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Deutschösterreichs Grenzen. Zwei Noten Renners (1919)

Die allgemeine Gebietsnote.

Saint-Germain-en-Laye, 16. Juni. Staatskanzler Dr. Renner hat heute dem französischen Ministerpräsidenten Clemenceau folgende die territorialen Fragen betreffende Note überreichen lassen:

Euer Exzellenz! In meiner am 10. Juni überreichten Note habe ich den Gesamteindruck des uns bis nun vorliegenden Teiles der Friedensbedingungen dahin zusammengefaßt, daß sie im allgemeinen Deutschösterreich zu einem lebensunfähigen Gebilde machen. Die folgende Note vom Gestrigen hat gezeigt, daß vor allem die Trennung der Sudetendeutschen von den Alpendeutschen, die seit dem Jahre 1526 politisch und wirtschaftlich vereinigt gewesen sind, die Wirkung erzielen muß, die Sudetendeutschen national zu vergewaltigen und politisch zu entrechten und die Alpendeutschen wirtschaftlich und kulturell zu verkümmern. In der angeschlossenen Denkschrift erbringt nunmehr die deutschösterreichische Friedensdelegation der hohen Konferenz den Beweis, daß der vorliegende Friedensentwurf für den Fall, daß Deutschösterreich auf die Alpengebiete beschränkt und geographisch als

eine ostalpinische Republik

eingerichtet wird, dieses Staatsgebiet so abgrenzt, daß die Grenzen im einzelnen national durchaus ungerecht, geographisch völlig unrichtig und wirtschaftlich ganz, unhaltbar sind. Zugleich beweist die Denkschrift, daß die geplante Abgrenzung nicht nur unsere besonderen Ansprüche verkürzt, sondern auch den Bedürfnissen der Nachbarsratten nicht gerecht wird und die allgemeinen europäischen Interessen verletzt, Die hohe Kommission wolle nicht unterlassen, die Einzelheiten dieser Denkschrift und ihrerAnlagen eingehend zu würdigen. Hier seien zusammenfassend nur folgende Momente hervorgehoben: Die uns vorgeschlagene

Nordgrenze,

die Deutschösterreich von der tschecho-slovakischen Republik trennen soll, folgt nicht den Grenzen der Sprache und der Rasse, sonst müßte sie genau dieselbe Linie einhalten, die Deutschösterreich auf Grund alter Abgrenzungsvorlagen gezogen hat und es müßte der deutsche Böhmerwaldgau, Deutsch-Südböhmen und Deutsch-Südmähren uns zufallen. Die vorgeschlagene Grenze gibt vor, den historischen Grenzen zu folgen, und auf den  Rechtsgrundsatz der historischen Grenzen beruft sich das tschechische Volk. Aber dieses selbe Volk verletzt zugleich den einzigen Rechtsstand, den es für die imperialistische Unterjochung von vielen Hunderttausenden Deutschen im Süden seiner Wohnstize vorschützt, indem es da und dort von dem geschichtlichen Gebiet Niederösterreichs wichtige Stücke beansprucht. Für diesen Anspruch

gibt es keinen Rechtstitel als die Gewalt.

Ihr halten wir das lebendige Recht eines von unverschuldetem Unglück gebeugten Volkes entgegen, dessen Selbstbestimmungsrecht niemals verjähren wird, auch wenn es zurzeit mit Füßen getreten wird, und fordern darum für den Fall, daß nicht alle Sudetendeutschen ihren frei geäußerten Entschluß, unserem Staate anzugehören, durchsetzen können, wenigstens die Gebiete des deutschen Böhmerwaldes, Deutsch- Südböhmens und Deutsch-Südmährens. Wenn es beschlossene und unabänderliche Sache sein sollte, daß auf das nationale Selbstbestimmungsrecht unserem Volke kein Anrecht gewährt werden solle, so berufen wir uns auf die Notwendigkeiten und Zweckmäßigkeiten des Wirtschaftslebens. Die von uns beanspruchten Gebiete gravitieren seit jeher nach den Märkten von Wien und Linz. Sie haben fest jeher als Deutsche für Deutsche arbeitend und mit ihnen seit vier Jahrhunderten in einem gemeinschaftlichen Leben die Erzeugnisse ihrer Steinbrüche und Forste, ihr Getreide, Vieh, ihre Milch und ihre sonstigen tierischen Produkte nach Wien und Linz geliefert, sie liegen diesen Städten weit näher als Prag und haben zu ihnen bessere Verkehrswege.

Im Osten

soll Deutschösterreich durch die March an die Tschecho-Slovakei und durch die Leitha an Ungarn grenzen. An der March wählt der Entwurf in erstaunlicher Abweichung von allem, was nach dem Völkerrecht üblich ist, nicht die Mitte des Flußlaufes, sondern das westliche Ufer als Grenze. Diese seltsame Willkür erklärt sich einzig und allein durch das Bestreben, Deutschösterreich von der Benützung dieser künftigen Wasserstraße auszuschließen. Welch auffälliger Vorgang angesichts der sonstigen Bestrebungen der Ententemächte, Verkehrswege zu internationalisieren oder wenigstens mehreren Völkern zugleich zugänglich zu machen, um den Weltverkehr zu erleichtern! Hier soll ein Verkehrsweg gegen die geschichtliche Rechtslage, gegen die wirtschaftliche Vernunft, gegen das nationale Interesse, gegen alle völkerrechtliche Praxis so gestaltet werden, daß er Staaten und Völker vom Verkehr absichtlich ausschließt.

