Ann Tizia Leitich: Gasolin-Nomaden. Amerikanische Wandervögel im Automobil

            Sie waren mir schon neulich aufgefallen, auf dem herrlichen Chrystal Park Highway, der beständig steigenden Automobilstraße, die sich zwischen den Zinken der Rocky Mountains hindurchwindet. Und ich sah sie den nächsten Tag wieder auf dem Sky Line Drive, der das Raffinierteste ist, das Auto, Mac Adam und die Landschaft mitsammen ausgeheckt haben: eine Betonautostraße, die am Grat eines Bergzuges hinbalanciert und das Land links und rechts unter sich läßt wie ein Luftschiff. Immer fand ich sie hinflitzend neben den touristenbeladenen und doch behenden Autobussen.

            Fast sahen sie aus wie wandernde Zirkusleute: Wettergepeitscht die Wagen, staubbedeckt; rückwärts hatten sie, wenn es ging, einen Koffer aufgeschnallt und seitwärts auf dem Trittbrette waren große Segeltuchpakete verstaut. Manchmal sah dies sportmäßig genug aus; oft aber war die Packung nachlässig, Decken guckten heraus, Kochtöpfe, Tischbeine. Im Innern des Wagens – denn immer ist es ein geschlossener Car, weil es unter tausenden in Amerika kaum einen offenen Touringcar gibt – ein Gewirr von Köpfen: die ganze Familie ist auf der Reise. Wände und Fenster sind beklebt mit buntem Zettelwerk: „Willkommen in Zion National Park!“ „Laßt es euch wohlergehen in Mammoth Camp -“und noch andere Aufschriften. Ja, so weit waren sie schon herumgewesen; denn dies sind die „Tin-can“-Touristen (von tin-can = Konserve). Die Sage-Brusher oder, ins Deutsche übersetzt, die Gasolinnomaden, die Wandervögel im Automobil.

            Sie brauchen keine Eisenbahn, keine Hotels, keine Garage; die brauchen nichts als Gasolin; und Straßen. Mit beidem versorgt sie Onkel Sam – so nennt der Volksmund die USA. Denn die Gasolinstationen dringen in die einsamsten Gebirgsgegenden vor, so weit eben die Straße läuft. Und die läuft weit dahin und hoch hinauf. Es ist immer wieder ein Erlebnis für den Europäer, zu sehen, wie viel Hunderte und Tausende von Kilometern herrlicher makadamisierter Straßen es in Amerika gibt, nicht nur in der Umgebung von Industriezentren, sondern bis hinein in die gottvollste Wildnis. Manche folgen, gleich den Eisenbahnen, den alten Indianerwegen, den alten Kampwegen; „trails“ heißen sie im amerikanischen, wie jeder Karl-May-Leser weiß: Der Apache Trail, der Sunset Trail, der Uta Trail. Viele Millionen von Dollars geben die amerikanischen Staaten jährlich für die Straßen aus, denn je mehr ein Staat von sich hält, desto größeren Stolz setzt er in seine Straßen. Und jung wie sie sind, halten sie alle viel von sich.

            Indem sich die Straße dem Automobilisten zur Verfügung stellt, erschließt sie den Augen der Menge die gloriosesten, die mächtigsten Bilder der amerikanischen Landschaft. Es gibt solche, die da sagen werden: Entweihung! Vielleicht würden sie sich aber bedenken, wenn sie wüssten, daß auch sie anders als auf der Automobilstraße diese Schönheiten nie erreichen könnten, weil es zu kostspielig wäre, zu langwierig, zu umständlich, denn weder unsere Geduld, noch unsere Herzen sind die der alten Trapper und Pioniere. Und wer die Natur allein für sich haben will, hat mehr Gelegenheit denn je: ein paar Schritte weg von der Straße und er findet sie unberührt, ursprünglich und einsam.

            Die großartige Einsamkeit der amerikanischen Landschaft hat etwas Düsteres, manchmal sogar Fürchterliches. Drei Tage und drei Nächte westlich von Newyork gibt es nichts als lachende, langweilige weizen- und maisbebaute Ebenen. Aber hinter Denver in Kolorado, bis zum Pazifischen Ozean, entfaltet sich eine Herrlichkeit des Gebirges, eine Mannigfaltigkeit der Formen und Erscheinungen, eine Perlenreihe von großartigen Gegensätzen, wie sie Europa in dieser Vielfalt nicht aufzuweisen hat. Was sollen überhaupt vergleichende Worte: So sehr Vergleiche zwischen der amerikanischen Psyche und der europäischen immer hinken werden, so wenig läßt sich die amerikanische Landschaft mit Ausdrücken werten, die für die europäische gelten. An ihrer fürstlichen Einsamkeit vermögen auch Autos und Menschen nichts zu ändern; unberührt thront sie darüber; sie lädt nicht zum Verweilen.

            Vielleicht kommt daher die Ratlosigkeit – die allerdings ohne jeden philosophischen Beigeschmack ist – die dem Amerikaner im Blut sitzt; vielleicht ist deshalb Ford der reichste Mann der Welt; deshalb das sommerliche Amerika überschwemmt von diesen modernen Nomaden, den Tin-can-Touristen, die sich auf dem Vehikel der vielgeschmähten Mechanisierung eine ungeheure Natur zum zweitenmal erobern und in ihrer Hingegebenheit an die Köstlichkeit der „great open spaces“ sogar auf den vielbewitzelten Grundstein amerikanischer Zivilisation, das Badezimmer, verzichten. Sie interessierten mich, braungebrannt, abenteuerlustig, oft grotesk, wie sie waren. Ich ging hinzu, wenn sie kampierten, photographierte sie, kam ins Gespräch; wurde zu ihren improvisierten Mahlzeiten eingeladen. Denn das ist eine einfache Sache bei ihnen, für sie gehören alle zur Familie, denn alle tummeln sich auf demselben großen, herrlichen Spielplatz.

