Fritz Rosenfeld: Der visuelle Mensch (1926)

Fritz Rosenfeld: Der visuelle Mensch

            Die Verbindung des Individuums mit der Umwelt, des einzelnen mit der Gesamtheit, stellen der Gehör- und der Gesichtssinn her, die an Bedeutung die anderen Sinne bei weitem überflügeln. Schon von Natur aus sind diese zwei Sinne nicht bei allen Menschen gleich stark ausgebildet; bei dem einen, dem visuellen Typus; ist der Gesichtssinn stärker, bei dem anderen, dem akustischen, der Gehörsinn. Aber das gegenseitige Verhältnis dieser Sinne unterliegt auch Verschiebungen, die in den geistigen und seelischen Eigenschaften der Menschen einer Epoche ihren Ursprung haben. Ob wir die Vorgänge in der Umwelt vorzugsweise durch das Auge oder vorzugsweise durch das Ohr aufnehmen, macht nicht nur einen Unterschied in der Aufnahmeart, sondern auch einen Unterschied im aufgenommenen Stoff aus. Je nach dem nun, ob der Mensch einer Zeit den Erlebnisstoff sucht, den ihm das Ohr mitteilt, oder den, den er durch das Auge empfängt, wird er den einen oder den anderen Sinn stärker ausbilden. Aus der Art, wie der Mensch die Umwelt in sich aufzunehmen trachtet, läßt sich also auf seine geistige und seelische Beschaffenheit schließen.

             Jeder Mensch kann es an sich selber erproben, daß der Weg vom Auge zum Gehirn kürzer ist, als der vom Gehör zum Gehirn. Gesehenes wird leichter begriffen als Gehörtes. Daher verwendet man zur Unterstützung des Gehöreindrucks bei Vorträgen und in Büchern Bilder (das Lesen ist eigentlich, obgleich äußerlich ein optischer, im Kern dich ein akustischer Vorgang; das gelesene Wort wird in Töne umgesetzt.) Diese Bilder sind Illustrationen, und illustrieren heißt nichts anderes als erleuchten, erhellen – ein Dunkel aufhellen, das das gesprochene oder gelesene Wort immer noch in der Vorstellungswelt des Hörers oder Lesers hinterlassen hat. Das Bild, der optische Eindruck wirkt unmittelbar, auf dem Umweg über den Vorstellungsapparat, der die Worte, die Töne erst in Vorstellungswerte, also in innerlich Sichtbares umwandelt. Um diesen Prozeß der Verwandlung zu erleichtern, unterstützt man den Gehörsinn durch den Gesichtssinn. Der wenig phantasiereiche Mensch wird vielleicht aus all den Beschreibungen und Charakterzügen, die er im Laufe eines langen Romans vom Helden oder der Heldin bekommt, sich diese noch nicht vorstellen können, das heißt, er wird sie noch nicht bildhaft-plastisch innerlich zu schauen vermögen. Da kommt ihm das Bild zu Hilfe. Es gibt ihm die Gestalt in ihren genauen körperlichen Umrissen. Nun muß er sie auf der Bühne seiner Phantasie nur die Bewegungen ausführen lassen, die die jeweilige Situation des Romans erfordert. Sieht er nun dramatisiert auf der Bühne oder verfilmt im Kino, so fällt die Vorstellungsarbeit fort. Sein Gehirn arbeitet viel weniger, es nimmt leichter auf und muß den aufgenommenen Stoff nicht erst umwandeln. Statt eines Vorstellungsinhalts, den ihm das Wort bot wie einen Extrakt, der erst aufgelöst werden muß, wird ihm das fertige Bild geboten. Wo das Gehör nur eine Anregung gab, die der eine besser, der andere schlechter zu verarbeiten vermochte, bietet das Gesicht bereits die Wirklichkeit (die scheinbare Wirklichkeit des Bühnengeschehens oder des Vorganges auf der Leinwand); wo das ungreifbare, abstrakte Wort stand, steht die greifbare Körperlichkeit. (In diesem Sinne ist auch die in die Fläche projizierte ehemalige Körperlichkeit des Filmbildes „greifbar“.)

