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Richard Guttmann: Expressionisten

Vor einigen Jahren brachte der Hagenbund eine Ausstellung der Werke Eduard Munchs, in der die Entwicklung dieses Meisters zum Expressionisten genetisch dargestellt war. Selber ist dieses Schlagwort auch bei uns nicht verklungen und mit dem Auftreten der extremen Richtungen des Expressionismus, des Kubismus und des Futurismus, gebrauchten es nicht nur die Snobs, sondern auch Leute, die einer Sache gerne auf den Grund gehen. Der Kubismus ist russisch-französischen Ursprunges. Er reduziert die Formen der dargestellten Dinge auf ihre primären euklidischen Bestandteile, Kreisstücke und Vielecke, und geht jeder sonstigen Wiedergabe peinlich aus dem Wege. Der Futurismus ist eine italienische Angelegenheit. Auch er weicht dem empirisch Gegenständlichen aus und sucht die den Formen zugrundeliegenden seelischen Ereignisse, mit Umgebung der sichtbaren Gestalt, auszudrücken. Als drittes Extrem erscheinen die Primitiven, als deren Führer der Russe Kandinsky galt – – aber halt! Ich spreche zu den Lesern einer Zeitung und darf nicht wissenschaftlich deduzieren. Das Deutsche an der Sache war zunächst die bei uns beliebte Ruchässerei alles Fremdländischen, aber dann begann man – zur Ehre unserer Künstler! – ernsthaft nachzudenken. Das Bezeichnende aller Richtungen, die Abkehr vom sinnlich Wahrgenommenen und von dessen Einordnung in das konventionelle Geben, hatte seine tiefe, innere Richtigkeit. Die äußeren Mittel der Malerei und Plastik sind vollkommen ausgeschöpft und die Großstadt – hier handelt es sich nur um Großstädter – bringt keinen großen Bildner mehr hervor. Die mechanische Wiedergabe der gesamten Welt und ihres äußeren Geschehens durch die Photographie, die moderne Reproduktionstechnik und die Kinematographie haben der effektiven Intelligenzschwäche des Gegenwartsmenschen das naive Verhältnis zur Kunst genommen und je größer sein Bildungsdünkel ist, je mächtiger das scheinwissenschaftliche Gebäude der Ästhetik anschwillt, umso dürftiger und dürrer wird die ganze Kunst. Die Einführung der seinen Abstraktion in das künstlerische Schaffen ist somit ein wohl verständlicher Ausweg, aber mit zweifellos negativem Ergebnis. Ich behaupte, im Gegensatz zu dem leider gefallenen Fritz Burger, daß das Bestreben formal und graphisch zu abstrahieren, entweder zu primitiven algebraischen Symbolen oder zu einer neuen, absoluten Ornamentik führt. „Ursache und Wirkung der Kunst gehen über alle Begriffe“, hat schon der weise Feuchtersleben gesagt und wenn die künstlerische Gestaltung den ganzen Gefühlsprozess von vorneherein in Begriffe preßt, dann wird die Kunst ein Zweig der Logik oder der Mathematik. Wenn mir einer die Appassionata oder die F-moll Phantasie von Chopin erklären will, weil ich sonst nicht hören und genießen könnte, würde ich ihn für einen dummen Kerl halten.

Das Ohr ist der Weg zu einer ungeheuren Gefühlswelt, während, die Kunst, die durch das Auge geht, knapp ist und mit der Gegenständlichkeit steht und fällt. Die Expressionisten kämpfen gegen diese tragische Grenze mit allen geistigen und ungeistigen Mitteln und weil sich die ganze Sache, wie alles im menschlichen Leben, auf die Persönlichkeitsfrage zuspitzt, hört der Kampf mit der Erscheinung des großen Meisters auf. Ist vielleicht das Juwel deutscher expressionistischen Malerei, die Auferstehung Christi auf dem Flenheimer Alter des Grünenwald, mit allen unsern Gescheitheiten und Abstraktionen erreicht worden?

Es macht nichts, wenn der Künstler nach innen blicken lernt. Futurismus und Kubismus werden so vielleicht einen fruchtbaren Niederschlag zeitigen. Besonders was die Läsung des Raum- und Zeitproblems in der Malerei betrifft. Als selbständige Formungsmethoden in der Richtung vollkommener Abstrahierung des Gegenständlichen können sie nicht beliehen.

Man hört auch öfters die Frage, ob solche Bilder schön seien. Geschäftige Vielredner haben bei uns in den letzten Wochen bewiesen, daß die Schönheit nicht zur Kunst gehöre. Die Schönheitsempfindung ist für jeden normalen Menschen der unsagbare, innere Ausbruch des Rassengefühls. Schönheit und Rasse gehören deshalb zur Kunst und der unverdorbene Instinkt wird die naive Frage nach der Schönheit nie unterlassen. Für den in Abstraktionen wühlenden rasselosen Literatenkaffehausköter besteht die natürlich nicht.

Selbstverständlich falle ich den Herrschaften, die jetzt im ersten Stock des Künstlerhauses ausstellen, nicht hinein. Mir imponiert der kopierte Expressionismus und der Kubismus aus zweiter Hand nicht. Die genetische Anordnung fehlt und man weiß nicht, was Ernst und was Gschnas ist. Ich warne Neugierige vor den mündlichen Erklärungen der Künstler, denn sonst könnte man die Ausstellung für ein Dokument der Hauptkrankheit unserer Zeit: der Verbomanie, halten. Zweifellos! Die Leute können malen und zeichnen. Das ist aber nicht alles. Die Vergangenheit einzelner weist auf eine gewisse durchschnittliche Züchtigkeit. Und das ist wenig. Denn Meister ist keiner unter ihnen. Aber dafür mancher tragische Clown. Der fatale „Bund der geistig Tätigen“ hat die Armen als seine Kunstgruppe in die Manege geführt. Das soll er künftig nicht mehr tun. Mit solchen Geistestalern renommiert man nicht.

In: Der Morgen, 12.5.1919, S. 11.

Max Lesser: Von der neuen Kunst

             Es wachsen jetzt seltsame Blumen im Garten deutscher Dichtung und Kunst. Einige treten ganz unblumenmäßig als Quadrate oder Dreiecke oder in der Form von Rhomboiden und Dodekaedern oder als Mischung aller dieser mathematischen Konstruktionen in die Welt der Erscheinung: andre wieder verschwimmen im Nebel der absoluten Unbegreiflichkeit, Gebilde einer Phantasie, in der sich musikalische Elemente, Sturzwellen von Farbenorgien, lallende Gefühlsräusche ineinanderwirren. Nie bisher hat man dergleichen erlebt. Die neuen Bilder sind thematische Variationen von Tönen, die ebensogut durch die Instrumente eines Orchesters wiedergegeben werden könnten; die neuen Gedichte sind von der Palette eines Malers genommen, man sollte sie als Farben und nicht als eine Folge von Worten zu verstehen suchen; die neuen Dramen sind Zusammenklänge von szenischen Kompositionen, in deren Verlauf auch einiges gesprochen wird. Aber dies ist nicht gerade nötig; wir haben neuerdings auch Dramen, in denen die menschliche Rede ziemlich gleichgültig geworden ist, in denen sich der Wille des Dichters auch durch andere Medien der Vermittlung zu manifestieren vermag, wie es denn überhaupt nicht so sehr darauf ankommt, daß etwas geschieht, dem wir folgen können, sondern daß irgendwo im Kern aller Geheimnisse ein mystischer Drang nach Expression Entladungen jenseits des Möglichkeitsbereiches unserer Gedanken und Empfindungen sucht. Von diesen neuen Werken gilt Mephistos Wort über die Mütter: „Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; von ihnen sprechen ist Verlegenheit.“ Wir sind wieder einmal in der Welt der abstrakten Ideen, dort, wo in Urtiefen die Mütter hausen; zu ihnen führt der Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende, ins Unerbetene, nicht zu Erbittende, in grenzenlose Öde und Einsamkeit. Dort sitzen sie, „Gestaltungen, Umgestaltungen, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung, umschwebt von Bildern aller Kreatur.“

             Ach, aber der Schauder, der Faust ergreift, wenn er sich dem glühenden Dreifuß, dem Reich der abgründigen Geheimnisse nahen soll, er will uns nicht befallen, die wir in futuristisch-kubistische Konstruktionen die reine Idee der auf sich selbst bezogenen, von allem Gedanklichen befreiten, von allem Gefühlsgehalt entblößten Kunst begrüßen sollen und denen zugemutet wird, in Gedichten und Dramen die dialektische Überwindung des Sinnes durch ein unbestimmbares Etwas zu verehren, worin sich der Sternennebel werdender geistiger Welten noch nicht Sonnen und Planeten geformt hat. Diese sonderbare neue Kunst, die in unverständlichen Bildern und noch unverständlicheren Dichtungen nach Ausdruck ringt, bewegt sich auf der Grenze, wo die Mechanik einer klug ersonnenen Maschine und die irrationale Welt der losgelassenen Willkür einander bedrängen. Diese Kunst gehört zu unsrer Zeit, in der sich alle Elemente der rechnenden Sachlichkeit und der anarchischen Verstiegenheit mischen. Und darum sind auch die Triebkräfte dieser neuen Kunst nicht Laune oder Mode, sondern das Fordernde, Fragende und so oft Quälende an ihren Erzeugnissen ist es, daß uns ein starkes Gefühl sagt: „Hier ist am letzten Ende doch eine Notwendigkeit, hier sind doch Entwicklungsreihen, durch die wir hindurch müssen, hier beginnt eine neue Wüstenwanderung, von der wir gewiß gern glauben möchten, daß ihr Ziel das gelobte Land sein wird. Aber einstweilen führt der Weg nur selten an Oasen vorüber.

             Berlin ist der rechte Standort zur Beobachtung aller dieser wirbelnden, gärenden, kochenden Dingen, die in einem zwangsläufigen, dialektischen Entwicklungsprozeß immerfort sich selbst eliminieren, um dann in neuen Formen stets mit derselben revolutionären Auflehnung die ruhigen Bürger zu kränken, die Gleichgültigen aufzurütteln, die Jugend zu entflammen und zuletzt mit dem abermaligen Beweis für das Mißverhältnis zwischen dem Gewollten und dem Gekonnten das Bedauern darüber zu verstärken, daß immer nur Vorläufer und Verheißer kommen und gehen und daß kein erlösender Vollender bisher gefolgt ist. Es gibt hier eine breite, empfängliche, in jedem Augenblick für die gewagtesten Sachen zu gewinnende Schicht, die sich um die Novembergruppe und um Herwarth Walden und seinen „Sturm“ gruppiert, die es gläubig verschluckt, wenn auf einem Bilde Zündholzreste und Korkstücke die Aufgabe der plastischen Erläuterung zu erfüllen haben; wenn ein hingeschmiertes Farbenfurioso, das aussieht, als ob ein Esel mit seiner Schwanzquaste von hinten her auf der Leinwand phantasierte, eine „Frau in der Erinnerung glücklich besonnter Tage“ oder sonst was darstellen soll oder wenn dadaistisches Lallen zweifeln läßt, ob man es mit Narren oder mit spitzbübischen Spöttern zu tun hat. – Aber von der Verwegenheit dieser Gattung soll hier nicht gesprochen werden, wir wollen nur von der Bühne sprechen.

