Kubismus? Längst
überwundener Standpunkt. Futurismus? Kunst von vorgestern, beinahe schon Philistergeschmack. Wir
stehen schon viel weiter. Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Es sind die Ufer
einer neuentdeckten Märcheninsel, und die Sonne, die sie bescheint, ist nicht
etwa die gute, alte, brave,
goldgelbe Sonne, sondern ist grün oder blau oder violett. Die Märchen aber, die
auf der Insel erzählt werden, sind vorläufig noch allen Profanen unverständlich. Nur die Entdecker,
die Eingeweihten, die Priester und Eroberer zugleich sind, deuten die
Wunderrätsel.
Es ist zweifellos,
daß der Dadaismus, der in Zürich seine Hochburg hat, vom Futurismus ausgegangen
ist. Die ersten Gemälde, die man mit den Dadaistenausstellungen sah, bemühten
sich, der Geometerie pittoreske Eindrücke
nach futuristischem Rezept zu entlocken. Aber bald stürmten die Dadaisten über die bunte Fauna der aufs
malerische angewendeten Geometerie
hinaus und hißten das eigene Banner des Nochnichtdagewesenen. Vom Nochnichtdagewesenen kann
man im Grunde genommen beim Dadaismus noch nicht sprechen. Denn die Wurzeln des
Dadaismus – das muß man ihm einräumen – stecken in jedem Menschenleben.
Man kann es ohne
Übertreibung sagen, daß jeder Mensch einmal ein Kind gewesen ist und als
solches einmal „Dada“ gesagt hat. Nur blieb es der Zürcher Gemeinde
vorbehalten, in diesem „Dada“ das Symbol heiligster Kunstäußerung zu erblicken.
Der Dadaismus stellt sich uns also vor als die wahre Rückkehr zur äußersten
Ursprünglichkeit, zur idealsten Primitivität. Lasset uns sein wie die Kinder!
Im kindlichen Spiel erblicken die Dadaisten ehrfurchterschauernd die heiligsten
Offenbarungen der Kunst. Und darum sind die Gemälde, Holzschnitte und
Zeichnungen, die man in den dadaistischen Zeitschriften und auf den
dadaistischen Ausstellungen sieht, nur den Malereien und Zeichnungen eines
Kindes vergleichbar, das zum ersten Mal Tinte, Bleistift oder Farbe in die Hand
bekommt. Ich habe lange darüber nachgedacht, welcher kindlichen Kunstäußerung
die zehn Holzschnitte gleichen, mit denen H. Arp die „25 Gedichte von Tristan
Tzara“ illustriert hat. Nun weiß ich es. Es ist die Technik der Klecksographien mit denen ein Justinus
Kerner sich einst vergnügte. Man macht Tintenkleckse auf Fließpapier und legt
dann das Blatt zusammen. Auf diese Weise kann man ein Raffael der Dadaisten
werden. Die Dadaisten haben übrigens eine sehr entwickelte Kunsttheorie. Sie
wollen die Überlieferungen der Negerkunst, der alten Ägypter und Byzantiner fortsetzen
und vor allem die atavistische Empfindlichkeit ausrotten, die uns aus den
hassenswerten Tagen der Renaissance im Blute stecken geblieben ist.