            Im Paradiestal Auto-Camp standen viele Hunderte – vielleicht waren es auch Tausende – von Cars auf einer Lichtung mitten im Hochwald, im Angesichte des vergletscherten Mount Rainier. Es war gegen Abend und es war kühl nach einem prachtvollen Sonnentag auf über 2000 Meter Höhe. Das Camp machte den Eindruck eines Feldlagers, eines Volksstammes auf der Wanderung. Männer und Frauen in Khaki-Knickerbockers und Blusen; manche der Frauen in einer beispiellosen Dreß-Melange: Knickers und Seidenbluse und darüber einen alten, halblangen Zibetkatzen-Pelzmantel. Das war „Mainstreet“ auf der Tour.

            Zelte wurden aufgeschlagen, Decken, Schlafsäcke aufgerollt, Tische, Stühle, Feldbetten aufgestellt. Manche der Autos blieben frei stehen, über andere wird die Hälfte des Zeltes gezogen, so daß Zelt und Auto ein Appartement für sich bilden. Der Kerosinofen wird instand gesetzt oder ein offenes Feuer entzündet; schon schlängelt sich blauer Rauch in die dünne, scharfe, herrlichstille Luft, zwischen den wettergepeitschten Kiefern empor; das frische Holz knistert und duftet; der Hund, der im Wagen mitkam, umwedelt die Kochkiste; die Kinder necken ein Murmeltier, das, offenbar zahm geworden durch die vielen Besucher des Sommers, ganz nahe ans Feuer herankommt; der Herr des Hauses – Verzeihung, des Automobils – schuppt eine große Seeforelle, die er, in hohen Kautschukstiefeln bis übers Knie im Wasser stehend, heute nachmittag gefangen hat. Fischen ist frei in allen Nationalparks, und dieses ist der Rainier National Park im Staate Washington. Seine Frau steht bei einem Baum mit einem Becken, sie dreht einen Hahn – fürwahr, es kommt Wasser aus dem Baum, denn der Brunnen ist eine der Gaben des Auto-Camps für seine Gäste; die Katze schleicht ihr nach, denn nicht einmal sie hat man zu Hause gelassen.

            Es ist ein junges Paar, das mich auf Forellen mit Rohscheiben und gebackenen Konservenbohnen eingeladen hat. Sie haben weder Kind noch Katze und Hund, aber dafür die smarteste Campausrüstung, alles Kahki, Aluminium und Rohr; wetterfest, leicht, zusammenklappbar; sie haben sogar einen Eiskasten und eine Badewanne. Sie sind keine Snobs, ganz im Gegenteil, es ist ihnen heiliger Ernst mit diesem Leben. Seit vier Monaten haben sie unter keinem Dach geschlafen, und als sie es das letztemal taten, war es in Phönix, Arizona, wo der Mann, der gelernter Mechaniker ist, vierzehn Tage lag arbeitete, um Geld für Gasolin zu haben, zwanzig Cent die Gallone. Denn viel anderes brauchen sie nicht. Ein Jahr lang sind sie schon so auf der Reise, Winters im Süden, Sommers im Norden, Fische und Beeren ihre Hauptnahrung.

            Während sie noch von den Plätzen erzählten, die sie gesehen hatten, und der junge Mann, an einer kurzen Pfeife nagte, in der weder Feuer noch Tabak war, die Flamme anheimelt prasselte und über den zackigen Silhouetten der nachtdunklen Kiefern die Kolossalfigur des Mount Rainier weißverschleiert wie ein Phantom im Mondlicht aufstieg, begann es plötzlich in die Stille hinein zu quiecken, zu quäcken, zu schnarren. Kein Zweifel, das war Jazz. Und schon stand auch die junge Frau in ihren Khaki-Knickers auf und sagte: „Karl, komm, gehen wir tanzen!“

            Tanzen? Sie hatte wahrhaftig recht. Am anderen Ende des Camps stand das „Community House“, eine Halle aus Balken. Hier gab es Schaukelstühle, ein paar Zeitungen, ein Grammophon. Und die Jugend tanzte. Und Damenwahl und Herrenwahl war ganz unkonventionell. Das Community House gehörte allen sowie das Camp, und es war da, damit man einander kennen lerne. Diese jungen, gebräunten, gesunden Leute zu sehen, die sich hier zusammenfanden – es versöhnte einen fast mit dem Kreischen des Jazz im Angesichte der weißen Majestät Mount Rainiers.

In: Neue Freie Presse, 12.1.1928, S. 1-2.

Béla Balázs: Die amerikanische Atmosphäre

Die Atmosphäre ist wohl die Seele jeder Kunst. Sie ist Luft und Duft, die, wie eine Ausdünstung der Formen, alle Gebilde umgibt und ein eigenes Medium einer eigenen Welt schafft. Diese Atmosphäre ist wie der nebelhafte Urstoff, der sich in den einzelnen Gestalten verdichtet. Sie ist die gemeinsame Substanz der verschiedenen Gebilde. Sie ist die letzte Realität, die letzte Realität jeder Kunst. Wenn diese Atmosphäre einmal da ist, kann die Unzulänglichkeit der einzelnen Gebilde nicht mehr Wesentliches verderben. Die Frage nach dem »Woher?« dieser speziellen Atmosphäre ist immer die Frage nach der tiefsten Quelle jeder Kunst.

