Marianne Pollak: Vom Reifrock zum Bubikopf. Revolution und Mode
Die Mode ist seit jeher die besondere Domäne
der Frau gewesen. Durch Schminke und Haartracht, durch Halsausschnitt und
Faltenwurf haben die Frauen jahrtausendelang verstanden, dem Mann zu gefallen.
Die Tracht ist vor allem ein lebendiger und sinnfälliger Ausdruck der
jeweiligen E r o t i k einer Zeit. Immer haben Revolutionsepochen in
der Geschichte strenge Kleiderordnungen gelockert und einer ungezwungenen und
freieren Kleidung Raum geschaffen. Denn das Kleid ist zugleich eines der
wichtigsten Mittel der K l a s s e n s
ch e i d u n g. Jede neue Mode geht von der herrschenden Schicht in der
Gesellschaft aus, die darauf sieht, daß die Masse des Volkes ihr es in Schnitt
und Ausführung der Gewänder nicht gleichtue. Die höhere Vernunft der
menschlichen Kleidung aber liegt schließlich in ihrer Z w e ck m ä ß i g k e i t, indem sie den
Körper vor Wetterunbill schützt und den Gebrauch der Glieder nicht hemmt.
Als am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts
Europa, aus der Enge bäuerlicher und zukünftiger Wirtschaft erwachend, die
grandiose Entwicklung zum Welthandel durchmachte, da brach eine Zeit
ungehemmter Lebensfreude für die besitzenden Klassen an: die R e n a i s s a n c e. Die grobe, die
Körperformen entstellenden und verhüllenden Trachten des asketischen Mittelalters waren kein richtiges Kleid für
den machterfüllten Handelsherrn, dem die Schätze des Erdballs zuströmten. Die
reiche Bürgersfrau der Renaissance – Rubens hat ihr unvergängliches Porträt
geschaffen – trug nicht nur bei Festlichkeiten, nein auch daheim, ja auf der
Straße und selbst in der Kirche, unter den Augen der Geistlichkeit, den
tiefen B r u st a u s s ch n i t t. Weit
ausladende W u l st e n r ö ck e verbreiterten die Hüften durch Umlegen von
schweren Stoffrollen, die nicht selten bis zu fünfundzwanzig Pfund schwer
waren. Obendrein wurde die weibliche Brust mit Hilfe des Mieders, ja oft durch
Wattierungen hervorgehoben. Strotzende Kraftfülle war das Schönheitsideal der
Renaissance.
Im darauffolgenden Zeitalter der
uneingeschränkten Macht des Landesfürsten wurde sozusagen der angedeutete
Körper modern. Die Renaissance hat das Starke und Nackte geliebt. Das R o k o k o
schwärmt für das Zarte und Ausgezogene. Der französische Hof wurde das
Modevorbild für ganz Europa, Ludwig XIV., „der größte Komödiant der
Gottesgnadenidee“, der erste Geck seiner Zeit. Die Mode spiegelt die
ökonomischen Verhältnisse sehr deutlich wieder. Da im A b s o l u t i s m u s eine ganz besonders schroffe Klassenscheidung
die Masse der arbeitenden Untertanen von der Gesellschaft der herrschenden
Genießer trennte, machte die vom Adel ausgehende Mode den Körper zu jeder Art
Arbeit völlig untauglich. Die Damen in ihren unnatürlich hohen S t ö ck e l s ch u h e n, mit ihren W e s p e n t a i l l e n und riesenhaften R e i f r ö ck e n – eine Fortführung des
Wulstenrockes der Renaissance – konnten sich nur gravitätisch und tänzelnd
fortbewegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Vorbild war ja auch
die majestätische Steifheit des Monarchen, und oberstes Sittengesetz jener
Tage, da die „Gesellschaft“ dem Abgrund entgegentaumelte, war: Körperliche
Arbeit schändet.
Wieder stößt eine große geschichtliche
Umwälzung die steifgraziösen Formen des Rokokos um: d i e
f r a n z ö s i s ch e R e v o l
u t i o n. Die Adeligen in ihren Allongeperücken und edelsteinbesetzen Jabots,
die gebrechlichen Luxuspüppchen königlicher Sinnenfreude mußten ihre gepuderten
Köpfe auf der Guillotine lassen. In wilden Sturm fegte das Pariser Volk durch
die Gassen. Dazu kann man keine Reifröcke brauchen. Die fließenden Gewänder der
Antike wurden die Revolutionsmode: das E
m p i r e, die m i e d e r l o s e g r i e ch i s ch e T r a ch t der Tunika, die, unter der Brust
abgebunden, in weichen Falten den Körper schmeichlerisch umfließt.