             Dieser Winter hat eine lange Reihe von Stücken gebracht, mit denen der Expressionismus in seinen kühnsten Formen zum Worte kam. Allen diesen Darbietungen, die im einzelnen aufzuzählen, kein Bedürfnis vorliegt, ist eine Besonderheit gemeinsam: die Beherrschung durch einen regieführenden Diktator. Wer hat früher viel nach dem Regisseur gefragt? Er war gewiß notwendig, aber man sah ihn als den Techniker an, der für den leichten Gang der Maschine zu sorgen hatte; heute ist der Regisseur die mitdichtende, mitspielende Seele der Bühne, der Kapellmeister, dessen Feldherrnstab Nerven zum Schwingen, Stimmungen zum Tönen, unnennbare Vibrationen zum vergeistigten Klingen zu bringen vermag. Die Schauspieler sind seine Instrumente, der dekorative Rahmen ist eines seiner stärksten Ausdrucksmittel. Der Regisseur ist plötzlich aus der Anonymität herausgetreten, man nennt und kennt ihn, und auch das große Publikum weiß, daß Karlheinz Martin vom Deutschen Theater, Jeßner und Berger vom Staatstheater und Meinhard vom Theater in der Königgrätzstraße gegenwärtig die Spielleiter sind, die mit der sublimsten Einfühlung ihn ihre Aufgabe die intensivste Musikalität der Wiedergabe verbinden. Der auffrischende Geist der neuen Kunst durchdringt die Dramen auch der Vergangenheit, sie blühen in seinem belebenden Anhauch zu Gebilden auf, in denen wir Seele von unsrer Seele wiederfinden. Darum wirkt die Aufführung von „Richard dem Dritten“ im Staatstheater mit Kortner als Richard so aufwühlend, weil wir in dieser Kühnheit, die so gut wie ganz ohne Dekoration und jedenfalls völlig ohne historische Kostüme arbeitet, etwas vom Wesen der Zeit entdecken, nämlich die rücksichtslose Befreiung von der Tradition, das Vordringen auf den letzten Kern und Gehalt, die Lust, überall von vorn zu beginnen. Selbst wo dieser Wagemut über das Ziel hinausschießt, wie in der merkwürdigen Aufführung der „Jungfrau von Orleans“ im Deutschen Theater, bleibt er noch gewinnreich. Denn es kam hier zum starken Ausdruck, daß sich diese Tragödie auf dem Grunde einer visionären Verstiegenheit abspielt, und wenn die hysterische Verzückung der Johanna in Helene Thimigs Darstellung seltsam erregte, so war die Bühne vollends in eine beunruhigende Mystik eingehüllt, so oft es dem Regisseur Karlheinz Martin gefiel, den Gang der Handlung, ja den Verlauf einer Szene durch wechselnde, sachlich ganz unmotivierte, aber stimmungsmäßig beglaubigte Beleuchtung gleichsam symphonisch aus dem Bereich der Worte in ein malerisches Gebiet zu transponieren. Wir haben ähnliche Wirkungen bei Bergers „Tasso“ – Aufführung im Staatstheater – erlebt, wo gleichfalls die Begier, den dunkelströmenden Untergrund des Geschehens bloßzulegen, uns unmittelbar an das Werk heranführt, nachdem der Reiz des Kostümlichen und alles sonstigen historischen Beiwerks mit Bedacht ausgeschieden worden ist. Wie in diesem Zeitalter neuer Bühnenkunst die schauspielerischen Talente üppiger als seit langem gedeihen, so bildet sich jetzt eine Generation von // Regisseuren heran, deren Aufstieg man mit wachsender Teilnahme verfolgt. Zu ihnen gesellt sich nunmehr auch einer der Spielleiter an der Volksbühne, Jürgen Fehling, dessen jüngste Leistungen (Rabindranath Tagores „Postamt“, Shakespeares „Komödie der Irrungen“) eine schöne und reife Begabung zeigen. Sie geht, was besonders wohltuend ist, ihre eigenen Wege, sie verschmäht die Nachahmung.

             Von den Dramen, die auf den Wegen des Expressionismus gehen, sind es drei, über die hier einiges gesagt werden mag: „Chauffeur Martin“ von Hans Rehfisch (im Deutschen Theater), „Der Kreuzweg“ von Karl Zuckmayer (im Staatstheater) und „Jenseits“ von Hasenclever (in den Kammerspielen). Die Verfasser der beiden ersten Stücke sind Studenten. Es ereignete sich bei der Aufführung der Tragödie von Rehfisch das Seltene, daß ein rein expressionistisches, um die Wirklichkeit des Lebens ganz unbekümmertes Drama die Gunst des Publikums durch ungemein geschickte Technik und durch grelle Deutlichmachung der symbolischen Zutaten zu gewinnen verstand. Der Expressionismus wird in diesem Drama popularisiert, aus einem mühsamen Ringen um neue, vertiefte Ausdrucksformen wird er plötzlich zu einer gemeinverständlichen Mode.

             Der Chauffeur Martin hat an irgendeinem Jahrestage der Republik mit seinem Auto einen Menschen überfahren und getötet, der blindlings in den Kraftwagen hineingerannt war. Der Chauffeur wird freigesprochen, aber in dem einsamen Grübler bohrt der Wurm des Zweifels. Er hat unwissentlich Böses tun müssen, also will Gott das Böse und nicht das Gute, also muß sich der Mensch gegen Gott auflehnen, also muß er sich selbst durch gründliche Vernichtung alles Lebens aus der Welt schaffen, um den vereinsamten Gott zur Verzweiflung zu treiben. So geht der Chauffeur Martin unter die Einbrecher, Räuber und Anarchisten; viel Volk fällt ihm zu, selbst Richter und Ärzte bekehren sich zu ihm; in einer regelrechten Gerichtssitzung wird Gott vielstimmig angeklagt, aber in dem Elendsten von allen, in einem Krüppel, ersteht ihm ein glühend-lobpreisender Anwalt, und als Chauffeur Martin von der Ekstase des Krüppels hingerissen wird, streckt ihn der Pistolenschuß eines fanatischen Anhängers nieder. – Macht dies sonderbare Stück einen errechneten und erklügelten Eindruck, so tritt hier doch auch ein starkes Talent vor den angenehm interessierten Zuschauer hin. Es ist freilich heute kein besonderes Wagnis mehr, diese zuerst von Strindberg vorgezeichneten, von den deutschen Expressionisten weiter ausgebauten Bahnen der supranaturalistischen Andeutungen und der mystischen Klänge und Stimmungen zu gehen, indessen geschieht es hier mit Geschmack und Klugheit, wofür allerdings Erschütterungen und seelische Bereicherungen völlig ausbleiben. – Die Darstellung traf unter der einfühlenden Regie von Karlheinz Martin den gewollten Ton eines phantastischen Schwebezustandes zwischen Realität und zeitloser Ferne sehr gut.

             Aber seltsam, es bekommt den neuen Dramen nicht sonderlich, daß sie verstanden werden oder, wie beim „Chauffeur Martin“, allenfalls noch verstanden werden können; es muß um sie ein Hauch der Unbegreiflichkeit wittern, jede Realität muß eingestampft oder aufgelöst werden – es muß in ihm rätselhaft urtümlich raunen und klingen; das fordern wir von dieser Kunst, darauf warten wir mit Sehnsucht. Es ist ein wunderlicher Zustand. Wir lächeln über das expressionistische Drama der Irrealität und der musikalischen Stimmungsschwingungen, aber das fühlen wir immer wieder mit sonderbarer Ergriffenheit: Hier verlangt etwas Neues nach dem Licht, hier ist Sturm und Drang, und wir fragen, ob die Zeit wie damals reif sei für einen neuen Heilsbringer. Inzwischen wandert vor dem Kommenden mancher her, der vielleicht ein Johannes werden könnte. Vielleicht auch könnte der Heidelberger Student Karl Zuckmayer ein solcher werden. Sein „Kreuzweg“ im Staatstheater gehört zu den stärksten Eindrücken dieser Spielzeit. Das ist nun ein Stück, von dem sich eigentlich gar nichts sagen läßt. Was kann man vom Gesang einer Drossel sagen? Was von der Schönheit eines Rosenblattes? […] Es geschieht nichts, aber es geschieht alles, was als menschliches Erleben möglich ist man versteht nichts, aber man versteht, warum Rätsel sein müssen, die nicht aufgelöst werden können. Und für ein solches Stück, das alles andre als ein Drama ist, die völlig widerspruchslos Achtung des Publikums zu erzwingen, das ist denn wohl eine Leistung, auf die das Staatstheater Jeßners und Bergers stolz sein darf. Aber auch das Publikum darf mit sich zufrieden sein.