In erster Linie führen sie in ihrem Schrifttum einen
erbitterten, ja geradezu berserkerhaften Kampf gegen Syntax und Interpunktion. Sie
haben das prachtvolle Schlagwort vom „Antisyntarismus der freigelassenen
Worte“. Und damit kommen wir dem Wesen ihrer Dichtungen nahe. Fort mit dem
Unsinn der sinnvollen Sätze, fort mit der Schnürbrust des Satzbaues, fort mit
den Eselsbrücken der Interpunktion! Worte, Worte, Worte in Freiheit! … Ich könnte hier ins Unendliche fortschreiben,
ohne meinen verehrten Lesern auch nur den leisesten Begriff dadaistischer Kunst
beibringen zu können. Darum lasse ich die Dichter der dadaistischen Schule
selber sprechen: Im September 1916 erschienen die „phantastischen Gebete“ von
Richard Hülsenbeck. Das schmächtige Bändchen beginnt mit folgender Hymne:
Ebene
Schweinsblase
Kesselpauke Zinnober cru cru cru
Theosophia pneumatica
Die große Geistkunst
= poème bruitiste aufgeführt
zum ersten Mal durch
Richard Huelsenbeck DaDa
oder oder birribum
birribum saust der Ochs im Kreis herum oder
Bohraufträge für
leichte Wurfminen-Rohlinge 7/6 cm Chauceur
Beteiligung Soda
calc. 98/ 100%
Vorstehund damo
birridamo holla di funga qualla di mango
damai da dai umbala
damo
brrs pffi commencer
Abrr Kpppi commence Anfang Anfang
sei hei fe da heim
gefragt
Arbeit Arbeit
brä brä brä brä brä
brä brä brä brä
sokobauno sokobauno
sokobauno
Schikaneder Schikaneder
Schikaneder
Man darf aber ja nicht glauben, daß dieses Gedicht einen
Höhepunkt der neuen Poetik bilde. Da kenne ich ganz andre Höhepunkte! Ich
möchte am liebsten das ganze Büchlein zur Erbauung des Lesers abschreiben! Eine
ganze Flut von neuen Bildern stürmt auf uns ein. Wortbildungen schießen
vulkanisch aus den Hirnen der Dadaisten. Und man muß gestehen, in ihrem
Bilderreichtum übertreffen sie alles, was Menschenkunst je geschaffen hat. Paraffinflüsse
fallen aus den Hörnern des Mondes, der See Drizunde liest die Zeitung und
verspeist dabei ein Beefsteak, über den Spiegel deines Leibes saust der
Jahrhunderte Geschrei, zwischen den Intervallen deines Atems fahren die bewimpelten
Schiffe, Luftschlangen und Flittergold sind in den Runzeln deiner Stirne, Larven
von Wolkenhaut haben die Türme vor die blendenden Augen gebunden, Zylinderhüte riesige
o aus Zinn und Messing machen ein himmlisches Konzert, usw. . . . Und wie
überraschend in ihrer Plastik sind die Verse:
vom
Himmel fä-ällt das Bockskatapult, das
Bockskatapult
wir
blasen das Mehl von der Zunge und schrei’n
und es
wandert der Kopf auf dem Giebel
Aber
in diesen „Gebeten“ ist immerhin noch eine Spur von Wortverbindungen. Es ist,
als ob der Fluch des Satzbaues von der neuen Kunst wie eine Eierschale
abgestreift werden müsste. Das ist restlos gelungen in dem unvergleichlichen Chorus
Sanctus.
