese Dialektik an, wenn er sagt: „In der individuellen Entwicklung fällt, wie gesagt, der Hauptakzent meist auf die egoistische oder Glücksstrebung, die andere, „kulturell“ zu nennende, begnügt sich in der Regel mit der Rolle einer Einschränkung. Anders beim Kulturprozeß; hier ist das Ziel die Herstellung einer Einheit aus den menschlichen Individuen bei weitem die Hauptsache, das Ziel der Beglückung besteht zwar noch, aber es wird in den Hintergrund gedrängt; fast scheint es, die Schöpfung einer großen menschlichen Gemeinschaft würde am besten gelingen, wenn man sich um das Glück der einzelnen nicht zu kümmern brauchte.“ Mit bewunderungswürdiger Präzision wird da die Zwiespältigkeit des Gesellschaftsprozesses formuliert; aber wie fügt sich das in das System, das Freud vorher entwickelt hat? Die Lösung ist kühn und genial: Die gesellschaftliche Tendenz der innigen Aneinanderkettung immer größerer Menschengruppen ist Libido-bedingt, der durch die Kultur in der Einzelpersönlichkeit unterdrückte Sexualtrieb findet einen sozialen Ausweg, er bindet den Menschen an den „Nächsten“ und an den Fernsten, er produziert im Laufe der Kulturgeschichte die „Menschheit“. Also nicht die Not, der Hunger, der Selbsterhaltungstrieb, sondern der Sexualtrieb ist das Wesentliche; er wird vergesellschaftet und wirkt vergesellschaftend.
Wie aber, wenn man auch darin das Widerspiel des Erhaltungstriebes und des Lusttriebes erblickt? Es scheint ja doch, als sei in erster Linie der Erhaltungstrieb gesellschaftsbildend, als wachse aus der Not die gesellschaftliche Notwendigkeit; die Tendenz der Gesellschaft ist Einschränkung des „Egoismus“, der Persönlichkeit, des Lusttriebes. Gleichzeitig aber sieht der Einzelmensch den Sinn der Gesellschaft in der Entfaltung seiner Persönlichkeit, weniger in der Sicherung aller als in der Bürgschaft für eigene Lust. So verschränken sich hier wie überall Erhaltungstrieb und Lusttrieb. Man untersuche nur irgendein soziales Gebilde, etwa eine Partei; man wird erkennen, daß jede Partei wesentlich eine Interessengemeinschaft, nicht eine Lustgemeinschaft ist; aber sie kann nicht ohne den Lusttrieb, ohne den Lebenssteigerungstrieb bestehen, sie muß Fahnen und Feste, Lieder und Symbole produzieren, Ideale und andere Elemente der Lust, sie muß ihre Mitglieder auch gefühlsmäßig aneinanderbinden, sie muß schließlich das Glücksstreben des einzelnen berücksichtigen, um die Zwecke der Gesamtheit erfüllen zu können. Daraus können, ja müssen immer wieder Konflikte zwischen dem Lustwillen der Persönlichkeit und der Notwendigkeit der Gemeinschaft entstehen.
Ein anderes Beispiel: Der Einzelmensch will den sexuellen Lusttrieb hemmungslos befriedigen, die Gesellschaft muß ihn einschränken, zu Kulturleistungen sublimieren. Der Erhaltungstrieb bemächtigt sich in der Sexualität des Lusttriebes; die Arterhaltung interessiert das Individuum weniger als die Lustbefriedigung, in der Sexualität aber werden beide zusammengefaßt. Der Erhaltungstrieb jedoch, der gesellschaftliche Sicherungen baut, drängt auch die Sexualität immer weiter zurück, die Kultur zerstört die Sexualität. So entsteht folgende Situation: Immer mehr Sexualität wird an den kulturellen Erhaltungstrieb abgegeben; die Sexualität wird „schwer geschädigt“, weniger Kinder werden gezeugt; andererseits versucht der Lusttrieb, je vollkommener die Kultur wird, desto entschiedener sich aus den Fesseln des Erhaltungs- // triebes, der blinden Sexualität, zu befreien und eine Erotik zu produzieren, die Glück ohne Folgen, unfruchtbarer Genuß ist. Dieses Widerspiel gefährdet aufs höchste den Bestand der Kulturvölker. Das heißt: Mit der Vergesellschaftung wächst der Individualismus, mit den Sicherungen, die der Erhaltungstrieb aufbaut, das Freiheitsverlangen, der Glücksanspruch des Individuums — und die Vollkommenheit der Kultur wäre gleichzeitig ihre Selbstaufhebung, da jeder Kulturmensch sich ihrer nur bedient, um sein Ich auszugenießen.
So finden wir überall diese Dialektik, diesen Widerspruch zweier entgegengesetzter Triebe, der gedanklich nicht zu lösen und dessen ununterbrochene Lösung das Leben ist. Nicht Lusttrieb und Destruktionstrieb, sondern Lusttrieb und Erhaltungstrieb, nicht Eros und der Todesdämon, sondern Eros und Ananke (die Not, die Notwendigkeit) wirken ewig gegeneinander, binden sich ewig zur Synthese unseres Daseins…
„Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, die Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden »himmlischen Mächte«, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.“
Mit diesen Worten voll reifer Weisheit endet das Buch. Uns obliegt es, die Methoden und Erkenntnisse des einzigartigen Mannes unserem Weltbild einzufügen und die Wege, die er durch den Urwald der Menschenseele gebahnt hat, weiterzugehen— bis zu einer marxistischen Sozialpsychologie, die heute noch nicht existiert.
In: Der Kampf, H. 6/7/1930, S. 282-287.
N.N.: Sollen wir auf allen Vieren kriechen?
N.N.: Sollen wir auf allen Vieren kriechen? Dr. Max Graf Thun-Hohenstein und seine Körperkultur. (1930)
N.N.: Sollen wir auf allen Vieren kriechen? Dr. Max Graf Thun-Hohenstein und seine Körperkultur.
Es lohnt sich, Dr. Max Graf Thun-Hohenstein, dessen neuartige Körperkultur revolutionierend zu wirken anfängt, einen Besuch abzustatten. Zu den bisher mehr oder minder lebhaft besprochenen Sensationen seiner Schule gehört, daß dort die Menschen auf allen Vieren kriechen. Kopfschüttelnd sah ich unlängst diesem Treiben zu, als einer von den Begeisterten, die eben ihre mühsam erlernte Kunst erprobt hatten, mir mit spöttischem Humor sagte: „Haben Sie schon einmal gesehen, daß ein Pferd Gelenksübungen macht? Ich meine so: Zwanzigmal niederhocken und wieder aufstehen, Beine seitwärts stoßen, je zehnmal Kopfkreisen links und rechts, nicken mit dem edlen Haupte und so fort. Ich habe noch kein so dummes Roß gesehen. Und auch den Leuten, die Pferde trainieren, fällt es nicht ein, das stolze Roß durch solche Übungen mit der nötigen Geschmeidigkeit und Muskulatur zu versehen. Also, was tun diese Leute? Sie lassen dem Pferd seine natürlichen Bewegungen und bestreben sich nur, diese zu veredeln oder noch besser: die Gangart rein herauszuarbeiten.“
Graf Thun hatte in seinen Holzpantoffeln und seinem wallenden violetten Sportmantel, der ihm fast das Aussehen eines Priesters der Naturlehre gibt, lächelnd zugehört. Was sollte aber ich mit solcher Weisheit anfangen? Graf Thun erläutert: „Die natürliche Bewegung ist das beste Training für Mensch und Tier. Gymnastische Uebungen macht man zeitweise, aber man bewegt sich den ganzen Tag. Kann man sich richtig bewegen so wird man auch jeden Sport ganz leicht erlernen und die mühselige Dressur des Sportlers wird, was die Grundbegriffe der Körperkultur anbelangt, zu neunzig Prozent erspart.“ Der Mann mit dem Humor kann sich nicht enthalten, diese Belehrung des Grafen Thun fortzusetzen: „Ein Mann, der zehn Minuten täglich trainiert, ganz so, wie es im Büchel steht, und während der übrigen Zeit des Tages seinem Körper alle Bewegungsfreiheit läßt, scheint nur einem Frommen ähnlich, der jeden Sonntag zwar eine halbe Stunde in die Kirche geht, während der übrigen Woche aber nur zum Schaden seiner Mitmenschen auf der Welt ist.“ „Ja, aber wie lernt man sich richtig bewegen?“
Graf Thun behauptet, die aufrechte Bewegung des Menschen sei nicht wesentlich verschieden von der horizontalen des Tieres, sie ist „nur“ transponiert. Er hat die Bewegungen der Tiere jahrelang studiert und nimmt sie als Vorbild für die Übungen, die er den Menschen vorschreibt. Warum aber soll der Mensch Übungen auf allen Vieren machen und warum nimmt Graf Thun gerade das Pferd als ideales Vorbild? — Nun, es gibt eben auch unter den Tieren eine Stufenleiter der Entwicklung und das Pferd dünkt ihm hinsichtlich der Bewegung als das entwickeltste und edelste. Es ist auch einer Veredlung seiner Bewegungen durch den Menschen fähig. Wieder mengt sich der Sarkastiker ein: „Wenn Sie sich beispielsweise einen Igel zum Vorbild nehmen, so zweifle ich stark, ob es Ihnen gelingen // wird, seine Gangart zu veredeln. Aber im übrigen steht Ihnen das frei, Sie können sich auch eine mährische Mastente zum Modell Ihrer Bewegungen erwählen.“
Noch immer aber bleibt für den Besucher die Frage ungeklärt: Warum um Himmels willen dieser Reigen von Menschen, die auf allen Vieren kriechen?
Da setzt sich wieder die Philosophie des Grafen ein: Der Mensch soll deshalb Vierfußbewegungen üben, weil er so zur Grundlage seiner transponierten Zweifußbewegung zurückkehrt und sich selbst auf diese Art ungeahnte Quellen des Körpergefühls, der Balance und der Kraft eröffnet. Tut er dies oft, so kehrt er gewissermaßen zu seinen Uranfängen zurück und — so setzt der Mann mit der Ironie unaufgefordert fort — entwickelt eine Kraft wie der selige Antäus. Und kaum daß er diese Pointe von sich gegeben hat, schöpft er schon neue Kraft, indem er auch die Hände zu Gehwerkzeugen macht und wild davon stürmt. Er sieht weder einem Menschen, noch einem Pferd ähnlich, eher einem anderen Tier, über das der selige Darwin beredten Aufschluß gegeben hat.
Die Groteske dieser Art Körperkultur aber schwindet von Minute zu Minute, wenn man in den Übungssälen des Grafen Thun länger verweilt. Seine Erklärungen sind stets ungemein plausibel. Besonders interessant sind seine Parallelen zur Musik. Die Übungen des Grafen beruhen auf dem „Schritt“, dem „Trapp“ und dem „Galopp“, diesen vier Formen legt er musikalische Taktarten zugrunde. Den Walzer führt er auf den Galoppsprung zurück, dem seiner Ansicht nach der Dreivierteltakt innewohnt. Erinnert man sich recht, so trifft diese Anschauung des Grafen zu. Denn einst wurde der Walzer auf sechs Schritte getanzt und der Anblick der Menschen, die sich in seinem Takt bewegten, glich einer Herde junger Pferde. Und das Schnauben — mengte sich der inzwischen zurückgekehrte Sarkastiker ein —, besorgten die Mütter, die gerührt längs der Wände saßen.
Graf Thun ist aber nicht nur ein Reformator der Körperbewegung, er ist auch Philosoph und Psychologe. Zu seinen Tieren zählt auch immer eine Reihe von Affen, die maßlos auf einander eifersüchtig sind. Wird der eine liebkost, wird der andere böse. Kürzlich befreite sich einer der größeren Affen aus seinem Käfig, stürzte sich auf ein kleines Kapuzineräffchen und erwürgte es auf der Stelle. Und dies nur deshalb, weil der Graf knapp vorher das Äffchen gestreichelt hatte. „Was sollte ich tun?“ erzählt der Graf. „Sollte ich den Mörder strafen? Hätte er gewußt, warum ihm Strafe widerfährt? Ich versuchte es, ihm seine Missetat zu Bewußtsein zu bringen, indem ich ihn ignorierte. Und siehe da, der Affe fing an trübsinnig zu werden, er aß nichts mehr und wäre fast eingegangen, wenn ich mich nicht noch im rechten Moment seiner erbarmt hätte. Und ich Unmensch hätte im ersten Augenblick fast ebenso an ihm gehandelt, wie er an seinem Stammesbruder.“
Man sieht, Körperkultur und Ethik vertragen sich recht gut, wenn man sie nur richtig zu begreifen vermag.
In: Neues Wiener Journal, 15.8.1930, S. 9-10.