Die Leitha

war allerdings seit langem die Grenze zwischen Ungarn und Österreich. Aber durch die Verfassung der Monarchie war die Leitha zu einer bloßen administrativen Scheidelinie geworden. Politisch, militärisch und wirtschaftlich war diese Grenze seit Jahrhunderten kaum mehr fühlbar. Nun soll sie Auslandsgrenze werden! Aber sie verläuft nur 48 Kilometer, also eine starke Kanonenschußweite von Wien, nur eine Flintenschußweite von Wiener-Neustadt, nur einen Tagesmarsch weit von Graz entfernt. Bruck an der Leitha war ein gemeinsamer Waffenplatz für Österreich und Ungarn, die Arbeiterschaft der großen Unternehmungen Wiener-Neustadts ergänzte sich zu einem hohen Bruchteil aus Ungarn. Das Gebiet von Oedenburg war seit jeher der Gemüsegarten von Wien. Die Gebiete von Oedenburg, Eisenstadt und Wieselburg versorgten Wien zum größeren Teile mit Mich und frischem Fleische. Die Stadt Graz, am Fuße der Alpen gelegen, ernährte sich samt ihrem alpinen Hinterland zum großen Teile aus Westungarn. Indem der Entwurf diese Gebiete durch eine Staats- und Zollgrenze zum Ausland macht, stellt er eine ungefähr zur Zeit der Entdeckung Amerikas überwunden Verkehrsschranke wieder her und schneidet die drei wichtigsten Industrieplätze von ihrem Gemüsegarten, von ihrer Milchwirtschaft und von ihrem Ackerboden ab. Er rückt so die empfindlichsten Punkte unseres Staates gleichsam vor die Geschützmündungen unserer Nachbarn, ein Zustand, der schon in diesen Tagen seine Bedenken offenbart. Man denke sich nur einen Augenblick, daß die Landesgrenze Frankreichs von Chantilly über Meaux nach Melun oder die Grenze Englands an Canterbury vorbeiführe, und frage sich dabei, ob Paris oder London unter solchen Umständen leben und sich sicher fühlen könnten! Geographie, Geschichte und wirtschaftliches Leben haben auch hier selbst den Weg gewesen:

jene westungarischen Gebiete

sind noch beherrscht von den Ausläufern der Ostalpen. sie sind seit dem tiefsten Mittelalter ganz überwiegend von Deutschen besiedelt, sie stehen seit jeher mit jenen nahen Städten in unmittelbarstem Verkehr. Budapest aber ist weit entfernt, spricht eine andere Sprache und das, was diese Gebiete einbringen, bezieht Budapest reichlicher und bester aus der nahen Tiefebene. Deutschösterreich hat geographischen, nationalen und wirtschaftlichen Anspruch auf diese Gebiete: trotzdem lehnt Deutschösterreich jede willkürliche Annexion ab, weil es wie im ganzen so hier im einzelnen seine Sache ausschließlich auf das nationale Selbstbestimmungsrecht stellt. Und darum fordern wir, daß diese Gebiete das Recht erhalten, sich durch freie Volksabstimmung selbst zu entscheiden, ob sie zum Staate Deutschösterreich kommen wollen.

                                                            Im Süden

grenzt Deutschösterreich an das jugoslavische Königreich und an das Königreich Italien. Auch im Süden hat die deutsch-österreichische Republik auch nicht ein einziges Dorf auf Grund eines geschichtlichen Vorwandes oder mit dem Mittel der Gewalt in Anspruch genommen. Da die Sprachgrenze überaus verwirrt und die Rassen unentwirrbar vermischt sind, hat Deutschösterreich dort das überwiegend deutsche Gebiet als sein eigenes

erklärt und dabei folgende Tatsache in Rechnung gestellt: Im italienischen Trentino, in Krain und im Küstenland liegen zahlreiche Städte und Märkte mit überwiegend deutscher Bevölkerung; dort leben zahlreiche deutsche Minderheiten, dort liegt das ganze deutsche Herzogtum Gottschee. Wenn Deutschösterreich diese nationalen Minderheiten, die nach Hunderttausenden zählen, dem italienischen und dem jugoslavischen Staate freiwillig unterstellt hat, so halten wir es nicht für unbillig,  wenn im Interesse einer natürlichen geographischen Abgrenzung und im Interesse der Aufrechterhaltung großer Verkehrslinien im ganzen geringe Minderheiten der Nachbarvölker, darunter nicht eine einzige Stadt von mehr als 5000 Einwohnern zu Deutschösterreich kommen, zumal da sich diese ladinischen und jugoslavischen Landesminderheiten unzweideutig zu Deutschösterreich bekannt haben. Die erwähnten deutschen Städte und Märkte im ferneren Süden wiegen an Kulturbedeutung und an Reichtum diese Landgemeinden gewiß auf. Schon dieser Umstand allein rechtfertigt ein Plebiszit, das die Mehrheiten nicht nach Gemeinden sondern nach geographischen Gebietseinheiten zur Geltung bringt.

