N.N. [Leitartikel]: Die Umwälzung. (1918)

            Wien ist von morgen an nicht nur eine deutsche Stadt, sondern eine Stadt in Deutschland, in der deutschen Republik. Dies mag für uns Wiener der sinnfälligste Ausdruck des ungeheuren Umsturzes sein, den wir in diesen Tagen miterleben.

            Kaiser Karl hat auf seinen Anteil an den Staatsgeschäften verzichtet. Er behält den Titel eines Kaisers, erklärt aber gleichzeitig, daß er die Entscheidung Deutschösterreichs über seine zukünftige Staatsform anerkennt. Nun wird Deutschösterreich morgen seine Umwandlung in eine Republik und seinen Anschluß an die deutsche Republik verkünden. Von der kaiserlichen Würde bleibt somit nichts andres übrig als der Titel.

            Aber das Wort, das der Kaiser über die Anerkennung unsrer zukünftigen Staatsform gegeben hat, verbürgt uns, daß der morgige Tag in Ruhe und Frieden verlaufen wird und daß auch der kaisertreueste Offizier keine Veranlassung haben kann, seine Waffen gegen den Willen des Volkes zu erheben. Es gibt in diesem neuen Staate keine Macht mehr, die sich gegen die republikanische Regierungsform und gegen unser restloses Eingehen in die so herrlich neugestärkte Gemeinschaft der deutschen Brüder wehren könnte. So haben diese Tage des tiefsten Leides es neuerdings bewiesen, daß niemand Deutschland zu schwächen und zu verkleinern vermag. Die deutschen Männer, die an den Küsten des Eismeeres, in Italien und am Balkan begraben liegen, sind nicht umsonst gestorben.

            Wir wollen mitten im Jubel den schweren und langen Weg nicht vergessen, der uns noch von der Vollendung unsrer neuen Heimat trennt. Die Loslösung von den früheren Staatsgenossen, die Angliederung an ein neues Staatsgebilde, das selbst noch alle Wehen der Umbildung durchzumachen hat, können noch Schwierigkeiten der ernstesten Art bringen. Neue Staaten können nicht mit dem Gefühl allein gebildet, sie müssen mit kühler, verstandesmäßiger Überlegung aufgebaut werden. Auch wir alle, die politisch mit ihm nicht eines Sinnes waren, müssen uns trauernd eingestehen, daß der Tod Viktor Adlers in dieser Stunde für unsre Republik ein Schicksalsschlag schwerster Art ist. Seine Lauterkeit hätte dem neuen Staate, die Art, wie er allein die Rede meisterte, hätte den Friedensverhandlungen Dienste getan, in denen ihn kein anderer zu ersetzen vermag.

            Der Antrag des Staatsrates, der morgen in der Nationalversammlung zur Annahme gelangen wird, hebt alle Vorrechte der Geburt auf und verbürgt allen politischen Ansichten durch die Festlegung des Verhältniswahlrechtes die Gleichberechtigung. Wir dürfen hoffen, daß keine politische Partei den Drang verspüren wird, die Umgestaltung in ein beschleunigteres Tempo zu versetzen. Damit zerfällt auch die Drohung der Entente, sie würde, um bolschewistische Regungen zu unterdrücken, in Deutschland einmarschieren, in Nichts. Sonst könnten der König von Italien, die englischen Lords und die regierenden französischen Advokaten am eigenen Leibe verspüren, was sie uns so lange vorgehalten haben, daß nämlich in diesem Kriege die militärischen Siege nichts gelten.

In: Neues 8 Uhr-Blatt, 11.11.1918, S. 1.

Aufruf des deutschösterreichischen Staatsrates an die Bevölkerung (1918)

                                                                                                                                              Wien, 30. Oktober

            Der deutschösterreichische Staatsrat erläßt folgenden Aufruf:

            An das deutsche Volk in Oesterreich!

            Die deutsche Nationalversammlung hat heute das provisorische Grundgesetz des neuen deutschösterreichischen Staates beschlossen. Auf der Grundlage dieses Gesetzes hat sie den Staatsrat gewählt, der nunmehr die Regierungs- und Vollzugsgewalt in Deutschösterreich übernimmt. Der Staatsrat wird unverzüglich die erste deutschösterreichische Regierung ernennen, die die Friedensverhandlungen führen, die Verwaltung der deutschen Gebiete Österreichs und die Befehlsgewalt über die deutschen Truppen übernehmen wird.

            Damit ist, dem einmütigen Willen des deutschen Volkes entsprechend, der deutschösterreichische Staat zu lebendiger Wirklichkeit geworden und dieser Staat wird fortan von freigewählten Vertrauensmännern des deutschen Volkes selbst regiert werden.

In: Neue Freie Presse, 31.10.1918, S. 1.

N.N. Aufruf der Nationalversammlung an das deutschösterreichische Volk (1918)

            Die provisorische Nationalversammlung erläßt an das deutschösterreichische Volk einen Aufruf, in dem nach einer Mitteilung über die gestern gefaßten Beschlüsse gesagt wird:

            Jetzt, da die Freiheit gesichert ist, ist es erste Pflicht, die staatsbürgerliche Ordnung und das wirtschaftliche Leben wiederherzustellen. Die Vorsorge für das tägliche Brot, die Zufuhr von Kohle, die Bereitstellung der notdürftigsten Bekleidung, die Wiederaufnahme des Ackerbaues, die Aufnahme der Friedensarbeit in den Fabriken und Werkstätten ist unmöglich, wenn nicht sofort alle Bürger bereitwilligst und geordnet zur Tagesarbeit zurückkehren. Unsere armen Soldaten, die zur Heimat, zu Weib und Kind zurückkehren wollen, können nicht befördert und verköstigt werden, wenn unser Verkehr stockt. Jeder, der den Anordnungen der Volksbehörden nicht Folge leistet, ist sein eigener, der Feind seines Nächsten und der Feind der Gesamtheit. Wir sind nun ein Volk, sind eines Stammes und einer Sprache, vereinigt nicht durch Zwang, sondern durch den freien Entschluß aller. Jedes Opfer, das Ihr bringt, gilt den Euren und nicht fremden Herren noch fremden Völkern. Darum muß jeder mehr tun, als das Gesetz fordert. Wer über Vorräte verfügt, der öffne sie dem Bedürftigen. Wer überschüssige Gewandung besitzt, helfe die frierenden Kinder bekleiden. Jeder leiste das Äußerste! Jeder denke von allem an die nächsten Wochen und Monate. Für später ist gesorgt. In wenigen Monaten wird der Weltverkehr wieder frei sein. Nach wenigen Monaten, so hoffen wir, kehrt in der Welt und kehrt in Deutschösterreich das normale Leben wieder. Dann wird das gesamte Volk sich seine dauernde staatliche Ordnung geben. Bis dahin Vertrauen, Eintracht, Selbstzucht und Gemeinsinn!

                                               Heil Deutschösterreich!

                                    Die provisorische Nationalversammlung

In: Neues Wiener Journal, 13.11.1918, S. 4.

Max Adler: Der Krieg ist aus, der Kampf beginnt (1918)

            Der Krieg ist aus, – und er hat anders geendet als es die militärstolzen Mittelstaaten gewähnt hatten, aber eigentlich auch anders, als es die Entente erwartet hatte. Denn wenn auch die Zentralstaaten eine so zerschmetternde Niederlage erlitten, wie es die Entente  kaum je in ihren kühnsten Hoffnungen für möglich halten konnte, so liegt das Entscheidende und geschichtlich in seiner Tragweite noch gar nicht Auszu-//schöpfende in dem Umstand, daß dieser Sieg der Entente gar nicht so sehr durch ihre militärische Überlegenheit, als durch den Willen der Völker in den Mittelstaaten ermöglicht wurde. Nicht eigentlich der Siegt der Entente, sondern die Revolution der Mittelstaaten, die mit der Meuterei ihrer Fronten begann, hat den Krieg beendet; die Entente siegte, weil die Völker Österreichs, Ungarns und Deutschlands nicht länger mehr kämpfen wollten. Das große Beispiel, das zuerst die russischen Soldaten in der letzten Offensive 1917 gegeben hatten, das sich dann im Oktober 1918 an der bulgarischen Front weiderholte, das befolgten nun auch die Soldaten der Mittelmächte im Westen und im Süden, wo sie lange unter unerhörten Opfern „siegreich“ ausgehalten hatten. Sie warfen die Waffen weg, sie verließen die Stellungen, sie ließen das „Vaterland“ im Stich, das ihnen stets ein Stiefvaterland gewesen war. Konnte man sich darüber wundern, daß der Soldat endlich müde geworden war, seine Haut zu Markte zu tragen für Interessen, die doch nicht die seinen waren? Was hätte er verteidigen sollen, da ihm doch an diesem „Vaterland“ nichts gelegen war, das ihn im Frieden ausbeutete, ihn und seiner Familie stets nur ein kümmerliches Dasein und ein freudloses Heim bereitete und ihn schließlich, ohne ihn zu befragen, auch noch in die Hölle des Krieges gezwungen hatte! Was hätte er für einen inneren Anlaß gehabt, sich noch länger für dieses ganz furchtbare Gewaltsystem des Kapitalismus und Militarismus aufzuopfern, statt dessen durch das Vordringen der feindlichen Heere bewirkte Schwächung zu benützen, um sich ihm ganz zu entziehen!

So empfand zunächst der Soldat die Niederlage auf dem Schlachtfelde, das er freiwillig verließ, eher wie eine Befreiung von dem Banne einer unerhörten Vergewaltigung. Und diese Welle der Befreiung ergoß sich mit ungestümer Kraft über das ganze Hinterland. War erst einmal der ungeheuerliche Druck, mit dem der Militarismus allen wahren Volkswillen erstickte, behoben, so machte sich dieser in elementarer Weise geltend, und vor seiner entfesselten Energie sanken überall die Throne in den Staub, die so lange ihr unbegreifliches anachronistisches Dasein behauptet hatten. Nun war es mit einem Male offenbar geworden, daß der Glanz der Habsburger, daß der stolze Trotz der Hohenzollern gar nichts gemein hatten mit der wirklichen Kraft und Anteilnahme „ihrer“ Völker, als deren bestes Teil sie sich immer ausgegeben hatten, sondern daß sie nur dank der nackten Schwertgewalt existiert hatten, die sie aufzubieten imstande waren. Gegen den brausenden Unwillen der Völker, welche ihre Dynastien als die an dem Kriege nicht am wenigsten Schuldtragenden in lächerlich kurzer Zeit wegfegten, erhob sich auch nicht eine Hand, und auf dem Boden der stolzesten Militärmonarchien der // Erde besteht jetzt ein Kranz von Republiken, von Freistaaten, in denen die gärende Kraft des Volkes darangeht, nach der politischen auch die soziale Umwälzung herbeizuführen, und damit uns erkennen läßt, daß ein neues Kapitel in der Geschichte der europäischen Kultur, ja der Menschheit aufgeschlagen ist.

            So erklärt es sich, daß diese Niederlage trotz der ungeheuerlichen Waffenstillstandsbedingungen, welche der noch ungebrochene Enteneimperialismus den Zentralstaaten auferlegt hat, doch bei den Völkern derselben nirgends als eine solche empfunden wurde. Ja im Gegenteil – und dies ist nur ein Beweis mehr für die wahnsinnige Unnatur, in welche der Zwang des Imperialismus und Militarismus seine Völker daniedergehalten hat – diese Niederlage wurde geradezu als eine Bedingung der eigenen Befreiung und der demokratischen Fortentwicklung der Welt überhaupt erhofft. Es wiederholte sich die geschichtliche Situation, die schon einmal in der Geschichte Deutschlands da war, als nach der französischen Revolution alle wirklich freiheitsdurstigen deutschen Patrioten den Siegeszügen der Franzosen innerlich zujubelten und, so sehr sie die Herrschaft Napoleons als Säbelrasselherrschaft haßten, sie doch als Bahnbrecherin einer neuen Zeit dem verrotteten Absolutismus ihrer angestammten Dynastien vorzogen. Am besten für die freie Fortentwicklung der Demokratie und für die allgemeine Abrechung der Sozialismus mit der alten Gesellschaft wäre es freilich gewesen, wenn der Krieg so ausgegangen wäre, wie es vor dem Eintritt Amerikas möglich schien, daß er enden würde, ohne Sieger und Besiegte. Aber da dies nun einmal nicht mehr möglich war, so wurde die Niederlage der Mittelmächte geradezu zu einer Bedingung jeglicher Volksfreiheit. Wie anders hätte man mit dem preußischen Militarismus und mit dem habsburgischen Absolutismus fertig werden können? Es ist nicht auszudenken, welches Übermaß von Reaktion über die Welt gekommen wäre, welche politische und soziale Knechtung, wenn Kaiser Wilhelm seinem Siegerwillen hätte frönen können, wenn die preußische Militär- und Junkerkaste die herrschende Klasse der Welt geworden wäre.

