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[E. R.]: Luftmalerei und Luftskulptur.

Die Kunstschöpfungen der Fliegerin Pascalis und Marinettis Gegenaktion.

                                                                                                                                       Paris, im März.

             Vor einigen Wochen stellte hier Frau Louise Pascalis „Luftbilder“ aus. Das sind bildliche Darstellungen der Wolken und der Erde, wie man sie von einem Flugzeug aus sieht. Auf den Gemälden war das Flugzeug teilweise geschildert. Frau Pascalis ist Fliegerin und kann sich rühmen, daß sie die Maschine geschickt zu steuern weiß, aber von Malerei versteht sie nichts, und sie wird, nach ihren ersten Proben zu urteilen, wohl kaum lernen, mit dem Pinsel umzugehen. Deshalb wurde von ihrer gewiß originellen Ausstellung nicht die geringste Notiz genommen, und man würde wahrscheinlich nie mehr von ihr gesprochen haben, wenn nicht die Futuristen, welche die „Aeropeinture“ erfunden haben, es für notwendig gehalten hätten, gegen die von Frau Pascalis an den Tag gelegte Auffassung von „Luftmalerei“ energisch zu protestieren. Marinetti und seine Schuler sind die Begründer dieser „neuen Kunst“ und wollen sich nicht verdrängen lassen. Um der Mitwelt recht deutlich zu zeigen, wie richtige „Aeropeinture“ ausschabt, haben sie rasch eine Ausstellung italienischer futuristischer Luftbilder im Renaissancesaal in der Ruhe Royale veranstaltet, eine Ausstellung von Werken Prampolinis und seiner Anhänger. Zur Eröffnung ist Marinetti höchstpersönlich in die Seine-Stadt gekommen, und bei dieser Gelegenheit hat er seine Meinung in recht kräftigen Worten geäußert, wie man es von ihm gewöhnt ist.

Seit seinem Hervortreten mit „futuristischen Ideen“ ist Marinetti um mehr als Dezennien älter geworden, aber er hat sich indessen kaum verändert. Er macht sich durch das gleiche Ungestüm bemerkbar wie früher, durch dieselbe geschwollene Rhetorik und durch ein unvermindertes Talent, Zukunftslosungen hinauszuschreien. Vor zwölf Jahren hat er den Taktilismus, die Tastkunst, entdeckt. Dann hat er Symphonien aus verschiedenen Geweben komponiert. Hierauf hat er die Kochkunst der Zukunft den Musen angehängt. Nun ist ihm die Luftmalerei nicht mehr neu genug und daher träumt er bereits von der „Aeroskulptur“.

Die „Aerokunst“ ist überhaupt ein Lieblingsgebiet der Futuristen. Im Jahre 1908 veröffentlichte Marinetti ein Gedicht in freien Versen, das die erste lyrische Verherrlichung des Fliegens war. Andere italienische Dichter wandten sich darauf ebenfalls der Aeropoesie zu. Im Jahre 1926 entwarf der inzwischen verstorbene Azari die ersten Luftgemälde. Dottori wandte die neue Kunst bei den Dekorationen des Flughafens in Ostia an. Diese der modernen Technik angepaßte Malkunst ist eine besondere Form des Vitalismus, die Verkörperung des ständigen Strebens nach Steigerung der Lebensleidenschaft und parallel damit der sinnlichen Genüsse. Die neuen Aspekte sollen in einer neuen Harmonie aufgelöst werden, die keine Festigkeit kennt, im Gegenteil, nur in der ständigen Bewegung existiert.

Dies und ähnliches konnte Marinetti diesmal vor dem aus Snobs zusammengesetzten Publikum, das zur Vernissage erschienen war, in aller Ruhe auseinandersetzen. Vor einem Dutzend Jahre war es anders. Damals machten die Dadaisten einen solchen Höllenlärm, daß Marinettis Stimme im Tumult völlig unterging. Seither jedoch hat der Futurismus auf der ganzen Linie gesiegt, wenigstens in Italien, wo er förmlich zur Staatskunst ausgerufen worden ist, der Dadaismus dagegen, der Surrealismus, der Orphismus und andere Ismen sind auf der Strecke geblieben. Marinetti gibt sich freilich mit diesem Erfolg nicht zufrieden. Er verlangt von seinem Vaterland mehr Anerkennung. Er macht für sich und seine Anhängerschaft die Ehre geltend, Italien an die Seite der Alliierten gebracht zu haben. Und in diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, daß er von d’Annunzios Initiative nicht viel hält und bloß seinen persönlichen Mut schätzt. Denn Marinettis Glaubensbekenntnis ist das der Tat. Er mengt Kunst mit Politik. Das merkt man den Werken seiner futuristischen Anhänger an.

