N.N. [Otto Bauer]: Die Weltrevolution.
4. Die historische Funktion des Bolschewismus.
Die Kommunisten betrachten die Rätediktatur nicht als
eine vorübergehende Phase, sondern als die abschließende, endgültige Form der
Weltrevolution. Die Rätediktatur werde die Bourgeoisie „erdrosseln“, alles
Privateigentum an Produktionsmitteln aufheben, die Spaltung der Gesellschaft in
besitzende und besitzlose Klassen aufheben, die sozialistische
Gesellschaftsordnung aufrichten, und sobald dieses Werk getan sei, werde der
Staat überhaupt absterben, da es einer öffentlichen Gewalt nicht mehr bedürfe,
sobald es keine unterdrückten und keine unterdrückenden Klassen mehr gibt. Die
Rätediktatur, in einem Lande aufgerichtet, führt die Rätediktatur in den
anderen Ländern durch die Macht ihres Beispiels herbei; nach wenigen Jahren
werde der Kapitalismus in aller Welt überwunden sein.
Daß in allen besiegten Ländern starke Tendenzen zur
Diktatur des Proletariats ganz unvermeidlich entstehen, unterliegt keinem
Zweifel; ob aber die Diktatur des Proletariats wirklich jene Wirkungen
herbeizuführen vermag, die die Kommunisten von ihr erhoffen, ist eine ganz
andere Frage. Die Geschichte aller Revolutionen zeigt, daß sehr oft die
objektiven historischen Wirkungen der Revolution ganz andere sind als die
subjektiven Vorstellungen, Absichten und Hoffnungen ihrer Urheber und Träger.
Der Versuch des Proletariats, seine Alleinherrschaft
aufzurichten und sich alle anderen Klassen zu unterwerfen, führt zunächst den
Bürgerkrieg herbei. Selbst in Rußland kann sich die kommunistische Diktatur nur
in ständigem blutigen Kriege gegen die konterrevolutionären Klassen erhalten;
dieser Krieg gegen die Kornikow und Kaledin, die Denikin und Koltschak dauert
nun schon mehr als anderthalb Jahre und sein Ende ist nicht abzusehen. Greift
der Bolschewismus auf Mitteleuropa über, so wird er hier einen noch viel
gewaltigeren, noch viel blutigeren Bürgerkrieg zu bestehen haben: denn hier würde ihm eine viel breitere,
zahlreichere, widerstandsfähigere Bourgeosie und vor allem eine viel
selbstbewußtere, viel besser organisierte und viel konservativere Bauernschaft
gegenüberstehen als in Rußland. Der Bürgerkrieg zerstört aber die
Produktivkräfte des Landes, er macht den Wiederaufbau der Industrie, die
Wiederherstellung der Verkehrsmittel, die Wiederbelebung der Landwirtschaft
unmöglich. Er bereitet dem Aufbau der Organisation des Proletarierstaates und
der Organisierung der sozialistischen Produktion unüberwindliche
Schwierigkeiten. Infolge der Desorganisation, die die Folge des Bürgerkrieges
überhaupt und der passiven Resistenz der Bauernschaft im besonderen ist, ist
die Rätediktatur nicht imstande, die Großstädte zu ernähren; selbst Moskau, das
doch die Hauptstadt des größten und fruchtbarsten Agrargebietes Europas ist,
hungert, selbst Budapest, die Hauptstadt der getreide- und viehreichen
ungarischen Ebene, ist heute schlechter versorgt als Wien. Und aus denselben
Gründen stockt in den Sowjetrepubliken auch die industrielle Produktion;
infolge der Unmöglichkeit, die Zufuhr von Roh- und Hilfsstoffen zu
organisieren, stehen in Rußland die meisten Fabriken still und die Arbeiter
sind teils in die Bauerndörfer zurückgekehrt, teils in die Rote Armee
eingetreten.