Das geographische und Verkehrsinteresse im Süden

unseres Staates aber ist das folgende: Nach dem Entwurf der Entente würde Deutschösterreich zum Ostalpenstaat. Die Ostalpen zeichnen sich durch ihre westöstliche Längentäler aus. Vom Reschenscheideck, den obersten Lauf der Etsch abwärts bis zur Einmündung des Eisack, die Rienz aufwärts über das Toblacher Feld und das Längental der Drau abwärts bis nahe der ungarischen Grenze ist ein solches Längental, ist eine geographische und Verkehrseinheit. Es ist durch die Pustertallinie der Südbahn durchzogen und ist im ganzen genommen mindestens von neunzehnteln von Deutschösterreichern bewohnt. Durch den Ausbau der Bahn über den Ofenpaß wird diese Längenlinie, eine der wichtigsten europäischen Verkehrsadern, weil sie die Schweiz und durch diese Westeuropa mit her Tiefebene der mittleren Donau und dem europäischen Südosten verbindet, vor  allem mit Ungarn, das als die Kornkammer aller kornarmen Gebiete der Alpen angesehen werden kann. Diese Linie // wird durch den Friedensvertrag zerstückelt. Sie fällt zuerst in den italienischen, dann durch eine kurze Strecke wieder in den deutschösterreichischen, dann wieder in den jugoslavischen Herrschaftsbereich. Alle größeren Städte dieser Route, Mals, Meran, Bozen, Brixen, Klagenfurt, Marburg, alle mit ganz oder überwiegend deutscher Bevölkerung, werden den südlichen Nachbarn zugeteilt. Die ganze Talfurche, die zu neun Zehnteln deutsch ist, wird zu zwei Dritteln den Nachbarn zuerkannt. Eine rationelle Bahnverwaltung ist durch diese Aufteilung der Route einfach unmöglich gemacht. Das Interesse Italiens, der Schweiz und Frankreichs im Westen, Ungarns und Rumäniens im Osten, ja das In­teresse Europas würde unbedingt erfordern, daß diese Talfurche einschließlich ihrer südlichen Bergkämme, also bis zum Grat der Karawanken und des Bachergebirges als eine Einheit aufgefaßt und unter die Verwaltung des Ostalpenstaates Deutschösterreich gestellt werde. Trotz dieses klaren Zusammenhanges und trotz unseres nationalen Rechtes, das unzweifelhaft ist, sobald man nur die ganze Talfurche als Einheit auffaßt, hat Deutschösterreich diese Gebiete nicht ganz in Anspruch genommen und erwartet auch hier, daß der Wille des Volkes selbst, wenn es nur frei und in zusammenhängenden Gebieten abstimmt, der Vernunft und der Zweckmäßigkeit zum Sieg verhelfen wird.

Überblicken wir nun das Ganze der geplanten Regelung: Von Krumau im Norden über Znaim, Feldsberg, Wieselburg, Eisenstadt, Oedenburg, St. Gotthard, Marburg und Klagenfurt bis nach Brixen, Bozen, Meran und Mals im äußersten Südwesten würde, wenn der Entwurf in Rechtskraft erwüchse, unser Land eingesäumt von alten deutschen Städten, die von fremdsprachigen Eroberern beherrscht sind. Rings um die kaum sechs Millionen Einwohner im Lande würden

mehrere Millionen desselben Stammes,

derselben Sprache und zum Teil derselben Familien in Nachbarstaaten wohnen und feindseligen Völkern hörig werden. Welche immerwährende Reizung, welches nie zu vergessende Unrecht, wieviel unvermeidlicher Haß! Der Weltkrieg sollte der Welt den Frieden bringen— hier aber wird Haß gesät und also muß Unfriede geerntet werden. Auch der Sieger trägt sein Maß von Verantwortung in der Geschichte. Eine solche Regelung, wie sie in diesem Friedensentwurf vorgesehen wird, kann vor der Geschichte niemand verantworten! Und darum erwartet die deutschösterreichische Friedensdelegation, daß der Friedenskongreß den in der Denk­schrift ausgeführten Anregungen Folge gebe.

Die deutschen Sudetenländer.

Saint-Germain, 15. Juni.Die Note, mit welcher die von den Delegierten der deutschen Sudetenländer ausgearbeitete Denkschrift an die Entente vorgelegt und einbegleitet wird, hat folgenden Wortlaut:

Euer Exzellenz! In der Anlage beehre ich mich, Euer Exzellenz eine an den Friedenskongreß gerichtete Denkschrift zu unterbreiten, welche von den Vertretern der deutschen Gebiete von Böhmen, Mähren und Schlesien ausgearbeitet worden ist, um das Unrecht darzutun, das durch die vorgeschlagenen Friedensbedingungen

31/2  Millionen Deutschösterreichern droht.

Dieser Denkschrift schließe ich einen von den gewichtigsten Interessenten des österreichisch-schlesischen Kohlenreviers ausgearbeiteten gedruckten Vorschlag über die staatliche Neuordnung dieses Reviers an, der angesichts der dort herrschenden Wirren die höchste Beachtung verdient.

Was das künftige Los der Deutschen im Gebiete der Sudeten betrifft, gebe ich mir die Ehre, den Eindruck, den die Friedensbedingungen auf ganz Deutschösterreich gemacht haben, dessen berufener Interpret die deutschösterreichische Friedensdelegation ist, dahin zusammenzufassen: Die alliierten und assoziierten Mächte begehen an dem deutschen Volke dieser Gebiete wie an dem Deutschösterreichs überhaupt

schweres Unrecht und stürzen das tschecho-slovakische Volk in ein verhängnisvolles Abenteuer.

Der Zusammenbrach der österreichisch- ungarischen Monarchie macht es möglich, den allen unseligen Streit zwischen dem deutschösterreichischen und dem tschecho-slovakischen Volke zu beenden, allerdings nur dann, wenn man jedem der beiden Völker das Recht gibt, auf seinem Siedlungsgebiet sein selbständiges staatliches Leben zu führen. Die tschecho-slovakische Republik hätte, auf das tatsächlich von Tschechen und Slovaken bewohnte Gebiet beschränkt, alle Möglichkeiten einer zufriedenstellenden wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Im Besitz der hochentwickelten Landwirtschaft des böhmischen und mährischen Flachlandes und der reichen Waldbestände des böhmisch-mährischen Mittelgebirges und der Slovakei, der Kohlenlager von Kladno und Pilsen und der noch ungehobenen slovakischen Bodenschätze, der großen Maschinenindustrien von Prag, Pilsen und Königgrätz, der Textilindustrie des tschechisch sprechenden Mähren und Ostböhmen, der über das ganze Land verbreiteten Zucker-, Bier- und Spiritusindustrie wäre die tschechoslovakische Republik, indem sie sich mit dem Siedlungsgebiet des tschecho-slovakischen Volkes begnügt,

eines der reichsten Länder in Europa.