             Das Publikum hat freilich auch Hasenclevers „Jenseits“ ertragen, und das spricht mindestens für seine Wohlerzogenheit. Denn in diesem fünfaktigen Unfug, in dem zwei Menschen, Raoul und Jeanne, und niemand sonst endlos reden und reden und nur darum zu reden aufhören, weil Raoul Jeanne totsticht, schneidet der Expressionismus sich selber eine Fratze, und man weiß nicht, ob es sich oder uns verspotten will. Dem Liebespaar wird sein Glück ein bißchen arg verleidet durch den Geist des im Bergwerksstollen verunglückten Mannes. Man sieht ihn als Lichtfleck an den Wänden, er huscht durch die Räume, er poltert und klopft gern. Aber das ist nicht weiter schauerlich, mit seiner erklügelten Scheinwirklichkeit läßt es uns völlig gleichgültig. Dafür wirkt um so aufreizender die Unverständlichkeit der Wechselreden, die, wenn man sie doch irgendwo zu fassen vermag, eine einzige schleimige Trivialität sind. […] Indessen lohnt es sich, zu hören, was Hasenclever über seine Kunst zu sagen hat. Es gibt ein neues Stück von ihm, „Die Menschen“, und dort schreibt er im Vorwort:

             „Es liegt dem Verfasser nichts an der Meinung, der Zuschauer müsse am Ende der Aufführung die Vorgänge auf der Bühne verstanden haben. Die Gesetze jahrhundertelanger Überlieferung sind gesprengt. Die Versuche der Chemie, alle Elemente auf ein Element zurückzuführen, kommen der Alchemie näher, als die öffentliche Meinung zugeben möchte; der Umsturz der Begriffe von Raum und Zeit, Energie und Materie in der Physik, die Errichtung der vierten Koordinate in der Mathematik bestätigen die Lehre der Geheimwissenschaften… Was geht in diesem Schauspiel vor? Ein Ermordeter steigt aus dem Grabe, ein Mensch in des Wortes tiefster Bedeutung, ein Unerlöster, Unvollkommener, ein Debet im großen Schuldbuch der Welt. Wäre sein Leben vollendet gewesen, er hätte am Messer nicht sterben können; seine Schuld war, daß er sterben konnte; er geht beladen mit seinem Haupte, das ihm der Mörder überreicht, zur Sühne an des Mörders Stelle durch die Welt, ein Doppelgänger, bis er die ewige Ruhe findet. „Ich habe getötet,“ beginnt das Schauspiel, „ich liebe“, so endet es. Der Zuschauer, der im Theater sitzt, versuche, sich in das Stück zu verwandeln. Er empfinde am eigenen Leibe die magische Kette von Blut und Wahnsinn, Liebe, Haß, Gewalt und Hunger, Herrschaft, Geld und Verlogenheit. Er ahne im Anblick dieser Leiden den Fluch der Geburt, die Verzweiflung des Todes; er verliere die Logik seines Jahrhunderts; er sehe ins Herz der Menschen!“

             Wenn Hasenclever nur das könnte, was er möchte! Es ist gewiß, daß er es nicht kann, er so wenig wie Georg Kaiser. Aber Dichter wie Karl Zuckmayer sollen uns eine Hoffnung sein.

In: Neues Wiener Tagblatt, 15.3.1921, S. 2-3.

Otto Koenig: Der Geist ist los! (1919)

„Erscheinungen wie die als Expressionismus bezeichnete, sind niemals Gebilde einer bestimmten Gegenwart, ihre Existenz erreicht vielmehr kometenhaft aus ferner Dunkelheit in großgeschwungener Ellipse unser Sehfeld, Spur und Eindruck hinterlassend, ehe sie aufgeht im Allgemeinen.“

Max Krell

Wäre der Expressionismus nichts anderes und nicht mehr als eine Kunstrichtung, die, im Gegensatz zu Naturalismus und Impressionismus, die den äußeren Eindruck, den die Erscheinungswelt  auf den einzelnen macht, in Wort, Ton und Bildwerk festzuhalten versuchten, nach dem Ausdruck innerlicher, geistiger – wie viele meinen ‚absoluter’ – Wesentlichkeit ringt, so wäre wenig Veranlassung, uns mit solchem reinen Kunststreben an dieser Stelle auseinanderzusetzen, Der Expressionismus ist aber mehr als eine bloße Kunstrichtung. Ja er ist in seines Wesens innerstem Kern überhaupt keine neue ästhetische Richtung, sondern eine alte ethische. Dies wäre nicht nur durch die analytische Betrachtung expressionistischer Kunstwerke, sei es Dichtung, Malerei oder Skulptur, sondern auch durch Hunderte von Zitaten aus Werfel und Leonard Frank, aus Hasenclever und Georg Kaiser zu belegen. Doch mögen hier allein die zwei kräftig illustrierenden Worte von Max Krell und Alfred Wolfenstein genügen, die Worte: „Religiöse Ekstatik nach innerer Genesung geht neu durch alle“ und „Wenn Seele lacht, muß Körper heulen.“

Bei genauerer Betrachtung zeigt der Expressionismus mit seinem Kult der eigenen Seele, seinem Streben nach innerer Reinheit bei Gleichgültigkeit gegen äußerliche Unappetitlichkeit (Anachoretismus), Abkehr von Wirklichkeit und Sinnlichkeit, Hinneigung zu spiritualistischen, zeitlosen und absoluten Idealen (Askese), mit seinem Bußwillen und Bekehrungseifer (Exorzismus, Flagellantismus) sehr deutlich die Züge jener ebenfalls zum Kunststil zusammenkristallisierten Geistesrichtung, die man die Gotik (13. und 14. Jahrhundert) nennt.

Auf diese charakteristische Eigentümlichkeit hat meines Wissens zum erstenmal ausdrücklich Hermann Bahr, seiner gegenwärtigen Denkweise entsprechend natürlich mit Genugtuung hingewiesen. Gegenwärtig erkennen die Expressionisten – und solche, die es eben werden – die Beziehung zur Gotik bewußt an. „Die Kunst ist eine Etappe zu Gott!“ erklärt Kasimir Edschmidt. Was man nur im Anblick eines gotischen Spitzbogens nachzufühlen vermag. Max Krell spricht von den „gotischen Rippen“ der neuen Geistesrichtung und Hermann Kesser gibt unzweideutig den Feldruf: „Befreit die religiöse Inbrunst aus den gotischen Türmen!“

Also Gotik im 20. Jahrhundert!

Der historisch geschulte Blick macht angesichts solch seltsamer Wiederkehr keineswegs erstaunte Augen; diese Art von Revenant ist ihm nicht gespensterhaft. Ein Blick auf die durch die Wirtschaftsform des Kapitalismus bedingte, technisch-naturwissenschaftliche letzte Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ eine spiritualistische Reaktion mit Sicherheit seit langem erwarten. Daß der nun „los“ gewordene Geist („Der Geist ist los“ ist der Kampfruf der Gotik von 1918, wie „Gott will es“ die Parole der Kreuzfahrer war) in einer an mittelalterlichem Geschmack gemahnenden Gewandung einhertritt, ja daß er Feuer vom ewigen Licht gotischer Dome gezündet hat, ist ein auffälliger, aber nicht überraschender geschichtlicher Parallelismus […]

Aber hat nicht der Krieg und der endliche Zusammenbruch vergreister politischer Systeme…?

Gewiß hat der Krieg und der Zusammenbruch die neue Begeisterung – gekräftigt, rasch gereift, ihr Ziel und Richtung gewiesen, nicht jedoch hat er die erst geschaffen. Wer die Literaturgeschichte der Vergangenheit kennt, weiß, daß der landläufige Lehrsatz der Schulliteratur: „Der Dreißigjährige Krieg hat den Niedergang der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert verschuldet“, unrichtig ist. Dieser Niedergang war schon vor Beginn des Krieges merkbar.

Wer die zeitgenössische Literatur im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts verfolgt hat, weiß, daß das, was heute unter dem Namen Expressionismus in Erscheinung tritt, schon vor dem Krieg auf dem Marsche war […] durch die politischen Ereignisse ist die Bewegung nicht allein gefördert, sondern auch nach der politischen Seite hin umgebogen worden. Von Leonhard Franks politischer Epik, wie sie in seinem Novellenkranz „Der Mensch ist gut“ gewaltig einhertritt, von Göhring, Kaiser und Hasenclever, bei denen die politische Tendenz immer wieder augenfällig zutage tritt, ganz abgesehen! Auch anscheinend rein psychologische Dichtungen wie Hermann Kessers Tragikomödie „Summa Summarum“ sind politisch, sozial eingestellt und sogar in einer anscheinend so individuellen und rein rein innerlich seelischen Tragödie wie Hermann Böttichers ernstem Spiel „Die Liebe Gottes“, weist es sich bei näherer Betrachtung, daß diese unerquickliche Geschichte von der missglückten Bräutigamschaft Achims des Preußen, bei der man sich nur wundert, warum „das Spiel“ ohne augenscheinlichen Zusammenhang mit der Handlung „unter den Schüssen der abendländischen Revolution“ vor sich gehen muß, nichts anderes darstellen soll als die deutsche Revolution, die nach Böttichers Meinung wie die Heldin des Stückes Lili unter den symbolischen Stimmen des Geistes des Aufstiegs und des Geistes des Untergangs, ins Altgewohnte, Hergebrachte und Vergestrigte umkippt.

Die Tendenz des Expressionismus bildet also eine interessante Synthes von Gothik und sozialem Revolutionismus. An Tollers Person ist sie am deutlichsten zu sehen, in Heinrich Vogelers Aufsatz „Expressionismus der Liebe“ am deutlichsten zu lesen.

Die christliche Liebe der Gotiker der Gegenwart erscheint als Pazifismus und Sozialismus, der Glaubens- und Bekehrungseifer als Revolutionismus. Trotzdem wäre es falsch, im Expressionismus etwas wie eine verbündete Macht zu sehen, die Expressionisten der Liebe als Genossen zu begrüßen. So sehr auch ihre Liebe von Sehnsucht überfließt, sie sehen sich nicht um – wer mitgenießt – und neigen in ihrer Abkehr vom Sinnlichen eher zum Askesenwort: „Genießen macht gemein!“ Ihr Sozialismus ist nicht unmittelbar nach Wohlfahrt gerichtet, sondern auf Mitleiden eingestellt, ihr Revolutionismus zielt nicht unmittelbar auf Besserung, sondern vorher auf Reinigung.

Wieder nur eine Zeugnis für viele! In Böttichers schon erwähntem Gedicht „Die Liebe Gottes“ sagt der „Herr von Kerr“ deutlich als Wortführer des Dichters: „Es gibt Menschen, denen ist sichtbar eine Dornenkrone aufgesetzt, aber es muß eine Gnade sein, denn sie leuchtet meist […]

Die gotisch-mystische Basis des Sozialismus und Revolutionismus der Ausdrucksfanatiker ist also die alte asketische Philosophie von der Gottgewolltheit und Erziehungskraft des Leides – nicht umsonst sehen ja manche Expressionisten in Strindberg ihren Vorläufer, nicht umsonst hat ja die katholische Kirche die „religiöse Sehnsucht in der modernen Literatur“ durch den Mund literierender Jesuiten, zum Beispiel des Pater Browe auf der Akademieversammlung zu Tübingen, wenn auch mit der Einschränkung, daß sie doch nicht gottgläubig genug sei, gerühmt – und die Grundlage ihrer mit der urchristlichen , opferwilligen ‚agape’ enger als mit modernem, pflichtbewusstem, Genossenschaftswillen verwandten, revolutionären Tendenzen ist rein spiritualistischer Natur.

So fundierter Wille zur Katharsis (Reinigung) bedeutet für den wirtschaftlichen Sozialismus buchstäblich Ketzerei! Wirklich scheint der tragende Gedankengang der Neugotiker entgegengesetzt dem der materialistischen Geschichtsauffassung zu verlaufen: erwartet diese von einer allgemeinen Hebung wirtschaftlicher Wohlfahrt auch eine automatisch folgende Hebung des geistigen und sittlichen Niveaus, so erklären jene: „Das unaufhörliche menschliche Wandern nach dem geistigen Ziel ist der einzig unumstößliche Inhalt der Geschichte.“  

In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatszeitschrift, 1921, S. 164-167.