Nun, es gibt zum Beispiel, amerikanische Filme, deren Fabelinhalt nichtssagend und einfältig, in denen das Spiel (das mit seiner Gebärden= und Mienenlyrik vieles ersetzen könnte) auch unbedeutend ist und die unser Interesse dennoch von Anfang bis zu Ende wach halten. Das kommt von ihrer lebendigen Atmosphäre. Sie haben jenes dichte, duftige Fluidum des Lebens, das nur die allergrößten Dichter manchmal mit Worten fühlen lassen können. Und dann sagen wir: »man spürt ordentlich den Geruch der Zimmer, wenn Fluaubert [recte: Flaubert] eine Wohnung beschreibt,« oder »es wässert einem der Mund, wenn Gogols Bauern essen.« Siehe, diese sinnfällige, riechbare und schmeckbare Atmosphäre schafft jeder gute amerikanische Regisseur.

Die ganze Geschichte ist vielleicht einfältig, vielleicht auch kitschig=verlogen. Aber die einzelnen Momente sind so warmen Lebens voll, »daß man ordentlich den Duft spürt.« Warum Held etwas tut, das hat oft keinen Sinn, aber wie er es tut, das hat Naturwärme. Das Schicksal der Helden ist leer, aber seine Minuten sind reich gestaltet.

In Wien spielte man unlängst einen sehr unbedeutenden Film von einer unglücklichen Liebe eines Krüppels. Da führt aber einmal dieser lahme Bräutigam seine Braut auf den Jahrmarkt aus. Eine Flut und Brandung von Bildern der Kraft, die den körperlich unzulänglichen Krüppel verschüttet und erdrückt. Es ist ein dünnes Hageln kleiner Momente des materiellen Lebens, daß den schwachen Mann zuletzt töten muß. Es wird eine Atmosphäre geschaffen, in der er erstickt.

Oder das Mädchen geht nachher zu dem Bräutigam um ihm zu sagen, sie wolle ihn nicht heiraten. Doch die Wohnung ist schon zur Hochzeit geschmückt. Die Kränze und Sträuße, die Geschenke und die hundert kleinen materiellen Zeichen einer Zärtlichkeit werden nun einzeln gezeigt. Es entsteht dadurch ein dicker Dunst von Güte um das Mädchen, in dem sie den Weg verliert. Wie sie die vielen kleinen Tatsachen des Jahrmarktes zu einem Fluidum des Lebens verdichtet haben, das der Schwache und Lahme nicht durchwaten konnte, so fühlt man in diesem Hochzeitszimmer das Gewicht der Dinge und Tatsachen dagegen die Seele nicht aufkommen kann.

Das ist jene starke Atmosphäre, die im Film durch die große Rolle und Bedeutung der sichtbaren Dinge entsteht. Diese Bedeutung haben Dinge in der Poesie, welche mehr auf einen abstrakten Sinn eingestellt ist, nicht. Darum kann auch keine Poesie diese spezifische Atmosphäre, dieses »Wesen« der Materie (ein gutes, altes Verbum) schaffen.

Das hat aber noch einen anderen Grund. In der Welt des sprechenden Menschen sind die stummen Dinge viel lebloser und unbedeutender als der Mensch. Sie bekommen nur ein Leben zweiten und dritten Grades, und das auch nur in den seltensten Momenten besonders hellsichtiger Empfindlichkeit der Menschen, die sie betrachten. Auf dem Theater ist ein Valeurunterschied zwischen dem sprechenden Menschen und den stummen Dingen. Sie leben in verschiedenen Dimensionen. Im Film verschwindet dieser Valeurunterschied. Weil sie nicht weniger sprechen als die Menschen, darum sagen sie soviel. Das ist der Rätsel jener besonderen Filmatmosphäre, die jenseits jeder literarischen Möglichkeit liegt.

Es gibt einen Typus amerikanischer Filme, deren einziger Inhalt diese Atmosphäre ist. Keine komponierte Fabel, keine aufgebaute Handlung stört das kontur= und richtungslose Fluten des rein Stofflichen. So sind z. B. die amerikanischen »Mutterfilme«, die in letzter Zeit jede bessere Kunstarbeit in Tränen ersticken.

Wir wollen auf die sozialpsychologischen Gründe dieser neuen Filmmode nicht besonders eingehen. Wie es Zeiten gab, da man Menschen, die sich gegen das irdische Unrecht empörten, auf die himmlische Gerechtigkeit und das himmlische Glück verwies, so lenkt man jetzt die Aufmerksamkeit jener, die mit der Gesellschaftsordnung unzufrieden sind auf das intime Glück der Familie.

 Was das Künstlerische dieser Filme betrifft, so ist es ein ungestaltetes Stimmungsrohmaterial. So ein Mutterfilm, wie dieser, der in Wien eben gespielt wird, ist überhaupt kein Kunstfilm, was uns alle nicht daran hindern wird dicke Tränen zu weinen. Es ist ein Konoreport [recte: Kinoreport] des Familienlebens, ein Lehrfilm, ein Uraniafilm von der Mutterliebe. Er hat keine aufgebaute Fabel, keinen komponierten Text, keine geistvollen spannenden Verwicklungen, keine großen Spielszenen, überhaupt gar nichts, was die Kunst hineingebracht hätte.

Wie ein Uraniafilm uns etwa die verschiedenen Etappen der Zigarettenfabrikation zeigt, so zeigt uns dieser Film die Gemütszustände einer Mutter, die von ihren aufwachsenden Kindern allmählich verlassen wird. Weil man aber selbst eine Mutter hat, oder hatte, so denkt man ihrer mit feuchten Augen.

Es ist eine fertig vorgefundene Naturwirkung, die in diesem Fall benützt wird um die künstlerische Wirkung zu ersetzen. Freilich liegt es in der Eigenart und im Wesen des Films, daß er die Natur als Materie gebraucht. Aber sie hat dieses Material zu verarbeiten, einzubauen in das geistige Gebäude des Kunstwerkes. Natur allein tut es nicht. Edelsteine sind wertvoll, und schön. Zum Kunstwerk werden sie doch nur in der Hand des Goldschmieds.