Wenn man ihr jedoch Deutschböhmen und das Sudetenland zuweist, wenn man diese deutschen Landstriche gegen den Willen ihrer Bewohner mit den tschecho-slovakischen Gebieten vereinigt, dann ersetzt man, wenigstens was die Deutschen und die Tschechen betrifft, den früher höchst problematischen, aber immerhin wirtschaftlich noch erträglichen Staat Österreich durch zwei zur unaufhörlichen gegenseitigen Feindseligkeit verurteilte Kleinstaaten und schafft damit im Herzen des europäischen Kontinents einen Kriegsherd, der für die Welt und für ihre soziale Erneuerung vielleicht noch verhängnisvoller werden kann als der Kriegsherd des Balkans. Dieses Urteil ist hart, aber es ruht auf der unerschütterlichen Überzeugung der ganzen Bevölkerung von Deutschösterreich. Und diese Überzeugung vor allem hat dieser Bevölkerung die Parole am meisten nahegebracht: Heraus aus diesem brennenden Hause und Anschluß an das Mutterland! Das Unrecht an den Deutschen Böhmens springt in die Augen: Das Gebiet und Volk, um das es sich handelt, ist

mehr als zweimal so groß als Elsaß-Lothringen.

Die Entente will 1870 und 1871 wieder gutmachen und geht daran, ein mehr als doppeltes Elsaß zu schaffen. Sie spricht in demselben Atemzug, mit dem sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker verkündete, über ein Volk, das zahlreicher ist als das norwegische oder dänische, das politische Todesurteil aus. Elsaß-Lothringen wurde durch einen Krieg annektiert, durch eine Methode, die zwar heute vom moralischen Bewußtsein der Welt mit Recht verworfen wird, aber durch Jahrtausende von uns als Erwerbstitel des Völkerrechtes anerkannt war. Diese Deutschen Böhmens sind annektiert worden, ohne daß die Deutschen gegen die Tschechen im Lande im Kriege standen, zu einer Zeit, wo sich die Deutschen Österreichs durch den bereits  abgeschlossenen Waffenstillstand sicher glaubten und sich daher im Zustand der Wehrlosigkeit vergewaltigt fühlen müßten. Wie soll dieser ungeheuerliche Vorgang jemals vergessen werden? Elsaß-Lothringen ging aus der Herrschaft einer alten Kulturnation in jene einer anderen Großmacht über und dieser Uebergang wurde dennoch als unerträglich empfunden. Deutschböhmen gelangt als Teil einer großen und alten Nation in die Gewalt eines kleinen, weitaus jüngeren Volkes und eines kleinen Staates.

31/2 Millionen Deutsche sollen unter die Souveränität  von 61/2 Millionen Tschechen

gestellt werden — niemals wird die hörige Nation diese Herrschaft ertragen, niemals die herrschende das ihr gestellte Problem überwältigen; beide sind zu einer unseligen Kampfgemeinschaft verurteilt, unseliger als das alte Österreich, wo wenigstens zwischen acht verschiedenen Nationen zumeist ein Zustand schwebenden Gleichgewichtes vorherrschte. Die Bilanz dieser Versuche ist, daß nach dem fürchterlichsten Blutbad, das

die Weltgeschichte kennt, der neue Stand der Dinge weitaus schlechter und für den Frieden bedrohlicher ist als vorher! Die schmerzlichste Enttäuschung der Sudetendeutschen ist aus folgenden Gründen so gewaltig. Beinahe in demselben Moment, wo sie in begeisterter Hingabe, an die von der Entente verkündeten siegreichen Ideale der Demokratie und der nationalen Selbstbestimmung daran gingen, sich selbst zu befreien und sich im freien Entschluß mit den Alpendeutschen zur Republik Deutschösterreich zu vereinigen,

haben sie ihre Freiheit wieder eingebüßt.

eingebüßt infolge militärischer Besetzung durch die Tschechen. Der Friedensentwurf heißt diesen Gewaltakt hinterher gut, aber die deutsche Bewohnerschaft dieser Gebiete wird es niemals fassen, niemals verstehen und niemals verwinden können, daß angesichts der Grundsätze der Entente ein Prager Parlament, in dem kein einziger Deutscher sitzt, über deutsches Land verfügt, die frei gewählte Vertretung aber dieser Länder selbst durch Polizeimaßnahmen mundtot gemacht wird. Sie wird es nie verstehen, daß ihr Land und Volk unbefragt von Freunden an Freunde vergeben wird. Weit weniger als der Frankfurter Friede für Elsaß würde jemals ein auf den vorliegenden Grundlagen ruhender Friedens­schluß für die Beteiligten dauerndes Recht bilden. Das ergibt sich zwingend aus den Umständen, unter denen der tschecho-slovakische Staat geworden ist.