N.N.: Der derzeitige Stand der internationalen Kulturbundbewegung
N.N.: Der derzeitige Stand der internationalen Kulturbundbewegung. Mitteilungen des Prinzen Karl Rohan. (1925)
Der Generalsekretär der Fédération Internationale des Unions Intellectuelles, Prinz Karl Anton Rohan, hat kürzlich in einer Pressekonferenz nähere Mitteilungen über die bisherige Tätigkeit sowie über das Aktionsprogramm des Kulturbundes gemacht, wie es schon vom kommenden Herbst angefangen in extensiver Weise zur Durchführung gelangen soll. Man erfuhr von den Fortschritten, die die Bewegung fast allen Ländern Europas bereits gemacht hat. Im Italienischen Kulturbund zum Beispiel sitzen Fascisten und Antifascisten friedlich nebeneinander, was in Anbetracht der hochgespannten Gegensätze gerade in diesem Lande höchst bemerkenswert ist. Internationalen Ausdruck fand die Bewegung zum erstenmal in der gründenden Versammlung der Fédération Internationale des Unions Intellectuelles im vergangenen November in Paris, an der bereits zehn Nationen teilnahmen. Ein genau detailliertes Aktionsprogramm legte sowohl die Ziele als auch die Arbeitsmethoden der nationalen Kulturbundorganisationen fest. Im wesentlichen handelt es sich dabei um die Organisierung des internationalen geistigen Austausches, von Durchreiseerleichterungen, Empfängen Veranstaltung von Vorträgen usw. Auf dem großen
Bankett, das unter dem Vorsitz des jetzigen Ministerpräsidenten Painlevé den Schluß dieses Kongresses bildete, und bei welchem sämtliche Redner in ihrer Sprache begannen, sich selbst übersetzten und Französisch endeten, ereignete es sich zum erstenmal, daß vor einem offiziellen und überparteilichen Frankreich eine deutsche Rede gehört werden konnte. Ja, mehr als das: Als Painlevé dem Vertreter Deutschlands, Kurt Wolfs, das Wort erteilte, brach eine förmliche Applaussalve los. Die menschlich warme Atmosphäre, die dadurch entstand, kennzeichnete auch die darauffolgende Soiree, auf der Deutsche und Franzosen sowie
Angehörige aller möglichen anderen Nationen sich in einer Weise zu einander fanden, als hätte es nie einen Krieg gegeben. Der nächste Internationale Kongreß findet am 2., 3. und 4. November d. J. in Mailand statt.
Dieser raschen internationalen Entwicklung entsprechend war es notwendig auch den Wiener Kulturbund auf eine breitete Grundlage zu stellen. Vor wenigen Tagen erfolgte
die konstituierende Sitzung des erweiterten Gründerausschusses. In der aus diesem Anlasse ausgegebenen Kundgebung heißt es: „Bisher sind in sechs europäischen Hauptstädten Vereinigungen geschaffen worden, die das erschütterte Fundament der gemeinsamen Voraussetzungen geistigen Lebens wieder aufdecken. In ihrer Zusammenarbeit knüpfen sie an die dauernden geistigen Zusammenhänge Europas an, um sie wieder lebendig zu machen
und weiter zu führen. Der „Kulturbund“ und seine Schwesterorganisationen verfolgen dieses Ziel auf dem allein sicheren Boden der freien Berührung einzelner Persönlichkeiten. Er glaubt, seinen Absichten dadurch am besten zu dienen, — daß er sich bewußt jenseits aller politischen Ziele stellt; er ist sich des zuletzt identischen Wesens und Gehaltes Europas sicher, daß er gerade in der Bejahung und Entfaltung der national selbständigen Ideale den Weg zur Erreichung seines Endzweckes sieht. Nach den Jahren des ersten Aufbaues steht der Kulturbund in Österreich bereits vor den ersten praktischen Erfüllungen seines Gedankens Ein internationaler geistiger Verkehr von hoher und lebendiger Intensität ist organisatorisch vorbereitet Er verlangt nun auch in Wien, wo die Bewegung wurzelt, die Teilnahme und Mitarbeit aller jener, die über allen Gegensätzen nicht eine höhere geistige Gemeinschaft und ihre fruchtbaren Anregungen verlieren wollen.
Auskünfte erteilt das Sekretariat des Kulturbundes, Wien, 6. Bezirk, Linke Wienzeile 4.
In: Neue Freie Presse, 22.6.1925, S. 6.
Gina Kaus: Die Kameradschaftsehe
Die Kameradschaftsehe, meint Bertrand Russel, ist die einzige Lösung für die sexuelle Not unserer Jugend. Die Jahre zwischen sexueller Reife und materieller Unabhängigkeit sind erfüllt von dem sinnlosen Kampf, den die gesellschaftliche Heuchelei gegen das natürliche geschlechtliche Bedürfnis führt; dieses Bedürfnis, durch die Schwierigkeiten, die seiner Befriedigung entgegenstehen, gewaltig gesteigert, führt, vom geraden Wege abgedrängt, zu Ausschweifung und häßlicher, verlogener Promiskuität.
Der gerade Weg aber, meint Russel, ist die Kameradschaftsehe. Sie soll sich dadurch von der landesüblichen unterscheiden, daß sie nicht für die Ewigkeit gedacht und deshalb im gegenseitigen Ein-//verständnis ohne weiteres lösbar ist, daß sie nicht zum Kinderkriegen da ist, und daß der Mann keinerlei Alimentationspflicht gegenüber der Frau hat.
Praktisch läßt sich gegen diesen Vorschlag nicht das mindeste einwenden, um so weniger, als er praktisch bereits vielfach durchgeführt wurde, denn es gibt heute in allen Ländern eine Menge sehr junger Menschen, kinderlos, auf Termin und auf „geteilte Rechnung“. Es ist dazu gar kein legislatorischer Akt notwendig, bei gutem Willen von beiden Seiten kann die Kameradschaftsehe bequem durch die Maschen der bestehenden Ehegesetze schlüpfen.
Vor 20 oder 30 Jahren, in Wedekinds Tagen, schien die Erkenntnis, daß die Heuchelei schuld ist an der sexuellen Not der Jugend, unerschütterlich. Sie ist längst erschüttert, und die Beschmuser des Krantz-Prozesses immer wieder eine „Frühlingserwachen“ in der Steglitzer Tragödie sehen wollen, so sahen sie dies aus Blindheit. Denn hier waren Wedekinds kühnste Forderungen erfüllt, die Halbwüchsigen waren nicht nur sexuell aufgeklärt, sie waren auch sich selbst überlassen, betätigten sich wie sie wollten, und wenn sie trotzdem in tiefste Verwirrung gerieten, so zeigt dies, daß die Pubertätsnot auch durch einen passenden Beischläfer und günstige Lösung der Lokalfrage nicht gebrochen wird. Vor allem – diese Pubertätsnot wird nicht so einfach erlebt. Dem kühlen Beobachter auch der eigenen Jugend mag scheinen, daß aller Pein und Angst ein psychologisches Bedürfnis zu Grunde lag, dessen Befriedigung, wie sich später ergab, einfach und ungefährlich war. Er hat dann aber vergessen, daß dieses Bedürfnis, als es seine Adoleszenz verwirrte, nicht zielbewußt auftrat, wie das Bedürfnis nach Speise und Trank, sondern untrennbar verwoben mit den tiefsten und empfindlichsten Persönlichkeitsproblemen. Das ist nun freilich nicht in der Natur, sondern an der „Kultur“ gelegen, aber nicht bloß an jener, die einen Gänsefüßchentritt verdient, weil sie eigentlich Heuchelei heißt, sondern an all dem, was im Verlauf der Jahrtausende aus dem Männchen, das nach einem Weibchen verlangt, einen Mann gemacht hat, der im Weg zum Weib den entscheidenden Weg zum Du sieht, und mit Recht fürchtet, ihn zu verfehlen. Die übertriebene Bedeutung des Geschlechtlichen für den Halbwüchsigen liegt weit weniger am Mangel an Gelegenheit es auszuleben, als an der Angst vor dieser Gelegenheit. Nicht weil er kein Mädchen seiner Kreise findet, sondern weil er vor diesen Mädchen Angst hat, geht der Knabe zur Prostituierten. Es ist die Schülerangst vor einer Prüfung in einem Gegenstand, auf den man sich nicht vorbereiten kann. Es handelt sich um Liebe. „Bin ich ein Mensch, den man lieben kann? Werde ich, wenn ich meine Gefühle an einen anderen Menschen hänge, nicht grausam gekränkt, enttäuscht, verlassen werden? Und was wird die Liebe aus mir machen?“ Das sind //die Fragen, die, gleichzeitig mit dem Geschlechtstrieb auftretend, diesen gefährlich und beängstigend erscheinen lassen; und man müßte nicht nur jeden verschleiernden Puritanismus, man müßte neun Zehntel aller Kunst, Lied und Drama und Malerei von den jungen Menschen fernhalten, um sie daran zu hindern, dem ersten Zusammenstoß mit dem andern Geschlecht mit übertriebener Erwartung und mit Angst entgegenzusehen. Von dieser ängstlichen Erwartung ist ein weites Wegstück bis zum kameradschaftlichen Eheausflug. Eben jenes Wegstück, das so gefährlich ist und an allerlei Abgründen vorbeiführt. –
Bleibt das Problem der Ehe. Für jeden nicht religiösen Menschen kann ein würdiger Sinn der Ehe ausschließlich in der gemeinsamen Verantwortung für die kommende Generation bestehen. Von männlichen Mitgift- und weiblichen Alimentationswünschen abgesehen, kann nur der Gedanke an das Wohl erwünschter Kinder einen Sinn in das tolle Unternehmen bringen: Gefühle, von denen wir wissen, daß sie endlich und unwillkürlich sind, über ihr Ende hinaus unter die Zucht unserer Willkür stellen zu wollen. Junge Menschen haben aber nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, solange sie innerlich und äußerlich nicht imstande sind, sie zu tragen, die Verantwortung für die kommende Generation abzulehnen; wenn sie trotzdem nicht auf die Liebe verzichten wollen, so müssen sie irgendeinen Ausgleich mit der herrschenden Moral treffen, da es nun einmal nicht jedermanns Sache ist, auf die zu pfeifen.
Also Kameradschaftsehe? Eine Interimslegitimation für die Jahre des Prüfens vor dem ewigen Binden, die Jahre des ungenügenden Einkommens und der möblierten Zimmer? Meinetwegen! Aber wissen, daß es eine Konzession an die alte Tante Heuchelei ist, ein Nachgeben vor dem Hotelportier oder der Zimmervermieterin und anderen obrigkeitlichen Instanzen. Und aufgepaßt, daß die alte Tante nicht den Ehrgeiz am provisorisch gedeckten Tisch einnimmt, denn die Legitimität hat’s in sich. „Diese Ehen sollen im gegenseitigen Einvernehmen leicht lösbar sein, ohne Gerichtsverfahren…“ Aber Herr Russel, bei gegenseitigem Einvernehmen ist jede Ehe leicht lösbar (sogar in Österreich, dem schwärzesten Winkel des Erdballs), das Gerichtsverfahren besteht, betreibt man es gemeinsam, in ein paar langweiligen, aber durchaus harmlosen Wegen zu vollkommen desinteressierten Beamten, und alle Scheußlichkeit liegt nur darin, daß eine Scheidung meist erfolgt, wenn das gegenseitige Einverständnis schon getrübt ist. Wenn auch eine solche Kameradschaftsscheidung durch keine Kinder- und Alimentationsprobleme kompliziert wäre, es bliebe dennoch die Hauptschwierigkeit, die Freigabe des einen durch den andern, nämlich es Nicht-mehr-Liebenden durch den Noch-Liebenden; denn die Liebe beginnt zwar meist bei beiden zugleich, und wenn bei dem einen etwas später, so ist // das kein Unglück; aber sie endet leider fast immer bei dem einen etwas früher, und das ist das Unglück.
In diesem Augenblick wird der Liebesenttäuschte, was immer er vordem war, zum Legitimisten, er pocht auf seinen Schein, und das gegenseitige Einvernehmen kommt erst notdürftig zustande, bis in allerlei grausamen Verfahren der letzte Rest Kameradschaft totgetrampelt ist. Es ist ganz unverständlich, warum Herr Russel, wenn er schon die Legislatur bemüht, für seine Kameradschaftsehen, die nichts Drittes schützen sollen, weder ein Kind noch eine sittliche Idee, nicht verlangt, was die Menschenwürde unter allen Umständen gebietet: daß sie gelöst sind, sobald auch nur ein Teil die Lösung wünscht.
Wäre dieser letzte Punkt durchzusetzen, so ließe sich, wie gesagt, nichts dagegen einwenden, daß zwei junge Menschen, um ungestört Weekend-Ausflüge mit erotischen Perspektiven machen zu können, die in Betracht kommenden Instanzen geziemend verständigen, und dafür von ihnen in Ruhe gelassen werden.
In: Das Tage-Buch, H. 10/1928, S. 401-404.
Jacques Hannak: Kunst und Sport
Zunächst einmal müssen Wir zwei falsche Beziehungen aus unserer Betrachtung ausschalten. Nach den im Sport heutzutage überhandnehmenden professionellen Darbietungen könnte man nämlich geneigt sein, in den berufsmäßigen Ausübern des Sports selbst etwas wie eine Künstlertruppe zu sehen. Und umgekehrt ist es ja auch schon vorgekommen, daß man den Heldentenor vor aller Öffentlichkeit als Goalkeeper, den Räuber Moor als Mittelstürmer und die heilige Johanna als Tennisgirl bewundern konnte. Dies beides trifft nicht den Kernpunkt der Frage, im Gegenteil, verwischt nur die wirklichen Zusammenhänge zwischen Kunst und Sport.