In: Der Tag, 20.3.1932, S. 26.

A.F.S. [Adalbert Franz Seligmann]: Kunstausstellungen (1921)

Im neuen Trakt des Oesterreichischen Museums (Eingang von der Wollzeile aus) ist, wie wir bereits angezeigt haben, eine Ausstellung eröffnet worden, die einen Ueberblick über die Wirksamkeit der Wiener „Gesellschaft für vervielfältigende Kunst“ während des letzten Halbjahrhunderts gibt, zugleich aber, wie man sagen darf, einen Ueberblick über die gesamten modernen Graphik während dieser Zeit […]

Im Erdgeschoß des nämlichen Traktes ist jetzt eine Ausstellung von Schülerarbeiten (Ornamentklasse Cizek) der Kunstgewerbeschule zu sehen, am Stubenring eine solche der Klassen Hoffmann (Architektur), Stark (Email), Rothansl und Wimmer (Textilien). Hier sieht man das Neueste vom Neuen. Bei Cizek wird der Futurismus, Kubismus, Kinetismus und was es sonst auf diesem Gebiet gibt, offiziell gelehrt. Man sieht da „Studien über die kubische Existenz der Dinge, – wobei die Frage offenbleibt, ob diese Existenz auch wirklich existiert! – ferner ornamentale Kompositionen, die die ‚Sehnsucht‘, die Musik, den Brandgeruch und dergleichen darstellen. Wir erwarten, daß demnächst als Aufgaben für eine musikalische Kompositionsklasse Themen gegeben werden wie zum Beispiel „Zitronengelb mit karmoisinroten Streifen“, „Spirale“, § 31 des bürgerlichen Gesetzbuches“ und so dergleichen. Ein Riesenapparat wird aufgeboten, Philosophie, Religion und Wissenschaft werden zu Hilfe gerufen; die Berge kreißen und es kommt im besten Fall ein neues Tapeten- oder Krawattenmuster heraus. Es ist jammerschade, daß so viel Mühe, Intelligenz, Fleiß und wohl auch Talent an solche unfruchtbaren Spielereien des Geistes und der Hand verschwendet werden; und das noch dazu in einer Zeit, da sich überall die Anzeichen mehren, daß der Bolschewismus – dessen Spiegelungen in der Kunst ja diese neuesten Manieren sind! – sich selbst ad absurdum führt. Allerdings wird das Absurde in der Sozialpolitik durch den ungeheuren wirtschaflichen Zusammenbruch mit der Zeit jedermann offenbar; in der der Kunst ist die Absurdität nicht zu beweisen. Daher wird diese Richtung in der Kunst auch ein längeres Leben haben als in der Politik, wo sich ja die Umkehr schon vorzubereiten scheint. Indes ist es doch symptomatisch, daß auch hier an allen Fronten abgeblasen wird und in allen führenden deutschen Kunstzeitschriften warnende Stimmen sich erheben. So dürften die noch überall pilzartig aufschießenden expressionistischen Ausstellungen und Revuen nicht als Zeichen des endgültigen Erfolges gedeutet werden, sondern vielmehr als letztes – oder vorletztes Aufflackern vor dem Erlöschen einer Bewegung, die nur in einer Zeit möglich war, in der Intelligenz und Neurasthenie an Stelle eines spezifischen Kunstempfindens getreten sind.

            Ganz und gar im modernsten Fahrwasser bewegt sich O.R. Schatz, ein junger Kunstbeflissener, der eben bei Hevesi (Mariahilferstraße 13) eine Kollektivausstellung veranstaltet hat. Immerhin ist trotz aller karikaturenmäßiger Verzerrung, namentlich in einigen Holzschnitten und Kreidezeichnungen, außer dem jetzt so häufigen – und recht billigen! – Rhythmus ein gewisses Verständnis für die Formen des menschlichen Körpers zu spüren., Auf einer Linie zwischen Expressionismus und Impressionismus sucht dann ein junger russischer Maler, A. Akidos, seinen Weg; er hat in seiner Werktstatt (9. Bezirk, Spittelauer Weg 1) eine Auswahl seiner Arbeiten zur Schau gestellt, unter denen manche Landschaften und ein Blumenstück seinen Farbensinn erkennen lassen.