Trotzdem kann sich die Rätediktatur behaupten, wo sie aus
den Erzeugnissen des eigenen Landes wenigstens notdürftig den dringendsten
Bedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen zu decken vermag. Ganz andere
Schwierigkeiten würden ihr in Ländern erwachsen, die, wie Deutschland und Deutschösterreich,
die Zufuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus überseeischen Ländern nicht
entbehren können. Wenn wir unsere Bevölkerung ernähren, unsere Fabriken und
Eisenbahnen betreiben wollen, müssen wir Getreide, Fett, Fleisch aus
überseeischen Ländern, Kohle aus der Tschecho-Slowakei und aus Polen, Rohstoffe
aus aller Welt einführen. Und alle diese Waren können wir nur auf Kredit
bekommen; denn da wir vorerst nichts auszuführen vermögen, können wir die
einzuführenden Waren nicht bezahlen. Kredit aber können wir nur von den Ländern
bekommen, die allein nach Kriege kapitalstark geblieben sind; vor allem also
von England und von Amerika. Die englischen und die amerikanischen Kapitalisten
werden aber keinem Lande Kredit gewähren, das ihnen nicht die notwendigen
Sicherheiten zu bieten vermag. Sie werden nicht einem Lande kreditieren, in dem
der Bürgerkrieg wütet. Sie werden nicht einem Land Kredit gewähren, das heute
durch dieses, morgen durch jenes Dekret das Privateigentum aufhebt und die
privaten Rechtsansprüche für nichtig erklärt. Die Räterepublik, unfähig, den
Kredit der weltbeherrschenden kapitalistischen Länder zu erlangen, ist damit
auch unfähig, ihre Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, ihre Industrie mit Rohstoffen zu versorgen. Die Folge ist
gesteigertes Massenelend, verschärfte Hungersnot, fortschreitende
Desorganisation des ganzen Wirtschaftslebens.
Selbst im besten Falle also, selbst wenn die kapitalistischen Länder nicht zu offener Feindseligkeit gegen die Proletarierdiktatur übergehen, sondern ihr nur den Kredit verweigern, für den sie den Kapitalisten keine hinreichende Sicherheit zu bieten vermag, selbst in diesem Falle muß die Räterepublik in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten, die ihr der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung schier unmöglich machen müssen. Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es dabei nicht sein Bewenden haben wird, daß die kapitalistischen Weltmächte vielmehr gegen jede Räterepublik zum offenen Angriff übergehen werden, ganz so wie sie es gegen Rußland und gegen Ungarn getan haben. Denn die kapitalistischen Mächte fühlen durch die Existenz jeder Räterepublik ihre Interessen bedroht. Die besiegten Länder sind Schuldner der Sieger; ihr Staatsbankerott, ihre Einstellung der Schuldenzahlungen, ihre Expropriation des Privateigentums bedeutet daher den Versuch, den Siegern den geschuldeten Tribut zu verweigern. Die Rätediktatur in den besiegten Ländern bringt durch ihr Beispiel auch die kapitalistische Ordnung in den benachbarten kleineren Ländern in Gefahr, die die Sieger als ihre Vasallenstaaten aufgerichtet, als ihre wirtschaftlichen Interessenssphären und als Stützpunkte ihrer politischen Macht geschaffen haben: in Polen, in der Tschecho-Slowakei, in Jugoslawien und Rumänien. Und die Verbreitung der Proletarierdiktatur vom Osten nach dem Westen über immer weitere Teile Europas erschüttert schließlich auch die kapitalistische Ordnung in Italien, in Frankreich, in Belgien und gefährdet damit jene ungezählten Milliarden, die die angelsächsischen Länder diesen ihren Verbündeten geborgt haben. So widerstreitet die bloße Existenz der Räterepubliken den stärksten Interessen der herrschenden Klassen der weltbeherrschenden Staaten; deshalb suchen sie die Räterepubliken durch Blockaden zu erwürgen, durch materielle Unterstützung der Konterrevolutionäre niederzuwerfen. Der unvermeidliche Zusammenstoß zwischen den kapitalistischen Weltmächten und den proletarischen Räterepubliken treibt allerdings die soziale Entwicklung in den noch kapitalistischen Ländern weiter: denn die englische Arbeiterschaft ist erbittert über den Feldzug der englischen Herrenklassen gegen die Räterepubliken und die englische Bourgeoisie muß sie daher durch Zugeständnisse zu gewinnen, durch Beschleunigung der Demokratisierung und Sozialisierung in England selbst zu beruhigen und zu besänftigen suchen. Aber andererseits wird die Not der Räterepubliken durch den Angriff von außen furchtbar verschärft; und wenn auch große Agrarländer wie Rußland, die vom Ausland relativ unabhängig und von außen her schwer angreifbar [gesperrt gedr.] sind, sich des Angriffs der kapitalistischen Mächte zu erwehren vermögen, so müßten Industrieländer wie Deutschland und Deutschösterreich, die amerikanischen Lebensmittel und Rohstoffe, amerikanischen und englischen Kredit, amerikanischen und englischen Schiffsraum nicht entbehren können, diesem Angriff bald und unvermeidlich erliegen.