a a o a
e i i i i o i i
u u o u
u e u
i e a
a i
ha dzk drrr
bn obn br buß bum
ha haha hihihi
lilili leiomen
Dieser Chorus ist offenbar vierstimmig
gedacht. Als Schlachtgesang der Dadaisten gilt aber, wie ich mir sagen ließ,
der Cantus: Die
Primitiven. Er lautet:
Indigo
indigo
Trambahn
Schlafsack
Wanz und
Floh
Indigo
indigai
Umbaliska
Bumm DADAI
Der richtige Dadaist dichtet in allen
Kultursprachen. Mit Hülsenbeck um die Palme ringt ein junger französischer Poet Pierre Albert = Birot,
der in Nr. 2 der Dadaistenzeitschrift einige Verse „Pour Dada“ veröffentlicht
hat. Sie lauten:
AN AN AN AN AN AN AN AN
AN AN AN
IIII I I
POUH-POUH
POUH-POUH RRRA
si si si
drrrrr
oum oum
AN AN AN AN
Aaa aaaa aaa tzinn
UI I I I I
HA HA HA HA HA HA HA
rrrrrr rrrrrrrrrrrrrrrrrrrr
Auf den Vortragsabenden der Dadaisten soll dieses Gedicht von
Birot ganz besondere Wirkung geübt haben. Denn natürlich sind alle diese Verse,
die ich eben zitierte, nicht nur für das Lesen im stillen Kämmerlein, vor dem
Kamin und im blühenden Garten bestimmt, sondern, sie werden auch bei den
Zusammenkünften der Dadaisten von Rhapsoden kunstvoll vorgetragen. Ich bin nur
ein Laie im Dadaismus, und trotz aller Bemühungen ist es mir noch nicht
gelungen, alle Feinheiten dieser Buchstabenlyrik und Begriffsphantastik zu
enträtseln. Aber auch auf meine Philisterseele wirken die Verse Hülsenbecks,
die unter dem Titel „Schalaben Schalabei Schalamezomai“ erschienen sind. Ist
Tristan Tzara der Goethe der neuen Richtung, so ist Hülsenbeck das Haupt ihrer
Romantik. Auch aus diesem Büchlein muß ich ein paar Verse anführen. Sie gehen
mir nicht aus dem Kopfe, seitdem ich sie gehört habe. Und ich setzte sie
hieher, auf die Gefahr hin, daß sie auch meine Leser nicht loslassen und sie
bis in ihre Träume verfolgen werden:
der Phosphor
leuchtet im Kopf der Besessenen
schalamezomai
und die Säue
stürzen in den See der Lamana
heißt
schlage an
deine Brust die aus Gumme ist laß
flattern
deine Zunge
über die Horizonte hin
wedele mit
deinen Ohren so die Eisgrotte zerbricht
ich sehe die
Leiber der Toten über die Teppiche zerstreut
die Toten
fallen von den Kirchtürmen und das
Volk
schreiet zur
Stunde des Gerichts
ich sehe die
Toten reiten auf den Baßtrompeten
am Tage des
Monds
rot rot sind
die Köpfe der Pferde die in der
Ebene schwimmen.
Mein lieber alter verstorbener Freund, der Dichter
Heinrich Bulthaupt in Bremen, hatte einen Talisman gegen jeden Aerger. Es waren
vier Verszeilen, die er dann vor sich hinsagte: „Con el ay, con el marabay, con
el u, con el marabu.“ Ich habe das Rezept selbst oft angewendet und es hat
seine Wirkung nicht verfehlt. Nun aber bin ich im Zweifel, ob nicht die
Zauberformel Hülsenbecks noch bessere Dienste leistet:
Schalaben schalabai schalamezomai.
Man sage sich diese Formel, wenn man sich ärgert, ein
paar tausendmal laut vor, und die aufgeregten Wogen des Gemütes werden sich
glätten.
Die Dadaisten haben in Zürich ihre Zeitungen und
Zeitschriften, sie veröffentlichen Bücher und halten Vorträge, sie veranstalten
Bilderausstellungen. Es scheint, daß die Gemeinde sehr groß ist, denn manche
dieser Bücher sind vollkommen vergriffen. So zum Beispiel das erste Heft der
Monatsschrift „Dada oder La première aventure céleste de Mr. Antypirine“ von
Tr. Tzara. Die Dadaisten dichten in mehreren Sprachen. Französisch, italienisch
und deutsch. In Frankreich und Italien erscheinen auch Bruderorgane, Revuen,
Wochen- und Monatsschriften. Sie alle kämpfen für die von Syntax und Kultur
befleckte Reinheit der Buchstaben und Worte. Es wäre jammerschade, wenn man
nicht auch in Wien von dieser Bewegung Kunde hätte. Die Zeiten sind düster und
schwer, und ich weiß kein besseres Mittel, sich über das Chaos des Tages zu
erheben, als eine Lektüre dadaistischer Kundgebungen.
In: Neues Wiener Tagblatt, 3.10.1918, S. 2-3.