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Max Foges: „Die vaterlose Gesellschaft“. Psychoanalyse und Revolution.

             Man muß schon einigermaßen mit der Terminologie der von dem Wiener Forscher Professor Siegmund Freud begründeten und so heiß umstrittenen psychoanalytischen Methode vertraut sein, um den Titel einer soeben in der Serie „Der Aufstieg“ (Anzengruber-Verlag, Brüder Suschitzky, Wien-Leipzig) erschienenen Broschüre des Freud-Schülers Dr. Paul Federn: Zur Psychoanalyse der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft zu verstehen. Allerdings die Lektüre der schlanken Schrift wird auch den Laien auf dem Gebiet der Psychoanalyse sicher fesseln und ihm einen Einblick gewähren in die tiefsten seelischen Zusammenhänge, die den einzelnen schon mit der gesamten menschlichen Gesellschaft verbinden. Dr. Paul Federn wagt einen geistvollen Versuch, die abnorme seelische Erregung unserer Zeit, die sich in der Revolution und allen ihren Erscheinungen manifestiert, auf psychoanalytischem Wege zu erläutern, indem er eine der Grundlagen des Lehrgebäudes Professor Freuds, die sogenannte Sohneseinstellung im Vater heranzieht. Wenn man den Gedankengang Federns darlegen will, muß man, wie Freud es bei seinen Forschungen tut, auf die Urzustände der Menschheit, auf die Psychologie der Primitiven zurückgreifen.

             Die erste Form des menschlichen Zusammenlebens war die einer Herde, die unter der übermächtigen Alleingewalt eines Vaters stand. Ihm gehörten die Brüder, ihm die Frauen. Diese Vormacht war geheiligt durch ein System primitiven Aberglaubens, dem Keim späterer Religionen, war gehalten durch die größere Stärke des Häuptlings-Vaters. Heranwachsende einzelne Söhne, die sich nicht fügen wollten, wurden anfangs getötet, in einer späteren Periode vertrieben. Dafür, daß dieser Kampf zwischen Vater und Söhnen grausam und unerbittlich war, sprechen viele Momente, unter anderem die Rolle der Kastration, die, als Recht der Väter, als Angst der Söhne durch die Geschichte der Religionen und Gebräuche ebenso nachweisbar ist, wie sie in spontanen Angstvorstellungen der kleinen Knaben noch heute wiederkehrt. Das Ende eines solchen Tyrannen und Vaters war kein sanftes. Wenn seine Kräfte nachließen oder wenn der gemeinsame Haß der entrechteten vertriebenen Söhne diese zu einer Bruderhorde zusammenschloß, bekämpften und besiegten sie schließlich den Vater und es folgte […] eine Siegesmahlzeit, unter anderem auch, damit so die vom Aberglauben vorgestellte geheimnisvolle Zauberkraft des Vaters auf den Sieger übergehe […] So wiederholte es sich durch lange Generationen, bis der einen Wendepunkt der Kulturgeschichte bedeutende Fortschritt gemacht wurde, daß die Bruderherde sich nicht mehr nur zum Morde des Vaters vereinigte, sondern nach Beseitigung des Tyrannen als Söhneorganisation mit einem durch Vertrag bestimmten Vater beisammen blieb. Dann konnten sie von dem weiteren Vatermord ablassen und es bildeten sich große Gemeinschaften aus den Herden mit Häuptlingen an der Spitze. Aber die uralten Greuel, die in Wirklichkeit aufgehoben waren, wurden als Symbol und Zeremonie festgehalten in der gemeinsamen Totenmahlzeit, in der Vergottung des Vaters im Totenkult, in Gebräuchen, deren Weiterbau an die antike Tragödie und in die religiösen Opfer ausläuft. Es erhielt sich aber auch in der Seele des primitiven Menschen die zwiespältige Einstellung zum Vater: der schuldgehemmte Haß und die furchterfüllte Liebe. Der Vatermord, mit dem die Geschichte der Menschheit einsetzt, war später so sehr zur Sünde geworden, daß er außer alles Rechtes stand. Nichts ist dem Sohn verehrungswürdiger als der Vater, und doch enthält diese Verehrung noch heute in der Kinderseele einen Rest von der uralten Feindschaft, dem uralten Trotz und der uralten Schuld.