            Dieser Alpdruck ist bereits von uns hinweggenommen, und es war die Revolution, die ihn hinwegwälzte. Das Gewaltsystem des Militarismus hat aus sich selbst heraus seine Aufhebung gezeitigt. Und damit hat das schicksalsschwere Wort aus dem Kommunistischen Manifest, daß der Kapitalismus seine eigenen Tote erzeuge, auch seine Anwendung auf das gewaltigste Schutzmittel des Kapitalismus erfahren, auf den Militarismus. Auch der Militarismus erzeugt seine eigenen Totengräber. Indem der Kapitalismus gezwungen war, um seinen Eroberungsgelüsten zu genügen, immer mehr // Männer in den Dienst seiner Armeen hineinzupferchen, ist er schließlich dazu gelangt, das Volk zu bewaffnen. Aber die Waffen in der Hand des Volkes haben die verhängnisvolle Eigenschaft, daß sie nicht bloß dorthin gerichtet werden können, wohin sie die Herrschenden gerichtet sehen möchten, sondern daß sie in plötzlicher Wendung auch dorthin zielen, wo das Volk endlich seinen wirklichen Feind erblickt. Und hat das Volk erst erkannt, daß dieser wirkliche Feind gar nicht notwendig außerhalb der Landesgrenzen steht, daß es vielmehr die kapitalistisch-imperialistische Herrenkaste ist, die es in Krieg und Feindschaft mit dem äußeren Feinde verwickelt hat, um nur desto besser und sicherer ihre eigene Herrschaft und Ausbeutung erhalten und vergrößern zu können – hat erst einmal das bewaffnete Volk diesen Feind erkannt, dann ist es mit der Herrschaft desselben für immer vorbei. Dann mag der Staat durch das Versagen seiner Wehrkraft und durch die Invasion des äußeren Feindes eine Niederlage erlitten haben. Dies bedingt unter den heutigen Verhältnissen bloß eine vorübergehende Fremdherrschaft. Das Volk des besiegten Staates selbst aber feiert einen großen und entscheidenden Sieg über seine dauernden Feinde, über die Fremdherrschaft seiner unterdrückenden und ausbeutenden Klassen. Schon steht verheißungsvoll die deutsche sozialistische Republik vor den staunenden Augen der Mitwelt da, und im stürmischen Drang bereitet das Proletariat auch bei uns sich vor, diesem leuchtenden Beispiel zu folgen.

            Und das ist der Punkt, in welchem der Krieg, der sonst die größten Hoffnungen der Entente erfüllt hat, doch so ganz anders ausgegangen ist, als sie es erwartet hat und ihr recht sein kann. Die Heere der Entente ziehen zwar in ein geschlagenes Land, aber in ein revolutioniertes Volk ein. Sie finden keine niedergeworfenen Staaten: denn diese existieren nicht mehr, sie sind von dem jäh erstarkten Volkswillen hinweggefegt worden. Das alte Österreich, dieses Zuchthaus seiner vielsprachigen Völker, die übermächtige Adelsrepublik des alten Ungarn, die preußisch-deutsche Militärmonarchie – sie alle sind gewesen und an ihre Stelle sind neue Staaten getreten, in denen zwar noch nicht überall das Proletariat die Herrschaft anzutreten vermochte, was aber dadurch wettgemacht ist, daß dies in dem mächtigsten und größten dieser neuen Staaten, in der deutschen Republik, der Fall ist. Die Tatsache der deutschen sozialistischen Republik gibt der geschichtlichen Situation, die nun nach Beendigung des Krieges eingetreten ist, viel mehr das Gepräge als der Sieg der Entente.

            Denn allerdings steht der Ententekapitalismus noch ungebrochen da und zeigt seine ganze hemmungslose Raubtiernatur in den Waffenstillstandsbedingungen, die er den einzelnen Teilen der ehemaligen Zentralstaaten aufgezwungen hat. /780/ […]

An der Macht des deutschen Proletariats wird sich die Kraft der sozialistischen Bewegung in den Ententestaaten ebenso entzünden, wie sich die unsrige an der Revolution Rußlands entzündet hat. Auch der großmächtige Imperialismus der Entente wird daran glauben müssen und den lebendigen Sinn des alten Wortes an sich erfahren: Gottes Mühlen mahlen langsam, aber sie mahlen. Und der Gott, der sie in Gang bringt, das wird die wieder erstehende Internationale sein. //

            Nun halten wir selbst in Deutschösterreich allerdings erst bei einer bloß politischen Revolution. Wir haben erst nur die bürgerliche Republik aufgerichtet. Aber wer sich von dieser Einschätzung der bei uns vollzogenen Umwälzung allein leiten ließe, ginge mächtig an ihrer eigentlichen geschichtlichen Bedeutung vorbei. Für Österreich und ebenso für Ungarn liegt das eigentlich Revolutionäre in diesem ersten Abschnitt in der Zertrümmerung des alten alten Habsburgerreiches und damit in der endlichen Befreiung von der würgenden Fessel des Nationalitätenstreites, der jede politische und noch mehr soziale Entwicklung unmöglich gemacht hat. Hier mußten also zuerst die neuen, national einheitlichen Staaten aufgerichtet werden, was zunächst nicht anders möglich war als in der Form der bürgerlichen Republik, das heißt in der Form eines einheitlichen Vorgehens aller Klassen der Nation. Diese nationale Konstituierung hat aber, soweit die Sozialdemokratie in Betracht kommt, die sich ja zur Hauptträgerin dieser Forderung gemacht hat, ganz und gar nichts mit Nationalismus zu tun. In der Forderung nach einem deutschösterreichischen Staat ist die deutsche Sozialdemokratie in Österreich nicht etwa auf einmal deutschnational geworden. Sondern diese Forderung nach nationaler Trennung und staatlicher Konstituierung der einzelnen Völker des alten Österreich ist nur die Verwirklichung der revolutionären Forderung des Selbstbestimmungsrechtes der Völker. […] Das ist fürwahr kein Nationalismus, sondern die einfache Vorbedingung jeder wirklichen Demokratie. Weil sie aber das deutsche Volk in Österreich zugleich befreit von dem unfruchtbaren Streit mit Tschechen, Polen und Südslawen, weil sei endlich die Möglichkeit schafft, nunmehr statt des Nationalitätenstreites der ganzen Völker den Klassenkampf des deutschen Proletariats gegen die deutsche Bourgeoisie auf die Tagesordnung zu setzen, darum ist diese bis jetzt nur erst bürgerliche Revolution zugleich ein großer und bleibender Gewinn für das Proletariat.

            Und das gleiche gilt von von der Erringung der Demokratie. Kein Zweifel: für uns ist die Demokratie kein Selbstzweck, nicht sie ist das Ziel, sondern die sozialistische Gesellschaft. Aber die Demokratie ist dazu das unerläßliche Mittel, weil erst sie dem Emanzipationskampf des Proletariats jene Bewegungsfreiheit verschafft, die es braucht, um zur Macht zu gelangen. Die Vorgänge und das Schicksal des Sozialismus in Rußland// beweisen, wie verhängnisvoll der Weg in die Irre führt, welcher meint, die Demokratie durch die Diktatur ersetzen zu können, die sich zwar Diktatur des Proletariats nennt, aber, weil Diktatur bloß einer kleinen Gruppe desselben, eher eine Diktatur gegen das Proletariat ist. […]

            Unser Ziel aber, das nicht etwa als ein fernes zu betrachten ist, sondern als eine Sache, die heute unsere unmittelbare politische Tätigkeit praktisch zu bestimmen hat, ist die sozialistische Republik; und deren Verwirklichung gilt die von der Sozialdemokratie als treibende Kraft durchgesetzte Forderung des Anschlusses Deutschösterreichs an das Deutsche Reich. Auch der Sinn dieser vielfach von dem Proletariat noch gar nicht in seiner revolutionären Bedeutung erfaßten Forderung ist kein in erster Linie nationaler. Wir unterschätzen durchaus nicht auch die nationale Seite unserer Forderung. Im Gegenteil, es erfüllt uns mit hoher Genugtuung, daß gerade die sozialistische Politik des Proletariats dazu ausersehen ist, den Traum so vieler deutscher Generationen zu erfüllen und das Ideal zum Besten unseres Volkes zu verwirklichen: die politische Einheit des deutschen Volkes. Aber dieses nationale Interesse ist nicht das Entscheidende für unsere Stellungnahme, so verscheiden es selbst in diesem Falle von dem der Deutschnationalen wäre. Denn nicht das Deutschland des Imperialismus, das Deutschland des „herrlichen Kriegsheeres“ und der der Flottenbegeisterung ist es, zu dem wir Sozialdemokraten stoßen wollen. Dieses ist vielmehr dem Arbeiter bei uns ebenso verhaßt gewesen, wie es den Haß der ganzen Welt auf sich gezogen hatte. Was der Gegenstand der Begeisterung studentischer und „völkischer“ Deutschprotzerei war, das Deutschland Bismarcks mit seinem Sozialistengesetz, das Deutschland der Hohenzollern mit seinem persönlichen Regiment und seiner Junkerherrschaft, dem waren wir stets aus ganzer Seele feind. Aber wir liebten und bewunderten stets das Deutschland der Dichter und Denker, das Deutschland der // Erfinder und Entdecker, des werktätigen Fleißes und der zielbewußten Organisation. Und darum schätzen wir dieses Deutschland als das Land der höchstentwickelten produktiven Arbeit und zugleich der höchsten geistigen Kultur, als das Land, in welchem, wenn überhaupt irgendwo, alle objektiven und subjektiven Bedingungen für die Verwirklichung des Sozialismus bereits gegeben sind. Wenn daher die Begeisterung für den Anschluß an Deutschland  hier zuerst beim Bürgertum recht hoch stieg, während die Arbeiter noch eher zurückhielten, so bemerken wir bereits jetzt, unter dem Einfluß der Aufrichtung der sozialistischen Republik in Deutschland, wie wenig echt diese bürgerliche nationale Begeisterung war, da sie schon bedeutend abzuflauen beginnt, seitdem es klar wird, daß es nicht die schwarz-rot-goldenen Fahnen und schon gar nicht die schwarz-weiß-roten Fahnen sind, zu denen wir stoßen werden, sondern die roten Fahnen. Für die Arbeiter aber wird es im selben Maße klarer, daß unser Anschluß an Deutschland keine deutschnationale Politik ist, so wenig, als die rote Fahne eine nationale Fahne ist, sondern daß dieser Anschluß eine direkte Folge unserer sozialistischen Politik ist und eine unbedingte Forderung für ihre Fortentwicklung.

            Denn Deutschösterreich, das für sich allein keine wirtschaftliche Selbständigkeit behaupten kann, ist heute auch noch nicht imstande, den Sozialismus für sich allein zu verwirklichen. Dem stehen noch der überwiegend agrarische Charakter unseres Landes entgegen. Als ein Teil des großen Deutschen Reiches aber entscheidet sich unser Schicksal mit dem des ganzen deutschen Volkes. Als ein Teil der deutschen sozialistischen Republik ist der Fortbestand einer bloß bürgerlichen Republik bei uns unmöglich. Indem wir unseren Anschluß an das deutsche Volk vollziehen, werden wir durch seine soziale Kraft mit einem Male auf eine Entwicklungsstufe hinaufgerissen, die wir allein erst beträchtlich später zu erreichen vermöchten.