            Eben da wir diese Zeilen beschließen wollen, erhalten wir die Nachricht, daß im unteren Belvedere die neuen Erwerbungen der Staatsgalerie, untermischt mit manchem aus den älteren Beständen, dem Publikum zugänglich gemacht worden sind. Darüber demnächst ein Mehreres; einstweilen nur so viel, daß neben einigen sehr hübsch und geschmackvoll aufgestellten, in Hinsicht der Qualität im allgemeinen nicht eben aufregenden Plastiken und Gemälden der Gotik und Barocke namentlich Wiener Künstler des verflossenen Jahrhunderts mit zum Teil vorzüglichen Arbeiten zu Wort kommen. So Waldmüller, Fendi, Pettenkofen, Tina Blau (das prachtvolle Praterbild aus dem Hofmuseum, ein Clou der Ausstellung), Klimt; die vielumstrittene „Medizin“ und einige Landschaften werden manchen enttäuschen. Von Neueren und Neuesten ist gleichfalls allerlei da: sehr schön der „Eselreiter“ von Gaul (Berlin), einem künstlerischen Verwandten unseres Barwig, von dem einiges Treffliches zu sehen, wenn auch nicht sein Bestes. E. Schiele ist ganz gut vertreten; von anderen aus diesem Kreise manches, dem man nicht ansieht, daß es unter dem Einfluß des Modegeschmacks etwas übereilt erworben worden ist. Ob eine sogenannte „Aktstudie“ von einem sicheren Böckl (Nr. 13) als abschreckendes Beispiel ausgestellt ist oder ob man sich hier mit dem Publikum einen schlechten Witz gemacht hat, ist nicht klar. Vielleicht soll auch nur die fortschrittliche Gesinnung der Galerieverwaltung – etwas heutzutage scheinbar Unerläßliches! – dadurch dokumentiert werden, daß dergleichen Zeit ernst genommen, angekauft und ausgestellt wird. Jedenfalls wäre es besser gewesen, den Beschauer nicht vor dieses Dilemma zu stellen. Solche Mißgriffe dürfen aber nicht hindern, festzustellen, daß die ganze Ausstellung gut gehängt ist, einen vortrefflichen Eindruck macht, in jeder Hinsicht als Sehenswürdigkeit gelten kann und daß der gründlich illustrierte Katalog der Galerieverwaltung das ehrenvollste Zeugnis ausstellt.

In: Neue Freie Presse, 17.6.1921, Abendblatt, S. 5.

Max Ermers: Herbert Plohberger oder die Neue Sachlichkeit in Oesterreich.

             Seit einiger Zeit weiß man es auch in Österreich, daß einige der älteren Kunstrichtungen – Impressionismus, Expressionismus, Futurismus, Kubismus und ein Dutzend andere – tot sind und daß an Stelle der …istischen Unsachlichkeiten die Neue Sachlichkeit im Anzuge begriffen ist. Deutschland, Frankreich, Rußland, Italien sind die Heimatländer der jüngsten Kunstrichtung, für die Supranaturalismus, Neuverismus, magischer Realismus nur andere Bezeichnungen sind. Ein richtiger und zünftiger Historiker, Franz Roh, ist den neuen Bestrebungen bereits erstanden und in seinem beziehungsreichen Buche „Nachexpressionismus“ (Verlag Klinkhardt & Biermann) hat er ihr den philosophischen Aufgesang geschrieben, der hoffentlich noch nicht den Grabgesang bedeutet. Denn der zukunftsträchtigen liegen nicht wenige im Suchen und Finden der Neurealisten, die mit aller Macht Anschluß an die Gegenwart und die geplante Neuordnung aller sozialen Dinge suchen.

             In Österreich scheint die „Neue Sachlichkeit“ ein halbes Jahrzehnt verspätet zur Blüte kommen zu wollen. Hie und da waren schon im letzten Jahre die Vorboten zu sehen. Aber Herbert Plohberger ist der erste, der eine Kollektivausstellung des neuen Geistes wagt und damit zu intensiverer Beschäftigung herausfordert.