             Und nun führt Federn aus, wie der Sohn, jeder einzelne Sohn sich loslösend von der Autorität des Vaters, doch wieder in seinem Leben nach einer Vatergestaltung sucht, und als eine solche Vatergestaltung erscheint ihm der Kaiser im Verhältnis zu seinen Untertanen. Und übergehend auf die Ereignisse des Zusammenbruchs, der sozusagen die Untertanen vaterlos machte, schreibt er: „Nicht alle waren durch den Sturz des Kaisers unvorbereitet vaterlos geworden. Für viele hatte schon die Kriegserklärung die Vaterbindung zerstört, weil kein imaginärer Vater seine Kinder töten läßt, wenn nicht in höchster Verteidigungsnot der Mutter, des Vaterlandes. Diese Partei der ›Unabhängigen‹ vermehrte der Krieg dadurch, daß zwar nicht die fernste Vatergestalt, aber die näheren, die ungezählten Vorgesetzten, Amtsstellen und Offiziere so viel eigensüchtiges Anrecht begangen und so viel unbefolgbare Befehle erteilt haben, daß die ‚Niederen‘, die Arbeiter und Soldaten, schon während des Krieges dieselbe Enttäuschung an diesen Vätern erlebten wie einst in der Kindheit. Die Enttäuschung war so groß, daß sich bei vielen Tausenden die anhängliche Vatereinstellung noch nachträglich in haßerfüllte, oppositionelle verwandelte.

             Der Sturz des Vatertums in dem kaisertreuen Volke war in Österreich durch die wenig zur Vatergestalt taugende Persönlichkeit des jungen Kaisers erleichtert. Charakteristisch ist, daß allen antidynastischen Bewegungen diffamierende Gerüchte über das Herrscherhaus vorausgehen, die wenig Wahres mit viel Falschem vereinen und nicht mehr ausgemerzt werden können. So war es auch in der Französischen Revolution und in Rußland. Diese innere Ehrfurchtsverletzung untergräbt die Vaterstellung, wie einst die gegen den Vater gerichteten Schmähworte sie in der Kindheit gelockert haben. So geschah es, daß die Regenten ohne Widerstandsversuch fallen mußten, weil die gesamte Stimmung von unten bis oben nicht mehr trug. Viele vatertreu gebliebene Untertanen äußerten ihre Erbitterung darüber, „der Kaiser habe das Volk im Stich gelassen“, was zwar nicht der Wahrheit entspricht, aber die Zahl der vaterlos Gewordenen neuerdings vermehrte. Mit dem Sturz des Kaisers mußte alles kraftlos werden, was von der ideellen Vatergemeinschaft getragen war. All dem nicht zu gehorchen, war jetzt innere Bereitschaft, fast innerer Zwang geworden. Wer diese unbewußte Ursache versteht, wird die Vorwürfe, welche einzelnen die Schuld zum Beispiel am Wirrwarr des Rückzuges geben, sehr einschränken. So wenig der einzelne Nutznießer für die in Jahrtausenden entstehenden vererbten und eingewohnten Privilegien auf der Seite der Vatergestaltungen, für die Entrechtung auf der Seite der Söhne eine moralische Verantwortung trägt, so wenig konnte der einzelne die Folgen des Sturzes in seinem Bereiche aufhalten. Sehr ungerecht ist besonders die Entrüstung über Monarchisten, Klerikale und Bourgeois, daß sie nicht über Nacht Republikaner wurden. […] Der Wirrwarr wäre noch größer gewesen, wenn nicht die organisierten Sozialdemokraten schon lange die freiwillige Einordnung in ihrer Partei gelernt und ihr ideelles Vaterbedürfnis schon lange am Führer befriedigt hätten. Daß in Deutschösterreich die Revolution ohne die Raserei haltlos gewordener Menschenrudel verlaufen ist, verdanken wir dem Glück, daß Viktor Adler noch lebte und führte, den jeder Genosse fast bewußt als Vater empfand. Dem radikalen Teil der Partei, dessen Sohneseinstellung sich längst vom Obrigkeitsstaate, während des Krieges auch von den Parteiführern gelöst hatte, bot sich wiederum in der – man kann ohne Übertreibung sagen – heldenhaften Gestalt Fritz Adlers eine gemeinsame Vaterverbindung. Die Tat Fritz Adlers war darum von solch ideeller Bedeutung für die sozialdemokratische Partei in Oesterreich, weil sie der vehemente Ausbruch der Gegnerschaft gegen den alten Obrigkeitsstaat war, einer Gegnerschaft, die während des Krieges wie betäubt verstummt zu sein schien. Daran war auch das Vaterhafte des alten Kaisers schuld gewesen, dessen altgewohnte Greisengestalt viel zum Ausbruch des knabenhaften Enthusiasmus der ersten Kriegsmonate beigetragen hat. Wir erkennen daran, wie ohnmächtig die Vernunft gegen das Unbewußte ist, der Verstand gegen den Trieb sich erweist, mußte doch das hohe Alter lediglich eine noch größere Potenz seiner Unfähigkeit beweisen. Aber dem Gefühl des Volkes – darunter auch vieler Sozialisten – war er desto mehr von der mythischen Weihe des Vatertums umkleidet. Jetzt, da das Vatertum gestürzt is, büßt auch die Partei der Mehrheitssozialisten ihre Verbindung mit dem Gewesenen. Auch die alte Organisation ist den „vaterlosen Gesellen“ zu sehr vom Vatertum durchtränkt. Sie wollen der väterlich eingestellten Partei keine Gefolgschaft leisten.