             Daraus ergibt sich, daß eine Zeit, die phantasiereich ist, sich mit der Anregung der Vorstellung, mit dem bloßen Vorstellungsinhalt, im Wort komprimiert, wird begnügen können, eine phantasiearme aber das vollendete Bild fordern wird. Der visuelle Mensch, der Mensch des optischen Eindrucks, ist also der phantasieärmere. Die phantasiearme, die phantasietötende Zeit der großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen gebar die naturalistische Kunst; sie schuf Bilder, die die Wirklichkeit so genau kopieren, daß der Beschauer sie ohne Gedankenarbeit aufnehmen konnte; sie schuf Romane, die so wirklichkeitstreu waren, daß der Phantasie des Lesers kein Spielraum blieb; sie schuf auf dem Theater Situationen, die nicht mehr ergänzungsfähig sein wollten (denn alle Phantasie ist letzten Endes die Ergänzung eines kleineren oder größeren Teils zum Ganzen). Sie bot eben das fertige Bild; auch dort, wo die naturalistische Kunst zu dem phantasiearmen Menschen ihrer Zeit durch das Wort allein sprach, schilderte sie so breit, daß die Deutlichkeit ihrer Beschreibung den Mangel an ausgestaltender Phantasie wettmachte. Erst der Expressionismus, in einer Zeit entstanden, die Verinnerlichung erstrebte, wenn auch nicht erreichte, konnte sich wieder mit den Andeutungen, die der Ergänzung durch die Phantasie bedürfen, begnügen. Hier gab es Wortbrocken, die nur abrißartig und flüchtig Hauptpunkte skizzierten, Farbflecken, die nur anregten, Bildteilchen, die durch die Phantasie ausgestaltet werden mußten. Die Kunst setzte wieder Phantasie voraus. Weil diese Phantasie aber nicht mehr da war und die Menschheit einfach nicht mehr die Fähigkeit hatte, die Bruchstücke des expressionistischen Kunstwerks, das Ausdruck eines innerlichen, also sinnlich nicht wahrnehmbaren, visuell nicht erfaßbaren Erlebnisses sein wollte, mit Hilfe der Phantasie zu seinem Gebilde durchzugestalten, als das sie ursprünglich bestanden (bevor die „geballt“ wurden!), deshalb starb der Expressionismus so schnell ab und machte realistischeren Kunstbestrebungen Platz.

             Der optische Eindruck, der dem primitiven, visuellen Menschen das Abbild der Welt vermittelt, ist aber nicht nur klarer, sondern auch oberflächlicher. Dem Wort gilt die Fläche nicht, nur die Tiefe; es kennt keine Hindernisse des Raumes, es dringt in die verborgensten Fältchen des Dinges und macht sie dem Menschen durch das Medium der vorstellenden Phantasie sichtbar. Das Auge sieht aber nur die Oberfläche. Und auf dem Weg, der vom Ohr des akustischen Menschen zum Gehirn führt, entsteht jene höhere Wirkung des Eindrucks, die auf dem kürzeren Weg, der vom Auge des visuellen Menschen zum Gehirn zurückgelegt werden muß, viel seltener ist: der Gedanke. Phantasiearme Zeiten sind die Zeiten der großen Schaustellungen, der so oft als „roh“ verschrienen Schaulust; phantasiereiche, weniger realistisch eingestellte die der Musik und des literarischen Sprechtheaters. Und es ist nicht so falsch, wenn man das Ausarten des Theaters in bloße Schaudarbietungen als eine Verflachung bezeichnet. Sind sie doch die höchste Erfüllung des visuellen, also des phantasiearmen und weniger denkfreudigen Menschen, dessen Verbindung mit der Umwelt durch den Gesichtssinn hergestellt wird, durch den er nur das Abbild der Oberfläche, des in übertragenem Sinn „Flachen“ empfängt!