Die regungslosen Jahre des V o r
m ä r z , vom Wiener Kongreß bis 1848, und nach einem kurzen Revolutionsrausch
die R e a k t i o n der fünfziger Jahre sind in der Frauenmode
die eigentliche B l ü t e z e i t d e s
K o r s e t t s. Der weibliche Körper wird – gleich dem menschlichen
Geist – in der unsinnigsten Weise eingeschnürt und mißhandelt. So wie der bis
oben zugeknöpfte Mann in Zylinder und steifer Halsbinde als das Symbol
staatserhaltender Zuverlässigkeit galt, so die Frau mit ihrer eingepreßten
Taille und der Unzahl der gestalteten Unterröcke, die endlich zum Ungetüm
der K r i n o l i n e entarteten: sie sollte in jeder Lebenslage
würdig und geruhsam erscheinen.
Was folgt, ist nur eine Änderung im
Verunstalten der natürlichen Formen. Als die Krinoline in ihrem grotesken
Umfang nicht mehr überboten werden konnte, wurde das Drahtgestell zum alten
Eisen geworfen. Aber das Mieder blieb und behauptete seine Macht noch durch
mehr als fünf Jahrzehnte. Erbarmungslos mußte jede Frau, die etwas auf sich
hielt, in den Schnürleib, und die Mode
verlangte von ihr, sich in der wahnwitzigsten Weise zusammenzupressen. Geraffte
Röcke mit der besonderen Pikanterie des Cul de Paris wurden letzte Mode. F e st
s i tz e n d e „T a i l l en“, in denen
obendrein noch Fischbeine sonder Zahl eingenäht waren, machten jeden freien
Atemzug unmöglich. Die Alltagskleidung war hochgeschlossen; bis zum Hals hinauf
quälten Steifheit und Enge. Nur im Ballsaal durfte die Dame im tiefen
Ausschnitt erscheinen.
Es ist kein Zufall, daß die niederträchtige
Herrschaft des Mieders wieder erst durch eine geschichtliche Epoche des U m st u r z e s gebrochen werden konnte. Unser eigenes
Geschlecht ist Zeuge und Nutznießer der tiefgehenden R e v o l u t i o n i e r u n g d e r
F r a u e n m o d e geworden.
Noch vor zwanzig Jahren war es im Bürgertum
bis tief hinein in die Reihen der Arbeiterschaft gang und gäbe, den Töchtern
Stück für Stück eine Ausstattung vorzubereiten und anzuschaffen. Aber wie hat
diese W ä s ch e ausgesehen! Da wurde meterlang Zacke um Zacke
für den Hemdansatz mit der Hand geschlungen, solide schwarze Strümpfe
eingekauft, steifsitzende, geschwungene Miederleibchen, die gerade nur den Hals
freiließen, zugeschnitten und flaumiger Flanell zu Unterröcken verarbeitet. Man
stelle sich nur ein Sportsmadel von heute mit einem solchen Flanellunterrock
vor!
Nicht anders ist es um die F r i s u r
bestell. Nur mit grenzenlosem Staunen kann man der vielen „Einlagen“
gedenken, die für einen ordentlichen Schopf notwendig gewesen sind. Sie waren
der letzte Ausklang jenes Perückenmonstrums, das die Damen des achtzehnten
Jahrhunderts auf ihren – leeren! – Köpfen spazierengeführt hatten und das mit
den verrücktesten Symbolen aller Art schwer behangen war: der „Fontange“. Die
Schopfeinlagen um die Jahrhundertwende und später – Kopfmatratzen hat man sie
in gerechtem Gott genannt – haben zwar nicht mehr die stattliche Höhe eines
Meters erreicht wie ihr Vorbild, aber sie waren darum nicht weniger ungesund
und machten das freie Ausatmen der Kopfhaut unmöglich. Jedes Haar mußte bei der
morgendlichen Frisur fein säuberlich über den Wulst gelegt werden, um die
künstliche Unterlage ordentlich zu verdecken. Und doch verschob sich der Bau
bei jeder unvorhergesehenen Bewegung! Wie ungern entschloß man sich in jenen
Tagen, das Haar am Nachmittag ein zweitesmal zu frisieren. Es war eine wirklich
zeitraubende und schwierige Beschäftigung. In der rhythmischen Frauenturnstunde
von heute könnte eine Dame mit auffrisiertem Schopf nicht mittun . . .