[…] //

            Der Krieg ist aus und er endet mit einer Weltenwende. Ja, jetzt wird erst vollends klar, was wir Sozialisten schon immer während des Krieges von ihm sagten, daß er selbst schon der Beginn dieser Weltenwende war, der Beginn des Zusammenbruches der bürgerlichen Welt.

In: Der Kampf, H. 12/1918, S. 776-784.

Otto Bauer: Geistige Weltkrise (1930)

Es gibt nichts Ungeistigeres als öster­reichische Wahlkämpfe. Kann man geistig ringen mit ungeistiger Brutalität, mit vul­gärer Spießerhaftigkeit? Und doch gibt es auch hierzulande Menschen, die die geistige Krise unserer Generation erschüttert mit­erleben. Auch hier Unterrichtete, Denkende, für die der Akt der Wahl Stellungnahme zu den Problemen der Kultur unseres Zeit­ alters ist.

Die Technik ist das Schicksal unserer Kultur. Krieg und Nachkriegsnöte haben ihrer Entwicklung mächtigen Anstoß gegeben. Wir leiten in Hochspannungs­leitungen von 220.000 Volt den elektrischen Strom Hunderte Kilometer weit. Wir bauen Dampfkessel mit einem Druck von hundert Atmosphären und Dampfturbinenanlagen, die 250.000 Pferdekräfte liefern. Wir brauchen zur Gewinnung der Kilowatt­stunde nur halbsoviel Kohle als vor dem

Kriege. Wir haben durch die Verwendung der Verbrennungskraftmaschinen im Auto, im Motorrad, im Traktor, im Tank, im Flugzeug, im Luftschiff unser ganzes Leben umgewälzt. Die Züchtung neuer Weizen­sorten hat die Zone des Getreidebaues um hundert Kilometer nach dem Norden vor­geschoben. Die Gewinnung des Stickstoffes aus der Luft hat die Erträge unseres Bodens bedeutend gesteigert. Der Mähdrescher, der das Getreide auf dem Felde

in einem Arbeitsgang schneidet und drischt, hat das Arbeitserfordernis zur Erntearbeit auf ein Viertel herabgesetzt. Die Preßluftwerkzeuge mechanisieren den Bergbau. Die Chemie gewinnt Oel aus Kohle, Seide und Futtermittel aus Holz. Spezialisierung und Automatisierung der Arbeitsmaschinen, Fließarbeit und laufendes Band wälzen unsere Fabriken um. Kino und Radio geben der Muße der Massen neuen Inhalt.

Mister Babbit bastelt abends an seinem Auto, der Angestellte an seinem Motorrad, der Arbeiter an seinem Radioapparat. Die Menschen werden mit stärkstem Interesse für alles Technische erfüllt.

Das ingenieursmäßige Denken wird zum vorherrschenden Denken der Zeit. Wir denken in Kurven, Gleichungen, Wirkungsgraden.

Die Naturwissenschaft ist in einen Zu­stand völliger Umwälzung geraten. Die Einspannung jedes Betriebes, jeder Maschine, jedes Haushaltes in das die Länder überdeckende elektrische Stromnetz macht das Denken unserer Generation für neue Weltbilder empfänglich. An die Stelle des anschaulichen mechanistischen Weltbildes des Zeitalters der jungen Maschinerie treten in einer Zeit, in der jedermann die Anwendung der Elektrodynamik täglich erlebt, die Vorstellungen der Feld-, der Elektronen-, der Quantenphysik.

Wir sind stolz auf diese Entwicklung. Wir jubeln den Ozeanfliegern zu. Wir feiern jedes neue große Elektrizitätswerk als einen Sieg, jede neue Leistung der Konstruktionsbüros der Maschinenfabriken, der Labora­torien der chemischen Industrie als eine Errungenschaft der Menschheit.

Und doch— je mehr wir den Siegeszug der Technik rühmen, desto grauenhafter wird uns die Welt, die dieser Siegeszug schafft!

Der Arbeiter am laufenden Band. Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute in ewigem Einerlei, in ständiger Hast denselben Handgriff.

Der Angestellte an der Buchungmaschine, die für ihn schreibt und rechnet. Sein Lebensberuf, die Konti der Kunden, deren Namen mit dem Buchstaben 8 anfangen, zu führen!

Diese Menschen haben den Krieg, sie haben die Hoffnungen, die Leidenschaften, die Enttäuschungen der Revolution erlebt. Jetzt sind sie zu entgeistigter Arbeit Tag für Tag verdammt, zu einer Arbeit, die persönlicher Initiative, persönlicher Phan­tasie, persönlichem Geltungstrieb keine Betätigungsmöglichkeit gibt! Was ihnen die Arbeit versagt, suchen sie am Feierabend im Kino, auf dem Sportplatz. Sie suchen es auch im öffentlichen Leben. Je mechanischer, je monotoner die Arbeit, desto größer ihr Verlangen nach großem Erleben, ihre Sehnsucht nach dem großen Abenteuer. Die einen locken die Phantasiebilder der Weltrevolution zum Bolschewismus. Die andern lockt das Phantasiebild der nationalen Revolution zum Fascismus.

Hochgezüchtete Getreidesorten, Stickstoff­dünger aus der Luft, neue wunderbare Landmaschinen — der Erntesegen ist viel schneller gewachsen als die Kaufkraft der Welt. Millionen Bauernwirtschasten droht der Untergang. Der Bauer ist in Not. Der Bauer grollt. Und auch an ihn drängt sich die Versuchung heran: Ist das wahre Demokratie, was dir nicht einmal dürftigen Lohn für deine Arbeit mehr sichern kann?

In den Tiefen der Gesellschaft aber grollt die Masse der Arbeitslosen. Ja, wir brauchen nicht mehr halb soviel Kohle wie vordem zur Erzeugung einer Energieeinheit — aber Hunderttausende Kohlengräber bezahlen das mit der Arbeitslosig­keit! Ja, wir haben immer neue, immer vollkommenere Maschinen in den Dienst unserer Arbeit gestellt. Aber jede neue Maschine hat Menschen, Menschen aus Fleisch und Blut, Menschen mit Weib und Kind um Arbeit und Brot gebracht.

Fühlt ihr es nicht, wie die Erde unter euren Füßen bebt? Wenn die Kaffeepreise sinken, rast in Brasilien die Revolution. Wenn Europa dem Gefrierfleisch seine Grenzen sperrt, gibt es Straßenschlachten in Buenos Aires. Wenn die Baumwollpreise sinken, brennen in Indien die Flammen des Aufruhrs lichterloh. Und Europa? Europa mit seinen acht Millionen Arbeits­losen? Sind die deutschen Reichstagswahlen nicht ein warnendes Anzeichen?

In dieser im Innersten aufgewühlten Welt leben die Intellektuellen. Und das große Unbehagen packt auch sie.

Die Geldentwertung hat ihre Vermögen, ihre Renten vernichtet. Die wirtschaftliche

Not entzieht dem Arzt die Patienten, dem Rechtsanwalt die Klienten. Wer kauft noch Bücher? Wer Kunstwerke?

Und wie das wirtschaftliche Erbe der Intelligenz zerfallen ist, droht ihr Kulturerbe zu zerfallen. Das überlieferte humanistische Bildungsgut kann den Wettbewerb mit dem ingenieursmäßigen, positivistischen technisch-naturwissenschaftlichen Denken des Zeitalters nicht mehr bestehen. Was sagt der Phantasie dieser Generation Hephaistos neben Henry Ford, Dädalos neben Lindbergh? Man hat keine Zeit für die Antike, wenn man die moderne Technik verstehen lernen will, und liest kein griechisch Trauerspiel, wenn man vom Tonfilm kommt.

Gewiß, eine neue Wissenschaft steigt auf. Aber was kann sie der Masse der Gebildeten sagen? Ein halbes Jahrhundert erkenntniskritischer Arbeit hat uns ernüchtert. Uns löst die Naturwissenschaft keine Welträtsel mehr. Wir wissen: ihre Elektronen — das sind doch nur Hilfsmittel des Denkens, experimentell Erfahrenes zu ordnen; ihre Differentialgleichungen doch nur Rechnungsanweisungen, die Aufeinanderfolge der Erscheinungen, zu be­rechnen.

Und die neue Kunst? Sind nicht diese Romane, diese Theaterstücke, deren Technik mit dem Film konkurriert, Symptome nur der Mechanisierung alles Geistigen?

Viele der Besten unter den Intellektuellen lehnen sich gegen diese Kultur auf. Aus diesem positivistischen, relativistischen Wissen, das mit der ingenieursmäßigen Denkweise aufsteigt, aus diesem Wissen, das an die Stelle der „ewigen, ehernen Gesetze“, in denen eine vergangene Zeit die Lösung der Geheimnisse der Schöpfung zu entdecken glaubte, ein bloßes System von Gleichungen setzt, das die Wahrscheinlichkeit aufzeigt, mit der einem Vorgang ein andrer folgen werde — aus ihm fliehen sie alle, die Ingenieure unter ihnen mit, ins Transzendente, suchen die Befriedigung in mit dem Metaphysischen spielendem Wortgepränge.

Und dieses ganze Unbehagen an der Kultur unserer Zeit, sie übertragen es auch auf das Politische.

Was ist aus der Demokratie, in die die Intellektuellen vor zwölf Jahren hineingeschleudert worden sind, was ist aus ihr geworden?

Auf der einen Seite eine Maske der Plutokratie. Nie haben die Großbanken, nie die großen Industriekonzerne den Staaten so ihren Willen diktieren können wie in dieser Zeit der wirtschaftlichen Not, die den Staat von den Kapitalsherren so abhängig gemacht hat.

Auf der andern Seite aber der Aufstieg der Massen — der Massen, so wie sie der Kapitalismus geschaffen hat. Mit rauhen Händen. Mit dürftiger Bildung.

Verständnislos steht ein Großteil der Intellektuellen dieser neuen Macht gegenüber. Ihre Organisationen, in denen der Arbeiter das Betätigungsfeld individueller Initiative, individuellen Geltungstriebes, individueller Führerqualitäten findet, das ihm die Fabrik versagt — dem Intellektuellen erscheinen sie als Ungetüme nivellierender Massenballung. Das bißchen mehr Lohn, die Höhe der Arbeitslosenunterstützung — für den Arbeiter sind es Lebensfragen. Mieter­schutz — für den Arbeiter ist es die Frage, ob seine Kinder im Pubertätsalter neben dem Ehebett der Eltern schlafen sollen, ob er am Feierabend ein behagliches Heim finden, ob er für Wanderung, für einen Urlaub etwas erübrigen soll. Zölle — für den Ar­beiter ist es die Frage, ob er noch Arbeit finden soll! Aber was sagt all das, was die Masse bewegt, dem Intellektuellen? Was Menschen, deren Schicksal es ist, ihr ganzes Leben lang in fremdem Dienst, unter fremdem Kommando arbeiten zu müssen der Kampf um das Mitbestimmungsrecht im Be­trieb, um das Recht der Betriebsräte und der Personalvertretungen, der Kampf gegen den Unternehmerterror, der dem Arbeiter mit der Arbeit auch die Gesinnung zu dik­tieren sich vermißt, bedeutet — wie soll es der Intellektuelle, der allein und frei an seinem Schreibtisch schafft, ganz fühlen können?

So sieht mancher Intellektuelle an der Masse nichts, als daß sie rauh und unge­bildet ist; daß sie in Not, Erregung, Zorn zur Gewalttätigkeit neigt; daß ihr Aufstieg den politischen Kampf vergröbert, mechani­siert, materialisiert hat. Enttäuscht wendet er sich ab. Nun ist er reif für den Versucher. Nun lockt ihn das Phantasiebild einer autoritären Ordnung, die die Masse bän­digen, der „Arbeit edleren Stammes“, der schöpferischen, geistigen Arbeit die Führung sichern, die die Kraft des ganzen Volkes zur nationalen Selbstbehauptung zusammenfassen werde. So wird er reif für den Fascismus.