Dasselbe Vorgehen, das die Sudetendeutschen vergewaltigt hat. ist es gewesen, das die Alpendeutschen in den Zustand solcher Hilflosigkeit und Lebensunfähigkeit versetzt hat. Denn jene deutschen Gebiete sind der Sitz unserer wichtigsten Industrien und der Ursprung unserer wichtigsten Naturprodukte gewesen. Dasselbe Vorgehen hat

die Hunger- und Kälteblockade Wiens

hervorgerufen, die erst durch die einsichtsvolle Intervention der Großmächte halbwegs gemildert werden konnte. Abgesehen davon, daß die Blockade, wo jedermann eine Versöhnung der Völker erwarten konnte, die Kluft des Hasses noch vergrößert hat, hat sie Deutschösterreich ad ocuIos demonstriert, daß es allein nicht leben und in der früheren Völkergemeinschaft kein Gedeihen mehr erwarten könne.

Die gesamte Friedensdelegation ist mit den Verfassern der Denkschrift durchaus eines Sinnes, wenn sie die Wiederbefreiung der deutschen Gebiete in den Sudetenländern fordert und verlangt, daß

je ein konstituierender Landtag für Deutschböhmen und für das Sudetenland

nach Abzug der tschecho-slovakischen Truppen frei gewählt werde und über das Schicksal dieser Länder souverän entscheide. Nur im Besitz dieser seiner ihm rechtmäßig gehörenden Gebiete kann Deutschösterreich hoffen, sich politisch und wirtschaftlich selbst zu behaupten und den dauernden Frieden mit den Nachbarvölkern aufrecht zu erhalten. Und darum erwartet die deutschösterreichische Delegation, der Friedenskongreß werde die deutschböhmische Frage, die für Deutschösterreich die Schicksalsfrage ist, wieder zur Verhandlung stellen. Was das früher

österreichische Kohlenbecken von Mährisch-Ostrau

betrifft, so stellt dieses der Friedenskonferenz ein besonderes Problem. In diesem Becken siedeln drei Nationen. Deutsche, Tschechen und Polen, in unentwirrbarer Mischung durcheinander. Dieses von Natur aus reich bedachte Gebiet liefert seine Schätze seit jeher den Deutschösterreichern im Süden, den Tschechen im Westen, den Polen im Osten und zum Teil auch den Deutschen im Norden, es stellt also einen Punkt der Erdoberfläche dar, auf den vier, wenn man von Oberschlesien absteht, drei Volksstämme sowohl kraft des wirtschaftlichen Bedürfnisses wie kraft der Besiedlung den gleichen Anspruch haben. Wenn irgendwo, so empfiehlt sich an diesem Punkt die selbständige Konstituierung und die Internationalisierung des Landes unter verhältnis­mäßiger Mitverwaltung der beteiligten Stämme und unter Oberaufsicht des Rates der Völker. Ein Projekt dieser Art ent­hält die inliegende Denkschrift. Die deutschösterreichische Friedensdelegation empfiehlt sie darum dem Friedenskongreß zur sorg­fältigen Prüfung. Von der Überzeugung ausgehend, daß die Friedenskonferenz die Aufgabe hat, auf dem Boden der ehemaligen Monarchie „alle genau umschriebenen nationalen Ansprüche zu befriedigen, ohne neue oder fortdauernd» alte Elemente der Zwietracht und der Gegensätze einzuführen, welche geeignet wären, den Frieden zu stören“, stellt die Denkschrift feierlich fest, daß der vorliegende Vertragsentwurf dem souveränen Willen der Sudetendeutschen absolut widerspricht und von ihnen als schwerstes Unrecht emp­funden wird, und beantragt, die staatliche Zugehörigkeit der deutschen Sudetengebiete durch eine Volksabstimmnng zu entscheiden.

Der Denkschrift sind Sonderbeilagen angeschlossen, von denen je eine Südtirol, Kärnten, Steiermark und Westungarn betrifft.

In: Arbeiter-Zeitung, 17.6.1919, S. 2-3.

Franz Theodor Csokor: Ballade von der Stadt. Eine Vorbemerkung

Der Versuch, ein kollektiv gedachtes Drama ins Hörspielmäßige zu formen, wird hier gewagt. Gerade das kollektive Drama wäre ja wie kaum ein anderes zum Hörspiel vorbestimmt, da es ja auch durch das gewaltigste Kollektivmittel, den Sender, verbreitet wird. Doch erhebt seine Gestaltung in solchem Sinne besondere Ansprüche, die sich von einer bühnenmäßigen Interpretation scharf scheiden. Die Urelemente eines Hörspiels: Verwiesenheit auf das Wort, Bestimmung des Schauplatzes durch akustische Mittel, Übertragung der optischen Räumlichkeit in eine akustische, zu der das Ohr als als räumlich denkendes Organ erzogen werden müßte, architektonische Stufung der Vorgänge durch musikalische Cäsuren, die zugleich den Vorhang des Theaters ersetzen [‚Tonvorhang‘], Verflechtung psychologischer Rezitative und Leitmotive zur Verdeutlichung der Geschehnisse, und Lösung der notwendigen Geräusche vom zufällig Naturalistischen ins stilhaft Schicksälige, all das fordert, daß dem Text eine Art Partitur1 beigegeben sei, die ihm Satz um Satz begleite. Für die Wahrnehmung des Schauplatzes hier herrscht Einheit des Ortes, der nur seine Züge in dem mehr als ein Jahrtausend umfassenden Ablauf des Werkes vollendet, – griff der Verfasser zu der Figur des „Ansagers“, wie er auch im Kollektivdrama der Mysterienspiele, im Hans-Sachs-Stück und als „aboyeur“ der „Beller“ bei der französischen Komödie heimisch war. Mit einer der Dichtung angeglichenen gebundenen Strophe gibt er jeweilig die erforderlichen Erläuterungen über Szene und Vorgang in einer geistigen Synthese aus beiden.