Mary Carr ist eine große Schauspielerin. Ihr Talent entfaltet sich aber in diesem Film sozusagen gegenstandslos. (Ach wie oft, wie oft geschieht das auf Filmen, wo bedeutende Schauspieler unbedeutende Rollen spielen müssen.) Wie wenn ein Sänger darauf los singt, ohne eine Melodie zu haben. Wir ergötzen uns an dem Material einer herrlichen Stimme, wir sind entzückt von der Naturerscheinung, ihres Talents und sehnen uns danach an den festen Formen eines Kunstwerkes sich emporranken zu sehen.

In: Beiblatt der „Muskete“, Film=Beilage, Jänner 1924, S 1f.

Felix Salten: „Ein großer amerikanischer Erzähler.” Theodor Dreiser.

Leute, die ihn persönlich kennen, schildern Theodor Dreiser als einen gar nicht frohen, ja als einen grämlichen, unwirschen Mann. Und nach dem Erscheinen seiner Bücher, die der Paul-Zsolnay-Verlag in die deutsche Sprachgemeinschaft eingeführt hat, wurden einige beachtenswerte Stimmen laut, die erklärten, Dreiser sei eigentlich kein Dichter. Er selbst schrieb einmal den Satz: „Es gibt zu viel Religion in der Welt.“ Dieser Ausspruch, derart zitiert, ganz für sich allein, ohne Zusammenhang mit allem, was vorhergeht und was folgt, klingt merkwürdig nüchtern. Ein Mann wird da sichtbar, auf den die Schilderung flüchtiger Besucher zu passen scheint, eine unfrohe, verdüsterte, pessimistische Personnage, die dem hell-heitern, optimistischen Wesen der Amerikaner schroff entgegensetzt ist. Hernach liest man die Stelle: „Siehst du den nahenden Morgen? Dann freue dich. Und wenn du an seinem Licht erblindest -, freue dich auch. Du hast gelebt.“ Jetzt steht ein anderer vor uns. Einer, der weder unwirsch noch trübselig ist, sondern nach schwerem Ringen mit der ganzen tragischen und humorigen Buntheit des Daseins aufrechtgeblieben an diese Welt glaubt. Die Vermutung ergibt sich, es könne um die Schilderung von Dreisers Persönlichkeit ebenso bestellt sein, wie um Zitate, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Jemand hat ihn einmal besucht, ein anderer hat ihn irgendwo getroffen, und nun schildern sie Theodor Dreiser nach dem Eindruck dieser halben Stunde, die gar keinen Zusammenhang mit seinem Leben, mit seinem Arbeiten, mit dem Geheimnis seines Temperaments aber seines Schicksals besitzt. Was liegt daran? Das Charakterbild berühmter Männer wird immer verfälscht. Wissentlich oder unwissentlich. Meist unwissentlich. Aber die Geschichte wimmelt ja von Fälschungen. Falsche Bildnisse, falsch beleuchtete Tatsachen, daraus setzt sich die Historie der Menschheit zusammen. Was ist Wahrheit? hat schon Pilatus gefragt. Wer richtig zu lesen versteht, wem Intuition gegeben ist, wird der Wahrheit nahe kommen. Seiner eigenen Wahrheit, die aus seinem persönlichen Empfinden, aus dem Grad seines persönlichen Ahnungsvermögens entspringt. Und es kann, vielleicht, manchmal, die wirkliche Wahrheit sein.

            Sollen wir ernsthaft darüber streiten, ob Theodor Dreiser ein Dichter ist? In deutschen Bezirken herrschen sonderbare Ansichten über das Wesen des Dichters. Einer schreibt Versdramen oder Lyrik, die in Prosa aufgelöst, das prosaisch Landläufige, das Belanglose seiner Arbeit offenbaren, doch er gilt, wenigstens eine Zeitlang, als Dichter. Der andere schreibt Luftspiele oder Späße, und kein Mensch nennt ihn einen Dichter, weil er Heiterkeit erregt, weil einer, der sein Publikum zum Lachen bringt, in Deutschland sehr selten und sehr ausnahmsweise ernst genommen wird, weil man, während man lacht, gar nicht merkt, gar nicht darauf achtet, aus welchen tragischen Untergründen der Humor sich entwickelt. Also hat man auch nur wenig Organ, hat nur wenig traditionelles Verstehen für die edle Seelenhaftigkeit einer Leistung, die tragische Konflikte vom Rand des Todes, von der Finsternis des Abgrundes in die Sonne des Lebens rückt. Es bleibe also unerörtert und ungesagt, ob Theodor Dreiser ein Dichter ist, wie es ja gleichgültig bleibt, ob man ihn einen Dichter nennen will oder nicht. Keineswegs mir allein, vielen tausenden deutschen Lesern gilt er, seit seine Bücher vorliegen, als eine außerordentlich wertvolle Bereicherung unserer geistigen Güter, als eine große Erscheinung, die man zu den großen Erscheinungen der letzten Jahre stellen muß, zu denen, die aus dem englischen Sprachbereich zu uns kamen, zu John Galsworthy und Joseph Conrad. Dieses Dreigestirn, Conrad, Galsworthy und Dreiser, ergänzt durch den genialen Jack London, durch den sanften Stevenson, den radikalen Upton Sinclair und den prächtig unterhaltsamen Sinclair Lewis bilden ein längst schon notwendiges Gegengewicht zur zermalmenden, auflösenden Dichtung der Russen. Je tiefer diese englischen und amerikanischen Erzähler in das Bewußtsein deutscher Leser eindringen, je stärkeren Eindruck sie üben, eine um so gesündere Reaktion bewirken sie nach der Jahrzehnte dauernden Vergiftung der deutschen, der europäischen Seele durch Tolstoi und Dostojewski. Freilich, Tolstoi und Dostojewski, so wenig angebracht es immer auch sein mag, die beiden durch das „und“ miteinander zu verbinden, diese Zwei sind Dichter von homerischem Rang. Aber welch‘ tiefe Gegensätze die zwei auch trennen, weder die psychopathische Ethik des einen, noch der mattoide Religionsdilettantismus des andern lassen sich ins Europäische übersetzen. Vorboten sind sie, alle beide, einer gewaltigen, einer spezifisch russischen Umwälzung, die nach Europa übertragen, den Kontinent in einen blutgetränkten Schutthaufen verwandeln würde, wie sie selbst, diese Vorboten, die europäische Seele in ein hysterisches Chaos zu wandeln begannen. Nun kommen die großen Erzähler vom Westen her, von England, von Amerika und es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß sie gerade jetzt kommen, einer nach dem andern, während Rußlands selbstbefreiendem Niederbruch, während Rußland in Blut und Not danach ringt, wieder aufzustehen, immer noch der Welt und immer noch sich selbst ein schicksalsschweres Rätsel. Diese Erzähler aus dem Westen sind unserem Wesen „verwandt, sie leben in unserer Welt, sie haben unsere Begriffe; man braucht ihre Schriften nur aus dem Englischen ins Deutsche zu heben und sie sind restlos, sie sind wirklich übersetzt. Eine frische, freie Luft weht uns erfrischend und befreiend, aus ihren Büchern entgegen. Die Welt wird weit vor unseren Augen, die Ozeane schimmern, erotische Landschaft breitet sich und die Probleme der Menschheit haben nichts von ihrem Ernst, nichts von ihrer Tragik und Tiefe verloren. Keine Spur sarmatisch-asiatischen Giftes ist in diesen Erzählern, sie sind unsere Brüder, sie sind Helfer und Wegbereiter für unsere deutschen Romandichter.