Auf der einen Seite die dumpfgrollenden Massen, die sich gegen die kapitalistische Ordnung auflehnen, die fünfzehn Millionen keinen Arbeitsplatz, keinen Erwerb zu sichern vermag. Auf der andern Seite die kapitalistischen Klassen, die, demokratisch, solange die Demokratie ihre Herrschaft nicht gefährdet, täglich bereit sind, sich dem Fascismus in die Arme zu werfen, wenn die Demokratie gegen sie zu entscheiden droht. Und zwischen beiden die Zwischenschichten, die die wirtschaftliche und geistige Erschütterung unserer Zeit dem Fascismus in die Arme zu treiben droht — spürt ihr die Gefahr?

Es ist nicht nur eine Gefahr für wirt­schaftliche Güter, nicht einmal nur eine Ge­fahr für Menschenleben. Es ist mehr.

Die geistige Freiheit ist der Lebensquell aller Demokratie. Daß alle Meinungen, alle Gesinnungen im freien Wettbewerb um die Seele des Volkes ringen können und jene obsiegt, für die sich jeweils die Mehrheit des Volkes in Freiheit entscheidet, das ist das Wesen der Demokratie.

Keine Diktatur kann geistige Freiheit dulden. Der italienische Fascismus und der russische Bolschewismus, die sonst eine Welt scheidet, in einem sind sie eins: Ein Häuflein von Gewalthabern bestimmt, was gesprochen, gelehrt, gedruckt werden darf. Es gibt nur eine Meinung, nur eine Überzeugung, die erlaubt ist. Kein Lehrer, der sie nicht lehren will, wird an den Schulen, von der Volks- bis zur Hochschule, geduldet. Keine Zeitung, kein Buch, das sie nicht verkündet, kann ge­druckt, kein Kunstwerk, das ihr nicht dient, geschaffen werden. Wer eine andre Meinung zu äußern wagt, der endet auf den Liparischen Inseln da, auf der Ssolowkiinsel dort!

Drei Jahrhunderte lang sind die Besten der Menschheit auf den Scheiterhaufen, in den Bastillen, auf den Barrikaden für die geistige Freiheit gestorben. Sie ist das kostbarste Erbe des Kampfes dreier Jahr­hunderte. Das kostbarste Erbe, das uns die bürgerliche Geschichtsepoche hinterlassen hat. Sie ist heute in bitterernster Gefahr. Wenn die Gegensätze, die die wirtschaftliche und die geistige Weltkrise des Kapitalismus her­vorruft, die Demokratie sprengen, begraben sie die geistige Freiheit unter ihren Trümmern.

Sind aus der Schöpferkraft der geistigen Freiheit die ganze moderne Naturwissenschaft und damit auch die ganze moderne Technik geboren worden, so bringt jetzt die moderne Technik, die unter der Herrschaft des Kapitals alle wirtschaftlichen, sozialen, geistigen Widersprüche bis zur Sprengung der Demokratie zu entwickeln und zu verschärfen droht, ihre eigene Mutter, die geistige Freiheit, in ernsteste Gefahr.

Wo ist der Ausweg? Wo ist die Rettung der geistigen Freiheit?

Es ist der Kapitalismus, gegen den sich die Massen auflehnen. Der Kapitalismus, der die Demokratien kapitalistischen Plutokratien Untertan macht. Der Kapitalismus, der die harte Fron in Fabrik und Büro entadelt, indem er die Arbeit für die Gesamt­heit zum Dienst am Profit von Privatleuten erniedrigt. Der Kapitalismus, der immer wieder Millionen Menschen müßiggehen und darben läßt, obwohl die Maschinen da sind, die diese Menschen bedienen, die Rohstoffe, die sie verarbeiten möchten —, Millionen müßig gehen läßt, obwohl Millionen Nahrung und Kleidung und Wohnraum entbehren.

Eine Demokratie, die nur eine Maske kapitalistischer Plutokratie ist, eine Demo­kratie, die die kapitalistische Herrschaft im Staate und die kapitalistische Anarchie im Wirtschaftsleben verewigt, wird die Massen nicht festzuhalten vermögen. Eine Demokratie, die ohne schöpferisches Ideal in den kleinen Aufgaben des Alltags aufgeht, wird die Sehnsucht der an das laufende Band gefesselten Massen nach größerem, erhebenderem Erleben nicht befriedigen können. Die Demokratie wird nur dann im festen Willen der breiten Massen unzerstörbar ver­wurzelt sein, wenn sie die Massen durch die Tat überzeugt, daß sie die Gebrechen der Gesellschaftsordnung, gegen die sich die Massen auflehnen, allmählich zu überwinden, daß sie schrittweise eine andre, eine höhere, eine sozialistische Ordnung aufzubauen ver­mag.

Warum gibt es in Wien viel weniger Kommunisten und viel weniger Nationalsozialisten als in Deutschland? Weil das Werk der Gemeinde Wien hier der Masse gezeigt hat, daß auch eine mit den demo­kratischen Mitteln gewonnene und behauptete Macht befähigt ist, Zehntausenden Arbeit, Zehntausenden Wohnungen, Zehntausenden soziale Hilfe in der Not, dem ganzen Volke mehr Kultur für seine Kinder zu sichern, Keimzellen neuer sozialistischer Ordnung zu bauen.

Bolschewismus und Fascismus locken die Massen: Ihr müßt der Demokratie entsagen, euch einer Gewaltherrschaft unterwerfen, auf die geistige Freiheit, das kostbarste Erbe der Vergangenheit, verzichten; denn nur eine Diktatur kann euch aus eurer wirtschaftlichen, sozialen Not befreien, kann euer Bedürfnis nach größerem Erlebensinhalt befriedigen. Die Demokratie kann sich gegen ihre Lockungen nur behaupten, wenn sie der Masse durch die Tat beweist, daß sie selbst aus einer Herrschaftsform des Kapitals zum Werkzeug der Befreiung der Arbeiterklasse, zur Stätte schöpferischen sozialistischen Aufbaues werden kann.

Die bürgerliche Demokratie will geistige Freiheit ohne soziale Befreiung. Sie kann die Massen nicht festhalten. Der Bolschewismus und der Fascismus versprechen den Massen soziale und nationale Revolution, um den Preis des Verzichtes auf die Demokratie.

Das wäre das Ende der geistigen Freiheit. Der demokratische Sozialismus vereint das große Erbe der Vergangenheit mit der großen Aufgabe der Zukunft: eine sozialistische Welt, die entstehen soll aus freier Ent­schließung der im geistigen Ringen dem Sozialismus gewonnenen Völker, aufgebaut in freier Selbsttätigkeit sich demokratisch selbstregierender Massen.

Kann diese Vision des demokratischen Sozialismus Wirklichkeit werden? Es kann geschehen, daß sich die kapitalistischen Klassen dem Fascismus in die Arme werfen, sobald die Demokratie ihrer Herrschaft gefährlich wird. Daß sie die Entscheidung durch die Gewalt erzwingen. Daß die Demokratie in blutigem Bürgerkrieg zugrunde geht. Und Krieg und Bürgerkrieg haben immer in der Geschichte Diktaturen gezeugt. Das wäre das Ende der geistigen Freiheit. Gegen diese Gefahr kämpfen wir. Vor diesen Gefahren die Menschheit zu retten — das ist es, wo­rum der demokratische Sozialismus heute in der Welt ringt.

Das ist es. was unser Linzer Programm, um das Ignoranz und Lüge ihr Gewebe der Entstellung gewoben haben, verkündet hat. Klar, unzweideutig hat es verkündet: Wir wollen die Macht zum Umbau der Gesell­schaft erringen im demokratischen Kampf um die Seele der Mehrheit unseres Volkes. Wir wollen diesen Umbau vollziehen auf dem Boden der Demokratie, unter allen Bürg­schaften der Demokratie, unter der demokrati­schen Kontrolle des ganzen Volkes. Aber warnend hat das Linzer Programm hinzugefügt: „die Kapitalistenklasse werde versucht sein, die demokratische Republik zu stürzen, eine monarchistische oder fascistische Diktatur aufzurichten, sobald das allgemeine Wahl­recht die Staatsmacht der Arbeiterklasse zu überantworten droht oder schon überant­wortet haben wird“. Warnend hat das Linzer Programm hinzugefügt, daß jeder Versuch, die Entscheidung des Stimmzettels zu er­setzen durch die Entscheidung der Gewalt das Land in den Bürgerkrieg stürzen würde. Und der Bürgerkrieg freilich gebiert, wer immer in ihm siege, nach allen Erfahrungen der Geschichte die Diktatur. Bestätigen die Gefahren, in denen Österreich heute schwebt, bestätigen sie nicht die große Warnung des Linzer Programms?

Wir haben in unserem Lande 1919 — zwischen Budapest und München — die Demokratie vor dem Bolschewismus gerettet. Wir haben sie heute — zwischen Rom und Budapest— vor dem Fascismus zu retten. Das ist unser Kampf um die Demokratie — um das kostbare Gefäß der geistigen Frei­heit!

Die geistige Freiheit — sie allein kann allmählich die geistige Weltkrise überwinden, die die Besten unserer Zeit erschüttert. Die bürgerliche Demokratie, eine Demo­kratie ohne großes, begeisterndes Ziel, eine Demokratie, die restlos aufgeht in den kleinen Tageskämpfen um Zölle und Unter­stützungssätze und Steuern, eine Demokratie, die sich erschöpft in dem ewigen Einer­lei täglicher Kompromisse — sie sagt dem Geiste der Zeit zu wenig. Eine Intelligenz, die aufgeht in der Ideallosigkeit des täglichen Getriebes der bürgerlichen Demokratie, denkt skeptisch, relativistisch. Sie flüchtet vor ihrer eigenen Skepsis, vor ihrem eigenen Rela­tivismus, vor ihrer eigenen Ideallosigkeit in die Sehnsucht nach dem Abenteuer, nach der geschichtlichen Tat, nach der straffenden Disziplin, in die Sehnsucht nach dem Fascismus und bringt so den Lebensquell ihres, eigenen Schaffens, die geistige Freiheit, in Gefahr. Nur die Vision des demokratischen Sozialismus kann die Demokratie mit einem Ideal beseelen, ihre kleinen Tageskämpfe durch ein hohes Ziel, das sie verknüpft, adeln, das Bedürfnis der zur entseelten Arbeit verdammten Masse nach größerem, höherem Erlebnis befriedigen, den skeptischen Relativismus der Intelligenz, der sich, seiner selbst überdrüssig, geistig in das Abenteuer metaphysischer Romantik, politisch in das Abenteuer des Fascismus wirft, durch ein hohes Schaffens-, durch ein hohes Kampfziel überwinden.

Das Zeitalter ist zerrissen im Verhältnis zu seinen eigensten Errungenschaften. Stolz auf die Technik und doch unzufrieden mit den sozialen und geistigen Wirkungen der technischen Umwälzung. Die sozialistische Organisation des Wirtschaftslebens — es ist nichts andres als die Aufgabe, die Technik, die unter der Herrschaft des Kapitals den Arbeiter aus der Produktionsstätte hinausschleudert, den Bauern in Not stürzt, das geistige Leben mechanisiert, zum Instrument zu verwandeln, den Wohlstand aller zu heben, die Arbeits­mühe aller zu lindern, die geistige Kultur der Massen zu bereichern. Die Aufgabe, die Wissenschaft in ihrer technischen Verwertung, die heute über das Volk wie ein grausames, Lebensgrundlagen und Lebensglück von Millionen zerstörendes Schicksal hereinbricht, den Völkern zum dienenden, bereichernden Erbe zu geben und damit den Völkern zu ver­söhnen. Gibt es ein andres Ideal, das das ingenieursmäßige, das technisch-naturwissenschaftliche, das positivistische Denken unserer Zeit, das so viele nicht zu befriedigen vermag und sie darum zur Flucht in das trügerische Wortgepränge neumodischer Scheinmetaphysik treibt, vereinigen und versöhnen könnte mit den hohen Menschheitswetten, die der beste Kern unserer humanistischen Kulturtradition sind?

Aber halt! Da sprechen wir von Mensch­heitsproblemen. Sie werden nicht in Österreich gelöst werden. Über sie wird sicherlich nicht in diesem Wahlkampf entschieden. Und doch — es gibt einen Faden, der die Probleme der großen geistigen Weltkrise der Zeit selbst mit unserem kleinen österreichischen Tages­kampf verbindet!

