Felix Salten: „Ein großer amerikanischer Erzähler.” Theodor Dreiser.
Leute, die ihn persönlich
kennen, schildern Theodor Dreiser als einen gar nicht frohen, ja als einen
grämlichen, unwirschen Mann. Und nach dem Erscheinen seiner Bücher, die der
Paul-Zsolnay-Verlag in die deutsche Sprachgemeinschaft eingeführt hat, wurden
einige beachtenswerte Stimmen laut, die erklärten, Dreiser sei eigentlich kein
Dichter. Er selbst schrieb einmal den Satz: „Es gibt zu viel Religion in der
Welt.“ Dieser Ausspruch, derart zitiert, ganz für sich allein, ohne
Zusammenhang mit allem, was vorhergeht und was folgt, klingt merkwürdig
nüchtern. Ein Mann wird da sichtbar, auf den die Schilderung flüchtiger
Besucher zu passen scheint, eine unfrohe, verdüsterte, pessimistische Personnage,
die dem hell-heitern, optimistischen Wesen der Amerikaner schroff entgegensetzt
ist. Hernach liest man die Stelle: „Siehst du den nahenden Morgen? Dann freue
dich. Und wenn du an seinem Licht erblindest -, freue dich auch. Du hast
gelebt.“ Jetzt steht ein anderer vor uns. Einer, der weder unwirsch noch
trübselig ist, sondern nach schwerem Ringen mit der ganzen tragischen und
humorigen Buntheit des Daseins aufrechtgeblieben an diese Welt glaubt. Die
Vermutung ergibt sich, es könne um die Schilderung von Dreisers Persönlichkeit
ebenso bestellt sein, wie um Zitate, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden.
Jemand hat ihn einmal besucht, ein anderer hat ihn irgendwo getroffen, und nun
schildern sie Theodor Dreiser nach dem Eindruck dieser halben Stunde, die gar
keinen Zusammenhang mit seinem Leben, mit seinem Arbeiten, mit dem Geheimnis
seines Temperaments aber seines Schicksals besitzt. Was liegt daran? Das
Charakterbild berühmter Männer wird immer verfälscht. Wissentlich oder
unwissentlich. Meist unwissentlich. Aber die Geschichte wimmelt ja von
Fälschungen. Falsche Bildnisse, falsch beleuchtete Tatsachen, daraus setzt sich
die Historie der Menschheit zusammen. Was ist Wahrheit? hat schon Pilatus
gefragt. Wer richtig zu lesen versteht, wem Intuition gegeben ist, wird der
Wahrheit nahe kommen. Seiner eigenen Wahrheit, die aus seinem persönlichen
Empfinden, aus dem Grad seines persönlichen Ahnungsvermögens entspringt. Und es
kann, vielleicht, manchmal, die wirkliche Wahrheit sein.
Sollen wir ernsthaft darüber streiten, ob Theodor Dreiser
ein Dichter ist? In deutschen Bezirken herrschen sonderbare Ansichten über das
Wesen des Dichters. Einer schreibt Versdramen oder Lyrik, die in Prosa
aufgelöst, das prosaisch Landläufige, das Belanglose seiner Arbeit offenbaren,
doch er gilt, wenigstens eine Zeitlang, als Dichter. Der andere schreibt
Luftspiele oder Späße, und kein Mensch nennt ihn einen Dichter, weil er
Heiterkeit erregt, weil einer, der sein Publikum zum Lachen bringt, in
Deutschland sehr selten und sehr ausnahmsweise ernst genommen wird, weil man,
während man lacht, gar nicht merkt, gar nicht darauf achtet, aus welchen
tragischen Untergründen der Humor sich entwickelt. Also hat man auch nur wenig
Organ, hat nur wenig traditionelles Verstehen für die edle Seelenhaftigkeit
einer Leistung, die tragische Konflikte vom Rand des Todes, von der Finsternis
des Abgrundes in die Sonne des Lebens rückt. Es bleibe also unerörtert und
ungesagt, ob Theodor Dreiser ein Dichter ist, wie es ja gleichgültig bleibt, ob
man ihn einen Dichter nennen will oder nicht. Keineswegs mir allein, vielen
tausenden deutschen Lesern gilt er, seit seine Bücher vorliegen, als eine
außerordentlich wertvolle Bereicherung unserer geistigen Güter, als eine große