             Es ist nun plötzlich stille geworden auf den Bildern der Maler. Vorher, da zerflimmerte und zerpinselte sich die Welt in ein überlebendiges Gewirr von Strichen, Valeurs, farbigen Schatten und halbfingerdicken Pastositäten, oder die Flucht aufeinanderfolgender Erscheinungen sammelte sich in den anscheinend wirren Verdichtungen der Futuristen, oder die Urtiefen der chaotischen Empfindungen traten in formzersetzender Ekstase expressionistisch auf die Leinwand…, nun ist die große Stille nach dem Sturm gekommen. Adieu, Luft und Sonnenschein, die du soviel Beweglichkeit, Unruhe, Unsicherheit und Raumzerstörung in die Bilder brachtest! Adieu, ihr festgehaltenen Vergänglichkeiten flüchtiger Stunden! Adieu, ihr „geballten“ und „gesteilten“ Räusche aufgeregter Seelen! Die Banalität der Alltagsgegenstände will als neues, halbvergessenes Gestirn am Horizont aufsteigen. Der Zauber des uralten Hausrates des Geistes und der solide gefügten Umgebung will sich als Balsam auf unsere wunden Sehnerven legen. An Plohberger, der mit jugendlichem Enthusiasmus ins Extrem geht, läßt sich dieser Entwicklungsprozeß schön belegen. Nur die uninteressantesten Dinge dürfen in seine Bilder eintreten: das Stockerl, die Weckuhr, die Eau de Cologne-Flasche, die Gipsköpfe, die Kaisersemmeln, die Blumentöpfe, die Dessertbäckereien, die „Linzer Tagespost“. Die nature morte wird noch morter gemacht. Um Gottes willen: nur keine Beziehung zu Luft und Leben! Die Atelieratmosphäre tritt wieder in ihre lokalfarbenen Rechte. Aber gut modelliert und selbstsicher soll wenigstens jeder Gegenstand dastehen. Ultramodelliert und ohne die Beseelungen des Expressionismus. Selbst die Eigenart des Materials wird den Dingen genommen. Das würde sie zu interessant und bedeutsam machen. So wird alles mehr oder weniger aus Holz geschnitzt oder aus Blech getrieben. Perspektive – sie wird wieder so normal, als wäre ihre Verzerrung nie geliebt gewesen, Handgreiflich derbe, erdfeste, rundherum greifbare und unwichtige Natur will alles werden. Die Welt ist müde der Imp- und Expressionismen. Auch die Hintergründe werden arm und monoton. Und kein Pinselstrich darf es in der Rauhlosigkeit des Auftrags versuchen, zu eigenem Leben zu kommen. Die Welt wird glatt und lackiert. Jedes Ding führt ein vereinzeltes, lustloses Dasein. Die Stilleben werden beziehungslose Sachnebeneinander. Die Porträtierten harte Holzpuppen, die nichts Psychisches spiegeln. Das Raffinement der Palette beschränkt sich auf starke Kontraste stumpfer Farben.

             Plohberger hat die Entseelung von Mensch und Ding auf die Spitze getrieben. Selbst die geheimen Andeutungen der deutschen Veristen, die jedes Ding sagen lassen „hinter mir gibt es noch ein tieferes Leben“, sie fehlen. Den magischen Realismus beraubt er die Magie.

             Mit Herbert Plohberger beginnt die Neue Sachlichkeit in Österreich. Wenn nicht alles täuscht, hat sie mit ihm schon ihren Höhepunkt erreicht. Läßt sich auf diesem Weg noch ein Weiterschreiten denken? Das Beste, das sich von dieser Malerei, die Plohberger konsequent bis zu Ende gedacht hat, sagen läßt, ist, daß sie für die nächste Stufe der Kunst einige Bausteine wird abgeben können.

In: Der Tag, 18.12.1926, S. 6.

Rudolf Lothar: Der Dadaismus

Kubismus? Längst überwundener Standpunkt. Futurismus? Kunst von vorgestern, beinahe schon Philistergeschmack. Wir stehen schon viel weiter. Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Es sind die Ufer einer neuentdeckten Märcheninsel, und die Sonne, die sie bescheint, ist nicht etwa die gute, alte, brave, goldgelbe Sonne, sondern ist grün oder blau oder violett. Die Märchen aber, die auf der Insel erzählt werden, sind vorläufig noch allen Profanen unverständlich. Nur die Entdecker, die Eingeweihten, die Priester und Eroberer zugleich sind, deuten die Wunderrätsel.

Es ist zweifellos, daß der Dadaismus, der in Zürich seine Hochburg hat, vom Futurismus ausgegangen ist. Die ersten Gemälde, die man mit den Dadaistenausstellungen sah, bemühten sich, der Geometerie pittoreske Eindrücke nach futuristischem Rezept zu entlocken. Aber bald stürmten die Dadaisten über die bunte Fauna der aufs malerische angewendeten Geometerie hinaus und hißten das eigene Banner des Nochnichtdagewesenen. Vom Nochnichtdagewesenen kann man im Grunde genommen beim Dadaismus noch nicht sprechen. Denn die Wurzeln des Dadaismus – das muß man ihm einräumen – stecken in jedem Menschenleben.