Ob man den Artisten — und das ist heute der erstklassige Professionalsportler — einen Künstler nennen soll, ist Frage der Definition‚ und Wir mischen uns in diese Wortabgrenzung gar nicht ein. Die interessiert uns auch nicht, weil wir gerade umgekehrt prüfen wollen, worin sich Sport von aller übrigen Kunstausübung unterscheidet, warum er wert ist, als eine Erweiterung des Lebensgenusses aufgefaßt zu werden, die nicht schon im Bereich der Kunst liegt, ihr immanent, sondern jenseits ihrer Grenzen gesucht werden muß. Und ebenso werden wir uns nicht aufhalten bei der Betrachtung von Theaterkünstlern, Schauspielern, Sängern, die aus oft sehr durchsichtigen Gründen ihrem Publikum anstatt von den Weltbedeutenden Brettern einmal Vom grünen Rasen des Sportplatzes her kommen wollen.
Wenn wir also wirklich ernste Beziehungen zwischen Kunst und Sport herstellen wollen, dürfen und können wir uns gar nicht daran halten, daß auch der Piccaver Fußball spielt und daß auch der Uridil schon auf der Bühne aufgetreten ist, sondern müssen in die Tiefe gehen, müssen die Wirkungen untersuchen, die Kunst und Sport auf die Massen ausüben. Da ist zunächst eine charakteristische Unterscheidung zu machen: die Kunst fordert den Zuschauer, den Betrachter, der Sport fordert den Ausübenden. Das heißt: Nicht jeder kann Theater spielen, nicht jeder kann malen, nicht jeder kann künstlerisch tanzen, aber jeder kann Sport betreiben, jedermann steht es offen, zu schwimmen, zu rudern, zu ringen, Fußball zu spielen, zu wandern, Ski zu fahren. Das Wesen der Kunst ist der Künstler, das Wesen des Sports ist der Dilettant. Gewiß gibt es auch Dilettantentheater, Dilettantenmusikkonzerte‚ Dilettantenzeichner und -maler, aber ihr Vergnügen wird auf private Zirkel beschränkt bleiben, wird eine unter Umständen geistig sehr hoch stehende, aber doch private Betätigung sein. Und anderseits gab und gibt es gewiß auch weltberühmte, ganz in die Öffentlichkeit gerückte Sportler, Wie: Nurmi, Suzanne Lenglen, Vierkötter, Lindbergh‚ berühmte Fußballmannschaften‚ wie: Newcastle United, Prager Sparta oder Uruguay. Aber gerade weil diese Auserwählten‚ Auserlesenen vor aller Welt‚ vor einem Parkett von Kunstgenüßlingen spielen und agieren‚ hat man instinktiv den Sport gegen diese Berühmtesten des Sports — abzugrenzen begonnen. Die tiefe Abneigung, die im Volke gegen den Sportprofessionalismus besteht, die übrigens unverdiente Geringschätzung, die die breiten Massen denselben Professionals, an deren Sportartistik sie sich begeistern, innerlich entgegenbringen‚ sie ist der sicherste Beweis dafür‚ daß man in den „großen“ Sportveranstaltungen wohl eine Schau, wohl ein erstklassiges Theater erblickt, aber nicht das wirkliche Wesen des Sports. Auf einem Krautacker‚ wo ein paar bloßfüßige Buben sich um einen Fetzenball balgen, auf einer Wiese, wo Ausflügler fröhliche Übungen im Springen und Laufen austragen, in einem Schwimmbassin, wo durcheinander alt und jung, Männlein und Weiblein, Patzer und Könner im //
In: Der Kampf, H. 7 (Okt.) 1927, S. 2-3.
Else Feldmann: Die Stätte des Grauens
Mitten unter Gärten ein riesiger Palast, weiß und blank mit prachtvollen Steinfliesen, alles voll Sonne, Sauberkeit, wohin man blickt, die Hälfte der Wände ist getäfelt, alles andere mit Ölfarbe gestrichen, weiße Lackmöbel in den großen Sälen; hier ist allen „Anforderungen der Neuzeit“ Rechnung getragen, ein Schaustück moderner Einrichtung, wie überhaupt modernen Wesens, ein „Triumph der Hygiene des XX. Jahrhunderts“ mit seiner weißen Helle: das ist Lainz, die Stätte des Grauens; denn wenn man näher hinsieht – und das Nahehinsehen auf die Dinge erscheint mir erste Menschenpflicht, erster Weg der Erkenntnis zum Unterschied von der „Wegschau-Theorie“, die von ganzen Ländern und Staaten geübt wird – mit welch traurigem Erfolg, wissen wir – wenn man näher hinsieht, bemerkt man, daß dieses weiße Glänzen wie ein Symbol auf diesem Riesenhause mit seinen 5800 Einwohnern liegt – es ist ein einziges weißes Totenlaken.
Versorgungshaus – Siechenhaus, welche Grausamkeit schon in den Namen! Wenn keine andere Qual an den Seelen dieser Unglücklichen zehrte, sie hätten allein damit genug: es ständig zu fühlen und zu wissen, daß sie sich im Siechenhause befinden.
Die Ideen großer Menschen von Plato bis Popper-Lynkeus beschäftigen sich mit den Fragen: Wie verringert man die Leiden der Menschen? Wie stellt man es an, die Menschen glücklicher zu machen?
In Lainz wird nach der umgekehrten Methode vorgegangen.
Es gehörte das Genie der Brüder Goncourt dazu, zu schildern, wie an wehrlosen, alten Menschen Grausamkeiten begangen werden. Ich kann auf dem kleinen Raum einer Tageszeitung heute nicht mehr als einige Stichproben geben von dem, was ich gesehen und erlebt habe.
Da ist zunächst der Belag. 4000 Menschen haben Platz. Seit den letzten Jahren ist ein steter Überbelag von 1800, im ganzen sind es also 5800 Menschen, daher sind in jedem Zimmer, in jedem Saal die Erdlager. Die alten, kranken Menschen liegen auf einer Matratze am Fußboden — eine Sterbende sah ich dort liegen, sie hatte die Hände gefaltet und sah mich mit verglasten Augen an; sie war ein Menschenskelett mit weißem Haar: eine Verhungerte. Es sterben täglich (an Normaltagen) zehn bis fünfzehn Personen; dafür werden täglich fünfzehn bis zwanzig neue eingebracht, manchmal auch dreißig bis vierzig. Seit die Not in Wien so groß ist, werden die alten Leute, die vor dem Krieg ruhig in den Familien ihr Leben zu Ende leben konnten, in Lainz abgegeben. — Es ist begreiflich: ein Mensch mehr kann heute in einem armen Haushalt ein Verhängnis ein — wie erst ein Mensch, der alt, krank und pflegebedürftig ist, teure Arzneien braucht. Man entledigt sich der alten Leute, man gibt sie nach Lainz, um wieder seine zwei Hände frei zu bekommen. Daher die Überzahl und Erdlager.
In zweiter Reihe steht die Ernährung. An dem Tage, an dem ich draußen war, gab es zu Mittag Wassersuppe, Haferreis mit Bohnen; an einem andern Tag war Gerstel mit Bohnen; die Schwerkranken bekommen Milchreis, aber von Milch ist nicht die Spur; ich habe es gekostet, es schmeckt so ekelhaft und abscheulich, daß einem davon schlecht wird. Die Bohnen waren hart, der Haferreis stach wie Nadeln, das ganze war pappig, ohne Fett und roch angebrannt. Um 11 Uhr rollten die Fahrküchen durch die Säle, um 12 Uhr kamen sie die Teller holen, ein Rieseneimer holte die übriggebliebenen Speisen; aus einem Saale mit vierzig Kranken kam ein voller Eimer heraus; die Kranken hatten fast alles stehen gelassen — mancher Teller war nicht berührt und so wanderte das Essen sofort zu den Schweinen in den Stall, die dick und fett werden. Begreiflich — ein alter, schwacher Magen kann harte Bohnen und stacheligen Hafer nicht vertragen; auf diese Weise bleiben die alten und siechen Leute selbst ohne dieses Minimum Nahrung. Sie gehen an Entkräftung zugrunde. Man soll es nicht glauben, wie zähe so ein altes Leben sein kann; so ein Sterben dauert oft Wochen, ja Monate. Wenn nie an Sterbehilfe gedacht werden kann, hier könnte wirklich daran gedacht werden, und es wäre nur eine Tat der Menschlichkeit. In Lainz, in diesem Riesenpalast, drängt sich einem der Gedanke der Sterbehilfe auf, wie nirgends sonst.
Ich muß mich damit begnügen, das Körperliche erzählt zu haben — und dann muß man, wie gesagt, auch ein Goncourt sein…
***
Die ergreifende Schilderung unserer Mitarbeiterin, deren Zuverlässigkeit wir erprobt haben, läßt leider keinen Zweifel daran aufkommen, daß auch das sozialistisch-republikanische Regierungssystem unfähig ist, den Ärmsten der Armen einen lebenswürdigen Unterhalt zu gewähren. Mit Erstaunen wird man schließlich fragen, wo bleiben die nach Hunderten von Millionen Kronen bewerteten Liebesgaben der fremden Missionen, wenn die gebrechlichen, schwer leidenden Greise des Siechenhauses Hungers sterben müssen?
In: Neues Wiener Journal, 11.4.1920, S. 6.
Ernst Fischer: Das Unbehagen in der Kultur.
Sigmund Freud, der große Begründer der Psychoanalyse, versucht mit wachsendem Bemühn, die Methoden und die Erkenntnisse seiner Lehre zur Deutung gesellschaftlicher Erscheinungen heranzuziehn. Waren schon Totem und Tabu und die Massenpsychologie bedeutende Versuche, Entwicklungsgeschichte und Sozialprozesse psychoanalytisch zu enträtseln, so sind seine beiden letzten Schriften Die Zukunft einer Illusion und Das Unbehagen in der Kultur großartige Auseinandersetzungen mit der Religion und mit der Kultur.
In dem ersten der beiden mit diamantener Klarheit und wunderbarer Präzision geschriebenen Bücher wird die Religion als infantile, kindische, illusionistische Weltanschauung entlarvt. Gedankenbeladener aber und perspektivenreicher als dieses mutige Bekenntnis eines freien Geistes ist die Untersuchung über das Wesen und die Problematik der menschlichen Kultur, die tiefe Analyse des „Unbehagens“, das untrennbar, unlösbar mit ihr verknüpft ist. Wir finden in dieser Schrift soziologische Gedankengänge, die höchster Bedeutung, eindringlichster Durchdiskutierung wert sind. Man wird sehen, daß dieser gewaltige Denker in seiner dialektischen Psychologie eine Ergänzung zu unserer dialektischen Geschichtsbetrachtung bringt, deren geistige Wirkung noch gar nicht abzuschätzen ist.
Das Buch beginnt als Kommentar zu der Religionskritik, die Freud in der Zukunft einer Illusion entwickelt hat. Ein Freund schreibt ihm, er habe die Religion nicht richtig verstanden, sie sei mehr als ein kindisches System, sie sei ein „ozeanisches“ Gefühl; Freud erwidert, er müsse bekennen, daß ihm dieses ozeanische Gefühl völlig fremd sei, trotzdem wolle er versuchen, ihm wissenschaftlich gerecht zu werden. Dieses ozeanische Gefühl sei zweifellos älter als das Ichgefühl und das Ichbewußtsein, es sei das Lebensgefühl des Säuglings, des kleinen Kindes, das noch nicht gelernt hat, sich von der Welt zu isolieren, das noch mit allen Dingen unmittelbar und hemmungslos verbunden ist wie mit der Mutterbrust. „Unser heutiges Ichgefühl ist also nur ein eingeschrumpfter Rest eines weitumfassenden, ja eines allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ichs mit der Umwelt entspricht.“ Das „ozeanische“ Gefühl des religiösen Menschen ist Erinnerung an das lebenstrunkene Glück des noch nicht zum Ichbewußtsein erwachten,// noch nicht zur Persönlichkeit verknoteten Menschen, ist ein Zurücktauchen in den Urzustand, in den Infantilismus. Das Lebensgefühl des Kindes, die Bindung an einen mächtigen Vater, der straft und lohnt, ist der entscheidende Inhalt aller Religionen.
Zwei Elemente aber wirken mit: die Frage nach dem „Zweck“ des Lebens und das „Schuldgefühl“ aller Menschen, das „schlechte Gewissen“, das Gewissen überhaupt.