Erscheinung, die man zu den großen Erscheinungen der letzten Jahre stellen muß,
zu denen, die aus dem englischen Sprachbereich zu uns kamen, zu John Galsworthy
und Joseph Conrad. Dieses Dreigestirn, Conrad, Galsworthy und Dreiser, ergänzt
durch den genialen Jack London, durch den sanften Stevenson, den radikalen
Upton Sinclair und den prächtig unterhaltsamen Sinclair Lewis bilden ein längst
schon notwendiges Gegengewicht zur zermalmenden, auflösenden Dichtung der
Russen. Je tiefer diese englischen und amerikanischen Erzähler in das Bewußtsein
deutscher Leser eindringen, je stärkeren Eindruck sie üben, eine um so
gesündere Reaktion bewirken sie nach der Jahrzehnte dauernden Vergiftung der
deutschen, der europäischen Seele durch Tolstoi und Dostojewski. Freilich,
Tolstoi und Dostojewski, so wenig angebracht es immer auch sein mag, die beiden
durch das „und“ miteinander zu verbinden, diese Zwei sind Dichter von
homerischem Rang. Aber welch‘ tiefe Gegensätze die zwei auch trennen, weder die
psychopathische Ethik des einen, noch der mattoide Religionsdilettantismus des
andern lassen sich ins Europäische übersetzen. Vorboten sind sie, alle beide,
einer gewaltigen, einer spezifisch russischen Umwälzung, die nach Europa
übertragen, den Kontinent in einen blutgetränkten Schutthaufen verwandeln würde,
wie sie selbst, diese Vorboten, die europäische Seele in ein hysterisches Chaos
zu wandeln begannen. Nun kommen die großen Erzähler vom Westen her, von
England, von Amerika und es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß sie gerade
jetzt kommen, einer nach dem andern, während Rußlands selbstbefreiendem
Niederbruch, während Rußland in Blut und Not danach ringt, wieder aufzustehen,
immer noch der Welt und immer noch sich selbst ein schicksalsschweres Rätsel.
Diese Erzähler aus dem Westen sind unserem Wesen „verwandt, sie leben in
unserer Welt, sie haben unsere Begriffe; man braucht ihre Schriften nur aus dem
Englischen ins Deutsche zu heben und sie sind restlos, sie sind wirklich
übersetzt. Eine frische, freie Luft weht uns erfrischend und befreiend, aus ihren
Büchern entgegen. Die Welt wird weit vor unseren Augen, die Ozeane schimmern,
erotische Landschaft breitet sich und die Probleme der Menschheit haben nichts
von ihrem Ernst, nichts von ihrer Tragik und Tiefe verloren. Keine Spur sarmatisch-asiatischen
Giftes ist in diesen Erzählern, sie sind unsere Brüder, sie sind Helfer und
Wegbereiter für unsere deutschen Romandichter.
Liebt man die Darstellung tragischer Geschicke, und jeder
liebt sie, der nicht in einem wesenlosen Optimismus versumpert ist, dann wird
einem Theodor Dreisers Roman „Eine Amerikanische Tragödie“ kostbarer Besitz.
Ein schmerzhaft wahres Buch, ein Buch, das peinigt und foltert, gegen das man
sich zur Wehr setzt, das einen doch nicht losläßt und von dem man schließlich
überwältigt wird. Zweimal habe ich die Lektüre dieses Buches unterbrochen,
tagelang, habe zweimal, erschüttert und aufgewühlt, nicht gewagt,
weiterzulesen, aus Scheu, noch stärker erschüttert zu werden. Aber während
dieser Tage ging ich umher, vollständig eingesponnen in das Schicksal des
traurigen jungen Menschen der die Hauptgestalt dieser Tragödie ist. Selten,
sehr selten hat eine Existenz, die es im Alltag oder in der Dichtung, mich so
gefangen gehalten und so erregt, wie dieser unglückselige Clyde. Als die
Absicht in ihm erwachte, sich seiner Geliebten zu entledigen, sie um die Ecke
zu bringen, weil sie seinem Aufstieg hinderlich wurde, da mußte ich das Buch weglegen.
Ich hatte Angst, Clyde könne seinen wirren irren Vorsatz ausführen.