            Liebt man die Darstellung tragischer Geschicke, und jeder liebt sie, der nicht in einem wesenlosen Optimismus versumpert ist, dann wird einem Theodor Dreisers Roman „Eine Amerikanische Tragödie“ kostbarer Besitz. Ein schmerzhaft wahres Buch, ein Buch, das peinigt und foltert, gegen das man sich zur Wehr setzt, das einen doch nicht losläßt und von dem man schließlich überwältigt wird. Zweimal habe ich die Lektüre dieses Buches unterbrochen, tagelang, habe zweimal, erschüttert und aufgewühlt, nicht gewagt, weiterzulesen, aus Scheu, noch stärker erschüttert zu werden. Aber während dieser Tage ging ich umher, vollständig eingesponnen in das Schicksal des traurigen jungen Menschen der die Hauptgestalt dieser Tragödie ist. Selten, sehr selten hat eine Existenz, die es im Alltag oder in der Dichtung, mich so gefangen gehalten und so erregt, wie dieser unglückselige Clyde. Als die Absicht in ihm erwachte, sich seiner Geliebten zu entledigen, sie um die Ecke zu bringen, weil sie seinem Aufstieg hinderlich wurde, da mußte ich das Buch weglegen. Ich hatte Angst, Clyde könne seinen wirren irren Vorsatz ausführen. Unerträglich war der Gedanke, dieses reizende, opferwillige, schuldlose Mädchen werde von der Hand eben des Mannes sterben, dem sie sich in vertrauender Liebe hingegeben hatte. Und diesen armen, einsamen, weltfremden Burschen in Verzweiflung zu sehen, weil seine Geliebte Mutter werden sollte, weil er dadurch gezwungen wäre, sie zu heiraten, und weil das alle seine Hoffnungen, seine neue Liebe zur Millionärstochter vernichten würde, dieses Umgarntsein einer jungen, leidenschaftlich zur Höhe drängenden Seele, dieses Hineintaumeln Clydes in Wunschträume, dieses Spielen des Haltlosgewordenen mit verbrecherischen Möglichkeiten war niederschmetternd. Wie ich das Buch beiseite legen mußte, um Fassung zu gewinnen, so zwang es mich nach ein paar Tagen, die Lektüre, in diesem Fall richtiger: das Miterleben, das Miterleiden fortzusetzen. Und wieder stockte ich vor der Hinrichtung. Das war keine Justiz, kein Verfahren der irdischen Gerechtigkeit. Ein nüchterner parteipolitischer Kuhhandel vollzog sich. Und ein junges Menschenleben fiel ihm zum Opfer. Es dauerte wieder einige Tage, bis ich weiterlas. Fiel dieses Leben wirklich als Opfer politischer Streber? Wird es keine Gnade geben, im letzten Moment vielleicht? Es gab dann keine. Theodor Dreiser und sein Roman kennen keine Gnade, kennen keinen gemilderten Schluß. Nur Tatsachen kennen sie, aus der Welt des Tatsächlichen gegriffen.