Die Bürger dieser Stadt mögen die rote Gemeindeverwaltung schmähen wie sie wollen — es bleibt dennoch wahr, daß ihr Werk ein Gegenstand des Stolzes, ein Mittel der Wer­bung für den demokratischen Sozialismus der Welt ist. Bei englischen Grafschaftswahlen und schweizerischen Gemeindewahlen, in reichsdeutschen und in französischen Wahlkämpfen haben die Sozialisten das Werk der Gemeinde Wien als ein werbendes Beispiel der Schaf­fenskraft des demokratischen Sozialismus Bürgern, Fascisten und Bolschewiken ent­gegengehalten. Wo immer Sozialisten mit Bourgeois, mit Fascisten und Bolschewiken diskutieren, wird um Wien gekämpft! Wir haben der Welt des demokratischen Sozialis­mus etwas gegeben. Wir haben für sie etwas zu verteidigen. Unser Kampf um Behauptung und Entwicklung unserer Leistung gegen spießerhafte Unkultur und fascistische Bruta­lität — es ist ein Kampf, dessen Ausgang für die Werbekraft der Idee des demokratischen Sozialismus in der Welt etwas bedeutet! In der Enge unseres Raumes ringen wir doch um etwas, was der großen Welt wichtig und wert ist, ringen wir um unseren Beitrag zu der Be­wältigung der Aufgabe, die der Welt gestellt ist: der Aufgabe der Synthese der Demo­kratie und des Sozialismus. Der Demokratie, der Bürgin der geistigen Freiheit, und des Sozialismus, der Lösung der geistigen Weltkrise. (Aus: Der Kampf, H. 11/1930, S. 449-454.)

In: AZ, 1.11.1930, S. 4-5.

N.N. [Friedrich Austerlitz]: Deutsch oder russisch? (1918)

Die Demokratie die die Voraussetzung des Sozialismus –: das war bis vor einem Jahre die gemeinsame Überzeugung aller Sozialdemokraten der Welt, die Überzeugung, die den Sozialismus vom Anarchismus schied. Im Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht ist die Sozialdemokratie entstanden; daß alle Macht im Staate Vertretungskörperschaften übertragen werden müsse, die vom ganzen Volk frei gewählt werden sollen, war die erste Forderung jedes sozialdemokratischen Programms.  Wofür wir gekämpft haben seit einem halben Jahrhundert, das zu verwirklichen ist jetzt in unserer Macht: Die Fürsten sind davongejagt, die Herrscherhäuser beseitigt, die Wahlrechtsprivilegien zertrümmert; wir können jetzt, wenn wir nur wollen, die alte Forderung restlos verwirklichen, alle Macht der vom ganzen Volk gewählten Körperschaft übertragen.

            Aber jetzt, da wir diesem Ziele nahe sind, halten manche unserer Genossen seine Verwirklichung nicht mehr für erstrebenswert. Der demokratischen Selbstregierung des ganzen Volkes, für die sie selbst seit Jahrzehnten gekämpft haben, stellen sie jetzt die „Diktatur des Proletariats“ entgegen. Nicht Vertretungskörper, die aus allgemeinem und gleichem Wahlrecht gewählt werden, sollen das Land regieren, sondern Arbeiter- und Soldatenräte. Es soll nicht allen Staatsbürgern das gleiche politische Recht zustehen, sondern die Arbeiter und die Soldaten allein sollen den Staat beherrschen, die Angehörigen aller anderen Klassen sollen von allen politischen Rechten ausgeschlossen sein.

            Der Gedanke ist zuerst in Rußland aufgetaucht. Die zweite russische Revolution im Oktober 1917 gab die Herrschaft den Arbeiter- und Soldatenräten. Doch dachte man auch damals noch nicht daran, die Räte an die Stelle der aus dem allgemeinen Wahlrecht gewählten Nationalversammlung zu setzen. Erst nach der Oktoberrevolution wurde die Nationalversammlung gewählt und einberufen. Als es sich aber zeigte, daß die Industriearbeiter in dem überwiegend noch bäuerlichen Lande eine Minderheit sind, daß daher über die Mehrheit in der Nationalversammlung die Vertreter der Bauernschaft verfügten, jagten die Bolschewiki die Nationalversammlung auseinander, ohne eine neue Nationalversammlung wählen zu lassen. Jetzt erst tauchte der Gedanke auf, daß das allgemeine Wahlrecht überhaupt nicht geeignet sei, ein sozialistisches Gemeinwesen zu begründen; nur die Diktatur der Arbeiter- und Soldatenräte könne den Übergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaftsordnung herbeiführen.

            Diese Ansicht ist damals schon heftig bekämpft worden; nicht nur in Rußland von den Menschewiki und den Sozialisten-Revolutionären, sondern auch von den sozialdemokratischen Parteien West- und Mitteleuropas. Besonders Kautsky, der bedeutendste und bekannteste Vertreter der Marxschen Schule, hat in seiner lesenswerten Broschüre Die Diktatur des Proletariats die neue Lehre der Bolschewiki heftig bekämpft. Er hat gezeigt, daß der Versuch, die Demokratie durch die Diktatur, die Gleichberechtigung aller durch das Privileg der Arbeiter und Soldaten zu ersetzen, die Alleinherrschaft der Arbeiter durch die politische Entmündigung der Kleinbürger und der Bauern zu begründen, zu nichts anderem führen könne, als zu blutigen Bürgerkriegen, zu endlosen Wirren, innerhalb deren die große Aufgabe des Ausbaues einer sozialistischen Gesellschaftsordnung nicht vollbracht werden könne. Wohl müsste das Proletariat die Herrschaft im Staate zu erringen suchen; aber das könne es nicht gegen die Demokratie, nicht dadurch, daß es das allgemeine Wahlrecht beseitigt, sondern nur dadurch, daß es die Mehrheit der Wähler für sich gewinnt.

            In Rußland freilich hat ein sehr großer Teil der Arbeiterklasse an der Ansicht festgehalten, daß nur die Diktatur der Arbeiter- und Soldatenräte die kapitalistische Gesellschaftsordnung zertrümmern könne. In der Tat ging ja diese Ansicht aus den besonderen russischen Verhältnissen hervor. Da das industrielle Proletariat kaum ein Zehntel der Bevölkerung Rußlands bildet, kann es nicht hoffen, daß das allgemeine und gleiche Wahlrecht ihm die Mehrheit in der Nationalversammlung gibt. Deshalb sind die Bolschewiki Gegner des allgemeinen Wahlrechtes; deshalb haben sie den Grundsatz verfochten, nicht eine aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorgegangene Nationalversammlung, sondern die von den Arbeitern und Soldaten gewählten Räte allein sollten den Staat beherrschen. Die Formel „Alle Macht den Arbeiter- und Soldatenräten“ ist hervorgegangen aus der wirtschaftlichen Rückständigkeit Rußlands.

            Aber in Rußland entstanden, hat diese Staatsidee bald über die Grenzen hinaus gewirkt. Auch die große deutsche Revolution hat die Macht zunächst in die Hände der Arbeiter- und Soldatenräte gelegt. So tauchte auch in Deutschland die Frage auf: Soll die Staatsgewalt in den Händen der Räte bleiben oder soll die von den Räten ernannte Regierung die Wahl einer Nationalversammlung ausschreiben, damit das ganze deutsche Volk durch allgemeines und gleiches Wahlrecht seine künftige Regierung einsetze? Deutschland steht also heute vor derselben Frage, vor der vor einem Jahr Rußland stand. Aber es hat diese Frage unter ganz anderen Voraussetzungen zu beantworten.

            In Deutschland ist das Proletariat nicht wie in Rußland eine kleine Minderheit, sondern die große Mehrheit der Bevölkerung. Die russischen Arbeiter können bei allgemeinem und gleichem Wahlrecht die Mehrheit in der Nationalversammlung nicht erringen; die deutschen Arbeiter brauchen nur einig zu sein, um die Mehrheit in der Nationalversammlung zu erobern! Nur Kleinmütige, die der deutschen Arbeiterklassen nicht die Fähigkeit zutrauen, ihr eigenes Interesse zu erkennen, können glauben, daß das deutsche Proletariat sein Schicksal dem allgemeinen Wahlrecht nicht anvertrauen könne. Wer zu der Einsicht des deutschen Proletariats Vertrauen hat, darf darauf rechnen, daß das deutsche Proletariat auf der Grundlage des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes unschwer die Mehrheit in der Nationalversammlung erobern wird. Die Herrschaft des Sozialismus in Deutschland wird ungleich gefestigter sein, wenn sie sich auf eine vom ganzen Volke gewählte Nationalversammlung stützt, als wenn sie einen großen Teil des deutschen Volkes aller politischen Rechte beraubt; denn nur das gleiche Recht aller, nicht das Privileg einer Klasse kann eine feste und gesicherte Regierungsform begründen.

            Der Versuch einer Sowjetdikatur hätte in Deutschland zunächst wohl dieselben Wirkungen wie in Rußland: er würde den offenen Bürgerkrieg herbeiführen und dadurch das ganze Wirtschaftsleben zerrütten und die Gefahr der Einmengung des Entente-Imperialismus in Deutschlands innere Verhältnisse vergrößern. Ein so gefährliches Experiment wäre begreiflich, wenn es für Deutschlands Arbeiterklasse keinen anderen Weg gäbe, sich von der Kapitalsherrschaft zu befreien. Aber so ist es nicht. In dem russischen Agrarland mag das Proletariat nur durch die Diktatur die Macht festhalten können; in dem deutschen Industriestaat kann das Proletariat durch die Demokratie die Herrschaft erringen. Das deutsche Proletariat hat nicht russische Beispiele ungeprüft zu übernehmen; es hat nach seinen besonderen deutschen Kampfbedingungen seine Waffen zu wählen.

            Die Konferenz der Bundesstaaten hat beschlossen, eine konstituierende Nationalversammlung wählen zu lassen und die Vorbereitungen zur Wahl möglichst zu beschleunigen. Damit ist die grundsätzliche Entscheidung gegen die Diktatur, für die Demokratie gefallen; auch in Deutschland soll das Volk durch die Wahl der Nationalversammlung entscheiden, ob es eine Geldsackrepublik oder eine sozialistische Republik haben will. Gelingt es den deutschen Arbeitern allen inneren Zwist zu überwinden und ihre ganze Kraft gegen die Bourgeoisie zu sammeln, dann wird die deutsche Republik das erste wirklich sozialistische Gemeinwesen der Welt sein. Und der Sieg des deutschen Proletariats wird auch unser Sieg sein. Denn auch Deutschösterreich wird ein Teil des sozialistischen Deutschland von morgen sein.

In: Arbeiter-Zeitung, 27.11.1918, S. 1.

Hans Tietze: Die Krise der Gegenwartskunst. (1931)

Von Krisen in der Kunst ist oft die Rede gewesen. Jedesmal, wenn eine Generation ihre Leistungsfähigkeit erschöpft hatte und eine neue mit unterirdisch lang vorbereiteter Opposition hervor­trat, gab es im Faden der Kunstentwicklung einen Knoten, der sich dem nachsichtigen Blick der unmittelbar Interessierten zu einer richtigen Revolution vergrößerte; immer wenn wir nicht weiter können, glauben wir, daß die Kunst zu Ende ist. Als an der Jahrhundertwende der letzte müde Wellenschlag des Impres­sionismus verebbte, schien ein neues Kapitel anzuheben; Expres­sionismus, Kubismus, Futurismus, die die geheimsten Triebkräfte drei großer europäischer Nationen, des deutschen, französischen, italienischen Volks, in eine künstlerische Formel spannten, prokla­mierten ihr Lebensrecht; der elementare Ausbruch dreier in ihrem Grundwesen verschiedener, dennoch in ihrer Leugnung alles Vorangegangenen einmütiger Ausdrucksweisen rechtfertigte die neue Kunst als die Sprache der dem Krieg geweihten Generation.