             In demselben Sinn seiner Theorie und ebenso geistreich beurteilt Dr. Federn die Ereignisse in Deutschland. Seine Schlußfolgerungen zieht er schließlich dahin: „Bei denen, die sich jetzt von der sozialen Vater-Sohn-Einstellung gelöst haben, bleibt die Tendenz doch dazu so stark, daß sie nur auf eine geeignete, neu auftretende Persönlichkeit warten, die ihrem Vaterideale entspricht, um sich wieder als Sohn zu ihm einzustellen. Mit großer Regelmäßigkeit hat deshalb nach dem Sturz von Königen die Republik der Herrschaft eines Volksführers Platz gemacht.“ Allerdings meint er, es müsse nicht so kommen und weist besonders auf Amerika hin. Aber er selbst kann doch auch da seine Bedenken nicht unterdrücken und zeigt selbst den Durchbruch der Vateridee in Erscheinungen auf wie in der Verehrung der amerikanischen Jugend für Roosevelt. Auch räumt er ein, daß Amerika, das Einwandererland, insofern eine Ausnahmestellung einnimmt, als die Einwanderer die Objekte ihrer Vater-Sohn-Einstellung in Europa zurückgelassen haben. Und so schließt er resigniert seinen Beitrag zur Psychologie mit den Worten: „Das // Vater-Sohn-Motiv hat die schwerste Niederlage erlitten. Es ist aber durch die Familienerziehung und als ererbtes Gefühl tief in der Menschheit verankert und wird wahrscheinlich auch diesmal verhindern, daß eine restlos „vaterlose Gesellschaft“ sich durchsetzt.

In: Neues Wiener Journal, 12.9. 1919, S. 7-8.

Otto Koenig: Der Geist ist los! (1919)

„Erscheinungen wie die als Expressionismus bezeichnete, sind niemals Gebilde einer bestimmten Gegenwart, ihre Existenz erreicht vielmehr kometenhaft aus ferner Dunkelheit in großgeschwungener Ellipse unser Sehfeld, Spur und Eindruck hinterlassend, ehe sie aufgeht im Allgemeinen.“

Max Krell

Wäre der Expressionismus nichts anderes und nicht mehr als eine Kunstrichtung, die, im Gegensatz zu Naturalismus und Impressionismus, die den äußeren Eindruck, den die Erscheinungswelt  auf den einzelnen macht, in Wort, Ton und Bildwerk festzuhalten versuchten, nach dem Ausdruck innerlicher, geistiger – wie viele meinen ‚absoluter’ – Wesentlichkeit ringt, so wäre wenig Veranlassung, uns mit solchem reinen Kunststreben an dieser Stelle auseinanderzusetzen, Der Expressionismus ist aber mehr als eine bloße Kunstrichtung. Ja er ist in seines Wesens innerstem Kern überhaupt keine neue ästhetische Richtung, sondern eine alte ethische. Dies wäre nicht nur durch die analytische Betrachtung expressionistischer Kunstwerke, sei es Dichtung, Malerei oder Skulptur, sondern auch durch Hunderte von Zitaten aus Werfel und Leonard Frank, aus Hasenclever und Georg Kaiser zu belegen. Doch mögen hier allein die zwei kräftig illustrierenden Worte von Max Krell und Alfred Wolfenstein genügen, die Worte: „Religiöse Ekstatik nach innerer Genesung geht neu durch alle“ und „Wenn Seele lacht, muß Körper heulen.“