Mit der intellektuellen Rechtschaffenheit des strengen Forschers lehnt Freud es ab, über den „Zweck“ zu philosophieren, all den tiefsinnigen Kauderwelsch über den „Sinn des Lebens“ wiederzukäuen. Metaphysik ist ihm zuwider; er überläßt sie den intellektuellen Falschmünzern aller Art und schlägt sich lieber mit den Dämonen der Tiefe als mit den spinnwebdünnen Engelsgestalten fragwürdiger Überwelten herum. Er schiebt also alle Behauptungen über den „Sinn des Lebens“, die von den Menschen vorgeschoben werden, sacht und behutsam wieder zurück und beschäftigt sich nur mit dem, was alle Menschen wirklich erstreben, was stets die Zweckrichtung ihres Denkens und Tuns bestimmt; das aber, was wir suchen, in mannigfaltigen Formen und auf vielfach verschlungenen Wegen, ist das Glück. Und das ist zweierlei: Lustgewinnung und Leidvermeidung. Positiv: die Erhöhung, die Steigerung des Lebensgefühls in Lust; negativ: die Sicherung des Lebens gegen Leid, gegen Schmerz.
Die Tendenz der Kultur ist Leidvermeidung, Beseitigung, wenigstens Verminderung der Gefahren, Schmerzen und Leiden, die dem Menschen von der Natur, von den Mitmenschen und von den eigenen Trieben drohen. „Das Wort Kultur bedeutet die ganze Summe von Leistungen und Einrichtungen, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz der Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“, definiert Freud in erfreulichem Gegensatz zu den Mystikern und romantischen Schwindlern, die uns einreden wollen, „Kultur“ sei ein geheimnisvolles, überirdisches Wesen und unterscheide sich ganz und gar von der „Zivilisation“. Vielleicht müßte man ergänzend noch sagen, daß die Kultur nicht nur die Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen, sondern auch die Beziehungen des Menschen zu sich selber, zu seinem eigenen Ich, zu regeln versucht; aber davon wird noch die Rede sein.
Die Grundelemente der Kultur sind nach Freud: Naturbeherrschung, Reinlichkeit, Ordnung, Schönheit, Geistigkeit und Gerechtigkeit. Die meisten dieser Kulturelemente müssen teuer bezahlt werden: mit einer ungeheuren Einschränkung der Triebfreiheit, mit einem Verzicht auf hemmungslose Lustgewinnung, mit einer Unterwerfung des Menschen unter mannigfaltigen Zwang; denn der Mensch ist durchaus nicht reinlich, ordentlich, geistig und gerecht. Die Kultur produziert also nicht nur Dämme gegen das Leid, nicht nur Sicherungen und Annehmlichkeiten, sondern auch Unlustgefühle; denn jede Drosselung eines Triebes bringt Unlust. Es entsteht daher zweierlei: ein Mißtrauen des Menschen gegen die Leistungen und Einrichtungen der Kultur, die dumpfe Frage, ob all der Komfort nicht zu teuer bezahlt, ob all der Fortschritt nicht ein Betrug sei, und eine leidenschaftliche Sehnsucht nach der Freiheit und Anarchie des Urzustandes, der phantastisch verklärt und überwertet wird. Das Märchen von einem verlorenen Paradies, einer „ozeanischen“ Freiheit und Seligkeit bemächtigt sich vieler Menschen; das „Unbehagen in der Kultur“ wird zur Kulturfeindschaft, zur Rebellion gegen die Kultur. Diese Rebellion ist entweder eine kindische Verneinung aller Kultur oder eine Verneinung dieser unvollkommenen, widerspruchsvollen Kultur, in der wir leben (reaktionäres Rebellentum der Maschinenstürmer aller Art oder revolutionäres Rebellentum des Sozialismus). Schließlich bleibt für den einzelnen, der sich um sein Triebleben geprellt, allzu vieler Lustmöglichkeiten beraubt sieht, noch die Flucht in Rausch und Neurose, der Auflehnungsversuch der Psychose.
In diesem Zusammenhang prägt Freud ein Wort von erschreckender Intensität. Er weist darauf hin (schon Nietzsche hat darauf hingewiesen), daß wir den Göttern der alten Religionen immer ähnlicher werden; sie waren „geschwind wie der Wind“, flogen über Länder und Meere, lebten hoch im // Gebirge, das kein Mensch erstieg— unsere Technik hat diese ältesten Menschheitsträume zum Teil verwirklicht, „die Götter waren Kulturideale“, wie Freud das formuliert. Aber es wird uns vor unserer Gottähnlichkeit bange, wir sind abhängig von Apparaten und Maschinen, es fehlt uns die schwebende Heiterkeit des Olymps. Der Mensch der Technik ist ein „Prothesengott“. Es gibt nur wenige Worte, die mit solch unheimlicher Sicherheit unser Schicksal demaskieren.
Dieser Prothesengott, der die Natur seinem Willen zu unterwerfen versucht, muß auch die eigene Natur den kulturellen Leistungen und Einrichtungen unterwerfen. Er muß auf anarchische, die Ordnung, die Reinlichkeit, die Gerechtigkeit gefährdende Triebe verzichten, er muß andere, mit Urgewalt das Leben vorwärtstreibende Triebe sublimieren. Wie er den Wasserfall zwingt, in tausend Gassen und Stuben elektrisch leuchtende Augen aufzuschlagen, so muß er seine Sexualität zwingen, in Arbeit und Politik, in Kunst und Wissenschaft sich schöpferisch zu wandeln. Die Einschränkung des Sexuallebens ist eine der wichtigsten Kulturforderungen. Die „vollsinnliche Liebe“, die sich naturhaft-tierisch im Sexualakt befriedigt, wird zurückgedrängt, die „zielgehemmte Liebe“, der Eros, der Ideale produziert und gesellschaftliche Leistungen vollbringt, gewinnt an Macht und Einfluß. „Das Sexualleben des Kulturmenschen ist schwer geschädigt; es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung begriffenen Funktion, wie unser Gebiß und unser Kopfhaar als Organe zu sein scheinen.“ Eine der bedeutendsten Möglichkeiten der Lustgewinnung, vielleicht die bedeutendste, die Sexualität, wird also mehr und mehr der Kultur, der Sicherung des Menschen, zum Opfer gebracht; man könnte — und auch da findet man bei Freud Grundlegendes — von einer teilweisen „Kastration“ der Menschheit durch die Kultur sprechen. Kein Wunder, daß ein wachsendes Unbehagen in der Kultur entsteht!
Aber wichtiger noch als die Einschränkung der Sexualität ist die Einschränkung
des „Aggressionstriebes“, wie Freud die asozialen und antisozialen Instinkte des Menschen nennt. Der Mensch ist der Feind des Menschen — die Kultur aber fordert: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ Diese „Idealforderung“ ist übertrieben und unerfüllbar; mit großer Skepsis lehnt Freud sie ab, nicht nur, weil der „Nächste“ keineswegs liebenswert ist, sondern auch, weil eine so allgemeine und allumfassende Liebe den Eros verdünnt und entwest. Aber der Forscher konstatiert: Wie mächtig, wie unüberwindlich muß der Aggressionstrieb sein, wenn die Kultur ihm solche extreme Gebote entgegenschleudert, wie leidenschaftlich das Verlangen, ihn zu befriedigen, wenn als Sicherung gegen ihn das Unmögliche gefordert wird! Der Mensch darf den „Nächsten“ nicht schlagen, nicht quälen, nicht töten— nein, er soll ihn lieben, er soll ihn wenigstens unangetastet lassen. „Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht.“ Die Entladung des Aggressionstriebes ist Lustgewinnung, der Mensch ist nicht gut — aber die Sicherheit gebietet, daß man ihm diese Lustgewinnung verwehrt.
Die Gewalt des Aggressionstriebes erkennend — und wahrlich: nur ein oberflächlicher Optimist kann leugnen, daß in jedem Menschen ein wildes Tier nach Entfesselung lechzt! —, ist Freud gezwungen, nicht nur einen Urtrieb, die Sexualität, den Eros, anzunehmen, sondern ihm einen zweiten entgegenzusetzen, den Zerstörungstrieb, den Destruktionstrieb, den Todestrieb. So verführerisch das klingt— Freud selber scheint bei der Einführung des Todestriebes in sein System ein leises Unbehagen zu fühlen. Er findet, wie er selber sagt, für den Nachweis des Todestriebes nicht das große wissenschaftliche Material wie für andere Elemente seiner Lehre, und er sieht sich außerdem genötigt, eine Theorie, die ihm besonders lieb war, die Libido-Theorie, wesentlich einzuschränken. Er hat lange Zeit hartnäckig behauptet, daß die Libido (das sexualbetonte Verlangen), das Urwesen jedes Triebes, das Urphänomen des Lebens sei. Nur langsam hat er, in unterirdischen Auseinandersetzungen, mit Alfred Adler und C. G. Jung, die Libido-Theorieabgeschwächt: Adler lehrt, die Libido, der Sexualtrieb, sei nur eine Form des // Geltungstriebes, des Willens zur Macht; Jung behauptet, die Sexualität sei die einzige Urkraft, aber ein Stück dieser Urkraft sei von der Kultur aufgesogen, umgewandelt, „desexualisiert“ worden und stehe nun der Sexualität als etwas Fremdes gegenüber. Nach tiefem Zögern hat Freud sich veranlaßt gesehen, der Sexualität einen anderen Trieb, den Todestrieb, entgegenzusetzen, und die Libido-Theorie folgendermaßen zu formulieren: „Ein jeder Trieb ist Libido belegt, aber nicht alles an ihm ist Libido.“ Eros und der Todestrieb sind die großen Gegenspieler.
Außenstehenden war die Libido-Theorie nie so wichtig wie den orthodoxen Psychoanalytikern; trotzdem scheint die neue Formel nicht unbedenklich. So sehr der düstere Dualismus Freuds, die Lehre, daß ewiger Zwiespalt, ewige Gegensätzlichkeit das Wesen des Lebens ist, unserem Dasein und seinen Problemen gerechter wird als jeder „Monismus“, jede Erklärung menschlichen Fühlens, Denkens und Tuns aus einer einfachen Wurzel — so regt sich doch die Frage, ob diese Gegensätzlichkeit, das Widerspiel „Eros — Todestrieb“ unser Leben beherrscht. Daß der Zerstörungstrieb, der Todestrieb nicht etwas Krankhaftes, „Unnatürliches“ ist, sondern ein urgewaltiges Element, könnte hundertfältig nachgewiesen werden: aber ist es methodisch richtig, diesen Destruktionstrieb vom Eros zu trennen, ihn dem Eros entgegenzusetzen? Ist er nicht vielmehr mit dem Eros identisch, ein Teil von seiner Kraft, enthalten im Wesen aller Lust? In vielen alten Mythologien ist der Gott der Lust auch der Gott der Zerstörung, sind Zeugung und Vernichtung nur zwei Funktionen einer dämonischen Macht. Und daß sie sich selber vernichten will, ist charakteristisch für jede Lust. Sollte die Dialektik des Lebens, der tragische Zwiespalt unseres Daseins, nicht in einer anderen Antithese, in einer anderen Gegensätzlichkeit zu suchen sein?
Ehe wir versuchen, diese Frage zu beantworten (mag sein, daß die Antwort falsch sein wird!), müssen wir uns mit der entscheidenden sozialpsychologischen Entdeckung Freuds beschäftigen.
Untrennbar verknüpft mit aller Kultur ist das Schuldgefühl, das schlechte Gewissen, das Gewissen überhaupt. Was aber bedeutet das?
Die Kirchengläubigen machen sich die Antwort leicht: „Das Gewissen ist die Stimme Gottes in den Menschen — und damit Schluß!“ Wir hingegen haben uns daran gewöhnt, zu sagen: „Das Gewissen ist die Stimme der menschlichen Gesellschaft im Individuum.“ Aber so richtig das ist, immer bleibt doch die Frage bestehen: Und wie gelingt es der menschlichen Gesellschaft, in jedem einzelnen zur Instanz des Gewissens zu werden? Wie verwandelt sich die Autorität in eine „innere Stimme“? Wie Angst vor der Strafe in Schuldgefühl? Durch welchen Mechanismus wird es bewirkt, daß objektive gesellschaftliche Notwendigkeiten (Sitte, Sittlichkeit, Moral) zu subjektiv empfundenen ethischen Verpflichtungen werden? Daß wir uns vor Strafe fürchten, ist durchaus plausibel— aber daß wir uns selber für Gedanken und Wünsche, deren Realisierung von der Gesellschaft bestraft würde, mit schlechtem Gewissen strafen, wie wollen wir das erklären?
Freuds Genialität hat eine Erklärung gefunden.
Der Meister der Psychoanalyse sagt: Das Gewissen ist nichts anderes als der Aggressionstrieb, der Zerstörungstrieb, dem es verwehrt wird, nach außen zu wirken, der sich daher nach innen entlädt. Dem „Ich“ wird ein sadistisches „Über-Ich“ zugesellt, das mit der Kultur, mit all den Hemmungen und Zurückdrängungen des Destruktionstriebes wächst. Denn der Destruktionstrieb ist unsterblich: läßt die Gesellschaft ihn nicht frei, so rächt er sich am Individuum.
Und wie entsteht dieses „Über-Ich“, dieser grausame Peiniger, dem sich das „Ich“ unterwirft?