            Alle diese Vorgänge aber, um ein Kleines weniger intensiv geschildert, diese Menschen, um einen einzigen Grad weniger glühend lebendig gestaltet, und man würde das Buch ruhiger, würde es etwa mit der Gespanntheit lesen, wie irgendeinen guten Kriminalroman. Man würde nämlich ebenso wenig im Ernst daran glauben, wie man auch sonst an Kriminalromane nicht ganz glaubt. Doch hier geht’s gar nicht um Glauben oder Unglauben. Von der ersten bis zur letzten Zeile regt sich keine Sekunde in uns der leiseste Zweifel an der grausamen Wirklichkeit dieser Welt, an der entsetzlichen Wahrheit aller Zusammenhänge und Geschehnisse. In der meisterhaften Komposition dieser drei Bände, in ihrer virtuosen Architektur erscheint nichts komponiert, spürt man nirgendwo die Arbeit des Romanarchitekten. Der laufende Sturz aller Ereignisse vollzieht sich vom Anfang bis zum Schluß mit unaufhaltsamer Notwendigkeit. Und man begleitet dieses Hinstürzen voll atemloser Teilnahme. Hier ist der Alltag, den wir alle kennen, durch den wir alle gehen, unberührt, oder die Augen schließend, wenn die Gefahr droht, zu arg erschüttert zu werden. Hier ist dieser Alltag und man wird gezwungen, die Augen zu öffnen. Hier ist das Spiel seiner Zufälle, das Schicksal wird, hier ist seine unbarmherzige Härte, sind lockende Verführung, hier sind seine Höhen und seine Abgründe. Hier sehen wir einmal seine Tragödie, eine seiner Tragödien, so genau, als habe ein kundiger Reporter sie beschrieben, so menschlich durchleuchtet, als sei ein großer Dichter mit seinem Herzen am Werk gewesen.

            Das Amerikanische an dieser Tragödie sind die sozialen Verhältnisse. Die Straßenbettler-Prophetie von Clydes Vater, sein gutgläubig stümperndes Predigertum ist amerikanisch. Und amerikanisch ist der krasse Gegensatz zwischen den Leuten, die zu viel Geld, und denen, die gar kein Geld haben. Amerikanisch scheint die allgemeine Ansicht, daß Armut eine Schande ist. Und das Schachspiel politischer Parteien, das die Verwaltung wie die Justiz mit in seine Kombinationen und Spekulationen wie selbstverständlich einbezieht. Manches von diesen Dingen, mancher von diesen Zuständen braucht freilich nur mit anderen Lokalfarben getüncht zu werden und paßt auch, je nach der Farbe, anderswohin, als nach Amerika. Doch dieses Buch ist amerikanischem Boden entwachsen, ist von einem amerikanischen Geist ersonnen und von der Urfarbe der Vereinigten Staaten nicht zu lösen. Ins allgemein Menschliche, ins allgemein Gültige aber wächst die Tragödie des jungen Menschen, der arm geboren ist, der mittellos, wehrlos, führerlos und hilflos einer Welt voll Glanz, Luxus, Schönheit und Freude gegenübersteht. Die Tragödie eines jungen Menschen, der Leidenschaft und Phantasie genug besitzt, um mit allen seinen Trieben von dieser Welt des Reichtums in Brand gesteckt zu werden, der hinreichend sinnlich, unverbraucht und unerfahren ist, um sich, wie man das bei uns nennt, zu „verplempern“, der dann in Verwirrung gerät und unschuldig schuldig wird. Sehr viele Leute gibt es, besonders Frauen, die aus Sympathie und Mitleid für die reizende, ehrenhafte Roberta den jungen Clyde streng verurteilen und ihn ehrlos nennen. Mag sein, daß sie recht haben, mag auch sein, daß Clyde ehrlos ist, obwohl er im Grunde jenseits der landläufigen Ehrbegriffe steht. Den Satten und Baldgesättigten fällt es sehr leicht, eine Ehre zu haben und sie ohne jede Probe, ohne jede Versuchung zu behalten. Wer aber die Armut kennt, denkt über diese „ehrenhaften“ und „ehrenwerten“ Leute doch anders. Und wer die bitterste, schmerzhafteste Armut erlebt hat, die Armut am Rande des Reichtums, in naher Nachbarschaft des üppigen Schwelgens, muß den unglücklichen Clyde so tief verstehen, muß sich ihm so brüderlich verbunden fühlen, daß er zu gar keinem Urteil über den vom Schicksal Vernichteten gelangt, sondern nur zu fieberndem Erschüttertsein.

            Eine amerikanische Tragödie ist auch der andere Roman von Theodor Dreiser „Jennie Gerhardt“. Aber auch diese Dichtung ragt weit über ihren Schauplatz hinweg ins Ewigmenschliche. Wie es überall und zu allen Zeiten junge Männer gibt und gegeben hat, deren Schicksal dem des Clyde Griffith gleicht, so gab und gibt es überall, zu allen Zeiten Jennie Gerhardts. Jung, schön, bescheiden und arm. Liebevoll und opfermutig. Hingebend und pflichtbewusst. Naiv und selbstlos. Ein Spielzeug männlicher Begierden. Dann in ihrer seelischen Reinheit gefühlt, die Frau, der Männer wirkliche Herzensneigung entgegenbringen. Sie hat Pech, denn sie ist arm. Immer hat sie Pech und immer trägt sie ihr Unglück sanft, still, geduldig. Ein reicher älterer Mann, der sie, ein halbes Kind noch, verführt, will sie heiraten, weil sich die Folgen einstellen und weil er sie liebgewonnen hat. Er stirbt plötzlich. Ein junger Mensch aus reichem Hause nimmt sie, reißt sie einfach an sich, weil ihre Schönheit seine Sinne entfacht; verliebt sich dann in sie, verzeiht ihr die uneheliche Tochter, die sie von dem älteren Herrn hat, denn der wollte sie ja heiraten. Dieser junge Mensch lebt mit Jennie wie Mann und Frau. Jahrelang. Gewöhnt sich an sie, an ihre magdliche Zärtlichkeit, an ihre Treue, an den Zauber ihrer „schüchternen Seele“ … und vermählt sich zuletzt mit einer anderen, mit einer Dame aus seinen Kreisen. Jennie bleibt allein mit ihrer Tochter, die sie durch einen raschen Tod verliert. Den Geliebten sieht sie nur einmal noch, als sie den Sterbenden bis an sein Ende pflegt. Eine ergreifende Gestalt, so lebendig, so wahr und so bestrickend wie nur irgendeine der wunderbaren Frauengestalten in irgendeinem der unvergänglichen Dichterwerke. Es sind noch einige prachtvolle Gestalten in diesem Buch. Jennies Vater, der einfache, glaubensstarke, sittenstrenge Deutsche. Jennies Mutter, der alten Millerin und vielleicht auch der Marthe Schwerdtlein ein bißchen verwandt; vor allem: Lester, der Geliebte, und das Schicksal ihres Lebens.