Man kann es ohne Übertreibung sagen, daß jeder Mensch einmal ein Kind gewesen ist und als solches einmal „Dada“ gesagt hat. Nur blieb es der Zürcher Gemeinde vorbehalten, in diesem „Dada“ das Symbol heiligster Kunstäußerung zu erblicken. Der Dadaismus stellt sich uns also vor als die wahre Rückkehr zur äußersten Ursprünglichkeit, zur idealsten Primitivität. Lasset uns sein wie die Kinder! Im kindlichen Spiel erblicken die Dadaisten ehrfurchterschauernd die heiligsten Offenbarungen der Kunst. Und darum sind die Gemälde, Holzschnitte und Zeichnungen, die man in den dadaistischen Zeitschriften und auf den dadaistischen Ausstellungen sieht, nur den Malereien und Zeichnungen eines Kindes vergleichbar, das zum ersten Mal Tinte, Bleistift oder Farbe in die Hand bekommt. Ich habe lange darüber nachgedacht, welcher kindlichen Kunstäußerung die zehn Holzschnitte gleichen, mit denen H. Arp die „25 Gedichte von Tristan Tzara“ illustriert hat. Nun weiß ich es. Es ist die Technik der Klecksographien mit denen ein Justinus Kerner sich einst vergnügte. Man macht Tintenkleckse auf Fließpapier und legt dann das Blatt zusammen. Auf diese Weise kann man ein Raffael der Dadaisten werden. Die Dadaisten haben übrigens eine sehr entwickelte Kunsttheorie. Sie wollen die Überlieferungen der Negerkunst, der alten Ägypter und Byzantiner fortsetzen und vor allem die atavistische Empfindlichkeit ausrotten, die uns aus den hassenswerten Tagen der Renaissance im Blute stecken geblieben ist.

In erster Linie führen sie in ihrem Schrifttum einen erbitterten, ja geradezu berserkerhaften Kampf gegen Syntax und Interpunktion. Sie haben das prachtvolle Schlagwort vom „Antisyntarismus der freigelassenen Worte“. Und damit kommen wir dem Wesen ihrer Dichtungen nahe. Fort mit dem Unsinn der sinnvollen Sätze, fort mit der Schnürbrust des Satzbaues, fort mit den Eselsbrücken der Interpunktion! Worte, Worte, Worte in Freiheit! …  Ich könnte hier ins Unendliche fortschreiben, ohne meinen verehrten Lesern auch nur den leisesten Begriff dadaistischer Kunst beibringen zu können. Darum lasse ich die Dichter der dadaistischen Schule selber sprechen: Im September 1916 erschienen die „phantastischen Gebete“ von Richard Hülsenbeck. Das schmächtige Bändchen beginnt mit folgender Hymne:

Ebene

Schweinsblase Kesselpauke Zinnober cru cru cru

Theosophia pneumatica

Die große Geistkunst = poème bruitiste aufgeführt

zum ersten Mal durch Richard Huelsenbeck DaDa

oder oder birribum birribum saust der Ochs im Kreis herum oder

Bohraufträge für leichte Wurfminen-Rohlinge 7/6 cm Chauceur

Beteiligung Soda calc. 98/ 100%

Vorstehund damo birridamo holla di funga qualla di mango

damai da dai umbala damo

brrs pffi commencer Abrr Kpppi commence Anfang Anfang

sei hei fe da heim gefragt

Arbeit Arbeit

brä brä brä brä brä brä brä brä brä

sokobauno sokobauno sokobauno

Schikaneder Schikaneder

Schikaneder

Man darf aber ja nicht glauben, daß dieses Gedicht einen Höhepunkt der neuen Poetik bilde. Da kenne ich ganz andre Höhepunkte! Ich möchte am liebsten das ganze Büchlein zur Erbauung des Lesers abschreiben! Eine ganze Flut von neuen Bildern stürmt auf uns ein. Wortbildungen schießen vulkanisch aus den Hirnen der Dadaisten. Und man muß gestehen, in ihrem Bilderreichtum übertreffen sie alles, was Menschenkunst je geschaffen hat. Paraffinflüsse fallen aus den Hörnern des Mondes, der See Drizunde liest die Zeitung und verspeist dabei ein Beefsteak, über den Spiegel deines Leibes saust der Jahrhunderte Geschrei, zwischen den Intervallen deines Atems fahren die bewimpelten Schiffe, Luftschlangen und Flittergold sind in den Runzeln deiner Stirne, Larven von Wolkenhaut haben die Türme vor die blendenden Augen gebunden, Zylinderhüte riesige o aus Zinn und Messing machen ein himmlisches Konzert, usw. . . . Und wie überraschend in ihrer Plastik sind die Verse:

