Lothar, Rudolf

eigentl.: Spitzer Rudolf Lothar, geb. am 23.2.1865 in Ofen/Budapest – gest. am 1.10.1943 in Budapest; Feuilletonist, Kritiker, Librettist, Schriftsteller, Übersetzer, Zeitschriftenherausgeber

Der einzige Sohn eines früh verwitweten Kaufmanns übersiedelte 1882 nach abgelegter Matura nach Wien, wo er ein Studium der Rechtswissenschaft begann. Er wechselte bald auf die Fächer Philosophie und Philologie, die er u.a.  in Heidelberg belegte, wo er 1890 promoviert wurde. Schon 1887 ersch.im Vorabdr. in der Österreich. Kunst-Chronik Teile des Romans Der Trieb zum Bösen, im selben Jahr wurde in Baden sein erstes Lustspiel Die Tantaliden aufgeführt. 1890 folgte das Schauspiel Lügen, 1891 Der verschleierte König, das im Pester Lloyd verrissen wurde, 1892 das Mysteriumspiel Der Werth des Lebens. 1893 firmiert L. als Mitglied der neugegr. Literarischen Gesellschaft (der u.a. A. Berger, J. Minor, M. Kalbeck, R.v. Kralik angehörten) u. schafft mit seinen Stücken den Sprung an bed. Bühnen wie dem Dt. Volkstheater u. dem Hof- (d.h. späteren Burg)theater, z.B. mit Der Wunsch. In den Folgejahren gelingt es ihm, sich mit Rausch (1894), Frauenlob (1894), Ein Königsidyll (1896) u.a. als fast omnipräsenter dramat. Autor zu positionieren, was K. Kraus in die Formel vom „Gemischtwarenhändler der öffentlichen Meinung“ fasste. 1897 wird er als Mitarb. der Zs. Die Welt (u.a. neben Th. Herzl, L. Kellner u. M. Nordau) geführt; im März 1900 wurde die Auff. seines Stücks König Harlekin von der Zensur untersagt; nach Freigabe und UA in Berlin (Mai 1900) konnte es auch in Wien gespielt werden. 1898-1902 wird L. als Mitbegr. u. Mitarb. der Zs. Die Wage greifbar; 1902 erscheint sein Ibsen-Buch. Mit O. Tann-Bergler verf. er ab 1903 Operetten, die u.a. von Lehar oder Ziehrer vertont werden, für E. D’Alberts Oper Tiefland das Libretto, die später zum meistgespielten Werk L.s. avancierte. Im selben Jahr war L. auch in London, um im British Museum erfolgreich Haydn-Bearb. von walisischen Volksliedern aufzufinden. Seine Lysistrata-Bearb. der Vorlage von Donnay deklarierte die AZ 1906 als ein „starkes“ Stück, „das stärkste, das die Zensur seit langem durchgelassen“.

Aus: Pester Lloyd, 25.2.1915, S. 1

1907 bis 1912 lebte L. vorwiegend in Berlin, arbeitete für den Berliner Lokalanzeiger, was ihn wiederholt Kritik durch die Zs. Der Sturm eintrug. Trotzdem blieb seine Theaterpräsenz in Wien u.a. österr. Städten bemerkenswert, u.a. mit der Sportkomödie Kavaliere (1910), die St. Grossmann in der AZ verriss, oder in Koproduktionen mit O. Blumenthal, darunter Die drei Grazien (1910), welche fast nur spöttische Kritik ernteten. 1912 legte L. mit Der Herr von Berlin einen weiteren Roman vor, der im Operettenmilieu angesiedelt ist; seine komische Oper Die verschenkte Frau stieß wiederum auf breite Ablehnung. Auch in Berlin agierte L. eher glücklos bei der Kritik, wie O. Blumenthal in einem NFP-Feuilleton mit Bedauern konstatierte. 1913-14 überwogen Bearbeitungen von französ. oder engl. Vorlagen L.s. dramat. Produktion, sichtbar etwa in Der Dieb (nach Henry Bernstein); ab 1914 kamen vermehrt programm. Feuilletons im Pester Lloyd zum Abdruck, so am 25.2. 1915 Deutsche Barbarei und russische Kultur, am 13.3. 1915 Kriegstagebücher, am 15.5. 1915 Friedenstauben, eine Abrechnung mit französ. Nachkriegsplänen u.a.m., – im Jahr 1915 insges. 14 Feuilletons und 1916-17 nochmals zehn, darunter zunehmend auch literarische u. kunst- u. kulturtheoretische (Polnische Romane; Kunst der Gegenwart, Seelische Folgen des Krieges). 1916 legte er die Journalistenkomödie Die Morgenpost unter einem Pseudonym vor, die v.a. in Prag Resonanz erzielte. Im Mai 1917 erregt eine Bearbeitung u. Aufführ. eines Lustspiels der frz. Autorenfabrik De Flers/Caillavet unter dem Titel Die Fahrt ins Blaue wegen problemat. Urheberrechtsanmaßung durch L. einiges Aufsehen. 1918 wurde L.s. Drama Tiefland verfilmt, das auf den Bühnen von Graz, Prag u. Wien weiterhin präsent blieb. Im Okt. 1918 erscheint L.s Dada-Bericht im NWTBl. 1919 folgte sein Roman Weltrausch, ein pikantes Gemälde über den Verfall der k.k. Monarchie aus dem Blick der in der Schweiz agierenden österr. Diplomatie, Spekulanten u. a. Abenteurer.