A.F.S. [Adalbert Franz Seligmann]: Kunstausstellungen (1921)

Im neuen Trakt des Oesterreichischen Museums (Eingang von der Wollzeile aus) ist, wie wir bereits angezeigt haben, eine Ausstellung eröffnet worden, die einen Ueberblick über die Wirksamkeit der Wiener „Gesellschaft für vervielfältigende Kunst“ während des letzten Halbjahrhunderts gibt, zugleich aber, wie man sagen darf, einen Ueberblick über die gesamten modernen Graphik während dieser Zeit […]

Im Erdgeschoß des nämlichen Traktes ist jetzt eine Ausstellung von Schülerarbeiten (Ornamentklasse Cizek) der Kunstgewerbeschule zu sehen, am Stubenring eine solche der Klassen Hoffmann (Architektur), Stark (Email), Rothansl und Wimmer (Textilien). Hier sieht man das Neueste vom Neuen. Bei Cizek wird der Futurismus, Kubismus, Kinetismus und was es sonst auf diesem Gebiet gibt, offiziell gelehrt. Man sieht da „Studien über die kubische Existenz der Dinge, – wobei die Frage offenbleibt, ob diese Existenz auch wirklich existiert! – ferner ornamentale Kompositionen, die die ‚Sehnsucht‘, die Musik, den Brandgeruch und dergleichen darstellen. Wir erwarten, daß demnächst als Aufgaben für eine musikalische Kompositionsklasse Themen gegeben werden wie zum Beispiel „Zitronengelb mit karmoisinroten Streifen“, „Spirale“, § 31 des bürgerlichen Gesetzbuches“ und so dergleichen. Ein Riesenapparat wird aufgeboten, Philosophie, Religion und Wissenschaft werden zu Hilfe gerufen; die Berge kreißen und es kommt im besten Fall ein neues Tapeten- oder Krawattenmuster heraus. Es ist jammerschade, daß so viel Mühe, Intelligenz, Fleiß und wohl auch Talent an solche unfruchtbaren Spielereien des Geistes und der Hand verschwendet werden; und das noch dazu in einer Zeit, da sich überall die Anzeichen mehren, daß der Bolschewismus – dessen Spiegelungen in der Kunst ja diese neuesten Manieren sind! – sich selbst ad absurdum führt. Allerdings wird das Absurde in der Sozialpolitik durch den ungeheuren wirtschaflichen Zusammenbruch mit der Zeit jedermann offenbar; in der der Kunst ist die Absurdität nicht zu beweisen. Daher wird diese Richtung in der Kunst auch ein längeres Leben haben als in der Politik, wo sich ja die Umkehr schon vorzubereiten scheint. Indes ist es doch symptomatisch, daß auch hier an allen Fronten abgeblasen wird und in allen führenden deutschen Kunstzeitschriften warnende Stimmen sich erheben. So dürften die noch überall pilzartig aufschießenden expressionistischen Ausstellungen und Revuen nicht als Zeichen des endgültigen Erfolges gedeutet werden, sondern vielmehr als letztes – oder vorletztes Aufflackern vor dem Erlöschen einer Bewegung, die nur in einer Zeit möglich war, in der Intelligenz und Neurasthenie an Stelle eines spezifischen Kunstempfindens getreten sind.

            Ganz und gar im modernsten Fahrwasser bewegt sich O.R. Schatz, ein junger Kunstbeflissener, der eben bei Hevesi (Mariahilferstraße 13) eine Kollektivausstellung veranstaltet hat. Immerhin ist trotz aller karikaturenmäßiger Verzerrung, namentlich in einigen Holzschnitten und Kreidezeichnungen, außer dem jetzt so häufigen – und recht billigen! – Rhythmus ein gewisses Verständnis für die Formen des menschlichen Körpers zu spüren., Auf einer Linie zwischen Expressionismus und Impressionismus sucht dann ein junger russischer Maler, A. Akidos, seinen Weg; er hat in seiner Werktstatt (9. Bezirk, Spittelauer Weg 1) eine Auswahl seiner Arbeiten zur Schau gestellt, unter denen manche Landschaften und ein Blumenstück seinen Farbensinn erkennen lassen.

            Eben da wir diese Zeilen beschließen wollen, erhalten wir die Nachricht, daß im unteren Belvedere die neuen Erwerbungen der Staatsgalerie, untermischt mit manchem aus den älteren Beständen, dem Publikum zugänglich gemacht worden sind. Darüber demnächst ein Mehreres; einstweilen nur so viel, daß neben einigen sehr hübsch und geschmackvoll aufgestellten, in Hinsicht der Qualität im allgemeinen nicht eben aufregenden Plastiken und Gemälden der Gotik und Barocke namentlich Wiener Künstler des verflossenen Jahrhunderts mit zum Teil vorzüglichen Arbeiten zu Wort kommen. So Waldmüller, Fendi, Pettenkofen, Tina Blau (das prachtvolle Praterbild aus dem Hofmuseum, ein Clou der Ausstellung), Klimt; die vielumstrittene „Medizin“ und einige Landschaften werden manchen enttäuschen. Von Neueren und Neuesten ist gleichfalls allerlei da: sehr schön der „Eselreiter“ von Gaul (Berlin), einem künstlerischen Verwandten unseres Barwig, von dem einiges Treffliches zu sehen, wenn auch nicht sein Bestes. E. Schiele ist ganz gut vertreten; von anderen aus diesem Kreise manches, dem man nicht ansieht, daß es unter dem Einfluß des Modegeschmacks etwas übereilt erworben worden ist. Ob eine sogenannte „Aktstudie“ von einem sicheren Böckl (Nr. 13) als abschreckendes Beispiel ausgestellt ist oder ob man sich hier mit dem Publikum einen schlechten Witz gemacht hat, ist nicht klar. Vielleicht soll auch nur die fortschrittliche Gesinnung der Galerieverwaltung – etwas heutzutage scheinbar Unerläßliches! – dadurch dokumentiert werden, daß dergleichen Zeit ernst genommen, angekauft und ausgestellt wird. Jedenfalls wäre es besser gewesen, den Beschauer nicht vor dieses Dilemma zu stellen. Solche Mißgriffe dürfen aber nicht hindern, festzustellen, daß die ganze Ausstellung gut gehängt ist, einen vortrefflichen Eindruck macht, in jeder Hinsicht als Sehenswürdigkeit gelten kann und daß der gründlich illustrierte Katalog der Galerieverwaltung das ehrenvollste Zeugnis ausstellt.

In: Neue Freie Presse, 17.6.1921, Abendblatt, S. 5.

Max Ermers: Herbert Plohberger oder die Neue Sachlichkeit in Oesterreich.

             Seit einiger Zeit weiß man es auch in Österreich, daß einige der älteren Kunstrichtungen – Impressionismus, Expressionismus, Futurismus, Kubismus und ein Dutzend andere – tot sind und daß an Stelle der …istischen Unsachlichkeiten die Neue Sachlichkeit im Anzuge begriffen ist. Deutschland, Frankreich, Rußland, Italien sind die Heimatländer der jüngsten Kunstrichtung, für die Supranaturalismus, Neuverismus, magischer Realismus nur andere Bezeichnungen sind. Ein richtiger und zünftiger Historiker, Franz Roh, ist den neuen Bestrebungen bereits erstanden und in seinem beziehungsreichen Buche „Nachexpressionismus“ (Verlag Klinkhardt & Biermann) hat er ihr den philosophischen Aufgesang geschrieben, der hoffentlich noch nicht den Grabgesang bedeutet. Denn der zukunftsträchtigen liegen nicht wenige im Suchen und Finden der Neurealisten, die mit aller Macht Anschluß an die Gegenwart und die geplante Neuordnung aller sozialen Dinge suchen.

             In Österreich scheint die „Neue Sachlichkeit“ ein halbes Jahrzehnt verspätet zur Blüte kommen zu wollen. Hie und da waren schon im letzten Jahre die Vorboten zu sehen. Aber Herbert Plohberger ist der erste, der eine Kollektivausstellung des neuen Geistes wagt und damit zu intensiverer Beschäftigung herausfordert.

             Es ist nun plötzlich stille geworden auf den Bildern der Maler. Vorher, da zerflimmerte und zerpinselte sich die Welt in ein überlebendiges Gewirr von Strichen, Valeurs, farbigen Schatten und halbfingerdicken Pastositäten, oder die Flucht aufeinanderfolgender Erscheinungen sammelte sich in den anscheinend wirren Verdichtungen der Futuristen, oder die Urtiefen der chaotischen Empfindungen traten in formzersetzender Ekstase expressionistisch auf die Leinwand…, nun ist die große Stille nach dem Sturm gekommen. Adieu, Luft und Sonnenschein, die du soviel Beweglichkeit, Unruhe, Unsicherheit und Raumzerstörung in die Bilder brachtest! Adieu, ihr festgehaltenen Vergänglichkeiten flüchtiger Stunden! Adieu, ihr „geballten“ und „gesteilten“ Räusche aufgeregter Seelen! Die Banalität der Alltagsgegenstände will als neues, halbvergessenes Gestirn am Horizont aufsteigen. Der Zauber des uralten Hausrates des Geistes und der solide gefügten Umgebung will sich als Balsam auf unsere wunden Sehnerven legen. An Plohberger, der mit jugendlichem Enthusiasmus ins Extrem geht, läßt sich dieser Entwicklungsprozeß schön belegen. Nur die uninteressantesten Dinge dürfen in seine Bilder eintreten: das Stockerl, die Weckuhr, die Eau de Cologne-Flasche, die Gipsköpfe, die Kaisersemmeln, die Blumentöpfe, die Dessertbäckereien, die „Linzer Tagespost“. Die nature morte wird noch morter gemacht. Um Gottes willen: nur keine Beziehung zu Luft und Leben! Die Atelieratmosphäre tritt wieder in ihre lokalfarbenen Rechte. Aber gut modelliert und selbstsicher soll wenigstens jeder Gegenstand dastehen. Ultramodelliert und ohne die Beseelungen des Expressionismus. Selbst die Eigenart des Materials wird den Dingen genommen. Das würde sie zu interessant und bedeutsam machen. So wird alles mehr oder weniger aus Holz geschnitzt oder aus Blech getrieben. Perspektive – sie wird wieder so normal, als wäre ihre Verzerrung nie geliebt gewesen, Handgreiflich derbe, erdfeste, rundherum greifbare und unwichtige Natur will alles werden. Die Welt ist müde der Imp- und Expressionismen. Auch die Hintergründe werden arm und monoton. Und kein Pinselstrich darf es in der Rauhlosigkeit des Auftrags versuchen, zu eigenem Leben zu kommen. Die Welt wird glatt und lackiert. Jedes Ding führt ein vereinzeltes, lustloses Dasein. Die Stilleben werden beziehungslose Sachnebeneinander. Die Porträtierten harte Holzpuppen, die nichts Psychisches spiegeln. Das Raffinement der Palette beschränkt sich auf starke Kontraste stumpfer Farben.