            Ein Verwandter an Format und Art dieses Lester ist der Held in Dreisers frühem Romanwerk „Der Titan“. Frank Algernon Cowperwood hat die frische, draufgängerische Manier, Frauen zu nehmen. Aber er nimmt viele. Er nimmt sie wie ein Raubtier seine Beute, wie ein kleiner Junge das ersehnte Spielzeug. Er ist gierig und naiv. Er ist raffiniert und unschuldig. Er hat einen unbeugsamen Willen, eine Riesenkraft des Herzens wie des Verstandes und er wirkt wie ein Element. Von Jugend an ist er entschlossen, eine Großmacht in der Finanzwelt zu werden. Man wirft ihn nieder, man sperrt ihn ein, aber man kann ihn nicht besiegen. In Philadelphia wird es sein Ruin, daß er die Tochter eines einflußreichen Mannes verführt hat. Er heiratet sie nach seiner Scheidung. In Chicago wird er beinahe vernichtet, weil er ein Verhältnis mit der Gattin eines Finanzmagnaten begann. Er überwindet alles; er ringt auch die Eifersucht seiner zweiten Gemahlin nieder, die er oft und oft betrügt; er macht Schluß mit ihr, als er, schon über Fünfzig in leidenschaftlicher Liebe zu einer Achtzehnjährigen entbrennt. Liebe und Geschäft, Geschäft und Liebe, Erfolg und Niederlage und trotzdem wieder Erfolg füllen diese drei Bände, die eben erschienen. In langen, gründlichen Auseinandersetzungen werden gewaltige Spekulationen, Börsenmanöver, Gründungen und Geldkrisen beschrieben. Wer etwas von diesen Dingen versteht, wird gespannt und gefesselt sein. Aber auch diejenigen, denen das Geschäftswesen fremd bleibt, folgen interessiert. Denn in diesen Kapiteln wird der Aufstieg der U.S.A. von den Sklavereikriegen bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt. Objektiver und nicht so parteiisch gefärbt wie in Myers „Entstehung der großen amerikanischen Vermögen.“

            Ein bedeutsamer Mann, der mächtige Unternehmungen beherrschte, sagte mir einmal vor langer Zeit: „Was soll unsereinen an der modernen Literatur reizen? Es steht nirgendwo etwas von den Dingen, die wichtig sind, mit denen sich die Welt beschäftigt, nichts von den Kämpfen, Arbeiten, Entdeckungen und Wagnissen, durch die wir alle eigentlich vorwärts kommen.“ An diesen Mann muß ich jetzt denken. Wenn er noch lebte, er hätte sich am „Titan“ gefreut.

            Aber unzählig Lebende werden an sich an Theodor Dreiser freuen und Unzählige, die nach uns leben, werden an diesem großen Dichter Erschütterung und Erhebung finden. Mögen heute auch einige der Meinung sein, Dreiser sei nicht modern, sei eine trockene Wiederholung Zolas, er ist weder trocken, noch eine Wiederholung, so wenig wie er wahrscheinlich in Wirklichkeit als Mensch mürrisch ist. Und er bleibt so zeitlos modern, wie alles, was einfach und tief, wahrhaft und menschlich ist, immer modern sein wird. Er ist so wahr wie das Leben selbst, so unbarmherzig wie das Schicksal, von so echter Tragik wie der Tragiker der Antike, so reich an Gestalten wie nur ein wirklicher Schöpfer; er liebt die Menschheit, glaubt an die Zukunft, wie nur ein großer Dichter zu glauben und zu lieben vermag. Und sein Feld ist die junge amerikanische Erde, die so reich ist an Erlebnissen und Dramen des Alltags, daß sie ganz natürlich ihre eigenen, großen Dichter hervorbringen muß. Heute gehört Theodor Dreiser zu den stärksten dichterischen Erscheinungen der Welt und „drüben“ scheint er vorläufig der weitaus stärkste zu sein.

In: Neue Freie Presse, 7.10.1928, S. 1-4.

Arthur Rundt (Newyork): „Hitch Hiking“

Hitch hiking ist: reisen in einem fremden Auto, aber mit Wissen seines Eigentümers. Oder genauer gesagt: reisen in vielen fremden Autos mit Wissen aller ihrer Eigentümer.

            Im alten Rom gab es das stumme Zeichen des aufwärts- und des abwärtszeigenden Daumens: „Pollice verso“ oder „Pollice presso“ gaben in der Arena die Zuschauer wortlos ihren Wunsch kund, daß der kämpfende und besiegte Sklave mit dem Leben davonkommen oder getötet werden sollte. In den Vereinigten Staaten stehen jetzt oft am Rande der Landstraße junge Burschen oder Mädels, halten den Daumen nicht nach oben und nicht nach unten, sondern seitlich weisend: nach links oder nach rechts.

            Das ist der Anfang vom Hitch hiking: am Straßenrand stehen und den vorüberfahrenden Autos mit dem Daumen die Richtung anzeigen, nach der man gern mitgenommen werden möchte. Und die Autos halten wirklich. Namentlich wenn das, was zu dem Daumen gehört, halbwegs vertrauenerweckend aussieht, und nehmen die Mädels und Burschen mit, so weit der Weg gemeinsam geht.