Zuerst, so lehrt Freud, entsteht das „Ich“. Daß das „Ich“, das Persönlichkeitsbewußtsein, nicht mit uns geboren wird, daß es sich erst allmählich kristallisiert, wissen wir alle erfahrungsgemäß. Der Säugling ist aufgelöst in dem „ozeanischen“ Gefühl, von dem schon die Rede war; er fühlt sich eins mit dem Mutterleib, mit allem, was ihn umgibt. Langsam wird er gezwungen, // zu unterscheiden: war die Geburt die erste Trennung, das erste Zerreißen allumfassender Zusammenhänge, so ist die Verweigerung der Mutterbrust, die Entdeckung des eigenen Körpers eine weitere Trennung. Und nun wird ununterbrochen das Leben des Kindes eingeschränkt; die erste „Erziehung“, das Aufrichten mannigfaltiger Hemmungen beginnt. Andererseits aber reißt das Kind Stücke der Welt, aus der es sich löst, gierig in sich hinein; was wir „Nachahmung“ nennen, ist nichts anderes als der Prozeß der Aneignung, ja, der Identifizierung mit den Menschen rings um das Kind, in erster Linie also mit den Eltern. Das Kind stopft immer mehr Umwelt in sich hinein, erfüllt sich mit Wort und Bewegung, mit reichem Lebensmaterial; es unterscheidet die Dinge, die Menschen, es scheidet, unterscheidet sich selbst von der Umwelt— aber noch immer ist es kein „Ich“. Jeder weiß, daß das Kind längst schon eine „Persönlichkeit“ ist, aber noch immer von sich und den anderen Menschen in der dritten -Person spricht, daß es längst schon einen trotzig-betonten Eigenwillen hat, aber ohne das dazugehörige „Ich“. Nicht: „Ich mag nicht!“, sondern: „Der Poldi mag nicht!“ ist die Kundgebung dieses seines Willens.
Das „Ich“ entsteht nun (allerdings schon in frühem Stadium, lange vor der Bewußtwerdung) aus der Liebe des Kindes zu seinem eigenen Körper, zu seinem eigenen Selbst. Diese frühe Sexualität, diese „Autoerotik“, wird schöpferisch und erfindet, zur eigenen Lust, das eigene „Ich“, das Subjekt-Objekt der Liebe, bündelt alles der Umwelt entrissene Material zusammen, eignet es im „Ich“ sich selber zu, sich selber an.
Und das „Über-Ich“? Das Kind empfängt alles von den Eltern (oder von den stellvertretenden Erwachsenen), es „identifiziert“ sich mit ihnen, es liebt in ihnen sein eigen Ich. Aber auch alles Unangenehme kommt von den Eltern, alle Einschränkung der Freiheit, alle Hemmungen der Triebe, alle Unlust des Verzichtenmüssens; so haßt das Kind in den Eltern auch das ordnende, das strafende, das „kulturele“ Prinzip, die Gewalt der Autorität und die Macht des Gesetzes. Untrennbar verschlungen sind beide Elemente: Liebe und Haß, Eros und Aggressionstrieb. Das Kind will seinen Eltern gleichen, den großen, allwissenden und allmächtigen Göttern, es spielt „Vater und Mutter“, es identifiziert sich mit den Allesüberragenden. Gleichzeitig will sich das Kind an den Eltern rächen, will es das Verhältnis umkehren, will es sie schlagen und „erziehen“, wie es selber geschlagen und „erzogen“ ird — aber wie kann es das in seiner Schwäche und Ohnmacht? Es wendet, so sagt Freud, den Aggressionstrieb gegen sich selber, gegen Vater und Mutter, die es in sein eigenes Ich aufgenommen, mit denen es sich identifiziert hat. Der Mechanismus der „nach innen verschobenen Aggression“ produziert das Gewissen, das „Über-Ich“.
Entwicklungsgeschichtlich stellt sich das in einem wissenschaftlichen Mythos dar, für den exakte Beweise fehlen, der aber recht überzeugend klingt: Die Söhne der „Urhorde“ erschlagen“ den Urvater, den fürchterlichen Tyrannen. Da er tot ist, erlischt der befriedigte Haß und das Gefühl erwacht: Wir haben einen Menschen getötet, den wir liebten. So entsteht das Schuldbewußtsein, die Reue — vor dem Schuldgefühl und dem Gewissen. Dann aber wird das „Über-Ich“ aufgerichtet: die Angst, ermordet zu werden, wie der Vater ermordet wurde, produziert gesellschaftliche Sicherungen dagegen, der gehemmte Zerstörungstrieb wendet sich nach innen, gegen das „Ich“, das sich mit dem toten Vater identifiziert. Mit einem Mord hat die Kultur begonnen; sie setzt dem Vernichtungstrieb „Leistungen und Einrichtungen“ entgegen, aber der Dämon ist unüberwindlich. Er zerfleischt nicht mehr den Vater, den Bruder, den Mitmenschen (wenigstens ist das Nicht die Regel), er zerfleischt, nach innen wütend, den Vater, den Bruder, den Mitmenschen in der Seele des Individuums. „Das Gewissen entsteht durch Unterdrückung einer Aggression und verstärkt sich durch jede neue Unterdrückung.“ So wächst mit der Kultur das Gewissen, das Schuldgefühl, das „Über-Ich“ — und mit ihm das Unbehagen in der Kultur.
Damit werden auch zwei scheinbare Widersprüche erklärt: daß das Gewissen desto feiner, desto unerbittlicher funktioniert, je weniger der Mensch „sündigt“, und daß Unglück das Schuldgefühl steigert. Der Mensch, dessen Aggressionstrieb weniger gehemmt ist, entlädt ihn weniger nach innen als der Mensch, der nichts „Böses“ tut und daher alles in seinem „Über-Ich“ aufspeichert. Oder: das Kind, das weniger geschlagen wird, findet weniger äußere Anlässe, gegen die Eltern loszugehen als das verprügelte, verwahrloste Kind — daher wächst sein Gewissen, sein Schuldgefühl. Das Unglück jedoch wird instinktiv als Strafe gewertet: wer aber straft, an wem soll der Mensch sich rächen? Er findet im eigenen Ich den strafenden Vater und züchtigt ihn mit Schuldgefühl und schlechtem Gewissen.
Ist dieser Mechanismus zu kompliziert? Nun: alles, was die Menschen als „selbstverständlich“ abtun, ist in Wahrheit verteufelt kompliziert. Trotzdem glaube ich, daß manches anders, wenn man will, „einfacher“, zu deuten wäre als Freud es deutet. Er hat uns den Weg gezeigt und die Mittel gegeben — versuchen wir, mit seinen Elementen unsere Auffassung, das Gewissen sei die Stimme der menschlichen Gesellschaft im Individuum, zu stützen.
Wir haben geschildert, wie das „Ich“ entsteht: aus einer Fülle von Elementen, die das Kind sich aneignet, die es, alle Erwachsenen „nachahmend“, in sich aufnehmend, in sich aufstapelnd, zu einem Bündel zusammenfaßt, der Umwelt entreißt und im Ichbewußtsein ordnet; dazu kommen alle die Einschränkungen, alle die Hemmungen und Zwänge, die das uferlose Lebensgefühl dämmen und in Maß und Regel zurückdrängen. Wesentlich daran ist, daß sich das „Ich“ aus lauter gesellschaftlichen Elementen zusammensetzt; denn alles, was die Eltern, die ersten Erzieher, sagen und tun, ihr Gang und ihre Sprache, ihre Meinungen und ihre Gewohnheiten, sind ja allgemeinstes Gesellschaftsgut. Nicht sie haben die Worte erfunden, die das Kind von ihnen lernt, die Gesellschaft hat sie produziert, sie sind das eigentliche Medium des Sozialen, der menschlichen Beziehungen, nicht sie haben ihre Meinungen und ihre Gewohnheiten erdacht, sie teilen sie mit Millionen, sie sind, als Erzieher und als Vorbilder, einfach die Repräsentanten des Menschengeschlechtes, der menschlichen Gesellschaft, Menschheitsgöttern gleich über das Kind geneigt. Das ganze Material des „Ich“, alle Erfahrungen, alle Erkenntnisse, alle Einschränkungen, sind also nur ein Stück Gesellschaft; trotzdem ist das „Ich“, in sich selber verliebt, Isolierung von der Gesellschaft, Loslösung, Losreißung von der ganzen Umwelt, lustvolle Verkrampfung in das eigene Wesen. Daher ist der Zwiespalt von allem Anfang an da: aus gesellschaftlichen Elementen bestehend, ist das „Ich“ gleichzeitig das, was sich in schroffsten Gegensatz zu allem „Nicht-Ich“ stellt — und diese dialektische Spannung, diese Vereinigung tiefster Widersprüche ist sein wahres Wesen. So entsteht gleichzeitig mit dem „Ich“ das „Über-Ich“, die Gesellschaft im Individuum, die Summe aller Erfahrungen, Erkenntnisse, Einschränkungen, denen das „Ich“ seine Existenz verdankt.
Das Ich hat nur eine Tendenz, kennt nur einen Trieb— den leidenschaftlichen Willen, sich immer radikaler zu isolieren, sich selber in höchster Freiheit und Macht, in höchster Erotik und Schöpferkraft zu genießen, sich immer mehr Umwelt anzueignen, in Liebe und in Zerstörung, in Selbstvergottung und Weltvernichtung. Die Gesellschaft hat nur eine Tendenz: sich gegen Gefahr und Zerstörung, gegen den hemmungslosen Lust- und Vernichtungstrieb zu schützen, zu konservieren, zu erhalten, zu mäßigen. Zwei Urtriebe prallen gegeneinander, in der Geschichte und in der Seele jedes Menschen: der Erhaltungstrieb (Arterhaltungstrieb, Selbsterhaltungstrieb, „Wille zum Leben“) und der Steigerungstrieb (Lusttrieb, „Wille zur Macht“, die Terminologie ist nicht so wichtig). Der dionysische Lust- und Todestrieb, der das „Ich“ erzeugt hat, und der apollinische Erhaltungstrieb, der die Gesellschaft produziert und das Leben zu sichern bemüht ist, sind aber so ineinandergekettet, ineinandergewoben, daß einer ohne den anderen nicht bestehen kann, obwohl einer der Todfeind des anderen ist. Sie sind das „Ich“ und das „Über-Ich“, verknotet in einer Seele, diese Seele ununterbrochen // gestaltend, sie sind die Persönlichkeit und die Gesellschaft, der Eros und die Vernunft. Ja, ihre Verschlingung ist so intensiv, daß einer sich oft die Maske des anderen leiht, daß einer sich oft des anderen bedient, um seine Pläne durchzusetzen: Der Erhaltungstrieb bedient sich bei der Fortpflanzung des Lusttriebs, der Lusttrieb bedient sich des Erhaltungstriebes, wenn er den Menschen vorgaukelt, irgendein Abenteuer, ein Nordpolflug oder die Jagd nach einer Frau seien eigentlich sehr nützlich und vielleicht sogar ein Dienst an der Menschheit. Darin, in diesem tragischen Dualismus, in diesen ewigen Versuchen des Ich, alle Hemmungen zu zerstören und allen Schranken zu entfliehen (was ihm im Tode, sich selbst vernichtend, gelingt), und in den ewigen Versuchen der Gesellschaft, jede Regung des Ich zu unterdrücken, mag das innerste Wesen des Lebens, mag alles Dasein begründet sein.
Aber Freud selbst deutet auf den letzten Seiten des Buches diese Dialektik an, wenn er sagt: „In der individuellen Entwicklung fällt, wie gesagt, der Hauptakzent meist auf die egoistische oder Glücksstrebung, die andere, „kulturell“ zu nennende, begnügt sich in der Regel mit der Rolle einer Einschränkung. Anders beim Kulturprozeß; hier ist das Ziel die Herstellung einer Einheit aus den menschlichen Individuen bei weitem die Hauptsache, das Ziel der Beglückung besteht zwar noch, aber es wird in den Hintergrund gedrängt; fast scheint es, die Schöpfung einer großen menschlichen Gemeinschaft würde am besten gelingen, wenn man sich um das Glück der einzelnen nicht zu kümmern brauchte.“ Mit bewunderungswürdiger Präzision wird da die Zwiespältigkeit des Gesellschaftsprozesses formuliert; aber wie fügt sich das in das System, das Freud vorher entwickelt hat? Die Lösung ist kühn und genial: Die gesellschaftliche Tendenz der innigen Aneinanderkettung immer größerer Menschengruppen ist Libido-bedingt, der durch die Kultur in der Einzelpersönlichkeit unterdrückte Sexualtrieb findet einen sozialen Ausweg, er bindet den Menschen an den „Nächsten“ und an den Fernsten, er produziert im Laufe der Kulturgeschichte die „Menschheit“. Also nicht die Not, der Hunger, der Selbsterhaltungstrieb, sondern der Sexualtrieb ist das Wesentliche; er wird vergesellschaftet und wirkt vergesellschaftend.