                vom Himmel fä-ällt das Bockskatapult, das

Bockskatapult

wir blasen das Mehl von der Zunge und schrei’n

und es wandert der Kopf auf dem Giebel

Aber in diesen „Gebeten“ ist immerhin noch eine Spur von Wortverbindungen. Es ist, als ob der Fluch des Satzbaues von der neuen Kunst wie eine Eierschale abgestreift werden müsste. Das ist restlos gelungen in dem unvergleichlichen Chorus Sanctus.

            a a o                      a e i                        i i i                          o i i
                u u o                      u u e                      u i e                       a a i       

ha dzk                   drrr bn                 obn br                  buß bum

ha haha                hihihi                    lilili                        leiomen

Dieser Chorus ist offenbar vierstimmig gedacht. Als Schlachtgesang der Dadaisten gilt aber, wie ich mir sagen ließ, der Cantus: Die Primitiven. Er lautet:

Indigo indigo

Trambahn Schlafsack

Wanz und Floh

Indigo indigai

Umbaliska
Bumm DADAI

Der richtige Dadaist dichtet in allen Kultursprachen. Mit Hülsenbeck um die Palme ringt ein junger französischer Poet Pierre Albert = Birot, der in Nr. 2 der Dadaistenzeitschrift einige Verse „Pour Dada“ veröffentlicht hat. Sie lauten:

AN         AN         AN          AN         AN         AN         AN         AN

AN         AN         AN

IIII          I              I

POUH-POUH POUH-POUH                          RRRA

si                            si                             si            

drrrrr                                                                   oum                      oum

AN         AN         AN          AN

Aaa                        aaaa                      aaa                        tzinn

UI                           I I I I

HA          HA          HA          HA          HA          HA          HA

rrrrrr      rrrrrrrrrrrrrrrrrrrr

Auf den Vortragsabenden der Dadaisten soll dieses Gedicht von Birot ganz besondere Wirkung geübt haben. Denn natürlich sind alle diese Verse, die ich eben zitierte, nicht nur für das Lesen im stillen Kämmerlein, vor dem Kamin und im blühenden Garten bestimmt, sondern, sie werden auch bei den Zusammenkünften der Dadaisten von Rhapsoden kunstvoll vorgetragen. Ich bin nur ein Laie im Dadaismus, und trotz aller Bemühungen ist es mir noch nicht gelungen, alle Feinheiten dieser Buchstabenlyrik und Begriffsphantastik zu enträtseln. Aber auch auf meine Philisterseele wirken die Verse Hülsenbecks, die unter dem Titel „Schalaben Schalabei Schalamezomai“ erschienen sind. Ist Tristan Tzara der Goethe der neuen Richtung, so ist Hülsenbeck das Haupt ihrer Romantik. Auch aus diesem Büchlein muß ich ein paar Verse anführen. Sie gehen mir nicht aus dem Kopfe, seitdem ich sie gehört habe. Und ich setzte sie hieher, auf die Gefahr hin, daß sie auch meine Leser nicht loslassen und sie bis in ihre Träume verfolgen werden:

der Phosphor leuchtet im Kopf der Besessenen

schalamezomai

und die Säue stürzen in den See der Lamana

heißt

schlage an deine Brust die aus Gumme ist laß

flattern

deine Zunge über die Horizonte hin
wedele mit deinen Ohren so die Eisgrotte zerbricht
ich sehe die Leiber der Toten über die Teppiche zerstreut

die Toten fallen von den Kirchtürmen und das

Volk

schreiet zur Stunde des Gerichts
ich sehe die Toten reiten auf den Baßtrompeten

am Tage des Monds

rot rot sind die Köpfe der Pferde die in der

Ebene schwimmen.

Mein lieber alter verstorbener Freund, der Dichter Heinrich Bulthaupt in Bremen, hatte einen Talisman gegen jeden Aerger. Es waren vier Verszeilen, die er dann vor sich hinsagte: „Con el ay, con el marabay, con el u, con el marabu.“ Ich habe das Rezept selbst oft angewendet und es hat seine Wirkung nicht verfehlt. Nun aber bin ich im Zweifel, ob nicht die Zauberformel Hülsenbecks noch bessere Dienste leistet:

Schalaben schalabai schalamezomai.