             Nun zu den Vorgängen: Ursprung, Wuchs, Blüte, Gipfel, Verfall und Untergang einer Riesenstadt über dem Giftkeim des Goldes, also ein von Gier nach Macht und Besitz gestacheltes Werden, ausgedrückt durch die an dem Goldschacht aufwachsende Stadtmauer über dem bleibenden Schauplatz des Werkes, ist das Motiv der in balladesker Verkürzung geschürzten Handlung. Den Gegenspieler macht der Uralte, das ruhige, für alles Lebende gerechte und gleichmäßige Sein der Erde, die Frucht und Freude für jedermann hätte, wäre nicht Wahn und Hast jenes Werdens mit seinem wuchernden Kampf um das Gold. Der Uralte, – er ist die Erde selbst, die in sich Kraft und Willen hätte zu einem künftigen Paradies, das nicht erst jenseits des Lebens liegt, würde der Mensch sie nicht nur als Wert und Besitz begreifen wollen.

             Eine Art Calderonsches Welttheater also ist // dieses Stück, nur ohne eigentlichen ‚deus ex machina‘; die Lösung heißt hier; der höhere Mensch! Mensch in Gemeinschaft und Arbeit so streng gegen sich, als drohten noch alle Höllenstrafen, aber aus sich so, um des Menschen willen, stets inne der heiligen Einmaligkeit des irdischen Lebens, das befreit sein muß von aller Zweckversklavung zugunsten Einzelner. Das ist das Ziel, wie es das letzte Bild dieses Werkes aufreißt; es steht damit in Antithese zu dem Beginn.

             Im Anfang fährt das Gold im Blitze zur Erde nieder und weckt den Uralten als Wächter. Aber das Unheil muß ausreifen, wie alles. Ein Menschenpaar in bäuerisch mythischer Urzeit findet das Gold und umarmt sich über ihm, der Wurzel der Stadt, die von da ihren Ursprung nimmt. Doch beide, die nun mit dem Mauerbau beginnen, erfreuen sich nicht lange ihrer Macht; von ihren Knechten werden sie getötet. An der Mauer geraten die beiden Mörder in Streit; der eine erschlägt den andern und wirft sich zum Despoten auf. Er möchte die Mauer bis an den Himmel heben und über die ganze Erde herrschen kraft seines Goldes. Als er die ihm von der Natur gesetzten und durch den Uralten verkündeten Grenzen seiner Macht erkennt, will er sich auch ihrer Zeichen begeben, –  aber die Menge, die er sich selbst zu Sklaven gezüchtet hat, zerreißt ihn im gleichen Augenblick, da er die Geißel über sie zerbricht. Die früheste Äußerung der Massenherrschaft, die über ihn gesiegt hat, wird, ehe sie sich ihrer bewußt ist, von den eben so einfachen Urformen des Unternehmertumes, den Herren der Elemente, mit dem Symbol des geheiligten Königtums gebändigt. Das Bündnis von Krone und Gold erweckt den Krieg, und durch ihn gerät mit dem Sturz des Königtums der alte noch im Ständewesen fußende Reichtum in eine Krise. Die Revolution gärt auf, befehdet von der Gegenrevolution, – es ist eine Revolution, die noch um die Macht in der Stadt geht, nicht um die Befreiung des Menschen; sie, die auf dem verdorbenen Grunde des Goldes sich entzündet hat, führt mit unabweislicher Notwendigkeit die nackte Plutokratie herbei, die Herrschaft des Händlers. Die Menschheit der Stadt, nun selbst zur ruhelosen Maschine geworden, erliegt der Despotie ihrer Mittel.

Der Kampf um das Gold geht in rücksichtslosester, durch keinerlei Traditionsehrfurcht mehr gehemmter Art weiter. In der Figur des Händlers ist der neue Reichtum erstanden, in dessen Anfang nicht einmal mehr die eigene Arbeit wirkt wie den früheren Herren der Elemente, sondern die mühelose geschickte Ausnützung und Vergleichung von Angebot und Nachfrage. Das führt zu noch tieferer Versklavung; die Mauer hinter dem Goldschacht wird schließlich zu einer riesigen Klagemauer, an der die rettungslos an das Gold verhaftete Menge sich wütend die Fäuste wund schlägt, um so, – sei es auch über den selbstmörderischen gemeinsamen Untergang, – ins Freie zu gelangen. Verkündiger solcher stets schicksalshafter begehrter Zerstörung wird ein Schreiber, dessen Berufung zum Dichter an der Stadt verdorrte, und ein im Goldbergwerk irrsinnig gewordener Roboter des Reichtums. Der Schreiber erkennt im Sehergeist seines verstümmelten Künstlertums den Uralten, der durch alle Geschehnisse gewandert ist, als den letzten über die Stadt: Die Erde selbst schaut er in ihm, die Erde, die nach langer Duldung üb er der verkrampften Unnatur einer unlösbar dem Gold verdingten Gemeinschaft zusammenschlägt, angerufen von jener Gemeinschaft selbst, die ihres Daseins überdrüssig geworden ist. Eine furchtbare Katastrophe schlagender Wetter, die sich der Irre entfesselt zu haben rühmt, zermalmt die Stadt und alles, was in ihr lebte, also zu schwach für wirkliches Leben wurde. Und die Stimmen aller, die an der Stadt gestorben sind, mengen sich in diesen Untergang. Und wieder wird Acker wie zu Beginn. Wieder steht ein Menschenpaar darauf, Mann und Weib, dieses Mal Pioniertypus des neuen Menschen, des tektonischen, der sich jetzt Glied einer höheren Gesamtheit fühlt als einer durch Gold und Stein verpflichteten. Wieder findet die Frau das Gold, aber sie wirft es von sich. „Euer Siegt!“ ruft es ihnen aus dem Dickicht zu; dort entdecken sie den Uralten, wie im Schlafe liegend. Sie berühren ihn und er zerfällt zur Erde, die er ist, denn sein Hüteramt ging jetzt zu Ende mit der Absage der beiden an das Gold. Die neue
Stadt
braucht nicht Stein noch Erz zu ihrem die Welt umspannenden Bau. Hände, die einander fassen, sind ihre Mauer; Herzen, die einander finden, sind ihre Gassen; Geist, der sich brüderlich erkennt, ist ihr Gold. Und die Dinge sind ihnen untertan, nicht zu Gewalt, Schlacht und Mord, – sondern zu wechselseitiger Hilfe.