Unerträglich war der Gedanke, dieses reizende, opferwillige, schuldlose Mädchen
werde von der Hand eben des Mannes sterben, dem sie sich in vertrauender Liebe
hingegeben hatte. Und diesen armen, einsamen, weltfremden Burschen in
Verzweiflung zu sehen, weil seine Geliebte Mutter werden sollte, weil er
dadurch gezwungen wäre, sie zu heiraten, und weil das alle seine Hoffnungen,
seine neue Liebe zur Millionärstochter vernichten würde, dieses Umgarntsein
einer jungen, leidenschaftlich zur Höhe drängenden Seele, dieses Hineintaumeln
Clydes in Wunschträume, dieses Spielen des Haltlosgewordenen mit
verbrecherischen Möglichkeiten war niederschmetternd. Wie ich das Buch beiseite
legen mußte, um Fassung zu gewinnen, so zwang es mich nach ein paar Tagen, die
Lektüre, in diesem Fall richtiger: das Miterleben, das Miterleiden
fortzusetzen. Und wieder stockte ich vor der Hinrichtung. Das war keine Justiz,
kein Verfahren der irdischen Gerechtigkeit. Ein nüchterner parteipolitischer
Kuhhandel vollzog sich. Und ein junges Menschenleben fiel ihm zum Opfer. Es dauerte
wieder einige Tage, bis ich weiterlas. Fiel dieses Leben wirklich als Opfer
politischer Streber? Wird es keine Gnade geben, im letzten Moment vielleicht?
Es gab dann keine. Theodor Dreiser und sein Roman kennen keine Gnade, kennen
keinen gemilderten Schluß. Nur Tatsachen kennen sie, aus der Welt des
Tatsächlichen gegriffen.
Alle diese Vorgänge aber, um ein Kleines weniger intensiv
geschildert, diese Menschen, um einen einzigen Grad weniger glühend lebendig
gestaltet, und man würde das Buch ruhiger, würde es etwa mit der Gespanntheit
lesen, wie irgendeinen guten Kriminalroman. Man würde nämlich ebenso wenig im
Ernst daran glauben, wie man auch sonst an Kriminalromane nicht ganz glaubt.
Doch hier geht’s gar nicht um Glauben oder Unglauben. Von der ersten bis zur
letzten Zeile regt sich keine Sekunde in uns der leiseste Zweifel an der
grausamen Wirklichkeit dieser Welt, an der entsetzlichen Wahrheit aller
Zusammenhänge und Geschehnisse. In der meisterhaften Komposition dieser drei
Bände, in ihrer virtuosen Architektur erscheint nichts komponiert, spürt man
nirgendwo die Arbeit des Romanarchitekten. Der laufende Sturz aller Ereignisse
vollzieht sich vom Anfang bis zum Schluß mit unaufhaltsamer Notwendigkeit. Und
man begleitet dieses Hinstürzen voll atemloser Teilnahme. Hier ist der Alltag,
den wir alle kennen, durch den wir alle gehen, unberührt, oder die Augen
schließend, wenn die Gefahr droht, zu arg erschüttert zu werden. Hier ist
dieser Alltag und man wird gezwungen, die Augen zu öffnen. Hier ist das Spiel
seiner Zufälle, das Schicksal wird, hier ist seine unbarmherzige Härte, sind
lockende Verführung, hier sind seine Höhen und seine Abgründe. Hier sehen wir
einmal seine Tragödie, eine seiner Tragödien, so genau, als habe ein kundiger
Reporter sie beschrieben, so menschlich durchleuchtet, als sei ein großer
Dichter mit seinem Herzen am Werk gewesen.
Das Amerikanische an dieser Tragödie sind die sozialen
Verhältnisse. Die Straßenbettler-Prophetie von Clydes Vater, sein gutgläubig
stümperndes Predigertum ist amerikanisch. Und amerikanisch ist der krasse
Gegensatz zwischen den Leuten, die zu viel Geld, und denen, die gar kein Geld
haben. Amerikanisch scheint die allgemeine Ansicht, daß Armut eine Schande ist.
Und das Schachspiel politischer Parteien, das die Verwaltung wie die Justiz mit
in seine Kombinationen und Spekulationen wie selbstverständlich einbezieht.