Man sage sich diese Formel, wenn man sich ärgert, ein paar tausendmal laut vor, und die aufgeregten Wogen des Gemütes werden sich glätten.

Die Dadaisten haben in Zürich ihre Zeitungen und Zeitschriften, sie veröffentlichen Bücher und halten Vorträge, sie veranstalten Bilderausstellungen. Es scheint, daß die Gemeinde sehr groß ist, denn manche dieser Bücher sind vollkommen vergriffen. So zum Beispiel das erste Heft der Monatsschrift „Dada oder La première aventure céleste de Mr. Antypirine“ von Tr. Tzara. Die Dadaisten dichten in mehreren Sprachen. Französisch, italienisch und deutsch. In Frankreich und Italien erscheinen auch Bruderorgane, Revuen, Wochen- und Monatsschriften. Sie alle kämpfen für die von Syntax und Kultur befleckte Reinheit der Buchstaben und Worte. Es wäre jammerschade, wenn man nicht auch in Wien von dieser Bewegung Kunde hätte. Die Zeiten sind düster und schwer, und ich weiß kein besseres Mittel, sich über das Chaos des Tages zu erheben, als eine Lektüre dadaistischer Kundgebungen.

In: Neues Wiener Tagblatt, 3.10.1918, S. 2-3.

Leo Lania: Der Feldherr als Aesthet

In einem kleinen Hotel im Berliner Westen machte ich seine Bekanntschaft. Ganz zufällig. Der Mann fiel mir auf: Ein Hüne. Scharf geschnitztes Gesicht, vorspringende Backenknochen, breiter Mund mit vollen Lippen – der Typus eines slawischen Bauern. Doch der runde, kahlgeschorene Schädel, ein gewisser lauernder Ausdruck in den harten Augen, die sich plötzlich verschleiern und dann so rührend träumerisch ins Leere blicken, unbeherrschte, hastige Bewegungen, vor allem dies eigentümlich Gespannte in seinem Wesen – er sieht wie ein entlaufener Sträfling aus, dachte ich unwillkürlich. Das ist Majakowski, der bedeutendste Vertreter des russischen Futurismus, einer der Großen der jüngsten russischen Dichtkunst, „das gewaltige Talent“, wie ihn Alexander Block genannt hat. Wir kommen ins Gespräch. Und dann sitzen wir oben in seinem Hotelzimmer und debattieren über die neue Kunst, über Rußland und die Revolution.

„Haben Sie Trotzkis letztes Werk über die russische Literatur gelesen?“ Majakowski weist auf ein dickes, zerlesenes Buch, das auf dem Tische liegt.

„Ich habe es gelesen. Allerdings nur einen Auszug, der vor kurzem in deutscher Uebersetzung erschienen ist. (Trotzki: Literatur und Revolution. Verlag für Literatur und Politik, Wien.) Ein ganz eigenartiges, ein erstaunliches Buch. Erstaunlich in doppelter Hinsicht: Wegen der Person des Verfassers und wegen des Stoffes, der hier in einer neuen Art behandelt wird.

                                               *

Trotzki, der Schöpfer der Roten Armee, als Aesthet? Manch einer wird wohl mit gemischten Gefühlen dies Büchlein in die Hand nehmen. Und wird nach wenigen Seiten völlig im Banne dieser einzigartigen Persönlichkeit stehen. Denn in keiner seiner zahlreichen historischen und nationalökonomischen, seiner militärischen und marxistisch theoretischen Schriften tritt uns das innerste Wesen Trotzkis so klar entgegen. Welche Energie, welche Arbeitskraft muß diesen Menschen auszeichnen, der auf einem der exponiertesten Posten der russischen Revolution, im Drang der Politik und der auftreibenden Tagesarbeit, die schon an die physischen Kräfte der Führer übermenschliche Anforderungen gestellt hat, noch Zeit und die innere Bereitschaft findet, um sich so völlig in kulturelle und literarische Probleme zu vertiefen. Trotzkis Buch räumt mit den Thesen und Edikten der zünftlerischen revolutionären Literaturhistoriker auf. „Das Proletariat wird die Schaffung einer neuen, das heißt sozialistischen Kultur und Literatur in Angriff nehmen können, nicht mit Laboratoriumsmethoden auf der Grundlage unserer jetzigen Armut, Knappheit und Unwissenheit, sondern durch weit ausholende, gesellschaftlich wirtschaftliche und kulturfördernde Methoden. Die Kunst braucht Wohlleben, bedarf des Ueberflusses. Dazu gehört, daß die Hochöfen heißer glühen, die Räder rascher surren, die Schiffchen flinker tanzen, die Schulen besser arbeiten… Es ist grundfalsch, der bürgerlichen Kultur und der bürgerlichen Kunst die proletarische Kultur und die proletarische Kunst entgegenzustellen…