             Dies der Sinn meiner Dichtung, die so um einen sozialethischen, also von welcher Weltanschauung immer: kollektiv gebotenen Ausklang bemüht ist.

In: Radio Wien, 15.2.1929, S. 328-329.

  1. Alle im Text kursiv ausgewiesenen Stellen sind im Original gesperrt gedruckt.

Fritz Rosenfeld: In den Tiefen der Erde V.

  • Franz Jung: „Die Eroberung der Maschinen.“ Malik-Verlag, Berlin.
  • Hermynia Zur Mühlen: „Licht.“ See-Verlag, Konstanz.
  • Concha Espina: „Das Metall der Tote.“ Verlag W. B. Mörlin, Berlin.
  • Hans Kaltneker: „Das Bergwerk.“ Donau-Verlag, Leipzig und Wien.

Franz Jungs unter Bergarbeitern spielender Romans „Die Eroberung der Maschinen“ ist in Stil und Inhalt gleich eigenartig. In kurzen, abgehackten Sätzen wird eine recht unklare Geschichte erzählt, die keine handelnden Einzelpersonen hat. Die Masse ist Trägerin des Geschehens. Eine derartige Gestaltung ließe sich wohl durchführen, wenn die Willensäußerung der agierenden Menge in Bildern gezeigt würde. Durch die ganz unbildhaften trockenen Berichte von Vorgängen wird der Roman aber farblos und eindrucksarm, entfernt sich vom Kunstwerk zur theoretischen Abhandlung. Will ein Dichter seine Gedanken in einem Roman vorbringen, so kann er nicht darüber hinweg, sie in Handlung umzusetzen. Er muß Vorgänge erfinden, die die Einbildungskraft des Lesers anregen, die dieser sich „vor“zustellen vermag. Abstrahiert der Autor aber von jedem vorstellbaren Geschehnis, bringt er nur den sachlichen Extrakt des Ereignisses in der Art einer Zeitungsnotiz: Das und das ist da und dort geschehen, so ergibt sich ein auf gemeinverständliche Basis gestellter theoretisches Buch, das an sich ganz interessant sein mag, aber ein Unding wird, wenn es den Titel „Roman“ beansprucht. Die wenigen Vorgänge, die das innere Geschehen des Romans verdeutlichen sollen, sind aneinandergereihte Belanglosigkeiten, nüchterne Tatsachenfeststellungen. Dichtung ist ganz etwas anders. Auch der Stil des Buches ist, wie der aller Werke Jungs, ungenießbar. Explosive, geballte Sätze, sind als Ausdruck der Hast unseres Erlebens in der Literatur unserer Tage längst heimisch geworden. Aber keine Sprachballung entschuldigt es, daß ein Arbeiter (nicht in Dialektnachahmung, sondern in der Erzählung des Autors), „auf Arbeit“ geht. Neben falschen Telegrammsätzen stehen dann wieder lange, schlecht gebaute, unverständliche Perioden, die das Lesen des Buches zur Qual machen.

            Ohne jedes Sprach- oder Gestaltungsexperiment hat die treffliche Sinclair-Übersetzerin Hermynia Zur Mühlen einen Bergarbeiterroman „Licht“ geschrieben., der (wohl vom Standpunkt des Kommunismus) das Problem der Bewußtseinserweckung des Proletariers behandelt. Mit erstaunlicher dichterischer Kraft führt Hermynia Zur Mühlen ihr Thema durch, belebt sie den Gang der Handlung durch viele Episoden, die oft tiefmenschlich gefühlte, an sich runde Einzelbilder von Proletarierschicksalen bieten. Der Einfluß des großen amerikanischen Schriftstellers, den sie verdeutscht, erweist sich vor allem in dem stark positiven Zug ihres Werkes. Sinclair war ja einer der ersten, die mit dem sozialen Roman älteren Schlages, bei dem der Aufruhr stets mit der blanken Waffe niedergeworfen wird, aufräumten und in der richtigen Erkenntnis, daß es zweideutig ist, die Sieghaftigkeit der Die durch physische Gewalt scheinbar abzuschwächen, den zuversichtlichen Ausgang an Stelle der Niederlage zu setzen. Die Dichterin bringt wohl (das bedingt die Wahl des Themas) inhaltlich nichts Neues, aber sie formt den bekannten Stoff in schlichter, markiger Sprache.