Der K r
i e g, der unsere Männer in die Schützengräben zwang, hat der Frau alle Gebiete
des Arbeitslebens geöffnet. Sie fand Einlaß im Ministerium und in der
Munitionsfabrik, kam zum Schreibtisch und auf den Kutschbock, ins Geschäft und
in den Straßenbahnwagen. Überall mußte weibliche Arbeitskraft den eingerückten
Mann ersetzen, ja es war die Frauenarbeit allein, die den halbwegs geregelten
Fortgang der Wirtschaft möglich gemacht hat. Diese Zeit der unerhörtesten
Kraftanspannung, des Hungers und der schamlosen Unterordnung der arbeitenden
Menschheit unter das Gesetz des Massenmordes hat die bis dahin schlafenden
Frauen zum Erwachen gepeitscht: Sie haben arbeiten müssen – und diese Arbeit
hat sie denken gelehrt!
Und wieder hat eine Revolution mit eisernem
Besen alte, strenge, steife Modeformen weggefegt. Wieder ist eine
Revolutionsmode aufgetaucht. Aber diese letzte grundlegende Wandlung in der
Frauenmode mußte sich – obwohl noch immer von Pariser und Londoner Modekönigen
ausgehend und von ihnen ausgebeutet – wohl oder übel doch der geänderten
gesellschaftlichen Funktion des weiblichen Geschlechts anpassen und d a s
K l e i d d e r a r b e i t e n d e n F r a u
schaffen: Das beengende Mieder ist verschwunden, der Hals frei, der Rock
gekürzt und das lange Frauenhaar geschnitten.
Ist auch das nur ein revolutionärer
Augenblickseinfall der wankelmütigen Modegöttin? Gewiß, in der kapitalistischen
Wirtschaft wird der gesellschaftliche Geschmack in kurzen Zwischenräumen
Extremen zugetrieben, um den Absatz künstlich zu steigern. Aber k u r z e r
R o ck, f r e i e r H a l s,
l o s e T a i l l e u n d
B u b i k o p f, diese vier wesentlichen
äußeren Merkmale der modernen Frauenerscheinung, gehen über die gewöhnlichen
Modeschöpfungen weit hinaus. Denn zum erstenmal verbindet sich hier der Wunsch
nach Schönheit mit wirklicher Zweckmäßigkeit.
Für das Verwurzeltsein der heutigen
Frauentracht in dem gesellschaftlichen Prozeß der Revolutionierung, der ganz
besonders die Frau erfaßt, ist es bezeichnend, daß heute der M a n n
auf dem Gebiet der Kleidung rückständiger ist. Er bleibt bei dem
dunklen, dicken und dumpfen „Anzug“, dessen Weste, ein sinnlos gewordenes
Überbleibsel, überhaupt nur dazu dient, daß sich kein Lufthauch bis zur Haut
verirre. Auch der im Kriege aus Sparsamkeitsgründen zeitweilig verschwundene
steife Kragen taucht immer öfter wieder auf und ist heute schon wieder das
Sinnbild der Respektabilität geworden.
Die Frauen sind in ihrer Kleidung
fortschrittlicher. Die heutige Mode entspricht wirklich den Anforderungen der
Zeit. Wie herrlich können unsere Mädel in ihren kurzen Röcken laufen und
springen! Wie natürlich schön ist es, wenn ihre losen Haare im Winde flattern!
Wieviel leichter und gründlicher ist heute die Pflege und Reinigung der Haare!
Wie praktisch ist der Bubikopf beim Sport, bei der Arbeit, in der Küche! Wie
angenehm für die arbeitende Frau, sich bücken und wenden zu können, ohne daß
Schnürbänder ihr den Magen zusammenpressen! Bei allen diesen großen praktischen
Vorzügen entbehrt die moderne Frauenkleidung aber keineswegs der Grazie. Sie
ist schön, weil sie vernünftig ist. Diese Elemente des Fortschritts wird keine
Laune der Mode, kein Interesse des Konfektionskapitals mehr vollständig aus der
Frauenkleidung zu tilgen vermögen. Und diese Errungenschaften der Freiheit des
menschlichen Körpers soll uns keine Reaktion, die die Frauen zurück in Kirche,
Küche und Mieder pressen will, mehr rauben!
In: Arbeiter-Zeitung, 5. Dezember 1926, S. 10.