Bei genauerer Betrachtung zeigt der Expressionismus mit seinem Kult der eigenen Seele, seinem Streben nach innerer Reinheit bei Gleichgültigkeit gegen äußerliche Unappetitlichkeit (Anachoretismus), Abkehr von Wirklichkeit und Sinnlichkeit, Hinneigung zu spiritualistischen, zeitlosen und absoluten Idealen (Askese), mit seinem Bußwillen und Bekehrungseifer (Exorzismus, Flagellantismus) sehr deutlich die Züge jener ebenfalls zum Kunststil zusammenkristallisierten Geistesrichtung, die man die Gotik (13. und 14. Jahrhundert) nennt.

Auf diese charakteristische Eigentümlichkeit hat meines Wissens zum erstenmal ausdrücklich Hermann Bahr, seiner gegenwärtigen Denkweise entsprechend natürlich mit Genugtuung hingewiesen. Gegenwärtig erkennen die Expressionisten – und solche, die es eben werden – die Beziehung zur Gotik bewußt an. „Die Kunst ist eine Etappe zu Gott!“ erklärt Kasimir Edschmidt. Was man nur im Anblick eines gotischen Spitzbogens nachzufühlen vermag. Max Krell spricht von den „gotischen Rippen“ der neuen Geistesrichtung und Hermann Kesser gibt unzweideutig den Feldruf: „Befreit die religiöse Inbrunst aus den gotischen Türmen!“

Also Gotik im 20. Jahrhundert!

Der historisch geschulte Blick macht angesichts solch seltsamer Wiederkehr keineswegs erstaunte Augen; diese Art von Revenant ist ihm nicht gespensterhaft. Ein Blick auf die durch die Wirtschaftsform des Kapitalismus bedingte, technisch-naturwissenschaftliche letzte Hälfte des 19. Jahrhunderts ließ eine spiritualistische Reaktion mit Sicherheit seit langem erwarten. Daß der nun „los“ gewordene Geist („Der Geist ist los“ ist der Kampfruf der Gotik von 1918, wie „Gott will es“ die Parole der Kreuzfahrer war) in einer an mittelalterlichem Geschmack gemahnenden Gewandung einhertritt, ja daß er Feuer vom ewigen Licht gotischer Dome gezündet hat, ist ein auffälliger, aber nicht überraschender geschichtlicher Parallelismus […]

Aber hat nicht der Krieg und der endliche Zusammenbruch vergreister politischer Systeme…?

Gewiß hat der Krieg und der Zusammenbruch die neue Begeisterung – gekräftigt, rasch gereift, ihr Ziel und Richtung gewiesen, nicht jedoch hat er die erst geschaffen. Wer die Literaturgeschichte der Vergangenheit kennt, weiß, daß der landläufige Lehrsatz der Schulliteratur: „Der Dreißigjährige Krieg hat den Niedergang der deutschen Literatur im 17. Jahrhundert verschuldet“, unrichtig ist. Dieser Niedergang war schon vor Beginn des Krieges merkbar.