            Hitch hiking ist kein gelegentlicher Spaß, der sich etwa hier einer, dort eine macht. Nein: Zehntausende tun es, vielleicht Hunderttausende. Es ist eine bisher und anderwärts unbekannte Form des Reisens, jetzt zwischen dem Atlantischen und Stillen Ozean allgemein verbreitet und praktiziert.

            Sie wird über kurze Strecken geübt, von einer Stadt zur anderen, eine, zwei Stunden lang. Das ist eine Kleinigkeit. Aber sie tun’s auch, etwa als Ferienreise, durch den halben Kontinent, ein paar Wochen lang, immer ein Auto gegen das andere wechselnd, mit einem bestimmten Ziel vor sich. Wenn die Sommerferien beginnen, hört man sehr oft: Unser Junge ist fort, mit zwei Freunden dort und dort hin, hitchhikenderweise.

            Ich habe es anfangs nicht glauben wollen, daß es wirklich allgemeine Uebung ist. Da hat man mir einen Jungen gebracht, der eben das college absolviert hat, also einen Jungen von 22 Jahren. Man brachte gerade ihn, weil er unter den Kameraden Hitch-hiking-Matador ist. Es war in einer kleinen College-Stadt; der Junge hieß – nicht anders! – er hieß Leander.

            Ja, rapportierte er, es sei eine großartige Sache. Vor zwei Jahren sei er einmal vier Wochen weg gewesen, über Buffalo und die Niagarafälle bis nach Newyork. Und voriges Jahr war er im Mittelwesten, in Colorado, bei einem Onkel in Denver.

            Das eine sind zwanzig Expreßzugstunden, das andere mehr als doppelt so viel.

            Seine Mutter sitzt dabei, eine ruhige, stille Dame; der Vater leitet eine Elternberatungsstelle, steht also pädagogischen Dingen nicht sehr fern. Trotzdem finden die Eltern nichts dabei. Hitch hiking ist eine Zeiterscheinung.

            Viele Studenten, erzählt mir die Mutter, hitchhiken am Schluß des Semesters nach Hause und kommen am Ende der Ferien ebenso wieder zurück. Es dauert etwas länger, das ist wahr, aber es sei doch billiger als die Eisenbahn. Und überflüssiges Geld hat keiner von den Jungen.

            Ihr seid, wage ich gegen Leander auszusprechen, eine neue Form des alten Tramps, der doch auch oft die Gewohnheit hatte, sich mitnehmen zu lassen, sich zum Beispiel gern ins Gestänge eines Eisenbahnwagens hängte, wie in vielen Geschichten zu lesen ist.

            „Hitch hiking“, gibt Leander naserümpfend zurück, „is more respectable“. Es sei halt doch eine feinere Sache.

            Seitdem ich Leanders Bericht gehört habe, frage ich alle Jungen, die mir unterkommen, ob sie hitchhiken, und lasse mir ihre Geschichten erzählen. Jetzt weiß ich schon allerlei über den Ausbau der neuen Reiseform.

            Natürlich reisen die Jungen ohne Geld. Kritisch wird also jeden Abend die Frage des Nachtlagers in einer fremden Stadt. Konflikte mit der Polizei sind zwar gefürchtet, aber noch mehr fürchtet die Polizei, einen solchen Jungen fassen zu müssen. Es ist keine rechte Amtshandlung, macht nur Scherereien. Also hat sich der Usus herausgebildet, wenn es dunkel wird, im Gefängnis der Stadt anzuklopfen und um „Unterkunft“ zu bitten. Ohne Formalitäten, die Abreise finde am nächsten Morgen ganz zeitig statt. Und ein solcher Antrag wird selten abgelehnt.

            Auf meine neugierige Frage, wie oft – so ungefähr und durchschnittlich – im Laufe eines Tages das Auto gewechselt werde, habe ich nie befriedigende Auskunft bekommen. Das sei so verschieden. Und hänge natürlich vom Glück ab. Einmal erzählte mir ein Junge, er habe einen Wagen im Stich gelassen, mit dem er noch viele Meilen hätte reisen können. Warum? „Weil der Kerl mir zu langsam gefahren ist!“

            „Hiking“ heißt einen Ausflug machen, und „hitch hiking“ dem Ausflug die Form geben, daß man sich irgendwo anhängt. Also sind Subjekt des Ausflugsmachens und des Anhängens der Junge oder das Mädel am Straßenrand: von ihnen geht normalerweise die Anregung aus.

            Aber es gibt auch eine Abwandlung des Spieles. So nämlich, daß der Mann im Auto den Ausflug macht und den Wunsch hat, daß jemand sich an ihn anhänge. Dann ist das Objekt natürlich immer ein Mädel. Dann braucht es, das Mädel, keinen Daumen auszustrecken, nicht nach rechts und nicht nach links. So, in dieser Abwandlung, wird hitch hiking weniger draußen auf der Landstraße gespielt als in der Stadt und im nächsten Umkreis der Stadt. Und ist – das darf man wohl sagen – an manchen Orten recht beliebt.

            In einem Camp, in dem hundert Mädels, nur Mädels, ihre Ferien verbrachten, las ich eine Ordnungsvorschrift der Leiterin: hitch hiking sei erlabut, aber nur „from two girls up“ – wenn mindestens zwei Mädels zugleich ins fremde Auto steigen. Woraus geschlossen werden mag, das für einzelne junge Mädchen das Spiel – in beiden Formen! – nicht immer ungefährlich ist.

            Es stelle sich einmal in Deutschland ein Junge etwa an den Toren von Leipzig am Chausseerand und versuche, nach dem Beispiel amerikanischer Kameraden, nur nach Berlin zu gelangen. Es wird nicht gehen. Er wird scheitern. Woran? Am Mangel jener allgemeinen amerikanischen Gutartigkeit, die die psychologische Grundlage für die Verbreitung des hitch hiking ist.

In: Neue Freie Presse, 15.9.1928, S. 9.