             Zwischen Oberflächlichkeit und Phantasielosigkeit besteht also eine unterirdische Verbindung, die ziemlich eng zu sein scheint. Wie sehr der visuelle Mensch oberflächlich und phantasielos ist, erweist der Vergleich zwischen Roman und Film. Im Roman kann zum Beispiel ein Kapitel mit dem Entschluß des Helden enden, nach Amerika zu fahren. Das nächste Kapitel zeigt ihn bereits in Amerika. Von der Ueberfahrt muß kein Wort berichtet werden. Die Phantasie des Lesers kann einen großen Sprung über den Ozean machen, oder sich die Ueberfahrt so breit ausmalen, als sie nur mag. Für den visuellen, phantasielosen Menschen des Films wäre dieser Sprung eine empfindliche Lücke. Der Film muß den Helden bei der Abfahrt im europäischen Ausgangshafen darstellen, muß zumindest ein Bild bringen, das den Helden während der Ueberfahrt zeigt, und eins, wie er in Amerika ans Land steigt. Die Phantasie arbeitet beim visuellen Menschen nicht. Er muß die Umwelt in fertigen Bildern empfangen. Diese Bilder aber sind meist äußerlich. Nur den allergrößten Künstlern und Regisseuren gelingt es, in einer stummen Geste dem visuellen Menschen das mitzuteilen, was dem akustischen das Wort mitteilt. Denn diese Erscheinung ist immer Gestalt, ist geformt, das Wort kann schleierhafte Andeutung, spukhafter Aufblitz, leiseste Anregung sein.

             Und der akustische Mensch ist der persönlichere. Wenn man in Worten vor hundert Menschen einen Vorgang beschreibt, so werden hundert Vorstellungen entstehen, die im Grundzug wohl gleich, in den Einzelheiten aber sehr verschiedenartig ausfallen werden. Wenn man aber hundert Menschen ein Bild zeigt, so werden sie allesamt denselben Eindruck haben. Dieser Eindruck kommt der Wirklichkeit viel näher als der durch das Ohr empfangene. Der unpersönliche visuelle Mensch ist eben der realistischere!

             Unsere Zeit, realistisch und phantastisch, mußte vorwiegend visuell eingestellt sein. Sie hat ihre Kunst im Kino, sie hat das Sprechtheater, das Theater des Gehörseindrucks und des Gedankens unterdrückt zugunsten der Schaubühne, der Revue und der Ausstattungsoperette. Das müde Gehirn des in der Hast des Alltags zermürbten Gegenwartsmenschen verlangt nach der leicht verdaulichen Kost des Auges und weist die schwerer verdauliche Kost des Ohrs meist zurück. Wo die Kunst der Revue und der Operette noch durchs Ohr wirkt, dort ist es durch den leichten Witz und die sehr leichte Musik, durch eine Musik, von der ja immer behauptet wird, daß sie „leicht ins Ohr geht“. Auge und Ohr sind wie zwei Schalen einer Wage. Wenn die eine in die Höhe steigt, muß die andere fallen. Wenn die visuelle Kunst die Ueberhand gewinnt, muß die akustische zurückweichen. Eine Zeit ohne Lyrik ist eine Zeit des Kinos; eine Zeit ohne Musik eine Zeit des Fußballs, eine Zeit ohne Drama eine Zeit des Automobilrennens. In der Not und Hast der Zeit sucht der Mensch die leichte (und auch schnellere) Aufnahmeart des Auges, die ihm die müheloseste Unterhaltung und Entspannung bringt. Ruhigeren und verinnerlichten Zeiten bleibt die Kunst der inneren Schau, der Phantasie vorbehalten, die nur der leisten Anregung durch den akustischen Eindruck bedarf.

             Kaum aber hat diese visuell eingestellte Zeit ihren Höhepunkt erreicht, ersteht ihr schon der große Gegner, der sie vernichten kann: das Radio. Das Radio kann vielleicht dem visuellen Menschen des Films, der Revue und des Sportschauspiels ein Gegengewicht bieten und die Wagschalen wieder auf die gleiche Höhe bringen. Das Radio gibt wieder nur die Anregungen durch das Gehör, die der Phantasie zur Ausgestaltung dargeboten werden. Am Radio wird es sich schließlich erweisen, ob der visuelle Mensch der Gegenwart noch ein Restchen Phantasie hat oder nicht. Wenn er sie hat, wird das Radio als Kunstdarbietungsmittel eine ungeheure Rolle spielen; hat es sie nicht, dann war es nur das letzte Aufzucken der Gegenkräfte, die sich noch einmal sammelten, bevor sie dem visuellen Menschen das Feld einräumten. Dem phantasie- und illusionslosen, dem realistischen, oberflächlichen und unpersönlichen, in einer komplizierten Welt der höchsten technischen Errungenschaften wieder primitiven visuellen Menschen.

In: Arbeiter-Zeitung, 16.5.1926, S. 21.