             Plohberger hat die Entseelung von Mensch und Ding auf die Spitze getrieben. Selbst die geheimen Andeutungen der deutschen Veristen, die jedes Ding sagen lassen „hinter mir gibt es noch ein tieferes Leben“, sie fehlen. Den magischen Realismus beraubt er die Magie.

             Mit Herbert Plohberger beginnt die Neue Sachlichkeit in Österreich. Wenn nicht alles täuscht, hat sie mit ihm schon ihren Höhepunkt erreicht. Läßt sich auf diesem Weg noch ein Weiterschreiten denken? Das Beste, das sich von dieser Malerei, die Plohberger konsequent bis zu Ende gedacht hat, sagen läßt, ist, daß sie für die nächste Stufe der Kunst einige Bausteine wird abgeben können.

In: Der Tag, 18.12.1926, S. 6.

Fritz Rosenfeld: Der visuelle Mensch

            Die Verbindung des Individuums mit der Umwelt, des einzelnen mit der Gesamtheit, stellen der Gehör- und der Gesichtssinn her, die an Bedeutung die anderen Sinne bei weitem überflügeln. Schon von Natur aus sind diese zwei Sinne nicht bei allen Menschen gleich stark ausgebildet; bei dem einen, dem visuellen Typus; ist der Gesichtssinn stärker, bei dem anderen, dem akustischen, der Gehörsinn. Aber das gegenseitige Verhältnis dieser Sinne unterliegt auch Verschiebungen, die in den geistigen und seelischen Eigenschaften der Menschen einer Epoche ihren Ursprung haben. Ob wir die Vorgänge in der Umwelt vorzugsweise durch das Auge oder vorzugsweise durch das Ohr aufnehmen, macht nicht nur einen Unterschied in der Aufnahmeart, sondern auch einen Unterschied im aufgenommenen Stoff aus. Je nach dem nun, ob der Mensch einer Zeit den Erlebnisstoff sucht, den ihm das Ohr mitteilt, oder den, den er durch das Auge empfängt, wird er den einen oder den anderen Sinn stärker ausbilden. Aus der Art, wie der Mensch die Umwelt in sich aufzunehmen trachtet, läßt sich also auf seine geistige und seelische Beschaffenheit schließen.

             Jeder Mensch kann es an sich selber erproben, daß der Weg vom Auge zum Gehirn kürzer ist, als der vom Gehör zum Gehirn. Gesehenes wird leichter begriffen als Gehörtes. Daher verwendet man zur Unterstützung des Gehöreindrucks bei Vorträgen und in Büchern Bilder (das Lesen ist eigentlich, obgleich äußerlich ein optischer, im Kern dich ein akustischer Vorgang; das gelesene Wort wird in Töne umgesetzt.) Diese Bilder sind Illustrationen, und illustrieren heißt nichts anderes als erleuchten, erhellen – ein Dunkel aufhellen, das das gesprochene oder gelesene Wort immer noch in der Vorstellungswelt des Hörers oder Lesers hinterlassen hat. Das Bild, der optische Eindruck wirkt unmittelbar, auf dem Umweg über den Vorstellungsapparat, der die Worte, die Töne erst in Vorstellungswerte, also in innerlich Sichtbares umwandelt. Um diesen Prozeß der Verwandlung zu erleichtern, unterstützt man den Gehörsinn durch den Gesichtssinn. Der wenig phantasiereiche Mensch wird vielleicht aus all den Beschreibungen und Charakterzügen, die er im Laufe eines langen Romans vom Helden oder der Heldin bekommt, sich diese noch nicht vorstellen können, das heißt, er wird sie noch nicht bildhaft-plastisch innerlich zu schauen vermögen. Da kommt ihm das Bild zu Hilfe. Es gibt ihm die Gestalt in ihren genauen körperlichen Umrissen. Nun muß er sie auf der Bühne seiner Phantasie nur die Bewegungen ausführen lassen, die die jeweilige Situation des Romans erfordert. Sieht er nun dramatisiert auf der Bühne oder verfilmt im Kino, so fällt die Vorstellungsarbeit fort. Sein Gehirn arbeitet viel weniger, es nimmt leichter auf und muß den aufgenommenen Stoff nicht erst umwandeln. Statt eines Vorstellungsinhalts, den ihm das Wort bot wie einen Extrakt, der erst aufgelöst werden muß, wird ihm das fertige Bild geboten. Wo das Gehör nur eine Anregung gab, die der eine besser, der andere schlechter zu verarbeiten vermochte, bietet das Gesicht bereits die Wirklichkeit (die scheinbare Wirklichkeit des Bühnengeschehens oder des Vorganges auf der Leinwand); wo das ungreifbare, abstrakte Wort stand, steht die greifbare Körperlichkeit. (In diesem Sinne ist auch die in die Fläche projizierte ehemalige Körperlichkeit des Filmbildes „greifbar“.)

             Daraus ergibt sich, daß eine Zeit, die phantasiereich ist, sich mit der Anregung der Vorstellung, mit dem bloßen Vorstellungsinhalt, im Wort komprimiert, wird begnügen können, eine phantasiearme aber das vollendete Bild fordern wird. Der visuelle Mensch, der Mensch des optischen Eindrucks, ist also der phantasieärmere. Die phantasiearme, die phantasietötende Zeit der großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen gebar die naturalistische Kunst; sie schuf Bilder, die die Wirklichkeit so genau kopieren, daß der Beschauer sie ohne Gedankenarbeit aufnehmen konnte; sie schuf Romane, die so wirklichkeitstreu waren, daß der Phantasie des Lesers kein Spielraum blieb; sie schuf auf dem Theater Situationen, die nicht mehr ergänzungsfähig sein wollten (denn alle Phantasie ist letzten Endes die Ergänzung eines kleineren oder größeren Teils zum Ganzen). Sie bot eben das fertige Bild; auch dort, wo die naturalistische Kunst zu dem phantasiearmen Menschen ihrer Zeit durch das Wort allein sprach, schilderte sie so breit, daß die Deutlichkeit ihrer Beschreibung den Mangel an ausgestaltender Phantasie wettmachte. Erst der Expressionismus, in einer Zeit entstanden, die Verinnerlichung erstrebte, wenn auch nicht erreichte, konnte sich wieder mit den Andeutungen, die der Ergänzung durch die Phantasie bedürfen, begnügen. Hier gab es Wortbrocken, die nur abrißartig und flüchtig Hauptpunkte skizzierten, Farbflecken, die nur anregten, Bildteilchen, die durch die Phantasie ausgestaltet werden mußten. Die Kunst setzte wieder Phantasie voraus. Weil diese Phantasie aber nicht mehr da war und die Menschheit einfach nicht mehr die Fähigkeit hatte, die Bruchstücke des expressionistischen Kunstwerks, das Ausdruck eines innerlichen, also sinnlich nicht wahrnehmbaren, visuell nicht erfaßbaren Erlebnisses sein wollte, mit Hilfe der Phantasie zu seinem Gebilde durchzugestalten, als das sie ursprünglich bestanden (bevor die „geballt“ wurden!), deshalb starb der Expressionismus so schnell ab und machte realistischeren Kunstbestrebungen Platz.

             Der optische Eindruck, der dem primitiven, visuellen Menschen das Abbild der Welt vermittelt, ist aber nicht nur klarer, sondern auch oberflächlicher. Dem Wort gilt die Fläche nicht, nur die Tiefe; es kennt keine Hindernisse des Raumes, es dringt in die verborgensten Fältchen des Dinges und macht sie dem Menschen durch das Medium der vorstellenden Phantasie sichtbar. Das Auge sieht aber nur die Oberfläche. Und auf dem Weg, der vom Ohr des akustischen Menschen zum Gehirn führt, entsteht jene höhere Wirkung des Eindrucks, die auf dem kürzeren Weg, der vom Auge des visuellen Menschen zum Gehirn zurückgelegt werden muß, viel seltener ist: der Gedanke. Phantasiearme Zeiten sind die Zeiten der großen Schaustellungen, der so oft als „roh“ verschrienen Schaulust; phantasiereiche, weniger realistisch eingestellte die der Musik und des literarischen Sprechtheaters. Und es ist nicht so falsch, wenn man das Ausarten des Theaters in bloße Schaudarbietungen als eine Verflachung bezeichnet. Sind sie doch die höchste Erfüllung des visuellen, also des phantasiearmen und weniger denkfreudigen Menschen, dessen Verbindung mit der Umwelt durch den Gesichtssinn hergestellt wird, durch den er nur das Abbild der Oberfläche, des in übertragenem Sinn „Flachen“ empfängt!

             Zwischen Oberflächlichkeit und Phantasielosigkeit besteht also eine unterirdische Verbindung, die ziemlich eng zu sein scheint. Wie sehr der visuelle Mensch oberflächlich und phantasielos ist, erweist der Vergleich zwischen Roman und Film. Im Roman kann zum Beispiel ein Kapitel mit dem Entschluß des Helden enden, nach Amerika zu fahren. Das nächste Kapitel zeigt ihn bereits in Amerika. Von der Ueberfahrt muß kein Wort berichtet werden. Die Phantasie des Lesers kann einen großen Sprung über den Ozean machen, oder sich die Ueberfahrt so breit ausmalen, als sie nur mag. Für den visuellen, phantasielosen Menschen des Films wäre dieser Sprung eine empfindliche Lücke. Der Film muß den Helden bei der Abfahrt im europäischen Ausgangshafen darstellen, muß zumindest ein Bild bringen, das den Helden während der Ueberfahrt zeigt, und eins, wie er in Amerika ans Land steigt. Die Phantasie arbeitet beim visuellen Menschen nicht. Er muß die Umwelt in fertigen Bildern empfangen. Diese Bilder aber sind meist äußerlich. Nur den allergrößten Künstlern und Regisseuren gelingt es, in einer stummen Geste dem visuellen Menschen das mitzuteilen, was dem akustischen das Wort mitteilt. Denn diese Erscheinung ist immer Gestalt, ist geformt, das Wort kann schleierhafte Andeutung, spukhafter Aufblitz, leiseste Anregung sein.