Wie aber, wenn man auch darin das Widerspiel des Erhaltungstriebes und des Lusttriebes erblickt? Es scheint ja doch, als sei in erster Linie der Erhaltungstrieb gesellschaftsbildend, als wachse aus der Not die gesellschaftliche Notwendigkeit; die Tendenz der Gesellschaft ist Einschränkung des „Egoismus“, der Persönlichkeit, des Lusttriebes. Gleichzeitig aber sieht der Einzelmensch den Sinn der Gesellschaft in der Entfaltung seiner Persönlichkeit, weniger in der Sicherung aller als in der Bürgschaft für eigene Lust. So verschränken sich hier wie überall Erhaltungstrieb und Lusttrieb. Man untersuche nur irgendein soziales Gebilde, etwa eine Partei; man wird erkennen, daß jede Partei wesentlich eine Interessengemeinschaft, nicht eine Lustgemeinschaft ist; aber sie kann nicht ohne den Lusttrieb, ohne den Lebenssteigerungstrieb bestehen, sie muß Fahnen und Feste, Lieder und Symbole produzieren, Ideale und andere Elemente der Lust, sie muß ihre Mitglieder auch gefühlsmäßig aneinanderbinden, sie muß schließlich das Glücksstreben des einzelnen berücksichtigen, um die Zwecke der Gesamtheit erfüllen zu können. Daraus können, ja müssen immer wieder Konflikte zwischen dem Lustwillen der Persönlichkeit und der Notwendigkeit der Gemeinschaft entstehen.
Ein anderes Beispiel: Der Einzelmensch will den sexuellen Lusttrieb hemmungslos befriedigen, die Gesellschaft muß ihn einschränken, zu Kulturleistungen sublimieren. Der Erhaltungstrieb bemächtigt sich in der Sexualität des Lusttriebes; die Arterhaltung interessiert das Individuum weniger als die Lustbefriedigung, in der Sexualität aber werden beide zusammengefaßt. Der Erhaltungstrieb jedoch, der gesellschaftliche Sicherungen baut, drängt auch die Sexualität immer weiter zurück, die Kultur zerstört die Sexualität. So entsteht folgende Situation: Immer mehr Sexualität wird an den kulturellen Erhaltungstrieb abgegeben; die Sexualität wird „schwer geschädigt“, weniger Kinder werden gezeugt; andererseits versucht der Lusttrieb, je vollkommener die Kultur wird, desto entschiedener sich aus den Fesseln des Erhaltungs- // triebes, der blinden Sexualität, zu befreien und eine Erotik zu produzieren, die Glück ohne Folgen, unfruchtbarer Genuß ist. Dieses Widerspiel gefährdet aufs höchste den Bestand der Kulturvölker. Das heißt: Mit der Vergesellschaftung wächst der Individualismus, mit den Sicherungen, die der Erhaltungstrieb aufbaut, das Freiheitsverlangen, der Glücksanspruch des Individuums — und die Vollkommenheit der Kultur wäre gleichzeitig ihre Selbstaufhebung, da jeder Kulturmensch sich ihrer nur bedient, um sein Ich auszugenießen.
So finden wir überall diese Dialektik, diesen Widerspruch zweier entgegengesetzter Triebe, der gedanklich nicht zu lösen und dessen ununterbrochene Lösung das Leben ist. Nicht Lusttrieb und Destruktionstrieb, sondern Lusttrieb und Erhaltungstrieb, nicht Eros und der Todesdämon, sondern Eros und Ananke (die Not, die Notwendigkeit) wirken ewig gegeneinander, binden sich ewig zur Synthese unseres Daseins…
„Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, die Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte so weit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist zu erwarten, daß die andere der beiden »himmlischen Mächte«, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.“
Mit diesen Worten voll reifer Weisheit endet das Buch. Uns obliegt es, die Methoden und Erkenntnisse des einzigartigen Mannes unserem Weltbild einzufügen und die Wege, die er durch den Urwald der Menschenseele gebahnt hat, weiterzugehen— bis zu einer marxistischen Sozialpsychologie, die heute noch nicht existiert.
In: Der Kampf, H. 6/7/1930, S. 282-287.
Hans Gastgeb: Panem et circenses
Hans Gastgeb: Panem et circenses (1933)
Anfang Dezember fand in London das Länderspiel der Fußballprofessionals zwischen England und Österreich statt, das England knapp gewonnen hat. Rund um dieses Spiel haben sich bemerkenswerte Ereignisse abgespielt, die es rechtfertigen, in diesem Rahmen darüber zu schreiben.
Der bürgerliche Sport und die bürgerliche Sportpresse leben vom Sensationssport und nehmen daher zum Professionalsport in allen Sportzweigen eine zustimmende Haltung ein. Der bürgerliche Amateursport in Österreich ist unbedeutend geworden. Mit dem fortschreitenden Wachstum des Arbeitersportes ist für das Bürgertum der Professionalsport die einzige wirkliche Domäne. Der Arbeitersport lehnt den Professionalismus im Sport und Sport als Selbstzweck ab. Das Bürgertum hingegen will durch Sport die Bevölkerung neutralisieren, um sie möglichst weit von politischer Betätigung abzuhalten. Auch der Arbeitersport veranstaltet Wettkämpfe innerhalb des eigenen Landes und auch internationale Wettkämpfe. Niemals aber ist es bei sportlichen Begegnungen der Arbeitersportler zu solchen nationalistischen Szenen gekommen, wie im bürgerlichen Sport. Der bürgerliche Sport ist und bleibt national eingestellt. Anläßlich des Länderspieles der Fußballprofessionals aber hat nicht nur die rein bürgerliche Presse und das Bürgertum, sondern auch die demokratische und zum Teil auch die sozialistische Presse tief bedauerliche Anwandlungen zum Nationalismus gezeigt. Daß man dazu nicht schweigen kann, ohne sich mitschuldig zu machen an einer vollkommen falschen Orientierung in der Sportpolitik, wie sie Sozialdemokraten zu vertreten haben, ist klar.
II.
Die bürgerliche Presse hat schon ein halbes Jahr vor dem Stattfinden des Englandspieles eine großangelegte Propaganda für das Spiel begonnen. Auch die demokratische Presse und Parteizeitungen haben sich in den Dienst dieser Propaganda für das Professionalspiel gestellt. 700.000 Kartenbestellungen für das Spiel wurden in die Welt hinausposaunt, in Wirklichkeit waren dann bei dem Spiel 42.000 Menschen anwesend, obwohl der Platz 80.000 faßt. Die Engländer haben dem Spiel nicht weniger und nicht mehr Interesse entgegengebracht als jedem Meisterschaftsspiel. Am Tage der Durchführung selbst
haben der Radioübertragung des Spieles tausende und aber tausende Menschen gelauscht und es hat sich sogar ergeben, daß der Finanzausschuß des österreichischen Parlaments an diesem Tage seine Sitzung unterbrochenhat, um den Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, der Fußballübertragung zuzuhören. In der darauffolgenden Sitzung des Finanzausschusses hat sich weiter ergeben, daß der Sprecher der Partei (Otto Bauer) bei der Generaldebatte zum Budget erklärte, daß man dieser Regierung (Dollfuß) das Vertrauen versagen müsse, denn Herr Rintelen habe bei den Kreditanstaltsverhandlungen in London nicht „so ehrenvoll“ abgeschnitten wie die elf Wiener Jungen beim Fußballspiel. Die ehrenvolle Niederlage haben alle Zeitungen, auch die sozialistischen, zum Anlaß genommen, die elf Fußballprofis als Nationalhelden hinzustellen und diese Propaganda für Österreich durch das Fußballspiel zu betonen. Der Bundeskanzler Dollfuß hat es auch für notwendig
befunden, die elf Fußballspieler persönlich am Westbahnhof abzuholen und verschiedene Minister haben erklärt, daß man den arbeitslosen Profispielern (die nebenbei bemerkt gar nicht arbeitslos sind) Staatsanstellungen erwirken müsse, weil sie sich um das Ansehen Österreichs so verdient gemacht hätten. Der Bundesminister Jakoncig hat den Fußballern zu ihrer Niederlage, die so „ehrenvoll“ war, ein Glückwunschtelegramm gesandt, das die Führer der Delegation und die Spieler angeblich mit großer Begeisterung aufgenommen haben. Ein Glückwunschtelegramm vom Heimwehrminister in Österreich ist gewiß etwas wert.
Daß das Bürgertum für ihm nahestehende Sportler Begeisterung aufbringt, ist weiter nicht verwunderlich. Unverständlich ist und bleibt nur die Kurz-// sichtigkeit der Sozialdemokraten, die den nationalistischen Schwindel des bürgerlichen Sports nicht durchschauen und dem Sensationssport so wie andere erliegen. Es taucht dabei die Frage auf, wieso es möglich ist, daß Sozialisten ihre Grundsätze, die sie einmal als richtig erkennen, derart vergessen oder verleugnen können. Dazu muß man das Kulturprogramm der Partei in Erinnerung rufen.
III.
Die Befreiung der Arbeiterklasse von den Fesseln des Kapitalismus kann nur das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Deswegen richten sich die Sozialdemokraten eigene politische, wirtschaftliche und kulturelle Organisationen ein. Die Befreiung der Arbeiterklasse von der bürgerlichen Ideologie kann nicht allein auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet, sondern muß auch in allen gesellschaftlichen Erscheinungsformen vor sich gehen, wenn wir unsere Aufgabe ernst nehmen. Es kann daher auch der Sport nicht als neutrales Gebiet aufgefaßt werden, sondern als eines der vielen Gebiete, wo wir uns von bürgerlicher Ideologie loslösen und unsere eigene sozialistische Politik betreiben. Der Sport, der nur durch die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse zu einem Massensport werden konnte, hat in der Nachkriegszeit tausende und aber tausende Menschen angelockt. In Österreich ist es den im Askö vereinigten Arbeitersportverbänden gelungen, 300.000 Österreicher zu erfassen, die sich zum Arbeitersport, aber auch zum Sozialismus bekennen. Die grundsätzliche Einstellung des Arbeitersportes sagt, daß es keinen Arbeitersportler geben könne, der nicht Sozialist sei, daß es aber auch keinen Sozialisten geben dürfe, der Sport treibt und nicht Arbeitersportler sei. Man kann nicht auf politischem Gebiet sozialistische Tendenzen verfolgen und kulturell die bürgerliche Ideologie als richtig ansehen. Man kann aber auch nicht als Sozialist nur auf politischem Gebiet den Kampf gegen den Kapitalismus führen, wie dies gewiß von unserer sozialistischen Presse geschieht, aber auf kulturellen Gebieten Konzessionen an die Bürgerlichen und Kapitalisten machen. Daher ist nicht darüber zu klagen, daß die bürgerliche Gesellschaft und die bürgerliche Presse für ihre Auffassungen eintreten und Propaganda machen, sondern es ist darüber Klarheit zu schaffen, daß es keinesfalls angeht, daß die sozialistische Presse und sozialistische Kämpfer der bürgerlichen Tagesideologie erliegen und so zu Handlangern und Stützen der bürgerlichen Gesellschaftsordnung werden. Der Kampf um die sozialistische Auffassung muß auf allen Gebieten geführt werden und Presse und Funktionäre der Partei müssen beispielgebend wirken.
IV.
Man mißverstehe den Standpunkt der Arbeitersportbewegung nicht. Es wird kein Kampf gegen den Professionalspieler im Sport als Einzelspieler geführt, denn er ist genau so ein ausgebeutetes Objekt wie der Arbeiter in der Textilfabrik. Die bürgerliche Sportbewegung bedient sich aber der Professionalspieler, um ihre Klassenherrschaft im Sport aufrechtzuerhalten, was ihr ohne den Professionalsport in Österreich schwerlich mehr gelingen könnte. Man begreife daher den Kampf der sozialistischen Arbeitersportler; der sich gegen die bürgerliche Ideologie wendet. Wenn sie sich gegen die Unterstützung des Professionalsportes durch die Parteipresse oder einzelne Parteiangehörige wenden, so verteidigen sie den Klassenstandpunkt des Proletariats. Der Sport soll Volksgut sein und nicht zum Geschäft und nicht zum Beruf werden. In der sportlichen Betätigung liegt ein ungeheures Mittel, die physische Voraussetzung für die Kampffähigkeit des Volkes zu schaffen. Weil die Arbeiterklasse aber ein großes Interesse daran hat und haben muß, diese physische Kampffähigkeit des Volkes in den Dienst des Sozialismus zu stellen, so darf sie niemals zugeben, daß diese Kampffähigkeit zu politischer Indifferenz oder für die bürgerlich-kapitalistische Weltanschauung eingesetzt wird. Die Umwelteinflüsse sind neben den Erbmerkmalen und Bildungseinflüssen das Entscheidende in der Erziehung der Menschen. Das Proletariat hat von vornherein infolge seiner politischen und wirtschaftlichen Lage nicht die günstigsten Erbmerkmale und Bildungsmöglichkeiten. Die Lage des Proletariats wird durch // die herrschende Kapitalistenklasse noch eher ungünstig als günstig gestaltet. Das Wichtigste ist daher der Umwelteinfluß, der auf die sozialistische Gesinnung neben der verstandesgemäßen Aufklärung auf den Proletarier einwirkt.
Kann und darf die sozialistische Bewegung nationalistische und kapitalistische Umwelteinflüsse auf das Proletariat einwirken lassen, ohne sich aufzulehnen?