1921 erlebte die von Kritikern als seicht wie gewagt eingestufte Komödie Casanovas Sohn in Berlin einen starken Publikumserfolg; auch in Österr. fanden sich die Stücke u. Bearb. des „Bühnenstückfabrikanten“ (NWTBl.1921) seit 1920 auf fast allen Spielplänen großer u. kleiner Bühnen. Aber auch in Berlin feierte L. bed. Erfolge im Unterhaltungssegment: auf dem Intimen Theater Berlin feierten seine Schwänke Lauf doch nicht immer fort und Gustav, es blitzt (meist zus. mit Bruno Franks Besuch im Bett) über 300 Auff. wie das Prager TBl. (4.2.1923) vermeldete. 1922-23 wurden auch mehrere Stücke von H. Bernstein in L.s. Bearb. aufgeführt wie z.B. Simson (ein Spekulationsstück) oder Israel; im Dez. 1923 folgte mit Hausse ein eigenständiges (wohl aus Bearb. inspiriertes) Börsenstück L.s. sowie mit Mexikogold ein weiteres themat. verw. Stück, Indiz dafür, wie L. zeitgenöss. Moden u. Konjunkturen nutzte. 1924 kam im Dt. Volkstheater die dt. Bearb. des franz. Lustsp. von R. de Flers Der Weinberg des Herrn zur Auff., die u.a. von A. Polgar bespr. wurde. Auch in den Folgejahren bespielte L. mit Bearbeitungen, meist aus franz. U. angloamerikan. Vorlagen, die Wiener, Berliner u. Prager Bühnen; 1925 veröffentl. er zudem das ›Handbuch‹ Die Kunst zu verführen, die ihm eine Anklage in Berlin eintrug, welche im Aug. 1928 nach kurzer Verhandlung fallen gelassen wurde. 1926 erregten seine „reißerische“ Groteske (F. Rosenfeld) Das Gespensterschiff einige Aufmerksamkeit, auch in Prag, v.a. aber die engl.sprach. UA seiner Komödie Die Republik befiehlt in Philadelphia, die L. 1927 zu mehreren feuilletonist. Arbeiten über die Radio- u. Theaterkultur in den USA veranlassten. Dieses Stück katapultierte L. in den Folgejahren an die Spitze der US-Tantiemen für europ. Theaterautoren (noch vor F. Molnar, so ein Bericht des NWTBl. Vom 16.7. 1930) u. hatte unter dem Titel Liebe auf Befehl ab März 1931 auch als Spielfilm einigen Erfolg. 1928 brachte das Akademietheater sein gem. mit A. Lernet-Holenia verf. Lustspiel Die Frau in der Wolke, die trotz verhaltener Kritik bis 1930 auf mehreren Bühnen aufgef. wurde. L. zeichnete auch für die dt. Fassung des amerikan. Gerichtsstückes Der Fall Mary Dugan verantwortlich, das vom Dez. 1928 an monatelang am Dt. Volkstheater gespielt wurde. 1930 konnte L. im Radio Fuß fassen, u.a. mit dem Fastnachtspiel Venus im Grünen, Auftakt zu weiteren Radiobearbeitungen in den Folgejahren in österr. u. deutschen Sendern. Auch mit der dt. Bearb. von W. Athertons Komödie Ist denn das so wichtig? gelang es ihm, Beachtung zu erzielen, ebenso 1931 mit jener des Erfolgsstücks Die Reporter (Ben Hecht/Ch. Mac Arthur). Ab 1932 ging L.s. Präsenz auf den Bühnen spürbar zurück; 1933 folgte noch die komische Oper Der Freikorporal (nach G. Freytags Die Ahnen) u. einige dt. Radiobearbeitungen wie z.B. Die göttliche Faustina von E. de Goncourt, 1934 im Wr. Akademietheater gem. mit H. Adler Nacht vor dem Ultimo, (Aufführ. auch in Prag) u. bis Mitte 1936 am Programm blieb. Für L. Aschers Operette Um ein bißchen Liebe verf. er mit P. Herz 1936 noch das Libretto; 1937 kommt schließlich noch eine Radiobearb. von L.s. Baccarat (nach Bernstein) zur Ausstrahlung, während im Deutschen Reich sein Name bei Ko-Verfasserschaft, etwa im Fall der Oper Tiefland, bereits weggelassen wird. Nach dem Anschluss vom März 1938 floh L. nach Budapest, wo er 1943 verstarb.