Auf jene erschütternde Kundgebung, mit der die Kunst das angstvoll gehütete Ereignis der nahenden Katastrophe voraus­ahnend herausschrie, ist tiefe Ernüchterung vieler Einzelner und der Allgemeinheit gefolgt; jener von ungeheurer Ergriffenheit zuckende Taumel will nun als ein Feuerwerk erscheinen, in dem eine von ihren Wurzeln gerissene Kunst ihre letzten Lebenskräfte verbrannte. Als Reaktion gegen die geflissentliche Unsachlichkeit von gestern ist eine nicht minder gewollte Sachlichkeit als Aus­druck einer Ermüdung entstanden, an der Erschöpfung und schöpferische Pause in unberechenbarem Verhältnis Anteil haben. In dieser Metamorphose macht die Plötzlichkeit stutzen, mit der die Kunst aus dem Extrem der Unverständlichkeit ins Extrem der Verständlichkeit taumelt. Das Gefühl, das sie, um sich zu retten, sich preisgibt, beherrscht nicht nur die Ästheten von gestern, für die eine Kunst ohne Dunkel und Heimlichkeit immer eine banale bleibt; auch unverbrauchterer Instinkt erwartet von der Kunst, daß sie ausspreche, was die Allgemeinheit braucht und wünscht, aber selbst nicht weiß. Das Opfer künstlerischer Feinfühligkeit, das die neue Sachlichkeit gebracht hat, hat die Kunst nicht po­pulärer gemacht; es hat sich nichts geändert, als daß es eine Kunst­richtung mehr gibt.//

Damit ist aber der Kern der heutigen Krise der Kunst nicht getroffen; nicht wie diese sein soll, sondern ob sie sein kann, ist brennend geworden. Der wirtschaftliche Zusammenbruch hat alle Schleier von dem Zustand gerissen, in den sie durch ihre ausschließliche Ästhetisierung im Lauf von Jahrhunderten ge­raten war: zur Befriedigung eines ideellen und materiellen Luxus­bedürfnisses. Solange nun die Wirtschaft über Überschüsse ver­fügte, kamen diese den an sich unnötigen künstlerischen oder wissenschaftlichen Zwecken — denn die Selbstzwecklichkeit der Wissenschaft hat sich ganz parallel zum l’art pour l’art entwickelt — zugute. Was zulässiges Wohlleben gewesen war, ist dann — wie manches andere — unerlaubter Luxus geworden; die Kunst, die als gesellschaftliches Tun von den überschüssigen Energien gespeist wird, die sich nicht im nackten Lebenskampf verbrauchen, sie stirbt ab, wenn diese Kräfte versiegen.

Wir haben hundertmal darüber gesprochen, wieso diese tief­gehende Entfremdung zwischen Kunst und Allgemeinheit ent­standen ist; wir wissen, daß die soziale Umschichtung, die außer­halb der bisherigen Tradition stehende Kreise zu Macht und Ein­fluß erhob, dabei ebenso mitgewirkt hat wie die Veränderung der Produktion aus einer handwerklichen in eine maschinelle oder das Vordringen materieller Gesinnung auf allen Gebieten. Alle diese, seit dem Ende des XVIII. Jahrhunderts ausschlaggebend gewordenen Faktoren haben mitgeholfen, aber sie sind gegenüber der Hauptursache, der Tendenz der Kunst zur Selbständigkeit und Selbstherrlichkeit, sekundär. Kunst wurde in langen Jahrhunder­ten europäischer Geschichte in engstem Zusammenhang mit dem religiösen Leben erzeugt; als Schmuck des Gotteshauses, als Be­lehrung der Gemeinde, als Bestätigung und Bekräftigung herr­schender Gläubigkeit. Daneben und später, um dem Glanz des Fürsten zu dienen, um patriotische oder humanitäre — in beiden Fällen soziale — Empfindungen zu fördern, um das Andenken bestimmter Personen festzuhalten oder um Kenntnisse zu ver­mitteln; um der Bildung, dem Schmucktrieb der Erotik zu dienen. Die dieses Bündel von Zwecken zusammenfassende Tendenz zum Ästhetischen hat sich nachmals emanzipiert. Die Kunst wurde eine selbstherrliche Weltdeutung, sie setzte ihren Ehrgeiz mehr als in die Erfüllung jener anderen Zwecke in die Lösung der im engsten Sinn des Wortes künstlerischen Probleme; sie wurde Selbstzweck und geriet dadurch immer mehr in eine glänzende und schließlich verderbliche Isolierung.

Dadurch hat die Kunst die feste äußere Bindung verloren, von der sie sonst ihre Stütze erhielt; sie war ein bürgerliches Hand­werk und ist eine Mission geworden. Der äußere Beruf des Künst­lers hat sich in eine innere Berufung umgewandelt, seit in seinem Tun nur mehr das Schöpferische galt; man hat ihn zum Hüter des der Menschheit geschenkten prometheischen Funkens gemacht// und ihm dadurch den Sparherd bürgerlichen Daseins verwehrt. Seine Ausbildung, seine Produktionsweise, seine ganze soziale Existenz ist auf ein Künstlertum zurechtgeschnitten, das verein­zelten Genies entspricht, aber den Durchschnitt zugrunde richtet; „alles oder nichts“, auf dem seine Wirksamkeit beruht, ist seine Glorie und sein Todesurteil. Denn eigentlich hat in der heutigen Auffassung der Kunst, jeder, der nicht das Höchste erreicht, seine Existenz verfehlt. Dies gilt auch im materiellen Sinn. Da der Künstler nicht für Auftraggeber arbeitet, sondern für Sammler, sich nicht an die Allgemeinheit wendet, sondern an die Kenner, eine Erfüllung außerkünstlerischer Zwecke als Prostitution emp­findet, ist seine wirtschaftliche Basis zu schmal geworden. Er hat als Abnehmer nur die verschwindende Minderzahl jener, die im Kunstwerk nichts suchen als ästhetische Befriedigung, während er dem unvergleichlich größeren Kreis jener völlig entfremdet ist, die vom Kunstwerk in der ästhetischen Form die Erfüllung ganz anderer Bedürfnisse erwarten.

Kunst ist genialer Eingebung entwachsende Schöpfung und die professionelle Ausübung bestimmter Tätigkeiten; Künstler ist der einsame Deuter der tiefsten Geheimnisse und der Hersteller von irgendwelchen Bildern, Plastiken und graphischen Blättern — wie von Abendlektüre und musikalischer Unterhaltung. In einen Begriff faßt die Armut der Sprache zusammen, was in Art und Rang von Grund aus verschieden ist. Die ästhetische Terminologie unterscheidet zwar gelegentlich zwischen „Hochkunst“ und „Niederkunst“, aber diese Scheidung ist zu schwach, im Sprach- und Denkgebrauch verfließen im Namen der Kunst: Kunst und Nichtkunst, polare Gegensätze, die unendliche Übergänge ver­binden. Im Verschwimmenlassen dieser Grenzen liegt der Grund des Chaos, in dem wir stecken; wir vergewaltigen die Kunst mit den Maßstäben der Hochkunst, aber auch diese mit den Maßstäben jener.

Und hier könnte der Punkt sein, von dem aus sich die letzte Wandlung in der Kunst grundsätzlich anders darstellte als frühere; vielleicht ist die fragwürdige Primitivität der neuen Mode doch ein Symptom tieferer Umkehr; schließlich haben doch die falschen Schäferinnen der Eremitagen die Herrschaft der echten Fisch­weiber vorbereitet. Die Radikalen an der Jahrhundertwende hatten um der Selbstherrlichkeit der Kunst willen alle Tradition des Sehens und Gestaltens über Bord geworfen; die Modernen von heute unterwerfen sich der solidesten Tradition, geben aber die besondere Mission der Kunst preis. Sie wollen etwas machen, was so aussieht wie die Kunst von früher, aber doch nicht Kunst mit dem Anspruch des Selbstzwecks ist. Dieser Prozeß ist gewiß kein bewußter, da zuviel vom Gestern noch ins Heute hereinhängt, aber er enthält ein in die Zukunft weisendes Element. //

Der Künstler wird, wofern er überhaupt weiter bestehen soll, auf die Ausnahmestellung, die ihm das neunzehnte Jahrhundert als trügerischen Ersatz für seine geminderte Bedeutung im sozialen Leben zuerkannt hat, verzichten und versuchen, seine Tätigkeit wieder zu einer als notwendig empfundenen zu machen. Er wird nicht mehr an dem prahlerischen Begriff eines dem Göttlichen sich nähernden Schöpfertums, der an den vereinzelten Genies höchsten Banges gebildet worden ist, zu schmarotzen brauchen, sondern im Rahmen anderer menschlicher Verrichtungen der seinigen nach­gehen; ein Handwerker, der die Bedürfnisse seines Publikums an­erkennt und befriedigt, ein notwendiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft. Daß er dabei vielleicht das meteorhaft unerrechen­bare Genie sei, das eine ganze Menschheit zu bereichern vermag, wird immer noch die heimliche Sehnsucht bleiben, die sein Tun befeuert, aber es wird nicht mehr die stillschweigende Voraus­setzung seines Daseins bilden, deren Nichterfüllung ihn ins Nichts des Überflüssigen stößt.

Die Krise der Gegenwartskunst ist möglicherweise ein Ansatz, aus der gespannten und übergespannten Situation hinauszufinden, in die unsere nur ästhetische Einstellung die Kunst gebracht hat. Diese soll wieder ein Handwerk werden, nicht so sehr in ihrer Technik wie in ihrer Gesinnung; eine Produktion, die sich wie jede andere an dem Bedarf des Konsumenten regelt; eine Tätig­keit, die der Raschheit und Beweglichkeit unseres Daseins entspricht, deren Ergebnisse sich in der Regel mit dem Tag ver­brauchen, für den sie entstanden und aus der, ausnahmsweise, ein oder das andere Mal das große Kunstwerk herauswachsen mag. Durch all dieses ein Tun, das auch wieder seine verlorene wirt­schaftliche Grundlage zurückgewinnen könnte.

In: Das Tage-Buch, H. 28/ 1931, S. 1103-1105.

Dr. J[osefine] W[idmar]: Tanz und Spiel in der Mittelschule. Allerhand Bedenklichkeiten. (1928)

Der Beginn des neuen Schuljahres bedeutet in vieler Hinsicht ein denkwürdiges Datum in der Entwicklung der österreichischen Mittelschule: Die Durchführungsbe­stimmungen für die neuen Lehrpläne unserer Mittel­schulen, die im Juni dieses Jahres bekanntgegeben wurden, umschließen tatsächlich für die studierende Jugend ein neues Bildungsprogramm. Auf den Erfahrungsgrundlagen alterprobter Bildungsgüter auf­gebaut, ragt die neue Mittelschule stolz und zukunftsfroh in das Neuland pädagogischer und didaktischer Errungenschaften hinein, mit denen die Erziehungs­wissenschaft aller Länder in den letzten Jahren bereichert wurde. Im Vordergrund unter den pädagogischen Reformgedanken der neuen Mittelschule steht die starke Hervorhebung der körperlichen Erziehung. In einer kürzlich erschienenen Verlautbarung des Unterrichts­ministeriums wurde ausdrücklich auf jenen Teil der neuen Lehrpläne hingewiesen, die sich mit den nunmehr

obligatorisch gewordenen Leibesübungen an den Mittelschulen befassen. Die jungen Mittelschüler und Mittelschülerinnen werden in Hinkunft zu der Erlernung von Schwimmen, Ski- und Schlittschuhlaufen, zu rhythmischem Turnen und Tanzspielen ebenso verpflichtet sein wie zu der Einprägung lateinischer Vokabeln und geometrischer Formeln. Zweifellos steht Österreich mit dieser Neueinführung beispielgebend unter den übrigen mitteleuropäischen Ländern da.

Es ist nun interessant, daß gerade dieser Programm­punkt der neuen Lehrpläne in vielen Eltern- und Pädagogenkreisen, die sonst dem Reformwerk des Unterrichtsministeriums mit Anerkennung und Interesse gegenüberstehen, mit einer gewissen Zurückhaltung auf­genommen wird. Namentlich aus den Bundesländern werden Bedenken und Zweifel laut: Es wird da die Befürchtung geäußert, die stärkere Betonung körperlicher Bildungswerte könnte die schon ohnehin stark gefährdeten geistigen Bildungsgüter an der Mittelschule noch mehr in den Hintergrund rücken, die Mittelschule zu einer Sport- und Unterhaltungsstätte herabdrücken. Mit unangebrach­ter Schärfe wurde sogar von „Harlekinaden“ und Tanzkränzchen an den Mittelschulen gesprochen.