Wer die zeitgenössische Literatur im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts verfolgt hat, weiß, daß das, was heute unter dem Namen Expressionismus in Erscheinung tritt, schon vor dem Krieg auf dem Marsche war […] durch die politischen Ereignisse ist die Bewegung nicht allein gefördert, sondern auch nach der politischen Seite hin umgebogen worden. Von Leonhard Franks politischer Epik, wie sie in seinem Novellenkranz „Der Mensch ist gut“ gewaltig einhertritt, von Göhring, Kaiser und Hasenclever, bei denen die politische Tendenz immer wieder augenfällig zutage tritt, ganz abgesehen! Auch anscheinend rein psychologische Dichtungen wie Hermann Kessers Tragikomödie „Summa Summarum“ sind politisch, sozial eingestellt und sogar in einer anscheinend so individuellen und rein rein innerlich seelischen Tragödie wie Hermann Böttichers ernstem Spiel „Die Liebe Gottes“, weist es sich bei näherer Betrachtung, daß diese unerquickliche Geschichte von der missglückten Bräutigamschaft Achims des Preußen, bei der man sich nur wundert, warum „das Spiel“ ohne augenscheinlichen Zusammenhang mit der Handlung „unter den Schüssen der abendländischen Revolution“ vor sich gehen muß, nichts anderes darstellen soll als die deutsche Revolution, die nach Böttichers Meinung wie die Heldin des Stückes Lili unter den symbolischen Stimmen des Geistes des Aufstiegs und des Geistes des Untergangs, ins Altgewohnte, Hergebrachte und Vergestrigte umkippt.

Die Tendenz des Expressionismus bildet also eine interessante Synthes von Gothik und sozialem Revolutionismus. An Tollers Person ist sie am deutlichsten zu sehen, in Heinrich Vogelers Aufsatz „Expressionismus der Liebe“ am deutlichsten zu lesen.

Die christliche Liebe der Gotiker der Gegenwart erscheint als Pazifismus und Sozialismus, der Glaubens- und Bekehrungseifer als Revolutionismus. Trotzdem wäre es falsch, im Expressionismus etwas wie eine verbündete Macht zu sehen, die Expressionisten der Liebe als Genossen zu begrüßen. So sehr auch ihre Liebe von Sehnsucht überfließt, sie sehen sich nicht um – wer mitgenießt – und neigen in ihrer Abkehr vom Sinnlichen eher zum Askesenwort: „Genießen macht gemein!“ Ihr Sozialismus ist nicht unmittelbar nach Wohlfahrt gerichtet, sondern auf Mitleiden eingestellt, ihr Revolutionismus zielt nicht unmittelbar auf Besserung, sondern vorher auf Reinigung.

Wieder nur eine Zeugnis für viele! In Böttichers schon erwähntem Gedicht „Die Liebe Gottes“ sagt der „Herr von Kerr“ deutlich als Wortführer des Dichters: „Es gibt Menschen, denen ist sichtbar eine Dornenkrone aufgesetzt, aber es muß eine Gnade sein, denn sie leuchtet meist […]

Die gotisch-mystische Basis des Sozialismus und Revolutionismus der Ausdrucksfanatiker ist also die alte asketische Philosophie von der Gottgewolltheit und Erziehungskraft des Leides – nicht umsonst sehen ja manche Expressionisten in Strindberg ihren Vorläufer, nicht umsonst hat ja die katholische Kirche die „religiöse Sehnsucht in der modernen Literatur“ durch den Mund literierender Jesuiten, zum Beispiel des Pater Browe auf der Akademieversammlung zu Tübingen, wenn auch mit der Einschränkung, daß sie doch nicht gottgläubig genug sei, gerühmt – und die Grundlage ihrer mit der urchristlichen , opferwilligen ‚agape’ enger als mit modernem, pflichtbewusstem, Genossenschaftswillen verwandten, revolutionären Tendenzen ist rein spiritualistischer Natur.

So fundierter Wille zur Katharsis (Reinigung) bedeutet für den wirtschaftlichen Sozialismus buchstäblich Ketzerei! Wirklich scheint der tragende Gedankengang der Neugotiker entgegengesetzt dem der materialistischen Geschichtsauffassung zu verlaufen: erwartet diese von einer allgemeinen Hebung wirtschaftlicher Wohlfahrt auch eine automatisch folgende Hebung des geistigen und sittlichen Niveaus, so erklären jene: „Das unaufhörliche menschliche Wandern nach dem geistigen Ziel ist der einzig unumstößliche Inhalt der Geschichte.“  

In: Der Kampf. Sozialdemokratische Monatszeitschrift, 1921, S. 164-167.

M. Feichtlbauer (Salzburg): Abrechnung mit der deutschen Modeliteratur

Forst de Battaglias Buch „Der Kampf mit dem Drachen“.

Abrechnung mit der deutschen Modeliteratur.1 Forst de Battaglias Buch „Der Kampf mit dem Drachen“.

Von Studienrat Prof. M. Feichtlbauer (Salzburg).

