Monotonisierungsdebatte

Als Vorspann zu dieser 1925 v. St. Zweig im Neue Freie Presse-Feuilleton entfachten, dem Amerika(nismus)-Diskurs der Zwischenkriegszeit zuzuschlagenden Diskussion zu nennen sind u.a. F. Saltens Radio-enthusiastischer Neujahrsbeitrag Moderne Wunder (NFP 1.1.1925) bzw. die Rez. zu Alice Salomons Reisebericht Kultur im Werden von H. Scheu-Riesz, der zufolge mit der Zäsur Erster Weltkrieg der (Aber-)Glaube, „daß die Europäer […] eine höhere Kultur besitzen als die Amerikaner“, obsolet geworden ist: Angesichts der nur mehr von „kulturellen Leistungen der Vergangenheit“ zehrenden u. sich in Nationalismen („Atomnationen“) aufreibenden europ. „Kultur im Vergehen“ fordert Sch.-R. provokant die „Einwanderung von Pilgervätern an die verwilderten Gestade von Europa“, um „hier die Urwälder des Aberglaubens, der Vorurteile, des unfruchtbaren Hasses und der hartnäckigen Feigheit [zu] lichten“ u. die „Gemeinschaftsideale der Treue, des Dienstes und der Wahrheit auf[zu]richten“ (NFP 24.1.1925). Eine Woche später äußert sich Zweig skeptisch zur von den USA überschwappenden „Welle der Einförmigkeit“, der er den v. Russland herdrängenden „Wille[n] zur Monotonie“ als Pendant an die Seite stellt. Die Monotonisierung der Welt als das „entscheidendste Phänomen unserer Zeit“ wird mit Hinweis auf v.a. den „herdenhafte[n] Geschmack“ in Sachen Tanz, Mode und Kino veranschaulicht. Z.s Ausführungen zeugen von Wehmut über den Untergang der ‚Welt von gestern‘, lassen sich aber nicht mit platt-reaktionärem Kulturkonservativismus identifizieren: Die geistigen Eliten werden angehalten, „sich nicht [zu] vergeuden in prahlerische Distanzierungen“, sondern ‚äußerlich‘ teilzuhaben an der neuen (technisierten) Welt, die begrüßenswerte „Bequemlichkeiten“ bietet (s. Verkehrswesen). Besorgt zeigt sich Z. aber über ‚innerliche‘ Umstellungen, d.h. über die sukzessive Installierung einer „Massenseele“, die anfällig für polit. Manipulation sei: Der Weltkrieg und die Amerikanisierung sind demnach Phasen der „Selbstaufgabe“ des kritischen Individuums (NFP 31.1.1925). Die gegen „Trauerreden, wie die von Stefan Zweig“ zielende Replik F. Saltens begrüßt „eine Nivellierung […] nach oben“, indem S. bs. das Kunst-demokratisierende Potenzial v. Kino u. Radio u. deren ‚aufklärerische‘, ‚völkerverbindende‘ Wirkung („der Banause in Wien oder Berlin hat niemals vorher einen so deutlichen Begriff von Amerika gehabt wie heute“), unterstützt v. verkehrstechnischen Neuerungen (Luftfahrt), hervorkehrt (NFP 8.2.1925). A.T. Leitich bricht in ihrer Stellungnahme eine dezidiert(er) philo-amerikanistische Lanze für Amerika (vgl. NFP 25.3.1925), obgleich L. z.B. im Roman Ursula entdeckt Amerika (1928) bei der für amerikakritische Reden typ. Dichotomie amerik. Zivilisation (Vermassung) vs. europ. Kultur (Individualismus) letztere tendenziell favorisiert.

An Zweigs Essay knüpft 1928 auch E. Lothar in der Kulturbund-Rede Boykott des Gefühls an, der ‚Monotonisierung‘ als Kennwort für die Zwischenkriegszeit diskutiert (vgl. Unterberger: Auftakt).


Quellen und Dokumente

Helene Scheu-Riesz: Kultur im Werden. In: Neue Freie Presse (24.1.1925), S. 11.

Felix Salten: Moderne Wunder. In: Neue Freie Presse (1.1.1925), S. 1-3.

Stefan Zweig: Die Monotonisierung der Welt. In: Neue Freie Presse (31.1.1925), S. 1-4.

Felix Salten: Monotonisierung der Welt? In: Neue Freie Presse (8.2.1925), S. 1-3.

Ann Tizia Leitich: Ein Wort für Amerika. Noch einmal „Monotonisierung der Welt“. In: Neue Freie Presse (25.3.1925), S. 1-4.

Literatur

Robert B. MacFarland: Amerika in Wien, Wien in Amerika. Felix Saltens Antwort auf Stefan Zweigs „Monotonisierung der Welt“. In: Siegfried Mattl/Werner Michael Schwarz (Hgg.): Felix Salten. Schriftsteller – Journalist – Exilant. Wien: Holzhausen 2006 (= Wiener Persönlichkeiten; Bd. 5), S. 154-161, ders.: Migration as Mediation. Neue Freie Presse American Correspondent Ann Tizia Leitich and Stefan Zweig’s „Die Monotonisierung der Welt“. In: Seminar: A Journal of Germanic Studies 42 (2006), Nr. 3, S. 242-260, Rebecca Unterberger: „Amerika, du hast es besser“? ‚Reisebeschreibung‘ aus der Neuen Welt. In: Primus-Heinz Kucher/Julia Bertschik (Hgg.): „baustelle kultur“. Diskurslagen in der österreichischen Literatur 1918–1933/38. Bielefeld: Aisthesis 2011, S. 125-158, dies.: Auftakt: Ein janusköpfiges Jahr. In: Julia Bertschik u.a.: 1928 – Ein Jahr wird besichtigt. Wien: Sonderzahl 2014; P.H. Kucher über Arthur Rundt. In: Literatur und Kritik, H.513/14, Mai 2017, S.99-109.

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