Daher kann auf so „scheinbar“ abliegendem Gebiet wie der Sport der Kampf gegen bürgerliche Ideologie und kapitalistische Erscheinungsformen nicht aufgegeben oder abgeschwächt werden. Die Grundsätze sozialistischer Auffassung müssen eben in jeder Lebenslage eingehalten werden.
V.
Die bürgerliche Welt bemüht sich, die Macht der Arbeiterklasse abzuschwächen. Das Proletariat hilft dabei mit, indem es den bürgerlichen Ideen, hauptsächlich auf kulturellem Gebiet, erliegt und keine klare sozialistische Kulturpolitik verfolgt. Der Kapitalismus hat ein großes Interesse daran, weite Kreise der Bevölkerung weit vom politischen Interesse abzutreiben und sie mit anderen Dingen zu beschäftigen. Brot und Zirkusspiele für das Volk, die Macht aber der Herrenklasse. Das Volk als Spielball kapitalistischer Wunschträume. Der Sport ist dank seiner physiologischen und psychologischen Vorzüge eine Massenerscheinung in allen Ländern geworden. Ganz selbstverständlich, daß das Bürgertum sich dieses Mittels bedient, um die allzu starke Politisierung der Masse zu sublimieren. Der Arbeitersport ist die wirksamste Form, dem Bürgertum auf diesem Gebiet seine Pläne zu zerstören. Der Arbeitersport will Massensport mit politischer Aufklärung vereint wissen. Nicht Spiel und Sport um der Ablenkung willen, sondern sportliche Betätigung in der Erkenntnis, ein geistig und physisch kampffähiges Proletariat zu erziehen, das imstande ist, die politische, wirtschaftliche und kulturelle Reaktion und den Kapitalismus zu überwinden.
In: Der Kampf, H. 1 (Jänner) 1933, S. 36-38.
Max Ermers: Unbehagen in der Kultur
Si[e]gmund Freud, der Altmeister in der Analyse seelischer Leiden, der zu Österreichs Ruhm im Ausland mehr beigetragen hat als alle unsere Schlachten und Heldentaten, hat uns im achten Jahrzehnt seines Lebens ein Buch der Altersweisheit geschenkt, das keiner, der seiner ganz inne wird, ohne Schwermut und Dankbarkeit lesen wird. Kein Buch, das so leichthin überblättert werden kann wie die allzuschnell fabrizierte psychoanalytische Literatur unserer Tage, die nach dem Schema iX-Ypsisolon-Zet aufgezogen wird und abläuft wie ein gut funktionierender Wortmechanismus: in Romanen, Psychographien, Künstlergeschichten und Neurosenbeschreibungen… In den kaum hundertdreißig Seiten umfassenden Büchlein, das der Internationale psychoanalytische Verlag zum neuen Jahr herausbringt, legt Freud nicht mehr und nicht weniger als unsere ganze Kultur mit all ihren glorreichen Errungenschaften auf den Sezier- und Krankentisch, um sie auf Herz und Nieren zu prüfen und um zu guter Letzt uns alle zu fragen, ob die Anstrengungen und Forderungen, die die Kultur an uns stellt, damit wir Kulturmenschen seien, überhaupt der Mühe wert seien.
Mit anderen Worten, Freud stellt der Kultur die Schicksalsfrage der Existenzberechtigung. Er weiß, daß [es] die Hymniker der Zivilisation mit ihren geistigen, sozialen, seelischen und religiösen Segnungen gibt, weiß aber auch, daß die Philosophie- und Menschheitsgeschichte nicht wenige Pessimisten kennt, die diese Segnungen mit höchst gemischten Gefühlen betrachten und überzeugt sind, daß innerhalb dieser Kultur „alles, was entsteht, wert ist, daß es zugrunde geht“, daß die Anstrengung, ein Kulturwesen zu sein, nicht lohne. Ja, er stellt die Frage, ob nicht die ganze Menschheit unter dem Einfluß der Kultur „neurotisch“ geworden sei, ob diese selbst nicht eine „Gemeinschaftsneurose“ – schwer zu diagnostizieren, schwerer aber noch zu heilen –, darstelle. Beim einzelnen ist die Neurose ja noch relativ leicht erkennbar, schwieriger schon die Behandlung. Wer aber hätte die Autorität, der Menschheit als Masse die Therapie aufzudrängen?
Urmenschheit und die angrenzenden Tierfamilien waren frei von Kultur, frei von den Schuldgefühlen, die das Leben des einzelnen und der Menschheit als Kulturwesen vergiften. Sie lebten heiter, sorglos, schuldlos und triebsouverän dahin, von keines Gedankens und Gewissens Blässe angekränkelt. Aus uns allen aber, die wir in den letzten Jahrtausenden leben, „macht das Gewissen Feige und Gehemmte“, die ihren Trieben und Urantrieben nicht mehr Folge leisten dürfen, weil die innere Stimme, das Gewissen, das Über-Ich, das ewige Reue- und Schuldgefühl in uns revoltieren läßt gegen ein robust und naiv dahingelebtes Leben, das allein Bürgschaft gäbe für ein unneurotisches Dasein.
Das Gemälde, das Freud von Entwicklung und Schuldgang der Menschheit bis in die Gegenwart herein, von jenen Urtagen, da die Ödipustriebe noch zum Vatermord verlockten, bis in die heute triebgehemmte Situation hinein, entwirft, ist für den ungeübten Analytiker nicht überall leicht zu dechiffrieren. Dazu ist es noch ein Gemälde voll von Andeutungen und Übermalungen, die Farben an vielen Stellen zaghaft und voll Zweifel – jedenfalls aber mit höchster Vorsicht – aufgetragen. Freud selbst allerdings ist der Überzeugung – wohl eine Form des inneren Protestes gegen die konsequenzenvolle Schwermut seines Nachdenkens – daß er „bei keiner Arbeit so stark die Empfindung gehabt habe wie diesmal, daß er allgemein Bekanntes darstelle, Papier und Tinte, in weiterer Folge Setzarbeit und Druckerschwärze aufbiete, um eigentlich selbstverständliche Dinge zu erzählen…“ Anderseits aber fügt er dennoch am Schlusse seines Buches, fast entschuldigend hinzu, daß es seinen Lesern auf dem beschwerlichen Weg und Umweg „durch qualvolle Unsicherheit und rastloses Tasten“ „kein geschickter Führer gewesen sei.“ Goethes Harfner im Wilhelm Meister hätte all das, was Freud schwerfällig und doch nicht anders sagen zu müssen vermeint, in viel müheloserer Weise von den himmlischen Mächten, um die es sich diesmal dreht, gesungen: „Ihr führt ins Leben uns hinein, ihr läßt den Armen schuldig werden, dann überläßt ihr ihn der Pein, denn jede Schuld rächt sich auf Erden…“
Die „himmlischen Mächte“, die sich als gar nicht so himmlisch erweisen, ihre Art und Methode uns ins Leben zu führen, uns schuldig werden zu lassen, und in der Pein des Schuldgefühls zu verbrennen… sie stehen im Zentrum der Freudschen Abhandlung, die den Patienten Menschheit untersucht, als wäre er ein Einzelindividuum. Ausgangspunkt allerdings ist der einzelne mit seiner Libido – als Kraftäußerung des Eros verstanden, die von der Energie des Todestriebes gesondert werden soll – mit seinen primitiven Aggressionstrieben den lieben Nächsten, vor allem aber dem Vater gegenüber. Wenn die einzelnen sich zur Gemeinschaft zusammenschließen – zur libidinös verbundenen Gemeinschaft des Stammes, der Gesellschaft – dann beginnt der Kulturprozeß der Menschheit als Erziehung zur Triebhemmung… denn wir können nicht mehr in absoluter Triebfreiheit leben. Ein sozialer Erziehungsprozeß hebt an, der dem der Einzelmenschen parallel läuft. Das ursprüngliche Programm des uns alle beherrschenden „Lustprinzips“, die Glücksbefriedigung, wird zwar noch als Hauptziel festgehalten, die Einreihung in die Menschheit aber zwingt zu Triebbeschneidung und „altruistische“ Rücksicht auf die anderen. So entsteht ein Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft, in dem die letztere ein moralisches Über-Ich in den großen Führerpersönlichkeiten schafft, die strenge Forderungen stellen. Soweit wir diesen nicht gerecht werden – immer noch revoltieren die schlecht verdrängten, nie völlig sublimierten Urtriebe unserer seelischen Unterwelt – insoweit entsteht „Gewissensangst“, Ethik erscheint so nach Freud „als ein therapeutischer Versuch, als Bemühung, durch ein Gebot des Über-Ichs zu erreichen, was bisher durch sonstige Kulturarbeit nicht zu erreichen war.“ Jedes Individuum ist auf diese Weise der Gesellschaft und sich selbst gegenüber – gezwungen, sich ein eigenes Über-Ich, eine Zensurstelle, ein Gewissen anzuschaffen, daß bei Nichterfüllung der gesellschaftserforderten Triebbeschneidung mit Schuldgefühlen beantwortet… und mit Neurosen, die mit ihren Symptomen nichts anderes sind als Ersatzbefriedigungen für unerfüllte sexuelle oder Aggressionswünsche.
Kultur wird so zu Triebverzicht. Sie reguliert vieles, aber versetzt jeden in einen inneren Zustand der Anklage, der nur schwer zu ertragen ist. Jeder von uns wird so zum Kampfplatz der Spannungen zwischen Trieben und Gewissenspflichten, die wir nicht immer befolgen können. Manchesmal werden sie uns zu schwer, dann flüchten wir in die schwere neurotische Krankheit. Aus dieser argen, nicht überbrückbaren Spannung in allen Menschen ergibt sich die allgemeine Unzufriedenheit, Depression, jenes beunruhigende Angstgefühl und Unbehagen, das wir trotz aller Daseinsfreude der Kultur entgegensetzen. Ein Unbehagen, das uns heute vielleicht stärker attackiert als jemals die Menschheit zuvor. Wird die Menschheit Mittel und Wege finden – in der Sublimierung der Triebe vielleicht? – um jenes Unbehagens, jener Bangigkeit Herr zu werden? Daß der Sozialismus diesen Weg darstellt, glaubt Freud nicht, obwohl er ihn an sich bejaht. Sicheren Trost, meint er, weiß er der Menschheit nicht zu bringen. „Die Schicksalsfolge der Menschenart scheint mir zu sein“, so schließt der alte Seher, der nicht Prophet sein will, sein aufwühlendes Buch, „ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte soweit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist es zu erwarten, daß die andere der beiden „himmlischen Mächte“, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.“
In: Der Tag, 1.1.1930, S. 14.
Marie Deutsch-Kramer: Die Befreiung der Frau durch den Sport
Marie Deutsch-Kramer: Die Befreiung der Frau durch den Sport. (1929)
Der große Aufmarsch der Frauen auf der Ringstraße am 14. April und die vielen großen Frauentagsfeiern in der Provinz haben wieder einmal recht gezeigt, wie stark die Frauenbewegung in der österreichischen Sozialdemokratie ist. Es ist eine wirkliche Freude, diesen raschen Aufstieg der Frauenorganisationen mitzuerleben.
Der Umsturz hat den Frauen ihre
politische Befreiung
gebracht. Der Republik und der sozialdemokratischen Partei in erster Linie verdanken sie das Wahlrecht, dessen zehnjähriger Bestand jetzt überall gefeiert wird. Politisch sind die Frauen den Männern gleichgestellt. Ihre
wirtschaftliche Befreiung
müssen sie sich noch erkämpfen.
Die geistige Befreiung
der Frauen ist eine ungeheuer wichtige Sache für jedes Volk und jedes Land, ja für die Entwicklung der ganzen Menschheit. Die Frauen sind die Trägerinnen dieser Menschheit, sie sind Mütter und die berufensten Erzieherinnen der Kinder. Von ihrer geistigen Einstellung hängt die Entwicklung der Kinder ab und damit die Zukunft des ganzen Volkes.
Aber mit der geistigen muß Hand in Hand
die körperliche Befreiung
gehen. Ein wirklich harmonischer Mensch soll nicht nur entwickelte geistige Fähigkeiten, sondern auch einen gepflegten, gesunden Körper haben. Es ist sicherlich kein Zufall, daß gerade in den letzten zehn Jahren
die Frauenmode
eine so große Veränderung erfahren hat. Die Mode ist, abgesehen von lächerlichen Auswüchsen, die es immer gegeben hat, sehr oft ein Abbild des Zeitgeistes. In der Zeit, da die Frau ihre geistige Befreiung er-// lebte, mußten auch jene äußeren Merkmale fallen, die die Frau zur körperlichen Sklavin machten. Das Mieder, die langen Haare, die Schleppe und die unförmigen Hüte mit den Spießen von Hutnadeln verschwanden, weggeweht von dem erfrischenden Sturme der Revolution.
Unmöglich wäre heute im Straßenbild eine derart angezogene Frau, gefährlich wäre die Mode der langen Röcke im Hinblick auf die jetzigen Verkehrsmittel, unmöglich diese Hüte in der Straßenbahn und im Auto, unpraktisch und zeitraubend die langen Haare der Frau bei ihrer so mannigfachen Arbeit.