    Schon im fünften Kapitel seines Buches „Der Kampf mit dem Drachen“ stellt Forst de Battaglia den kläglichen Zustand der heutigen Dramenliteratur fest. Im siebten Kapitel seines Buches, betitelt „Die Schaubühne als antimoralische Anstalt“, widmet er dem heutigen deutschen Theaterstück eine besondere Betrachtung. Das Ergebnis ist betrüblich, aber es müssen zuvor Götzen zertrümmert werden, wenn Echtes zur Anerkennung gelangen soll. Wer sich beruflich mit Literatur beschäftigen muß und dabei das Werden unserer dramatischen Dichtung verfolgt hat, dem ist dieses Kapitel so ganz aus der Seele geschrieben.

    Schon die Einleitung Battaglias ist interessant: „Die dramatische Muse von heute hat drei Väter: Wedekind, Sternheim und Georg Kaiser. Zwei Dichter, zwei Denker, zwei Clowns. Wedekind: Dichter und Clown, Sternheim: Clown und Denker, Kaiser: Denker und Dichter. Doch wie beim satyrischen Roman führt auch hier beim satirisch-satyrischen Zeitstück, das jener epischen die dramatische Hin- und Herrichtung der Tradition folgen läßt, die Ahnenreihe weiter, weit zurück. Jedenfalls bis zu ihm, dem die Schaubühne eine moralische Anstalt war, weshalb er die herrschende Moral seiner Zeit befehdete: zum Friedrich Schiller ‚Der Räuber‘ und von ‚Kabale und Liebe‘… . Die Motive Schillers und des ‚Sturm und Drang‘ der Lenz und Klinger sind auch die der modernsten Dramatik. Grabbe und Büchner folgen: genialisch-antibürgerlich, antimoralisch, lüstern-lustig, bitter-erbitternd, unflätig, höhnisch, witzig, literatenhaft-weltmännisch, aristokratisch-demokratisch, herzhaft-zerebral, den Westen um seinen Schwung beneidend und den Osten um die Freuden des Diwan.“

    B. spricht von der „Tendenz“, die den Zeitstücken, wie sie gespielt werden, zugrunde liegt und die keine andere ist, als: Sturm gegen jedwede Autorität: Staat, Monarchie, Familie, ständisch aufgebaute, nach Klassen gegliederte Gesellschaft. „Die Heutigen (im Gegensatz zum jungen Schiller) möchten die Autoritäten zerstören, entweder aus anarchischer Freude am Chaos oder um einem völlig Neuen, noch Ungekannten die Straße zu bahnen. Weit klarer (und sehr wirkungsvoll) tritt auf der Bühne diese Absicht hervor als im Roman, wo sich die Tendenz leichter hinter der Erzählung verbergen kann.“ So kehren denn in der Tages- und Zeitdramatik immer die gleichen Motive wieder: Väter und Söhne, eheliche Verhältnisse, besonders Eheirrungen, Staat, Gesellschaft. Und „der Weisheit letzter Schluß: alles muß verungenieret werden“.

    B. weist bei den einzelnen Motiven mit beißendem Sarkasmus darauf hin, wie diese an sich so wichtigen Verhältnisse von unseren Dramatikern ins Gemeine verzerrt und mit souveräner Willkür behandelt werden: „Adel, Großbürger sind Schwachköpfe und Ausbeuter, die Kleinbürger sind Speichellecker und filzige Witzblattläuse, die Proletarier sind leider, leider durch lange Knechtschaft entartete gefallene Engel; erst an der Schwelle von Bordell und Zuchthaus beginnt die Großheit des neuen Menschen.“