            In eine uns neue, mit Naturwundern gesegnete, aber von der Profitgier der besitzenden Klasse zur Hölle gewandelte Welt führt uns die spanische Dichterin Concha Espina in ihrem Roman „Das Metall der Toten“. Die Handlung des Werkes verbindet erfundene Liebesverwicklungen und Eifersuchtstragödien mit historischen Geschehnissen. Diese sind: Ursachen, Entstehung und Verlauf einer Erhebung gegen die Ausbeutergesellschaft. Der groß angelegte Streik führt zwar nicht zum Sieg, endet aber mit der Auswanderung der Bergsklaven, die es vorziehen, in der Fremde ihr Bort zu verdienen, als in der Heimat für fremde Herren (die Kupferminen von Riotinto in Südspanien, die der Schauplatz des Romans sind, gehören englischen und deutschen Gesellschaften) zu roboten. Die gewaltige Summe aus erdichteten und tatsächlichen Begebenheiten ist aber letzten Endes nur der Anlaß zur Entfaltung eines Stils, der durch die gewiß nicht unbedeutenden Hemmungen der Übersetzung hindurch seine Eigenart und seinen Reiz bewahrt. Als Ganzes genommen trägt das Werk wohl alles an sich, was Dichtung geben kann: Beschreibung, Handlung, Menschenzeichnung, Problemgestaltung. Die knappen, gehaltreichen Schilderungen des Landes erinnern zuweilen an Martin Andersen Nexös „Sonnentage“, haben aber vor der Reisebeschreibung des dänischen Arbeiterdichters von Vorzug voraus, daß eine Einheimische hier spricht, die nicht nur das äußere Bild, sondern vor allem die Seele des Landes sieht. Und diese Milieuzeichnung ist für uns von größter Wichtigkeit, weil wir nur von ihr aus so manchen Charakterzug der Personen, so manches Geschehnis verstehen können. Der Stolz, eine Eigenschaft, die für das spanische Volk längst sprichwörtlich geworden, ist eine günstige Grundlage für die Ausbreitung der revolutionären Befreiungsideen, das südländische Temperament aber treibt gleichzeitig zum Extrem, zum unbedachten Drauflosschlagen, zur Gewalt, führt den spanischen Proletarier leicht ins kommunistische Lager. Von der radikalen Seite sind die Vorgänge gesehen und geschildert. Seitenhiebe auf die Sozialisten finden hier ihre Begründung. Neben dieser Neigung zum brutalen Radikalismus läuft eine religiöse Inbrunst und Hingabe, ein uns ganz fremder Fanatismus, der seine Ursachen in der jahrhundertelangen Pfaffenherrschaft hat, der aber den Arbeiter nicht im mindesten von seiner revolutionär-klassenbewußten Gesinnung abhält. Kommunistische Überzeugung und religiöser Fanatismus gehen hier Hand in Hand. Die Schilderung dieser durchaus wahren, wirklichkeitsgetreu gesehenen Verhältnisse erfordert eingehende, aufmerksame Lektüre. Zu diesen interessanten Charakterzügen, die das ganze Volk betreffen, kommt die Lebendigkeit der vorgeführten Einzelmenschen, deren Gestaltung durch und durch auf das Seelische eingestellt ist. Leidenschaften flammen auf, Versuchungen werden überwunden, die Eifersucht reißt zu Verbrechen hin, Menschenherzen verbluten. Hunger und Liebe, die beiden Urkräfte allen menschlichen Handelns, bestimmen Gefühl und Tat dieser unverbrauchten, unvergifteten Elementarmenschen, die mir ihrem fieberhaften Wechsel von Glücksekstase und Verzweiflung, Liebe und Haß, Begeisterung und Ernüchterung, zähe Vorkämpfer im Ringen um ihr Menschenrecht werden, wenn das Saatkorn der Aufklärung in ihre Seele gelangt ist. Als Hintergrund der Vorgänge entrollen sich Bilder von schauriger Farbenpracht, wird eine Landschaft gezeigt, die in ihrem romantischen Zauber, ihrer unirdischen Schönheit dem Wesen der Menschen, die sie bewohnen, entspricht.

            Ein Drama „Das Bergwerk“ des jüngst verstorbenen Wieners Hans Kaltneker, das anläßlich der tausendsten Wiener Arbeitervorstellung aufgeführt wurde, läßt sich in seinen Motiven auf mannigfache Vorbilder zurückverfolgen. Es ist nicht anzunehmen, daß der Dichter die lange Reihe von Bergarbeiterromanen, die wir hier durchbesprochen haben, kannte. Die frapante Ähnlichkeit mit Jansons „Im Dunkel“, Sinclairs „König Kohle“ und della Grazies „Schlagende Wetter“ erklärt sich aus der geringen Zahl von Möglichkeiten, die der Bergarbeiterberuf dem gestaltenden Künstler bietet. Wenn es sich um ein Drama handelt, engt sich der Kreis der Situationen von selbst auf die wenigen dramatisch brauchbaren ein: die Frauen harren beim Schachteingang verzweifelt der verschütteten Männer und fordern Öffnung der Grube. Oder: die eingeschlossenen Arbeiter werden vor Hunger zum Tier, schänden im Ansturm des Selbsterhaltungstriebes ihr Menschentum. Der Grundgedanke dieses Dramas klingt an Tollers „Masse Mensch“ an. Das Individuum entfesselt den Aufruhr und schreckt dann vor der Tat zurück, wird als Hindernis empfunden und deshalb beseitigt. Der heiße Atem tiefer Menschlichkeit, der uns aus dem Werk entgegenschlägt, verscheucht jedoch die Erinnerungen an formale und inhaltliche Vorbilder. Ein Dichter, den der Tod nur allzufrüh dahinraffte, hat eine Dichtung geschaffen, die als Drama viele technische Fehler aufweist, aber des ehrlichen und kraftvoll begeisterten Willens halber, der in ihr ist, nicht vergessen werden darf.

In: Bildungsarbeit, Nr. 7/8, 1922, S. 66-67.