Der letzte Grund dieser sachlich keineswegs gerechtfertigten Ablehnung gegen diesen Programmpunkt der neuen Mittelschule liegt wohl in dem Mißtrauen, das man auf dem Lande allen Wiener Schulerneuerungsbestrebungen ohne Unterschied entgegenbringt. Die maß­losen, nur von politischer Zielstrebigkeit diktierten Experimente der roten Schulreformer, der Raubbau, der gerade von dieser Seite an dem Bildungserbe unserer Mittelschulen getrieben wurde, hat dieses Mißtrauen gesät. Aber es darf nicht übersehen werden, daß gerade das Reformwerk des Unterrichtsministeriums diesem verderblichen Experimentieren und der Politisierung der Mittelschule ein Ziel gesetzt und ihre aus den Zeitverhältnissen gebotene Weiterentwicklung in fest um­schriebene Bahnen gelenkt hat.

Dieser Weiterentwicklung gehört nun sicherlich auch die stärkere Beachtung der Sport- und Bewegungspflege im Lehrplan der mittleren Bildungsanstalten. Es ist voll­kommen unrichtig und zwecklos, das Streben nach körper­licher Ertüchtigung und Leistungsfähigkeit, wie sie Sport und Spiel in der freien Natur gewähren, in Bausch und Bogen zu verdammen und in scharfen Gegensatz zu geistiger und seelischer Bildung zu stellen. Sport im weitesten Sinne ist heute ein Erfordernis des modernen Lebens geworden, auf das die Jugend nicht mehr verzichten kann und will. Er stellt den nötigen Ausgleich zu den immer mannigfaltiger und schwieriger sich gestal­tenden Aufgaben des Arbeitslebens dar, das erhöhte Spannkraft und Nervenstärke verlangt. Es ist Aufgabe aller Volkserzieher, darüber zu wachen, daß diese an sich gesunden Bestrebungen nicht in Rekordpsychosen und in  einen unsittlichen rein materialistischen Körperkult aus­arten, wie leider heute vielfach die Ansätze dazu vorhanden sind. Wenn die Schule den Sport und die Körperpflege in ihr Bildungsprogramm aufnimmt und in vernünftige Bahnen leitet, so leistet sie damit eins sehr zweckmäßige Vorbeugearbeit und gräbt zahlreichen Ausschreitungen von vornherein den Boden ab. Haben die jungen Leute von der Schule aus Gelegenheit zu schwimmen, zu rodeln, Skilaufen unter der Leitung und Überwachung eines tüchtigen Lehrers, so haben sie es nicht notwendig, diese Künste in Kursen und Gesellschaften zu betreiben, die, wie jedermann weiß, oft von nichts weniger als er­zieherischem Einfluß auf das Seelenleben der Mädchen und Jünglinge sind. Und wenn in Zukunft in unseren Mittelschulen die Weisen der alten lieben Tiroler und Kärntner Volkstänze und die Melodien Mozarts und Schuberts aufklingen und die jungen Menschen zum rhythmischen Gestalten und Bewegen einladen, so ist dies wohl ein Teil höchst notwendiger künstlerischer Jugenderziehung, das beste Gegen­mittel gegen die hemmungslose Hingabe an Jimmy, Jazz und Niggertänze! Vergessen wir es nicht, daß dieser Kulturschande von einer Gesellschaft Raum gegeben wurde, die, allzu einseitig intellektuell gebildet, ihr kein Bewußtsein bodenständiger Sport- und Bewegungskultur entgegenzusetzen hatte. In dieser Hinsicht ist eine schulgemäße maßvolle Sportbildung unserer Jugend nur zu begrüßen.

Es ist wohl auch nicht zu befürchten, daß die körper­lichen Übungen an den Mittelschulen eine Gefahr für den Lerneifer der Schüler und Studienresultate darstellen.

Dafür bürgt die ganze Anlage der neuen Lehrpläne, die die Erwerbung und Einübung von Wissensgütern in allen Lehrfächern auf das genaueste und strengste regelt. Übrigens sind die Grundsätze für eine moderne Körper­bildung, wie sie durch die Lehrpläne nunmehr gesetzlich normiert erscheinen, schon seit längerer Zeit an vielen Knaben- und Mädchenmittelschulen geübt worden, ohne daß irgend eine Schädigung des Bildungsniveaus be­merkbar geworden wäre.

In diesem Zusammenhang sei auch an die alten Militärakademien und k. u. k. Kadettenschulen der ehe­maligen Monarchie hingewiesen. Niemand wird heute diesen Anstalten überstürzten Reformeifer und revolutionäre Schulden vorwerfen. Dennoch hatten sie in ihrem Lehrplan Tanzen und Anstandslehre aufgenommen aus der vernünftigen Erkenntnis heraus, daß für jeden jungen Menschen, der einmal auch zu der bescheidensten Führer­rolle berufen ist, Beherrschung des Körpers und seiner Bewegungen notwendig ist. Umso weniger darf man es der modernen Mittelschule verargen, wenn sie diese alte Erkenntnis weiterführt. Sie öffnet damit nur die Bahn zur zeitgemäßen Erfüllung des alten humanistischen Bildungsideals, das Plato in seiner Politeia für die Ertüchtigung der Jugend. aufstellte.

Eltern und Kinder können mit aller Beruhigung dem Beginn des neuen Schuljahres entgegensehen. Die jungen Leute werden bald erkennen, daß trotz Ski, Tanzen und Rodeln das Gymnasium eine ebenso ernste und vielfordernde Lehr- und Lernschule geblieben ist wie bisher. Die Eltern aber werden sich freuen, daß ihre Kinder Sport und Spiel unter Schutz und Leitung der Schule betreiben und nicht auf abseitigen Nebenwegen!

In: Die Reichspost, 4.9.1928, S. 6.

Alfred Stern: Geschlechtsmoral in Ziffern. (1928)

Wir sterben aus!

Nicht als Notschrei ist der Ruf „Wir sterben aus!“ gedacht und nicht als Anklage die Feststellung, die neue Gesellschaftsmoral sei die Ursache dieses drohenden Aussterbens. Es handelt sich vielmehr nur um eine völlig wertungsfreie wissenschaftliche Erkenntnis von Tatsachen. An Gewicht gewinnen diese freilich dadurch, daß ein Nationalökonom vom Range des Berliner Hochschulprofessors, Geheimrat Dr. Julius Wolf, sie uns gleichsam mathematisch, mit den Ziffern des Statistikers beweist und diese Beweise gegen den Widerstand seiner Fachkollegen, insbesondere Lujo Brentanos, erfolgreich durchsetzt.

Während die Volkszahl Chinas noch in diesem Jahrhundert die erste Milliarde erreichen dürfte, sind die Geburtenziffern Europas und Amerikas in den letzten zwei Jahrzehnten auf die Hälfte gesunken. „Unabwendbar geht das Breitenwachstum der Völker abendländischer Kultur seinem Ende entgegen,“ so schließt Wolf aus den unerbittlichen Ziffern. Da die Annahme, die Geschlechtstüchtigkeit der modernen Menschheit sei gesunken, angesichts der kurzen Zeiträume, innerhalb welcher der Geburtenrückgang sich vollzogen hat, unhaltbar ist, kann nur die neue Geschlechtsmoral der zivilisierten Völker schuldtragend sein.

In seinem eben erschienen Buche „Die neuen Sexualmoral und das Geburtenproblem unserer Tage“[i] sucht Wolf diese Zusammenhänge an der Hand eines imposanten Zahlenmaterials zu begründen.

Was ist die neue Geschlechtsmoral?

Die neue Geschlechtsmoral manifestiert sich – nach Wolf – vor allem in einer bewußten Regelung der Zeugung. Der Gelehrte unterscheidet da drei Entwicklungsstufen der Zeugungswillens. Auf der ersten Stufe ist die Stellungnahme zu unerwünschten Folgen eine nachträgliche. Man behilft sich mit Aussetzen oder Tötung der Neugeborenen (z.B. in der Antike). Auf der zweiten Stufe gilt jede Eindämmung der natürlichen Folgen des

Geschlechtsverkehrs als schweres Verbrechen. Sie werden blindlings zugelassen – die Zeugung ist hier eine natur- und gottergebene. An deren Stelle tritt – auf der dritten Stufe – ein bewußter, individueller Zeugungswille oder Zeugungswiderwille, der die Kinderzahl persönlichen ökonomischen, ästhetischen, kulturellen Bedürfnissen anpaßt und dies durch planmäßige Verhütung oder willkürliche Beseitigung der Schwangerschaft erreicht.

Erst durch diese Rationisierung der Zeugung wird die Geschlechtsliebe eine „freie, von nichts mehr beschwerte Liebe, eine Liebe zur bloßen Lebenssteigerung der Liebenden“. Die „verwandelte Frau“ will nicht mehr die Sklavin des Hauses, sondern die Kameradin des Mannes sein und „mit der Kameradin seines Lebens will er verantwortungsbewußt, dabei auch dessen bewußt, was er der beiderseitigen Liebe und ihrer Erhaltung schuldet“, zeugen. Diese neue Geschlechtsmoral hat natürlich zuerst die wohlhabenden Schichten erfaßt, deren Kulturniveau bereits früher ein höheres war. Aber erst in dem Augenblicke, da die Masse mit der alten Geschlechtsmoral zu brechen begann, nahm der Geburtenrückgang, statistisch deutlich sichtbar, seinen Anfang.

Wolf weist nach, daß die Geburtenziffern nicht sanken, sondern sich eher erhöhten, so lange der soziale Aufstieg des Arbeiters nur ein materieller blieb. Erst der ungeheure kulturelle Aufschwung, den das Proletariat in den letzten Jahrzehnten nahm, führte zu einem rapiden Absinken der Geburtenziffern. Der intellektualisierte Arbeiter hatte eben die neue Geschlechtsmoral sich zu Eigen gemacht!

600.000 Abtreibungen im Jahr!

Es wäre verkehrt, zu meinen, die primäre Ursache für den Geburtenrückgang liege in der wachsenden technischen Vervollkommnung und Verbreitung der Vorbeugungsmittel. Diese sind nämlich erst eine Folge der neuen Geschlechtsmoral und der aus ihr erwachsenden Bedürfnisse. Dasselbe gilt auch von der Zunahme der Fruchtabtreibung. Wie man weiß, ist diese ja in Deutschland gesetzlich strenge verboten und darum auch sehr kostspielig. Trotzdem erreicht die Zahl der Abtreibungen im Deutschen Reiche pro Jahr mehr als 600.000 – eine Ziffer, die der Bevölkerungszahl Roms gleichkommt! Für Berlin wurde festgestellt, daß von hundert Frauen, die empfangen, vierzig die Schwangerschaft unterbrechen, davon aber nur 5% aus natürlichen Ursachen.

Sowjetrussische Geschlechtsmoral.

In Rußland dagegen ist die Fruchtabtreibung vollkommen freigegen und wird sogar in staatlichen Kliniken für Unbemittelte gratis vorgenommen. Trotzdem übersteigt die Geburtenzahl des Russischen Reiches – Wolf zählt Rußland nicht mehr zum Abendland, sondern zum Osten – die deutsche um ein Vielfaches, und die russische Bevölkerungszunahme beträgt pro Jahr nicht weniger als 2.5 bis 3.3 Millionen Menschen. Das Gros der russischen Bevölkerung macht eben von der erlaubten und kostenlosen Fruchtabtreibung nur geringen Gebrauch, da es noch nicht im Bann der neuen Geschlechtsmoral steht.

Durch sein Verbot erreicht Deutschland nur eine Bevölkerungsabnahme. Denn pro Jahr sterben dort bis zu vierzigtausend Frauen an stümperhaften Eingriffen und hunderttausende nehmen dauernden gesundheitlichen Schaden. Dagegen behauptet die russische Statistik – unter 300.000 von Ärzten vorgenommenen Eingriffen komme nicht ein einziger Todesfall vor.