    Nun marschieren diese Zeitdramatiker nach der Reihe auf. Allen voran S t e r n h e i m: „Sternheim vermengt Drama und satirische Publizistik. Er stellt nicht nur komische, karikierte Gestalten auf die Bühne, … er beansprucht nicht nur, die deutsche Wirklichkeit seiner und der unmittelbar vorausgegangenen Epoche abzubilden, er fordert auch, daß wir die Karikatur als Wirklichkeit hinnehmen und hernach auf Grund der aus dieser karikierten Wirklichkeit gewonnenen Erfahrungen seine, Sternheims, im Dialog zerstreuten, doch darum nicht minder deutlichen Schlußfolgerungen: die Tendenz seines Schaffens mit Beifall bedenken. Ein Publizist, ein Zerrbildzeichner des ‚Simplizissimus‘ kann sich das erlauben. Seine Karikaturen sind stumm, und sie lassen jedem die Freiheit, sich zu ihnen den Text zu machen. … Die Figuren auf der Bühne gehören entweder ins Reich der Phantasie: die satirische mitinbegriffen, oder in das der Wirklichkeit. Doppeltes Bürgerrecht ist ihnen nicht zugebilligt.“ Durch einen Hinweis auf französische Dramatiker zeigt B., wie echte Dichter zu Werke gehen, und erklärt: „Sternheims Reihe der bürgerlichen Heldenleben ist ein zusammengekleisterter Film von Simplizissimusbildern. Jedes einzelne ergötzlich, wenn man es zweidimensional auf dem Papier betrachtet. Alle zusammen aufreizend, wenn sie dreidimensional über das Theater spazieren und uns typische Wirklichkeit, so etwas wie einen Kern der deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, vorgaukeln. Alle zusammen lächerlich nur und nicht belustigend, wenn sie als Plaidoyer [sic] im Prozeß gegen die herrschende Gesellschaftsordnung gelten wollen.“

    B. zergliedert Sternheims Stücke, zeigt, wie unglaubhaft die Handlung, die Charaktere sind, und von welch „wahrhaft grandseigneurialer Wurstigkeit Sternheims Geschichtsumrahmung“ ist. Ein anderer Zeit- und Modedichter ist  G e o r g  K a i s e r. Zwar billigt ihm B., soweit es sich um die  m i t t l e r e  Periode von Kaisers Schaffen handelt, ungleich mehr Künstlertum zu als Sternheim, aber nach fünf Jahren „erlosch in ihm der poetische Funke, und seelenlos, von einem gut eingearbeiteten Mechanismus getrieben, produzierte seither eine Automate, die den Namen und die äußeren Züge des Denkspielers Georg Kaiser trägt“.

    Nach einer Analyse des Stückes: „Oktobertag“ fragt B.: „Ward jemals der Stumpfsinn zu spitzfindigerem Zweck mißbraucht? … Von französischen Verhältnissen hat Kaiser so viel Ahnung wie ein Fulbe von der altmexikanischen Kunstgeschichte.“ Wir erfahren, wie einerseits Sudermann, anderseits Courths-Mahler bei Kaisers Stücken: „Oktobertag“, „Zwei Krawatten“ Pate gestanden sind, und wie auf ein drittes Stück wirklich kein anderer Name gehört als: „Kolportage“. „Vor 50 Jahren war das, je 10 Pfennig das Heft, auf der Hintertreppe an romantische Köchinnen zu verkaufen gewesen. Heute geraten wir in Verlegenheit, wo wir mit der Kritik anfangen sollen. Bei der Handlung? Sie ist die Ausgeburt einer jeder Kraft verlustig gegangenen Einbildungskraft. Bei den Charakteren? In jedem Wachsfigurenkabinett finden wir echteres Leben. Beim Aufbau? Diese Exposition übertrifft, schier unerhört, aber wahr, die des ‚Oktobertags‘ an Schleuderhaftigkeit. Bei der Sprache? Sie schwankt zwischen übersteigerter Manier des Kaisers, da er noch super grammaticos thronte, und einer zweiten kleinbürgerlichen Manier, der sich kein Blatt der Hausfrau mehr in seinen Romanen aus dem Leben der Hochgebornen befleißigt.“