Zugleich aber mit diesen Veränderungen im Frauenleben kam noch eine.
Der Frauensport
wuchs in den letzten Jahren zu ungeahnter Größe. Während früher der Sport fast nur eine Angelegenheit der Männer und da wieder bis in die letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts eine bürgerliche Angelegenheit gewesen ist, hat sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts der Arbeitersport und seit dem Umsturz der Sport der arbeitenden Frauen in ganz ungeahnter Weise entwickelt.
Wir zählen heute in Österreich schon 35.000 Sportlerinnen, und immer neue Scharen strömen zu. Der jährliche Zuwachs der Frauen übertrifft den der Männer in einzelnen Sportzweigen, besonders im Turnen, oft um das Zehnfache.
Man sieht daraus deutlich, wie rasch die Frauen erkannt haben, daß der Sport gerade für sie von der größten Bedeutung ist.
Der Wert des Frauensports
liegt darin, daß er den Körper stark macht, aber auch schön erhält. Eine Frau, die viel Sport betreibt, wird sich noch in den Jahren, in denen sie früher schon zu den alten Frauen gehört hätte, noch immer ein jugendliches Aussehen bewahren. Diese Art Schönheitspflege hat nichts zu tun mit der bürgerlichen Unart, die den Lippenstift und die Puderquaste als das Um und Auf der weiblichen Schönheit betrachtet. Als die wahre Ursache, daß bürgerliche Frauen sich ihre Anmut viel länger erhalten können als Proletarierfrauen, muß man vielmehr die Tatsache bezeichnen, daß sie ihren Körper viel mehr pflegen konnten als die arbeitende Frau.
Die übermäßige Arbeit und der gänzliche Mangel an jeglicher Körperpflege ist schuld an der so rasch schwindenden Schönheit der Proletarierin.
Dem abzuhelfen ist eine der wichtigsten Aufgaben des Frauensports.
Er soll ein Teil der Erholung sein, die sich die Arbeiterin in der freien Zeit gönnen kann. Diese freie Zeit ist zwar heute noch karg bemessen. Der fortschreitende Sozialismus wird auch hier Besserung schaffen.
Dann wird es sich auch zeigen, daß die arbeitende Frau ihrer bürgerlichen Geschlechtsgenossin an Schönheit und Anmut durchaus nicht nachsteht. Nur gesunde und starke Mütter können ebensolche Kinder zur Welt bringen. Darum ist der Frauensport auch vom Standpunkt der Volksgesundheit lebhaft zu begrüßen.
Aber auch ein psychologisch wichtiges Moment ist beim Frauensport nicht zu übersehen. Die Frauen leiden im allgemeinen noch aus den Zeiten der Unterdrückung her an einem mangelnden Selbstbewußtsein.
Sie fühlen sich häufig als minderwertig, was sich in der Scheu vor einem Auftreten im öffentlichen Leben ausdrückt. Gerade das aber ist für die Frau und ihre politischen Aufgaben von großem Nachteil. Auch hier kann der Sport helfen. Wer auf sportlichem Gebiet etwas leisten will, muß seine körperlichen Kräfte ständig üben, er muß aber auch geistesgegenwärtig sein und seine Gedanken konzentrieren können. Der Sport verlangt körperliche und geistige Disziplin.
Gelungene sportliche Leistungen erzeugen aber in jedem Menschen// ein Gefühl der Befriedigung und steigern sein Selbstbewußtsein. So können sportliche Erfolge zur Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls führen. Viele Frauen werden es an sich selbst erfahren, daß sie, wenn sie Sport betreiben, dann auch auf geistigem Gebiet mutiger und selbstsicherer werden.
Bis vor wenigen Monaten hatten die Frauen im Verein für Arbeitersport und Körperkultur in Österreich (Askö) keine Vertretung. Nun hat sich aber ein
Frauenausschuß im Askö
gebildet, dem je eine Vertreterin jedes Sportzweiges, eine Sportärztin, eine politische und technische Leiterin angehören.
Die Aufgaben dieses Ausschusses sind mannigfachig. Um nur die wichtigsten anzuführen, sei hier erwähnt:
Es ist auf dem Gebiet des Frauensports noch Großes zu leisten, und es bedarf aller Anstrengungen, um die Frauensportorganisation in Österreich so auszubauen, daß sie der politischen Frauenorganisation entspricht. Mögen alle Genossinnen dazu beitragen, damit die geistige Befreiung der Frau Hand in Hand gehe mit der körperlichen durch die Hebung und Ausgestaltung des Frauensports.
In: Die Frau, H. 6/1929, S. 10-11.
Ernst Decsey: Reinhardts „Helena“-Revue in der Volksoper
Ernst Decsey: Reinhardts „Helena“-Revue in der Volksoper. (1932)
Es ist eine Augenweide. Und die Weide beginnt mit dem Vorspiel im Vorspiel: während der Ouvertüre, nach ein paar Orchestertakten geht der Vorhang hoch, zwei Arbeiter öffnen Kisten und heben aus dem entnagelten Grab die Figuren der Operette heraus. Da liegen sie als halbtote Wurstel, der Agamemnon, der Orest, der Pylades, und langsam erwachend fangen sie unter Führung der zwei Ajaxeln zu leben, zu singen, zu spielen an. Ein geistreicher Regie-Einfall, dem das Publikum sofort Dank und Anerkennung ausspricht. „Echter Reinhardt…“
Und nun beginnt die eigentliche Helena-Revue: ein Ueberschüttetwerden mit Farben, Kostümen, Tänzen. Musik, und man weiß tatsächlich nicht, welcher von den drei Akten der üppigste ist. Es scheint, das Publikum entschied sich für den ersten, und das mit gutem Gefühl. Reinhardt ist nicht nur bei Shakespeare, er ist auch bei Offenbach der Regisseur der Regisseure, kurz das Genie, von dem die Talente lernen können. Ein Genie wie Reinhardt hat aber auch die Fehler des Genies. Er denkt nicht an Steigerung im Überschütten, nur ans Überschütten. Ein normales Talent hätte den ersten Akt zum schwächeren, den dritten Akt zum stärksten gemacht. Hier ist es fast umgekehrt: der stark eingekochte dritte Akt erscheint mager, weil man schon genug hat, weil man blasiert wurde, weil man — sagt der Chor in der griechischen Tragödie — über den Appetit hinaus nichts mehr verträgt. Zuviel des Besten, zuviel des Guten…!
Es gibt allerdings märchenhaft schöne Bühnendinge, neben denen verblaßt, was man sonst in diesem Genre sieht. Die traumhafte grüne Trauerweide mit dem darunter schlummernden Paris, die goldleuchtende Muschel-Badewanne, worin Helena badet, das zauberhafte Boudoir, das laszive, farbenwirrende Bacchanal, das geschlossene Tor des Menelaus-Palastes, an dem die bezechten Bacchanten vorbeischweben, vorbeischwirren, vorbeitorkeln. Dann die Burg Ilion, von deren Mauerkranz Bogenschützen Pfeile versenden, die silberlanzenstarrenden Heere der Griechen und Trojaner, die aufgetakelten Prunkschiffe im Hafen, alles, alles Bühnenwunder. Revue-Wunder. Reinhardt kennt keine Grenzen. Und keine Pausen. Pausenlos drängt sich Bild an Bild. Er duldet zum Glück keine Wiederholung, wie sonst in Operetten üblich. Tempo, Tempo. Er überschüttet fortgesetzt bis zum Schluß, unaufhörlich, und man fragt schon gar nicht mehr, welchen Sinn der dritte Akt und ob er überhaupt einen habe.
*
Sinn? Ad vocem Sinn. Die Uridee der Offenbachiade, das Sittenstück in antiker Maske, die Persiflage des Kaiserreiches ist mit dem Witz der Bearbeiter Friedell und Saßmann imprägniert worden, und schüchtern wie Menelaus duckt sich ihren Blitzen der Kritiker und meint halt: es ist eine moderne Zeitsatire daraus geworden, anspielungsreich. amüsant, mit Erotik geladen, so ungefähr wie es Offenbach eigentlich hätte machen müssen….
Alles ganz buffonesk, wenn aus der Zeitsatire nicht wieder in Reinhardts Händen und dank seiner Phantasie eine Revue geworden wäre. Eine geistvolle Revue, aber eine, die Offenbach gar nicht im Sinne lag: dazu war er nicht geistreich genug. Deutlich zeigt dies
der unentschlossene dritte Akt der Bearbeitung. Boudoir der Helena. Frühstück mit Paris. Hektor macht den Drückeberger aufmerksam, daß draußen Krieg ist. Kriegswitze. Verwandlung. Schlacht vor Troja. Duell zwischen Menelaus und Paris. Entrückung des Paris durch die Venus, die Dea ex machina. Waffenstillstand. Abfahrt des Menelaus mit Helena, zu Schiff nach Hellas, als ob gar nichts gewesen wäre. Schlußhymne. Was war? Was ist? Versöhnung des Ehepaars? Wozu, fragt man, haben wir die Kröte überhaupt.. .? Homer tritt trotz Vorhersage nicht auf. Homer scheint hier wirklich geschlafen zu haben. O popoi…!
*
E. W. Korngold saß in der Orchestra und dirigierte seine Offenbach-Musik mit dionysischem Schwung. Als ob er einen Thyrsos-Stäb schwänge. Er singt den Darstellern, er deklamiert ihnen alles mit den Lippen vor, jede charmante Wendung des Rhyt[h]mus, jedes Legato und Stakkato. Muß er nicht auf die Sänger achten, gibt er sich dem Reiz der Musik hin. seine Mienen strahlen: Evoë! Die Musik selbst ist abermals eine Offenbach-Revue, rollt vieles aus vielen Offenbach-Partituren auf, eine Ohrenweide. Aber sooft das Schalksauge des Originals durchblitzt, geht ein freudiges Raunen des Wiedererkennens durch das Publikum. So beim Traumduett, so bei „Menelaus dem Guten“, so beim Esprit des chromatisierenden Hauptwalzers und dem Cancan. Evoë!
Die Bühne der Volksoper ist fast zu wenig geräumig für die Massenentfaltungen, für die in Wogen hereinflutenden Gruppen, die meistens im Sprungschritt ansausen oder amphorentragend, lanzenschwingend antreten. Wie schön wären diese Farben- und Formenquirle erst in der tiefausgedehnten Bühne der Staatsoper gewesen und sicher wäre die Helena-Revue auch nicht das übelste Geschäft geworden…. Das Ballett des Großen Schauspielhauses Berlin zeigte seine Schöngestalten und seine Künste, und es gab darunter Solokünste der Nini Teilhade sowie der ephebenhaft aussehenden La Jana. Dazu wirbeln immer die zwei Ajaxe (Brüder Latabar) über die Bühne, die femininen Gegenstücke zu den virilen Damen. Dazwischen erscheint der Fußballkämpfer Achilles mit Augen, die „Immer feste druff“ rollen (Raoul Lange), und zeigt sich eine weiße Marmorstatue, die berlinsche Mundart, echter Kurfürstendamm, redet, der Merkur (Herr. v. Meyerinck). „Sie, Herr Weiß…!“, ruft den mehlbestaubten Berliner einmal Menelaus an: das ist Hans Moser, von dem der über diesem Griechenland lachende Himmel herrührt.
Oh, Hans Moser!… Man freut sich, daß dieser Menelaus nicht nach Kreta fährt, sondern gleich wiederkommt, denn sooft er da ist, wird Hellas fidel. Herrlich die Szene im Schlafzimmer, wo er sich selbst als Paris neben seiner Frau im Bett zu sehen glaubt und die Fußpaare abzählt. Oh, Hans Moser! In dem kleinen Komiker lebt der große parodistische Geist des Ganzen, und seine Wiener Note, der rührend komische Armitschkerlton, sagen wir’s noch einmal, macht Hellas ideal. Marie Rajdl singt mit den feinsten Kopftönen die Helena, und Gerd Niemar als Paris ist ein echter deutscher Operntenor mit hoher, blonder Stimme. Als echter Opernbariton gesellt sich ihm Herr Ballarini (Agamemnon); aber ich sage zum drittenmal: Hans Moser….
*
Welche von den Frauen die schönste war, darüber möchten wir uns kein Paris-Urteil erlauben. Frau Rajdl war es, Frau La Jana, Fräulein Overhoff, die junge Dänin Teilhade, und nicht zuletzt war es die gaminhafte Friedel Schuster, die den Orest, die Minerva und den Epilog mit gleicher Grazie sang. Das Publikum rief nach ihr. Wie es nach fast allen rief. Nach fast allen mit Stentorstimme.
Besonders stentorhaft, als sich Max Reinhardt vor dem Vorhang zeigte, der bisher unsichtbare Heros eponymos. Wir haben hier den Thersites gespielt, der gegen alles Schöne einen Einwand wußte. Aber Thersites will auch nicht stören, sondern empfiehlt sich nun und beugt sich sowohl den Göttern wie ihrem Obergott Max. Aber auch dem Erfinder des unvergeßlichen: „Weil es ja nur ein Traum ist…“ Evoë!
In: Neues Wiener Tagblatt, 8.6.1932, S. 9.