             Und der akustische Mensch ist der persönlichere. Wenn man in Worten vor hundert Menschen einen Vorgang beschreibt, so werden hundert Vorstellungen entstehen, die im Grundzug wohl gleich, in den Einzelheiten aber sehr verschiedenartig ausfallen werden. Wenn man aber hundert Menschen ein Bild zeigt, so werden sie allesamt denselben Eindruck haben. Dieser Eindruck kommt der Wirklichkeit viel näher als der durch das Ohr empfangene. Der unpersönliche visuelle Mensch ist eben der realistischere!

             Unsere Zeit, realistisch und phantastisch, mußte vorwiegend visuell eingestellt sein. Sie hat ihre Kunst im Kino, sie hat das Sprechtheater, das Theater des Gehörseindrucks und des Gedankens unterdrückt zugunsten der Schaubühne, der Revue und der Ausstattungsoperette. Das müde Gehirn des in der Hast des Alltags zermürbten Gegenwartsmenschen verlangt nach der leicht verdaulichen Kost des Auges und weist die schwerer verdauliche Kost des Ohrs meist zurück. Wo die Kunst der Revue und der Operette noch durchs Ohr wirkt, dort ist es durch den leichten Witz und die sehr leichte Musik, durch eine Musik, von der ja immer behauptet wird, daß sie „leicht ins Ohr geht“. Auge und Ohr sind wie zwei Schalen einer Wage. Wenn die eine in die Höhe steigt, muß die andere fallen. Wenn die visuelle Kunst die Ueberhand gewinnt, muß die akustische zurückweichen. Eine Zeit ohne Lyrik ist eine Zeit des Kinos; eine Zeit ohne Musik eine Zeit des Fußballs, eine Zeit ohne Drama eine Zeit des Automobilrennens. In der Not und Hast der Zeit sucht der Mensch die leichte (und auch schnellere) Aufnahmeart des Auges, die ihm die müheloseste Unterhaltung und Entspannung bringt. Ruhigeren und verinnerlichten Zeiten bleibt die Kunst der inneren Schau, der Phantasie vorbehalten, die nur der leisten Anregung durch den akustischen Eindruck bedarf.

             Kaum aber hat diese visuell eingestellte Zeit ihren Höhepunkt erreicht, ersteht ihr schon der große Gegner, der sie vernichten kann: das Radio. Das Radio kann vielleicht dem visuellen Menschen des Films, der Revue und des Sportschauspiels ein Gegengewicht bieten und die Wagschalen wieder auf die gleiche Höhe bringen. Das Radio gibt wieder nur die Anregungen durch das Gehör, die der Phantasie zur Ausgestaltung dargeboten werden. Am Radio wird es sich schließlich erweisen, ob der visuelle Mensch der Gegenwart noch ein Restchen Phantasie hat oder nicht. Wenn er sie hat, wird das Radio als Kunstdarbietungsmittel eine ungeheure Rolle spielen; hat es sie nicht, dann war es nur das letzte Aufzucken der Gegenkräfte, die sich noch einmal sammelten, bevor sie dem visuellen Menschen das Feld einräumten. Dem phantasie- und illusionslosen, dem realistischen, oberflächlichen und unpersönlichen, in einer komplizierten Welt der höchsten technischen Errungenschaften wieder primitiven visuellen Menschen.

In: Arbeiter-Zeitung, 16.5.1926, S. 21.

Ea von Allesch: Tanz und Mode

Ganz genau läßt es sich kaum feststellen, ob die Mode den Tanz oder dieser die Mode beeinflußt. Wahrscheinlich unterstützen sie sich gegenseitig und stammen beide aus engverwandten seelischen Gebieten, welche besser nicht näher untersucht werden sollen. Jedenfalls, ob du nun tanzt oder ob du nicht tanzt, verehrte Leserin, du mußt ein Tänzerinnengewand anlegen, wenn du dich dem herrschenden Modeprinzip unterwerfen willst. Sich der Mode anzupassen war aber von jede rigueur und sozusagen mitnichten abenteuerlich. Heute aber wirst du einfach durch die Mode umqualifiziert; du bist angezogen wie eine „Tänzerin“, die mit ihren Prächten bestechen will, nicht wie eine Dame, die tanzt. Tänzerinnenkleider können sehr schön sein, und sie sind es auch jetzt, darüber ist gar kein Wort zu verlieren; früher aber mußten die Tänzerinnen schön sein.

Die Mode, die fast nur ein Stückchen Rumpf verhüllt, Arme, Beine, Brust und Rücken frieren in ihrer Blöße, rechnet eigentlich sehr mit „Reizen“, doch es bleibt zumeist bei der idealen Forderung. Es steht zu erwarten, daß wir einer sehr unerotischen Ära entgegengehen, so abgestumpft werden die betreffenden Männeraugen durch die allzu große Freigebigkeiten im Zurschaustellen von holder und unholder Weiblichkeit. Doch wird ein zukünftiges Nonnenkleid das wieder gutmachen.

Dieses Tänzerinkostüm also ist ohne Ärmel und fast ohne Taille, eigentlich nur kärgliche Erinnerung an eine Corsage. Der Rock soll länger und weiter werden, doch merkt man noch wenig; wir tanzen noch kniefrei. Die Farben dagegen sind betörend sozusagen. Der Expressionismus hat da seine Hand im Spiel, wenn er überhaupt Hand und Fuß hat. Ein eigener Farbentiteldichter wäre nötig, um den verschiedensten Nuancen zwischen den uns gewohnten Farben gerecht zu werden. Silber mit Blau wie seligen Rokoko ist Trumpf.

So ein Tanzkleid, und jedes Abendkleid ist ein Tanzkleid, ist wirklich verführerisch. Zumeist hat es noch seitliche Drapierung, die aber nur aus Silberspitze, Tüll oder Pannestreifen besteht und sehr zart und zufällig wirkt. Auch das Stückchen Corsage ist aus Silberspitze, Tüll oder Brokat, und die Verbindung wird durch eine Perlenkette oder einen Pelzstreifen hergestellt, der über die Achsel führt. Volantkleider aus Tüll mit Silberstrickerei oder Mousseline de soie mit einem Panne- oder Satinleibchen sind wieder ganz modern.

Sehr phantastisch und dekorativ sind die Hüte. Neu die Verbindung von Silber- und Goldbrokat auf feurigem Farbengrund in Seide mit Pelz. Der ist immer weich und kappenartig, auch wenn der Hut breit ist, und wird dann mit Reiher oder Straußfeder geputzt. Originell sind die zahllosen weichen Kappen aus Brokat mit Pelz, mit Lack, mit Musselin oder aus grellfarbigem Panne, und die vielen legeren Wollkappen in den freudigsten Farben. Es wird gestickt und appliziert und gehäkelt, kurz, es tut sich sehr viel in der Hutbranche, und es ist kein Wunder, wenn die Moral von der angestachelten Sehnsucht nach diesen schönen Dingen etwas beiseitegedrängt wird.

Nie sah man so schöne und originelle Kostüme aus Stoffen, deren Oberfläche einen Hauch von in die Luft aufgelöster Farbe haben, mit minderwertigem, aber im Ton des Stoffes glänzend gefärbtem Pelz. Zumeist lang, weit, paletotartig mit Stehkragen, der oft mit einer Krawatte aus demselben Stoff gehalten wird, und Applizierungen aus Stoff- und Pelzstreifen zeigen sie viele neue und originelle Nuancen.

Ein Kapitel für sich wäre ein Bericht über die Wolljacken und -westen mit Schals und Mützen, die eine große Industrie geworden sind. Die Wolljacken sind Mäntel geworden, immer zweifarbig und sehr zärtlich bedacht von der Mode. Überhaupt es ist alles wieder da – ein Fläschchen Parfüm Houbigant kostet jedoch 2500 Kronen.

In: Moderne Welt, Unsere Pariser Modebeilage, Heft 9, 1920, S. 41f.

Hermann Menkes: Romako, Kokoschka, Masereel

Drei Ausstellungen

            Ein Malergenie und ein ganz besonderer tragischer Fall, das ist Anton Romako. Ein „verrückter Maler mit verrückten Bildern“, mit diesem Stigma verbrachte er in Wien die letzten unglücklichen Jahre seines Lebens. Und weit über seinen 1889 erfolgten Tod hinaus dauerte sein Bekanntsein, dieses uns jetzt unbegreifliche Unverständnis seiner offenkundigen Genialität gegenüber. Romako brauchte ungefähr ein Vierteljahrhundert nach seinem Dasein, um in der österreichischen Kunstgeschichte den Platz zu erreichen, der ihm schon während seiner ersten Schaffensperiode zugebilligt werden mußte. Jetzt bricht sich die Ueberzeugung durch, daß wir in ihm unser stärkstes malerisches Temperament besaßen, einen Koloristen von unerhörter visionärer Kraft, die ihn oft in die Nähe eines Tintoretto, aber auch der großen französischen Impressionisten brachte. Die Tragik seines Künstlertums lag in erster Reihe darin, daß er der Zeitgenosse von Makart war, dessen blendende Malerei die seine eine Zeitlang zu verdunkeln vermochte. So wurde Romako von den Kunstvereinigungen zurückgewiesen, vom akademischen Geist der tonangebenden Kritik abgelehnt, vom Publikum verhöhnt. Ein tragischer, aber auch ein beschämender Fall, der sich in Wien leider zu oft wiederholte. Romako war ein bahnbrechender Revolutionär, ein rastloser Sucher nach malerischen Ausdrucksmitteln und vor allem ein unsteter Geist, und das alles mußte er in schwerster Weise büßen. Ganz verzweifelt in grauenhafter Armut machte er seinem Leben durch Selbstmord ein Ende.

            Dr. Oskar Reichel erzählt vom Auf und Ab dieses Lebens im Katalog zu der nahezu sechzig Werke umfassenden Ausstellung im Kunsthause Würthle. Vom glanzvollen Aufstieg Romakos während seines vieljährigen italienischen Aufenthaltes und den Pariser Auszeichnungen wird berichtet. Nach dieser glückvollen Episode und einem blühenden Schaffen kamen die Wiener Unglücksjahre. Sie begannen mit einer verfehlten Ehe und einem vergeblichen Ringen um die bescheidenste Anerkennung. Kein Mensch wollte seine Bilder kaufen, die er um fünf Gulden das Stück in einer von ihm selbst veranstalteten Auktion anbot. Seine Armut wurde so groß, daß er in einem Frack, dem einzigen Kleidungsstück, das er noch besaß, herumlaufen mußte. Und man versagte sich diesem früheren Porträtisten von Königen und Kirchenfürsten. Er war dem traditionellen Geschmack eben nur ein verrückter, neuerungssüchtiger Maler. Jetzt besitzt unsere moderne Belvederegalerie eine große Anzahl seiner Meisterwerke und vieles, vieles ist in Wiener Privateigentum übergegangen. Wenn Romako irrsinnig war, woran kein Mensch mehr glaubt, so war er ein verrücktes Genie. Und das wollte noch vor zwanzig Jahren in Wien kein Mensch zugeben.