Manches von diesen Dingen, mancher von diesen Zuständen braucht freilich nur
mit anderen Lokalfarben getüncht zu werden und paßt auch, je nach der Farbe,
anderswohin, als nach Amerika. Doch dieses Buch ist amerikanischem Boden
entwachsen, ist von einem amerikanischen Geist ersonnen und von der Urfarbe der
Vereinigten Staaten nicht zu lösen. Ins allgemein Menschliche, ins allgemein
Gültige aber wächst die Tragödie des jungen Menschen, der arm geboren ist, der
mittellos, wehrlos, führerlos und hilflos einer Welt voll Glanz, Luxus,
Schönheit und Freude gegenübersteht. Die Tragödie eines jungen Menschen, der
Leidenschaft und Phantasie genug besitzt, um mit allen seinen Trieben von
dieser Welt des Reichtums in Brand gesteckt zu werden, der hinreichend
sinnlich, unverbraucht und unerfahren ist, um sich, wie man das bei uns nennt,
zu „verplempern“, der dann in Verwirrung gerät und unschuldig schuldig wird. Sehr
viele Leute gibt es, besonders Frauen, die aus Sympathie und Mitleid für die
reizende, ehrenhafte Roberta den jungen Clyde streng verurteilen und ihn ehrlos
nennen. Mag sein, daß sie recht haben, mag auch sein, daß Clyde ehrlos ist,
obwohl er im Grunde jenseits der landläufigen Ehrbegriffe steht. Den Satten und
Baldgesättigten fällt es sehr leicht, eine Ehre zu haben und sie ohne jede
Probe, ohne jede Versuchung zu behalten. Wer aber die Armut kennt, denkt über
diese „ehrenhaften“ und „ehrenwerten“ Leute doch anders. Und wer die bitterste,
schmerzhafteste Armut erlebt hat, die Armut am Rande des Reichtums, in naher
Nachbarschaft des üppigen Schwelgens, muß den unglücklichen Clyde so tief
verstehen, muß sich ihm so brüderlich verbunden fühlen, daß er zu gar keinem
Urteil über den vom Schicksal Vernichteten gelangt, sondern nur zu fieberndem
Erschüttertsein.
Eine amerikanische Tragödie ist auch der andere Roman von
Theodor Dreiser „Jennie Gerhardt“. Aber auch diese Dichtung ragt weit über
ihren Schauplatz hinweg ins Ewigmenschliche. Wie es überall und zu allen Zeiten
junge Männer gibt und gegeben hat, deren Schicksal dem des Clyde Griffith
gleicht, so gab und gibt es überall, zu allen Zeiten Jennie Gerhardts. Jung,
schön, bescheiden und arm. Liebevoll und opfermutig. Hingebend und
pflichtbewusst. Naiv und selbstlos. Ein Spielzeug männlicher Begierden. Dann in
ihrer seelischen Reinheit gefühlt, die Frau, der Männer wirkliche
Herzensneigung entgegenbringen. Sie hat Pech, denn sie ist arm. Immer hat sie
Pech und immer trägt sie ihr Unglück sanft, still, geduldig. Ein reicher
älterer Mann, der sie, ein halbes Kind noch, verführt, will sie heiraten, weil
sich die Folgen einstellen und weil er sie liebgewonnen hat. Er stirbt
plötzlich. Ein junger Mensch aus reichem Hause nimmt sie, reißt sie einfach an
sich, weil ihre Schönheit seine Sinne entfacht; verliebt sich dann in sie,
verzeiht ihr die uneheliche Tochter, die sie von dem älteren Herrn hat, denn
der wollte sie ja heiraten. Dieser junge Mensch lebt mit Jennie wie Mann und
Frau. Jahrelang. Gewöhnt sich an sie, an ihre magdliche Zärtlichkeit, an ihre
Treue, an den Zauber ihrer „schüchternen Seele“ … und vermählt sich zuletzt mit
einer anderen, mit einer Dame aus seinen Kreisen. Jennie bleibt allein mit
ihrer Tochter, die sie durch einen raschen Tod verliert. Den Geliebten sieht
sie nur einmal noch, als sie den Sterbenden bis an sein Ende pflegt. Eine
ergreifende Gestalt, so lebendig, so wahr und so bestrickend wie nur irgendeine
der wunderbaren Frauengestalten in irgendeinem der unvergänglichen Dichterwerke.