Berlin und Wien – die Scheidungszentren Europas.

Ein Moment, das für den Geburtenrückgang zweifellos von gewissem Einfluß ist, aber auch durchaus dem extrem individualistischen Erscheinungskomplex der neuen Sexualmoral angehört, ist die Zunahme der Ehescheidungen. Aus einer diesbezüglichen, verblüffend interessanten Statistik Wolfs geht hervor, daß im Jahr 1926 Berlin mit seinen 7332 Scheidungen an der Spitze Europas marschierte. In Berlin allein lassen sich pro Jahr zweieinhalbmal so viel Personen scheiden wie in ganz England.

Paris, das sogenannte „Sündenbabel“, wird dagegen von den Autoren seiner frivolen Scheidungsschwänke anscheinend arg verleumdet. Denn mit seinen 4191 Scheidungen bei annähernd gleicher Bevölkerungszahl, bleibt es hinter Berlin weit zurück. Dagegen wies Wien, dessen Bevölkerungsziffer weniger als die Hälfte der Pariser beträgt, bereits im Jahr 1925 3241 Scheidungen auf, also relativ viel mehr als Paris. Selbstverständlich werden all diese Zahlen durch die Amerikas weit in den Schatten gestellt. Der Bevölkerungsziffer nach müßte die Anzahl der Scheidungen in den Vereinigten Staaten etwa zweieinhalbmal so groß sein wie die Deutschlands. In Wirklichkeit ist sie achtmal so groß. Diese Labilität der Ehe, die mit der Übertreibung des Frauenkultus in Amerika zusammenhängt, hat eine Scheu vor Kindern zur Folge. Nicht zuletzt diesem Umstande dürfte es daher zuzuschreiben sein, daß die Vereinigten Staaten zu den Ländern niedrigsten Geburtenüberschusses zählen. Amerikas Überschußziffer wird beispielsweise von der Österreichs um fast 70 Prozent übertroffen.

Deutschlands Fruchtbarkeit geringer als die Frankreichs.

Der Laie, der Wolfs Buch liest, wird vor Erstaunen kaum sich fassen, wie interessant manchmal Statistiken sein können! Wer hätte etwa gedacht, daß die französische Nachwuchsziffer (d.i. die Zahl der das erste Lebensjahr vollendenden Kinder auf 1000 Frauen im Alter von 15 bis 45 Jahren), die deutschen heute bereits um 4 Prozent übersteigt. Österreichs Nachwuchsziffer steht heute um 10% höher als die Deutschlands. In der kurzen Zeit von 1900 bis 1924 ist Deutschlands Fruchtbarkeit um 50% gesunken. Es hat heute die niedrigste Fruchtbarkeitsziffer von allen Ländern Europas. Trotzdem Österreich mit 160 Geburten auf 1000 verheiratete Frauen pro Jahr ein gutes Stück vor Deutschland steht, dessen Fruchtbarkeit mit 138 das europäische Minimum darstellt, ist unsere Republik gegenüber anderen Ländern dennoch ungünstig daran. Zwischen Wien und Berlin besteht in Hinsicht des Geburtenrückganges kaum mehr ein Unterschied. In Berlin sank die Geburtenziffer von 1911 bis 1926 von 20.8 auf 11, in Wien von 19.9 auf 12.2.

Wir gehen unter – aber wir sind zivilisiert.

Es ist uns ein schwacher Trost, daß wir uns auch damit als eines der stärkst zivilisierten Völker erweisen. Denn nach Wolf setzt das Durchdringen der neuen Sexualmoral einen hohen Grad von Intellektualität der Bevölkerung voraus. Als Beweis hierfür kann auch die Tatsache gelten, daß die weniger zivilisierten Länder vom Geburtenrückgang viel weniger betroffen wurden. Der gering zivilisierte Osten verdankt seine riesige Bevölkerungszunahme hauptsächlich dem Verharren in der teils religiös bedingten traditionellen Geschlechtsmoral. Wir beendigen die Lektüre von Wolfs Buch eigentlich mit dem Eindruck, die höchstzivilisierten Völker stünden dem Untergang am nächsten.

Wenn es Wolf gelungen ist, einen so tiefen Blick in den Mechanismus und die Motive der Bevölkerungsbewegung zu tun, so ist dies vor allem dem Umstande zuzuschreiben, daß er es wagte, das Geburtenproblem einmal nicht bloß unter dem Gesichtswinkel eine Spezialwissenschaft zu betrachten. Der Gelehrte Wolf verschmäht es nicht, auch vom praktischen Leben und dessen Niederschlag in der schönen Literatur zu lernen und erobert der Psychologie ein großes Stück neuen Bodens im Reiche der Nationalökonomie. Hier wird sie nun ebenso heimisch werden, wie sie in der Rechtswissenschaft geworden ist. Wolfs Buch ist in einem Stil von messerscharfer Logik abgefaßt, von unerbittlicher Zwangsläufigkeit in den Schlußfolgerungen, von starker Apercus und ästhetischen Wendungen. Julius Wolf beweist damit, daß Anmut der Darstellung die Würde der Wissenschaft nicht verletzen muß.

Dr. Alfred Stern.

In: Der Morgen. 5.11.1928, S. 5.


[i] Bei Gustav Fischer, Jena 1928.

Artur Ernst Rutra: Das Weltbild meiner Generation (1928)

Im folgenden versucht Artur Ernst Rutra, der Autor der Tragödie Vom Kronprinzen, deren Erstaufführung im Burgtheater bevorsteht, die Grundlagen aufzuzeigen, auf denen das Weltbild der Generation zwischen Dreißig und Vierzig sich aufbaut, und die zugleich der geistige Hintergrund sind, vor dem sein Werk sich abspielt.

Natürlich liegen alle Hintergründe eines Werkes, das Bestimmtes zu sagen sich vornimmt, in dem Weltbild beschlossen, das sich in dessen Urheber in den Jahren und Jahrzehnten gebildet hat, die er sehend, denkend und leidend erlebt hat. Sie liegen hier, im besonderen Falle, im Blickfeld einer bestimmten Generation, der Generation der Dreißig- bis Vierzigjährigen, in deren Mitte ich stehe, von der ich im allgemeinen sprechen zu dürfen glaube, wie selbstverständlich ein jeder aus ihr, der sich geistig mit der Zeit auseinandersetzt. Ich bin mir dessen bewußt, daß meine Betrachtung nur einen Ausschnitt aus einer mannigfaltigen darstellen kann, aber ich glaube, daß viele zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sein müssen.

Nach einer Zeit von zehn Jahren alter Welt, die mit dem Kriegswahnkollaps ihr Leben beschloß, und nach zehn Jahren des Zusammenbruchs und verfluchter Aufbauarbeit suchen wir uns Rechenschaft zu geben über diese zwei Jahrzehnte, die gerade in unserem Leben deutlichere Spuren eingezeichnet haben, als in irgend einem anderen gegenwärtigen vor oder nach uns. Die Jugend, die nachkommt, hat es leichter, und die heutige gerade, die sich manifestiert, macht es sich zuweilen, wenn auch hoffentlich nicht in ihren gültigen Vertretern, besonders leicht; sie operiert bereits mit dem Vorwurf an die Adresse der Alten und nimmt bedenkenlos die alten Formen auf, um sich nicht besser zu bewähren, als es den gescholtenen Vorfahren gegeben war. Eine merkwürdig alte Jugend mit zuweilen vergreisten, gewiß jedoch fertiggestellten Zügen, sehr bewußt, aber auch sehr geschickt, ohne Elan, doch von unleugbarem Talent in der Verwaltung des Sprachguts, ohne Einfälle – aber auch ohne Einfalt. Ein Geschlecht von Mechanikern und Konstrukteuren, das stolz darauf ist; es mögen die Vordringlichen sein, die es eilig hatten, denn es tauchen bereits die Anzeichen auf, daß andere, verantwortungsbewußtere, sie abzulösen sich anschicken. Die Generation vor uns: die einen haben es schwerer, weit schwerer als wir, und werden sich nie mit dem Verlorengegangenen abfinden können, oder sie haben so viel Boden unter ihren Füßen hinübergerettet, daß sie unangefochten und unbekümmert darauf stehen können. Sie sehen die Abgründe, die sich aufgetan haben, aber ihr Blick ist elastisch genug, darüber hinwegturnen zu können, oder er kehrt befriedigt zu sich selbst zurück. Vereinzelte Gipfel sind da, um die es gewittert, und solche, auf denen es der Sonne gut geht, die sie bescheint.

             In jeder Reihe von Generationen ist immer eine, die vom Fluch des Wissens getroffen ist. Sie hat nicht Gott, noch Götzenbild, sie hat nicht einmal sich selbst. Die eine, die es diesmal im Ablauf der Folgen ist, ist das Geschlecht des Krieges. Was ihr blieb von sich selbst, ist das Geschenk einer furchtbaren Gnade, die ihrem Leben das Mal von Toten auf Urlaub eingebrannt hat; aus dem Leben fraß es sich in Denken und Fühlen und in die Gestalten und Erscheinungen der Phantasie. Diese Generation schleppt auf ihrem Rücken ihre Toten mit sich, und vor sich sieht sie die lächerliche Fratze der Wohlfahrt, die um das eigene Wohlergehen besorgt ist. Sie sieht die Lüge, die hinter dem trainierten Muskel, der Schönheit oder Geste bedient, die Geste hinter der Tat, und keine Tat im Tun. Diese Generation, der kein Pardon gegeben wurde, ist nicht geneigt, Pardon zu gewähren. Sie kennt nur ein Gebot, klar zu sein und gerecht, und nur eine Verantwortung: die vor sich selbst. In einer Reihe von Büchern der letzten Zeit, die ich las, finden sich, jedes in seiner Art, die Bekenntnisse dieser Generation. Ich nenne einige Verfasser, die solche Bücher schrieben, die Beispiele von Klarheit, Unerbittlichkeit und gegebener Rechenschaft sind: Josef Roth, Schneider-Schelde, Gläser, von der Vring, Eisenrohr, Sochanczewer. Es sind Werke, die auch Gegner finden mögen, die aber wertvolle Zeugnisse und Dokumente dieser Generation bleiben.

             Ich habe es versucht, in meiner ersten Tragödie Der Kronprinz Erkenntnisse der letzten Jahre Gestalt werden zu lassen, die Zeugnis ablegen wollen, soweit ein Einzelner sich Abgabe eines Zeugnisses anmaßen darf.

             Wenn Gestalten der Phantasie, die das Leben gereicht hat, einmal Leben gewonnen haben, ist es um vieles leichter, ein Drama zu schreiben, als einen Roman. Im Roman darf man die Gestalten Leben gewinnen lassen, oder ein Drama, in dem der Dargestellte nicht von Anfang an lebt, ist kein Drama. Also ist es wieder um das Drama schwerer bestellt als um einen Roman.  Das Drama lebt von der Sparsamkeit, es muß auf vieles verzichten, was der Roman gestattet, der sich im Reichtum entfaltet.

             Ich habe in der Tragödie vom „Kronprinzen“, die vor fünf Jahren zum erstenmal sich mir formte, versucht, einer Welt die Gerechtigkeit der letzten Konsequenz widerfahren zu lassen, die sie sich selbst versagt hat. Das Erlebnis des Verfalls einer historischen mündete in das Gebilde einer phantastischen Welt, die heroische zugrunde geht in einer Zeit, die keinen Platz mehr hat für den Helden antiker Begriffswelt. Diese phantastische Welt hat sich den Tod ersiegt, nur bleibt sie im Bilde und dient ihm und der Legende. Mittelalterliche Welt, die jedoch als unzeitgemäße, in die Gegenwart gerückte Historie, ihren sinngemäßen, heroischen Untergang findet. Eine altgewordene Welt, die den Glauben verloren hat und niemals Liebe hatte. Eine neue Welt und löst sie ab. Sie ist jung und: „sie will Liebe und, um zu reifen, – Fehler und Geduld.“

In: Der Tag, 2.12.1928, S. 21.