            Dieses Schaffen war für die verhältnismäßig kurze Lebensdauer Romakos ungewöhnlich reich. Sein Werk umfaßt ungefähr 1500 bis 2000 Bilder. Darunter selbstverständlich manches Minderwertige als Anpassung an den damaligen Publikumsgeschmack. Er, der den Impressionismus genial vorausahnte, blieb von einer vergänglichen Zeitmode nicht ganz unberührt. Aber nicht unbeeinflußt auch von Marées-Stimmungen, von Feuerbach und den Franzosen. Er war kein „bodenständiger“ Künstler, sondern als solcher ein Weltbürger. Und trotz mancher Verwandtschaft und Beziehung gab er im Besten seines Schaffens eine eigene Anschauung, eine ganz eigene, ganz starke Note. Er sah und erlebte in Farben von seltener Magie, verfügte über eine eben so starke Gestaltungskraft. Er war Romantiker wie lebensstrotzender Realist, konnte sich in die künstlerischen Geheimnisse der klassischen Meister Italiens wie in die Welt Rembrandts hineinfühlen, ahnte aber auch schon die späteren Entdeckungen eines Manet, Rivoir und Courbet in vielen Darstellungen voraus.

            Man ist von der Sinnlichkeit seiner Farbe, seinen flimmernden Visionen und von all den Finessen und Schönheiten fasziniert, wenn man die Ausstellungsräume betritt. Er malt zu weilen ein menschliches Gesicht mit einer solchen Fülle von Vitalität, mit so blühendem Inkarnat, als ob er ein Nachkomme von Tizian wäre, mit einer solchen Einfühlungsfähigkeit wie ein nächster Verwandter Leibls. Man sehe sich daraufhin seine Schwabach-Bildnisse, das Porträt der Kaiserin Elisabeth, der Frau Stern, von Sophie und Luise Romako und eines Sängers an. Das klassische Italien ist in bezaubernden Farbenstimmungen und Linien in seinen Bildern wie in den eines Marées. Ruhevoll hier, ist er anderwärts von vibrierender Nervosität, immer ein Bekenner seines Phantasie- und Innenlebens, immer bezwingend, ob er in der Wirklichkeit sich bewegt oder über diese hinausgeht.

            Oskar Kokoschka, von dem Werke aus verschiedenen Abschnitten seines Schaffens im Künstlerhaus, in der Sezession wie in einer ganz ihm gewidmeten Ausstellung in der Neuen Galerie zu sehen waren, hat sich eines bedauerlichen Vorfalls wegen in einem veröffentlichten Brief in etwas brüsker Weise von Wien und seinem Publikum losgesagt. Wohl ist es zu seinen Anfängen auch ihm gar arg in Wien ergangen. Aber er gehört längst nicht mehr zu den verkannten Oesterreichern, mag auch eine Beurteilung, die virtuoses Handgelenk oder gar nur zeichnerische Korrektheit mit Kunst verwechselt, auch jetzt noch ablehnend sich ihm gegenüber verhalten. Dieser eigenwillig neurasthenische Künstler hat das Verständnis auch dem Willigen schwer gemacht, wie seine eigene Entwicklung es gewesen. Kokoschka hat in schwerem Ringen durch Stile und künstlerische Zeiteinflüsse sich erst durchschlagen müssen, ehe er zu seiner harmonischen Synthese und zu einer rein persönlichen Kunst gelangte. Lange haben die verschiedensten Elemente vom Kubistischen bis zum Expressionismus seinem Schaffen den Charakter des Experiments verliehen. Ein pathologischer Einschlag, die Neigung zum charakteristisch Häßlichen, machte dem ästhetisch Befangenen seine Kunst nur schwer zugänglich. Kokoschka setzt jetzt noch alles Gestaltete ins Morbide um. Seine Reize fließen aus der Linie oder der Farbe. Mit dem koloristischen Medium hat er am längsten gerungen, ehe er zu seiner jetzigen Noblesse und Ausdrucksfähigkeit gelangte. Ein Beweis hiefür ist sein einst vielumstrittenes „Stilleben mit dem Hammel“, das noch in einem koloristischen und gegenständlichen embarras de richesse schwelgt und in dieser Nuancenüberfülle verwirrt. Aber wir wissen heute, daß er in seinen Bildnissen ein tiefgründiger Seelendeuter ist, auch wenn er aus eigener Verfassung vieles in seine Darstellung hineinfließen läßt; daß seine Malerei eine ungemein vergeistigte, seine Farbenvision von magischem Reiz ist. Oft erreicht seine Koloristik die große Noblesse eines Velasquez. Ueberaus geistvoll ist seine lineare Eleganz, so besonders in seinem mit vielen ornamentalen Wirkungen verbundenen „Irrenden Ritter“. Da, wie in einigen seiner eindrucksvollen wie reizenden Frauen- und Kinderbildnisse ist bereits der gefestigte, synthetische Stil eines ganz individuellen Meisters. Ein Glanz, den allerdings nur ein ebenso verfeinertes Auge wahrnimmt.

            Frans Masereel, der niederländische Künstler, der mit einigen Bildern, vielen Zeichnungen und Holzschnitten im graphischen Kabinett der „Bukum“ jetzt repräsentiert wird, ist, wenn auch am hervorragendsten im Holzschnitt und im Zeichnerischen von einer Größe und Vielfältigkeit des Ausdrucks und einer fast religiösen Inbrunst, daß wir in ihm einen der großen europäischen Meister unserer Tage zu sehen gezwungen sind. Die Stärke und Innigkeit seines Gefühls ist wie aus der Welt Memlings, seines großen Vorgängers. Dieser jetzt sich in das tiefe Mitleid mit allen Beladenen und Mühseligen um und selbst das Laster wird unter seiner Hand zu reiner, leidender Menschlichkeit umgewandelt. Masereel gibt in seinen Holzschnitten und Zeichnungen die tragische Epopöe unserer an Elend so reichen Zeit. So überwältigend ausdrucksvoll ist seine bis ins Minuziöseste gehende Handschrift, daß er in einer textlosen Bilderfolge Lebensdramen und Romane zu geben vermag, wie in seiner soeben im Verlag Kurt Wolff, München, erschienenen „Passion eines Menschen“ (25 Holzschnitte), ein Werk, das man mit ebenso tiefer Ergriffenheit wie mit hohem künstlerischen Genuß durchblättert. Aber Masereel ist nicht nur der große Verkünder tiefen Menschenleids, er verfügt als Zeichner auch über die genial markante Linie eines Toulouse Lautrec. Es scheint, daß er bei einer erstaunlichen Produktion eine unerschöpfliche Phantasie besitzt, und seine Kunst ist gleich stark in der Darstellung des Intimen wie Monumentalen, in der Sphäre des Elends wie in einer mondänen Welt. Und sie ist in sparsamer Andeutung so großzügig und von technischer Brillanz, wie in seiner wundersam feinen und stilvollen Akribie. In seinen wenigen Bildern ist seine Farbe weniger Ausdrucksmittel als Ergänzung: ein noch äußerliches Element.

In: Neues Wiener Journal, 28.10.1924, S. 4-5.

Paul Wertheimer: Georg Kaisers „Gas“

(Erstaufführung des ersten und zweiten Teils an einem Abend im Raimund-Theater)

Das Raimund-Theater hat den von Georg Kaiser selbst gebilligten Versuch unternommen, die beiden Teile des sozial-revolutionären Dramas „Gas“ zu einem Abend zusammenzuschließen, zu ballen wie man in der Expressionistensprache sagen müßte. Auf der Bühne rasen die Explosionen, die äußeren und die inneren, stürmen in überhitzt glühender Atmosphäre fieberhaft erregte Menschen durch sieben Akte gegeneinander, gegen jede Gewaltherrschaft, auch gegen die der Natur – beklommen, angeregt und erregt, menschlich und künstlerisch zweifelnd und zuletzt widersprechend, sieht man vor diesem Getöße, ohne darum die dramatische Stoßkraft vieler dieser Szenen und die Bedeutung des ganzen Werkes zu verkennen, die Bedeutung eines wichtigen künstlerischen Zeitsymptoms.

Ein Werk, nicht wie „Die Weber“, oder selbst noch Tollers „Die Maschinenstürmer“, geboren aus Strömen der Gestaltenfülle oder aus mitleidigem Weltverstehen, vielmehr, selbst chaotisch-ideologisch, kraft- und willensbewußt, aus dem Chaos einer gärenden Zeit. Ein Werk, das sich eine über alle klaren Theatermöglichkeiten hinausgreifende Doppelaufgabe gesetzt hat; die soziale Revolution soll mit den Errungenschaften der künstlerischen auf dem Theater aufgezeigt, ja, das soziale Problem soll mit dem künstlerischen zugleich in einem mehr gedachten, als geformten Werk gelöst werden. Ein Versuch, unternommen mit den Mitteln einer großen Begabung, als die wir Georg Kaisers schätzen – er ist doch wesentlich anders als seine Mitläufer im Expressionistischen und bei allem Kalt-gedanklichen seiner Art doch nicht bloß ein „Hirnhund“, wie sich seine Genossen selbst verzweifelnd nennen. Gestützt wird dieser Versuch durch einen scharf intellektuellen, zu jedem kühnsten Experiment aufgelegten und dabei praktisch bühnenkundigen Regisseur, wie es Dr. Rudolf Beer ist. Dennoch konnte ein solches Wagnis nicht zur Gänze gelingen, weil abstrakte Gebilde, seien sie noch so mutig gedacht, auf dem Theater trotz aller explosiven Heftigkeit uns nie innerlich aufwühlen, weil sie doch nur wie gewalttätige Schemen an uns vorüberziehen.