    Dann geht B. zu einem dritten Stückschreiber, zu  E r n s t  T o l l e r  über, dem „Freund der Tiere, Schätzer der Menschen und Feind der Götter“. Einleitend charakterisiert er dessen Schaffen: „Eine mit Ausdauer des perpetuum mobile sich drehende Grammophonplatte humanitärer Sätze und Leitsätze. Ein Katapult, von dem ein ununterbrochener Regen von Phrasen gegen die Vorwände der bürgerlichen Staatsmoral donnert. Ein Tyrtäus revolutionärer Lieder, deren Sturmesbrausen schüchterne, echte Töne des Dichters überdröhnt. Ein gewissenhafter Hausvater in der Schaubühne als antimoralischer, d. h. unserer überlieferten Gesellschaftsordnung und Moral feindlicher Anstalt. Toller fängt meist mit einer zerstörten Idylle an, wagt Proben ernsthafter Charakterzeichnung. Bald jedoch geht er zum Pathos der Wahlreden über. … Das abwechselnde Duett des politischen Leitartikels und der populären Aufklärungsschriften läßt dann bis zum Schlusse keine künstlerische Gestaltung des Stoffes aufkommen.“ Aus den Stücken beleuchtet B. den „Deutschen Hinkemann“, „welches Drama noch am ehesten von der Liebe zu den Unterdrückten und vom Haß gegen die angeblichen Unterdrücker hervorgebracht“ ist, muß aber auch von diesem bekennen: „So wie Hinkemann empfinden keine deutschen Arbeiter. … So wie in diesem Melodrama reden keine deutschen Proletarier. Von der ersten Szene an: Theaterfiguren, nicht etwa Gestalten, gewordenes Empfindungsleben und Denkspiel eines Literaten.“

    Es folgen nun mehr oder weniger ausführlich jene Dramatiker, die unsere moderne Bühne „mit Stücken versehen“, wie Rehfisch, Brecht und Mehring, diese „beiden Machtpolitiker im Geisteskampf, überzeugt, das beste Beweismittel sei, den Gegner totzuschlagen“, weiter Lampel, Friedrich Wolf, Bruckner, Hasenclever, Bronnen und schließlich Zuckmayer. B. zeigt bei allen sowohl die Verwerflichkeit der dargestellten Ideen als auch die Mängel in künstlerischer Hinsicht. Über  Z u c k m a y e r  mögen einige Sätze hier Platz finden. „K. Zuckmayer ist kein Dichter, er könnte ein ausgezeichneter Komödienschreiber sein, der mit reichlich vorhandenen Mitteln den anständigen Unterhaltungsdrang einer nicht zu anspruchsvollen Zuschauerschaft befriedigte. Im ‚Fröhlichen Weinberg‘ ist ein lustiger zweiter Akt, in dem mit Ausnahme von ein paar unechten sentimentalen und unnötigen ressentimentalen Sätzen alles den Stempel der Echtheit trägt und auf der Bühne wirkliches Leben herrscht. … Der Literat Zuckmayer hegt höhere Ambitionen. Er schickt diesem zweiten einen ersten Akt voraus, der eine schmierige Exposition, und er läßt einen dritten folgen, der in vier simultanen Akten eine üble Schwanklösung bringt. Die Charaktere entstammen entweder dem Simplizissimus oder den ‚Fliegenden Blättern‘. Nicht originell ist die Veräppelung des schwächlichen Übermenschen, aber der symbolische Misthaufen, der ist originell.“ Dann folgen einige Proben, die uns Zuckmayers Ansicht über „Sittlichkeit“ bekunden und seine Auffassung von Freiheit der Liebe, des Gedankens usw. Das Kapitel schließt: „Die Zahl der emsigen Arbeiter in fröhlichen Weinbergen ist Legion. … Das Ganze wäre nicht der Rede und der Schreibe wert, streifte nicht diese frisch-fröhliche Produktion von Stärkemitteln des öfteren das Gewand dramatischer Würde über, hätte sie nicht sogar durch den Kleist-Preis Krönung empfangen. … Wir durchforschten vergeblich die deutsche Schaubühne von heute nach einem Theaterwerk, das in der Geschichte, in dieser auf der Szene zu erneuernden, nie abgeschlossenen, stets lebendigen Handlung, die Väter: die Überlieferung, die Besinnung auf die Wurzeln des nationalen Daseins fände; ein Drama, das diesen seinen würdigsten Stoff mit kongenialen Geiste, Leben wiederschaffend, durchdränge. Wohl reiften und reifen bei Dichtern, die abseits vom Trubel verharren, einige über die Zeit hinausblickende Werke. Doch unter den Kassenstücken, den Klassenstücken, den Massenstücken werden wir nichts davon antreffen. Die Schaubühne ist, traurig genug, zur Anstalt, und dreifach beklagenswert, zur antimoralischen Anstalt geworden.“

In: Schönere Zukunft. Nr. 9, 29.11.1931, S. 201ff.


  1. Siehe auch Nr. 7 und 8 der „Schöneren Zukunft“!