Denen, die das Ultraradikale, den Appell zum Bruch mit der Vergangenheit und zur Liquidation der Tradition erschallen lassen, antwortet Trotzki sehr fein: „Die Arbeiterklasse hat es nicht nötig und kann mit der literarischen Tradition brechen, denn sie schmachtet nicht in den Fesseln der Tradition. Sie kennt die alte Literatur nicht, die muß sie erst kennen lernen, sie muß erst Puschkin noch erfassen, ihn aufsaugen und ihn dann auch überwinden. In der übertriebenen futuristischen Ablehnung der Vergangenheit steckt ein Nihilismus der Boheme, aber kein proletarischer Revolutionalismus.“

Aus dieser Einstellung der wahren Achtung vor jeder schöpferischen Kulturleistung kommt dann Trotzki zu seiner Forderung der Duldsamkeit: „Das Gebiet der Kunst ist nicht das Feld, wo die Partei zu kommandieren berufen ist.“ Das soll nun nicht heißen, daß Trotzki der Ansicht ist, die Regierung, bzw. die regierende Partei der Bolschewiki habe sich jeder Einmischung und jeder kritischen Stellungnahme in Fragen der Kunst zu enthalten und dürfe keine Kulturpolitik treiben: „Es ist vollkommen klar, daß auch auf dem Gebiete der Kunst die Partei nicht einen einzigen Tag dem liberalen Prinzip: laisser faire – laisser passer, frönen darf. Die ganze Frage besteht nur darin, in welchem Punkte die Einmischung beginnen soll und wo ihre Grenzen sind. Trotzki sieht viel klarer und schärfer als so manche ‚Berufenen’ die Schwierigkeiten, die Kompliziertheit der Probleme. Dieser Dogmatiker verleugnet nie, daß er ein Realpolitiker ist. Er ist nicht nur ein Meister im dialektischen Denken, sondern auch ein Beobachter von verblüffender Schärfe […] Mit leichter Ironie, mit einer milden Skepsis lächelt er über jene, die da glauben, die neue kommunistische Kunst gebrauchsfertig in einer Retorte erzeugen zu können. Er blickt um sich und sieht Ansätze, tastende Versuche, mehr oder weniger gelungene Experimente – keine Erfüllung. Und was den ‚Proletkult’ betrifft, so sind solche Ausdrücke wie ‚proletarische Kultur’ und ‚proletarische Literatur’ gefährlich, weil sie die Zukunft der Kultur fiktiv in den engen Rahmen des Heute hineinzwängen, die Perspektiven verfälschen, – den sehr gefährlichen Dünkel kleiner Kreise kultivieren. Wir wollen vereinbaren, daß ‚Proletkult’ soviel bedeutet wie ‚proletarischer Kulturismus’, das heißt, den zähen Kampf um die Hebung des kulturellen Niveaus der Arbeiterklasse.

[…]

            Was aber diese proletarische Literatur betrifft – so sind das literarische Werke begabter oder talentierter Proletarier, aber keineswegs proletarische Literatur. Und Trotzki warnt davor, „mit großen Worten zu spielen. Es ist nicht wahr, daß es einen proletarischen Stil gibt. Wo ist er? Zweifellos, selbst farblose und schwache, sprachlich unbeholfene Gedichte können den Weg des politischen Wachstums eines Dichters und einer Klasse markieren und dadurch eine unermeßliche kultursymptomatische Bedeutung haben. Aber schwache Gedichte – bilden noch keine proletarische Dichtung, denn sie sind überhaupt noch keine Dichtkunst. Auf dem Gebiete der Kunst hat eben das Proletariat noch kein Kulturmilieu geschaffen, während die bürgerliche Intelligenz ein solches Milieu – ein gutes oder schlechtes – besitzt. Also? Lernen! Man muß lernen, wenn auch die Lehrzeit – notgedrungen beim Feind – nicht ganz ungefährlich ist. Man muß lernen!“

                                                           *

Und Majakowski? Er lächelt: „O, er hat mit vielem recht, der gute Trotzki. Obwohl er ein gefährlicher ‚Rechtler’ ist.“

In: Prager Tagblatt, 9.7.1924, S. 3.