Man erinnert sich aus der Darstellung des ersten, stärksten Teiles dieses Dramas im Deutschen Volkstheater an die Umrisse des Geschehens. Umrisse, die wie aus einem feurigen Gedankennebel auftauchen. Georg Kaiser hat den „Milliardärssohn“, dessen Geschicke im ersten Teil seines Schauspiels „Gas“ gezeigt werden, aus seiner Tragödie „Die Koralle“ übernommen. Dort sieht man den zu ungeheurem Reichtum hinaufgeklommenen Emporkömmling. Dessen Sproß  ist eben jener Milliardärssohn mit dem sozialen Gewissen. Er ist Herr über einen Riesenbetrieb, in dem er sich selbst nur als Arbeiter betrachtet. Der Gewinn wird gleicherweise verteilt, ohne daß darum die Anklagen, Leidenschaften, Wünsche rings zur Ruhe gebracht werden.  Da ereignet sich während des Hochzeitsfestes seiner Tochter mit einem Offizier die Katastrophe, jene Explosion im Gaswerke. Wer ist daran schuld? Der Ingenieur, dessen mathematische Formel ohne Zweifel richtig gewesen ist? Irgend ein Zufall? Nein, die Natur selbst, nicht immer durch eine Formel zu binden, hat gegen ihre Versklavung aufbegehrt, wie es diese Menge gegen den Erfinder der Formel, den Ingenieur, unternimmt. Der Milliardärssohn deckt seinen Helfer vor den Ausbrüchen der Waffe. Ihm, diesem unbeirrbaren, wenig klaren Ideologen, ist nun ein anderer Plan aus der Schule Tolstois oder Henry Georges gekommen: die Arbeiter sollen Bauern werden. Doch jener Ingenieur reißt die Menge durch seine hymnischen Lobpreisungen der Arbeit mit; sie helfen das Werk wieder bauen. Inzwischen ist der Krieg aufgeflammt, der Staat verlangt das Werk für sich: der Milliardärssohn sieht solcherart auch seinen Beglückungsplan zerstört, er bricht in dem Augenblick zusammen, da die Tochter heimgekehrt ist. Ihr Gatte, der Offizier, hat sich wegen schimpflicher Schulden erschossen, ein letzter Traum lockt und narrt den phantastischen Unternehmer: das Kind, das die Tochter im Schoße trägt, soll der neue Menschenheiland werden….

Dieses Kind, zum Mann herangewachsen, steht im zweiten Teil des Dramas „Gas“ im Mittelpunkt der ungewissen Ereignisse. Jener Krieg, dessen blutige Schatten Kaiser in den ersten Teil seines Werkes warf, ist in dem zweiten noch nicht zu Ende. Der staatliche Betrieb, dem das Gaswerk jetzt untergeordnet wurde, bringt nur Enttäuschungen hervor. Georg Kaiser ist doch zu sehr Dichter und darum Individualist, um das sozialistische Programm vorbehaltlos anzuerkennen. Er zeigt oder deutet viel mehr nur skizzenhaft an, wie sich auch hier sehr rasch Uneinigkeiten und Streits entwickeln. Der Milliardärarbeiter, Enkel jenes ersten Besitzers, wird Führer der Waffe, in Weltbrüderschaft will er sich mit dem bisherigen Feind zu einem Menschheitsbund vereinen. Aber der Feind selbst besetzt das Werk und bestellt den Großingenieur, der es bisher geleitet hat, zum Bürgen für die Kriegsschuld. Als Frondienst wird die Arbeit nunmehr unter ehernem Kriegsgebot – Arbeit noch dazu den Feind – betrieben. Kaiser ist auch hier Dichter und Individualist genug, um das nationale Element gegenüber der sozialistischen These nicht zu verkennen. Neuer Unfrieden, neuer Haß, neue Debatten und, wie sein Großvater der Milliardärssohn, steht jetzt dessen Enkel, der Milliardärarbeiter, zwischen der Waffe, und rät, eine Giftgasbombe, die der Großingenieur konstruierte, gegen die feindliche Besetzung zu schleudern und so die hier Eingeschlossenen und, symbolisch, die Welt zu befreien. Aber sein Ruf bleibt ohne Widerhall. Nun greift er selbst nach der Bombe und schleudert sie gegen sich. In Dampf und Feuer lodert das Werk: der Tod schreitet über der vernichteten Welt….

Diesem zweiten, ganz gedankenhaften Teil, sind nicht mehr die erregenden Kräfte des ersten eigen. Was hier geschieht, sind nur Gedankenkämpfe, Debatten, die trotz der hitzigen Explosionsatmosphäre nur doktrinär ausgefochten werden. Und künstlerisch-doktrinär erweist sich hier die expressionistische Technik, die anfangs mit ihrem Telegrammstil, den stoßweisen Worten, den in hitzigen Ekstasen aufgetürmten Bildern steckt. Aber eine Ermüdung des Interesses tritt bald, zumal in dem zweiten Teile, in jeder Weise ein. Auf dem Theater, modern oder nicht, mit jeden „Ismus“ oder davon befreit, wie wir für die Zukunft erhoffen, immer gibt es hier nur ein Gesetz: alles ist erlaubt, wenn es sich nicht wiederholt. Aber hier wiederholt sich alles: die Debatten, in das Endlose geführt, das Nebulose der Weltbeglückungspläne, die Atmosphäre bleibt die gleiche. Hier steht alles, so heftig auch die Worte prasseln, dramatisch still, und selbst die Detonation zum Schluß erschüttert oder entsetzt nicht mehr, weil sie ja nur Wiederholung ist, benutzte Wiederholung diesmal. Wie anders hat sie einmal bei Björnson in „Ueber unsere Kraft“ gewirkt, wo man grauenhaft ihr Herannahen fühlte. Wie selbst noch in diesen ersten Szenen dieses Schauspiels „Gas“, in dem zuletzt Schemen statt Menschen durch Dampf und Rauch und Gedankennebel irren. So ist das Spiel, die Waffe dramatisch zu packen, trotz redefrohen Antagonisten nicht erreicht.

Dennoch bleibt dieser ersten Wiener Aufführung der beiden Teile des Kaiserschen „Gas“ der Eindruck eines Ereignisses von einer gewissen theatergeschichtlichen Wichtigkeit. Dieses Schauspiel bedeutet den Gipfelpunkt einer ganzen Richtung, einen Gipfel, der bereits zum Abstieg führt. Heute ist, wie jeder praktische Theatermann weiß, der Expressionismus, dieser Schrei des Theaters von morgen, bereits eine Formel von gestern geworden. Nur das Dichterische auch an den Werken dieser Epoche hat Bestand. Aus einem Werk wie „Gas“, so stark man auch daraus die nervös zuckende Faust eines Dramatikers – eines Dramatikers von preußischem Zuschnitt trotz der Revolutionsgeste – spürt, erwächst doch nur die Sehnsucht nach Menschen und ihren Schicksalen, nicht nach Schemen und explodierenden Ideen. Aus diesem Nebelland geballter Zeitgedanken wird auch Georg Kaiser den Weg in das Menschenland, mit dem er vielverheißend begonnen, zurückfinden. Er hat ihn bereits in Werken, die „Gas“ nachfolgten, gefunden.

Regie und Darstellung sahen sich hier vor einer nicht geringen Aufgabe. Das unheimliche Tempo mußte bewahrt und dabei der Eindruck der Gehetztheit vermieden werden. Er ist im zweiten Teil, der dadurch ungewollt zu einer leichten künstlerischen Persiflage des ersten wurde, nicht ganz, trotz Dr. Beers wieder höchst kluger Führung, vermieden worden. Die Darstellung hatte die eine Aufgabe, sich auf Stil, den expressionistischen Stil, zu stellen. Der Eindruck des linienhaft Typischen, nicht das Individuell-Menschliche, mußte im Gesamtbilde dieses Abends festgehalten werden – man sieht, daß diese auf Schrei und seelische und Wortexplosion gestellte expressionistische Kunst auch den Schauspieler typisieren und um sein Eigentümlichstes, das persönliche Gestalten, bringen muß. Hans Ziegler, Rudolf Zeife, Richard Duschinsky, Hermann Wail, Louis Böhm, Grete Witzmann, Lilly Karoly, Lina Loos, Karl Ehmann, Heinrich Schnitzler, Friedrich Rosenthal, Wolf B. Kersten, Eduard Loibner, Rosa Fasser, Alfred Neugebauer,  und Karl Skraup wußten stilecht zu typisieren und fast, immer verständlich, „gebrüllt“ zu sprechen. Der Heftigkeit der Wirkungen entsprach die Heftigkeit des Erfolges. Die Beifallsdetonationen begannen auf der Galerie und setzten sich, freilich zuletzt sehr wesentlich abgeschwächt, nach unten fort.

In: Neue Freie Presse, 9.3.1924, S. 14f.

N.N.: Der Tatlinismus.

Der neueste Kunstwahnsinn.

Daß die russische Kunst unter der Herrschaft des Bolschewismus besonders modern und revolutionär sich entfaltet hat, ist bekannt. Aber die Weiterentwicklung dieses Stils, der für uns im wesentlichen durch den bereits vor dem Krieg aufgetauchten Expressionismus Chagalls und Kandiskys repräsentiert wird, war bisher in Dunkel gehüllt. Nun dringen Nachrichten aus Berichten russischer Reisender und neuesten Moskauer Kunstblättern herüber über die jüngste Bewegung, und Frank Thieß erzählt von dieser neuesten russischen Kunst in der „Freien Deutschen Bühne“. Der Hauptmeister und Mittelpunkt dieser Malerei ist Wladimir Tatlin, der in den ersten Kriegsjahren mit seinen Arbeiten an die Oeffentlichkeit trat. Um ihn hat sich eine große Schule gebildet, die Schule der Tatlinisten, die mit Leidenschaft das neue Evangelium der Schönheit, den Tatlinismus, predigen. Diese „Kunst“, der sich neuerdings auch Dichter und Musiker angeschlossen haben, geht über die Forderungen des Expressionismus weit hinaus und will überhaupt die gesamten Grundlagen aller bisherigen Kunst forträumen. Nach // den Angaben scheint es sich dabei um einen Stil zu handeln, der auch bei uns [] von einigen kühnen Neuerern in der Form der „Merzbilder“ angewendet wird. Der Tatlinismus erklärt nämlich „die souveräne Herrschaft der Objekte, des maschinellen, des Materials“. Das Material, der tote Stoff, welcher unser Leben beherrscht, hat auch die Kunst zu beherrschen. Die Kunst hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, dieses Material zu ihrem „Material“ zu machen, muß sich also des Holzes, des Eisens, des Glases, der Schrauben, der elektrischen Drähte und der mathematischen Formeln genau so bedienen, wie sich die Zeit ihrer selbst bedient: Alle Dinge der Außenwelt haben Heimatsrecht in der Kunst, welche dem Geist die Wohnung zu kündigen hat, um die Maschine an seine Stelle zu setzen. Der gegenstandslosen „Kunst“, welche die Tatlinisten höhnisch in Ausführungszeichen setzen, tritt die radikale gegenständliche Maschinenkunst entgegen, die sich aller Dinge zu gleichen Rechten bedient und jedem, auch dem belanglosesten Objekt, gestattet, auf der Bildfläche zu erscheinen. Der Tatlinismus ist der Schrittmacher der „totalen Materialisiertheit“ unseres Lebens und opfert – ähnlich wie die Dadaisten in Deutschland und die Männer um die Zeitschrift „Valori Plastici“ in Italien dem „rational“ meßbaren Ding die „Irrationalität“ des Geistes und der Seele.

In: Neues Wiener Journal, 13.4.1920, S. 4-5.