Aus: Neues Wiener Journal, 14.3.1926, S. 16

Weitere Werke (Auswahl)

Das Hohe Lied. Dramatisches Gedicht (1895), Kritische Studien zur Psychologie (1895); 50 Jahre Hoftheater (1900); Dichter und Darsteller (1900); Königin von Cypern (Schausp., 1904); Glück in der Liebe (Schausp., 1904); Die große Gemeinde (Lustsp., 1904), Die Fahrt ins Blaue (Roman 1908); Kurfürstendamm (1910, Novelle); Das Messer (Einakter); Die Betteldiva (Operette, 1914), Die Seele Spaniens (1917); Die Metternich-Pastete (1918, Komödie), Der sprechende Schuh (Lustsp. 1920); Die javanische Puppe (Lustsp., 1921); Li-tai-pe (Kom., 1922) Der tote Gast (1923, Musik. Kom.); Mexikogold (Börsenkom., 1923); Die Herzogin von Elba (Kom., 1925); Zwischen drei Welten. Ein Reisetagebuch (1926); Die schöne Melusine (Lustsp., 1926); Coeur Dame (Oper, 1926); Die Republik befiehlt (Kom., 1926); Der gute Europäer (Kom., 1927); Eine königliche Familie (Bearb. einer Kom. von Kaufmann/Ferber, 1930); Die Dame mit den Türkissen (1935)

Quellen und Dokumente

Der Trieb zum Bösen. In: Allgemeine Literatur-Chronik, 30.4.1887, S. 470-472, Berliner Theaterbrief. Erstaufführung des vieractigen Maskenspiels „König Harlekin“ von Rudolf Lothar. In: Neues Wiener Journal, 22.5.1900, S. 8, Stefan Großmann: Lustspieltheater [Rez. zu Lysistrata]. In: Arbeiter-Zeitung, 30.12.1906, S. 9, Deutsche Barbarei und russische Kultur. In: Pester Lloyd, 25.2.1915, S. 1-3, Das Kausalgesetz der Weltgeschichte. In: Pester Lloyd, 10.9.1925, S. 1-3, Die Kunst der Gegenwart und die Kunst der Zukunft. In: Pester Lloyd, 21.7.1916, S. 2-4, Die seelischen Folgen des Krieges. In: Pester Lloyd, 9.6.1917, S. 1-3, Der Dadaismus. In: Neues Wiener Tagblatt, 3.10.1918, S. 2-4, Der Autor als Unternehmer. In: Neues Wiener Journal, 14.3.1926, S. 16, Amerikanische Stücke. In: Neues Wiener Journal, 10.12.1927, S. 3,

Trust: Lokales. In: Der Sturm (1910), H. 28, S. 224, Stefan Großmann: Deutsches Volkstheater. In: Arbeiter-Zeitung, 17.4.1910, S. 10f., V. S.: Die verschenkte Frau. In: Der Humorist, 20.2.1912, S. 2f., Ankündigung zu: Tiefland. In: Neue Kino-Rundschau, 5.10.1918, S. 41, Egon Dietrichstein: Oesterreicher in der Schweiz. „Weltrausch“, ein Schweizer Kriegsroman von Rudolf Lothar. In: Neues Wiener Journal, 7.10.1919, S. 5, Siegfried Trebitsch: Theater in der Josefstadt. In: Neues Wiener Tagblatt, 9.11.1922, S. 7f., Anzeige zu „Hausse“. In: Neues Wiener Journal, 1.12.1923, S. 16, Alfred Polgar: Deutsches Volkstheater. „Der Weinberg des Herrn“ von Flers und Croisset, deutsch von Rudolf Lothar. In: Der Morgen, 29.12.1924, S. 7, N.N.: Rolandbühne. In: Wiener Montagblatt, 10.12.1923, S. 1, Otto Stoessl: Akademietheater. „Die Frau in der Wolke“ aus dem dreiaktigen Lustspiel von Rudolf Lothar. In: Wiener Zeitung, 25.12.1928, S. 7, Orcar (!) Straus‘ Operette „Venus im Grünen“. In: Radio Wien 7 (1930), H. 3, S. 29, Amerikanische Autorentantiemen. In: Neues Wiener Tagblatt, 16.7.1930, S. 8, j. b.: Nacht vor dem Ultimo. In: Der Morgen, 11.6.1934, S. 8.

Literatur

Uwe Laugwitz: R. L. In: Neue deutsche Biographie. Bd. 15, S. 234 (1987) [Online verfügbar], Reinhard Müller: R. Spitzer. In: ÖBL 1815-1950. Bd. 13, S. 41f. (2007) [Online verfügbar]; Mária Rózsa: Rudolf Lothars Wiener journalistische Tätigkeit 1891-1907. In: Zwischenwelt. Literatur/Widerstand/Exil Nr. 3-4/2022, 59-65.

(PHK)