Es sind noch einige prachtvolle Gestalten in diesem Buch. Jennies Vater, der
einfache, glaubensstarke, sittenstrenge Deutsche. Jennies Mutter, der alten
Millerin und vielleicht auch der Marthe Schwerdtlein ein bißchen verwandt; vor
allem: Lester, der Geliebte, und das Schicksal ihres Lebens.
Ein Verwandter an Format und Art dieses Lester ist der
Held in Dreisers frühem Romanwerk „Der Titan“. Frank Algernon Cowperwood hat
die frische, draufgängerische Manier, Frauen zu nehmen. Aber er nimmt viele. Er
nimmt sie wie ein Raubtier seine Beute, wie ein kleiner Junge das ersehnte
Spielzeug. Er ist gierig und naiv. Er ist raffiniert und unschuldig. Er hat
einen unbeugsamen Willen, eine Riesenkraft des Herzens wie des Verstandes und
er wirkt wie ein Element. Von Jugend an ist er entschlossen, eine Großmacht in
der Finanzwelt zu werden. Man wirft ihn nieder, man sperrt ihn ein, aber man
kann ihn nicht besiegen. In Philadelphia wird es sein Ruin, daß er die Tochter
eines einflußreichen Mannes verführt hat. Er heiratet sie nach seiner
Scheidung. In Chicago wird er beinahe vernichtet, weil er ein Verhältnis mit
der Gattin eines Finanzmagnaten begann. Er überwindet alles; er ringt auch die
Eifersucht seiner zweiten Gemahlin nieder, die er oft und oft betrügt; er macht
Schluß mit ihr, als er, schon über Fünfzig in leidenschaftlicher Liebe zu einer
Achtzehnjährigen entbrennt. Liebe und Geschäft, Geschäft und Liebe, Erfolg und
Niederlage und trotzdem wieder Erfolg füllen diese drei Bände, die eben
erschienen. In langen, gründlichen Auseinandersetzungen werden gewaltige
Spekulationen, Börsenmanöver, Gründungen und Geldkrisen beschrieben. Wer etwas
von diesen Dingen versteht, wird gespannt und gefesselt sein. Aber auch
diejenigen, denen das Geschäftswesen fremd bleibt, folgen interessiert. Denn in
diesen Kapiteln wird der Aufstieg der U.S.A. von den Sklavereikriegen bis zum
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt. Objektiver und nicht so parteiisch
gefärbt wie in Myers „Entstehung der großen amerikanischen Vermögen.“
Ein bedeutsamer Mann, der mächtige Unternehmungen
beherrschte, sagte mir einmal vor langer Zeit: „Was soll unsereinen an der
modernen Literatur reizen? Es steht nirgendwo etwas von den Dingen, die wichtig
sind, mit denen sich die Welt beschäftigt, nichts von den Kämpfen, Arbeiten,
Entdeckungen und Wagnissen, durch die wir alle eigentlich vorwärts kommen.“ An
diesen Mann muß ich jetzt denken. Wenn er noch lebte, er hätte sich am „Titan“
gefreut.
Aber unzählig Lebende werden an sich an Theodor Dreiser
freuen und Unzählige, die nach uns leben, werden an diesem großen Dichter
Erschütterung und Erhebung finden. Mögen heute auch einige der Meinung sein,
Dreiser sei nicht modern, sei eine trockene Wiederholung Zolas, er ist weder
trocken, noch eine Wiederholung, so wenig wie er wahrscheinlich in Wirklichkeit
als Mensch mürrisch ist. Und er bleibt so zeitlos modern, wie alles, was
einfach und tief, wahrhaft und menschlich ist, immer modern sein wird. Er ist
so wahr wie das Leben selbst, so unbarmherzig wie das Schicksal, von so echter
Tragik wie der Tragiker der Antike, so reich an Gestalten wie nur ein wirklicher
Schöpfer; er liebt die Menschheit, glaubt an die Zukunft, wie nur ein großer
Dichter zu glauben und zu lieben vermag. Und sein Feld ist die junge
amerikanische Erde, die so reich ist an Erlebnissen und Dramen des Alltags, daß
sie ganz natürlich ihre eigenen, großen Dichter hervorbringen muß. Heute gehört
Theodor Dreiser zu den stärksten dichterischen Erscheinungen der Welt und
„drüben“ scheint er vorläufig der weitaus stärkste zu sein.
In: Neue Freie Presse, 7.10.1928, S. 1-4.