Die Verwüstung der Volkswirtschaft durch den Bürgerkrieg
im Innern, die Verweigerung der Kredit- und Rohstoffhilfe durch das kapitalistische
Ausland, schließlich gar der feindliche Angriff kapitalistischer ausländischer
Mächte machen es den Räterepubliken unmöglich, die wirtschaftliche Lage der
Arbeitermassen zu verbessern. Der Begeisterung der Arbeitermassen für die
Diktatur des Proletariats folgt daher sehr bald die bittere Enttäuschung, die
sich gegen die Rätediktatur, gegen ihre unvermeidlichen Begleiterscheinungen,
wie den Terror, wie die Aufhebung des Streikrechtes, der Preß- und
Versammlungsfreiheit, wie der Rekrutierung zur Roten //Armee, kehrt. Die
Diktatur des Proletariats führt schließlich zur Auflehnung des Proletariats
gegen die Diktatoren. In Rußland stand im Oktober 1917, in Ungarn im März 1919
sicher das ganze Proletariat hinter der Diktatur: heute sind da wie dort
unzweifelhaft schon breite proletarische Schichten in Gegensatz gegen die
Räterepublik geraten und der Terror der Diktatoren richtet sich nicht nur mehr
gegen die Bourgeoisie und Bauernschaft, sondern auch gegen die opponierenden
Schichten des Proletariats. Von außen bedrängt, im Innern von der Bourgeoisie
und der Bauernschaft leidenschaftlich bekämpft, schließlich auch von immer
breiteren Schichten des darbenden, hungernden, kriegsmüden Proletariats
verlassen, verwandelt sich die Diktatur des Proletariats in eine reine
Militärdiktatur, die sich auf nichts mehr stützt als auf die Bajonette der
durch eiserne Disziplin zusammengehaltenen, durch wirtschaftliche
Begünstigungen befestigten Roten Armee. Aber die alte Wahrheit, daß man auf
Bajonetten nicht sitzen könne, gilt auch für Räterepubliken. Sobald das
Proletariat von den Wirkungen der Diktatur enttäuscht ist und sich gegen die
verschärfte Hungersnot und den erneuten Krieg auflehnt, ist die Rätediktatur
verloren und die Militärdiktatur der Roten Armee wird abgelöst von der
Militärdiktatur der Konterrevolution.
Auch die Kommunisten wissen sehr wohl, daß die
Rätediktatur scheitern muß, wenn sie auf die besiegten Länder beschränkt
bleibt. Aber sie glauben, daß die Diktatur in den besiegten Ländern sehr bald
die Revolution in den Ländern der Sieger auslösen werde, und darauf stützen sie
ihre Hoffnungen. Diese Hoffnung ist trügerisch. Selbst wenn die soziale
Revolution wirklich über die besiegten Länder hinaus greifen, selbst wenn sie
auch Frankreich und Italien erfassen, auf dem ganzen europäischen Festland
triumphieren sollte, selbst dann wäre der Kommunismus nicht gerettet. Denn alle
wirtschaftliche Macht ist jetzt in den angelsächsischen Ländern, in England und
Amerika, konzentriert; diese Länder allein verfügen über die Rohstoffe, über
die Lebensmittel und über den Schiffsraum, die das ganze Festland braucht, und
gerade in diesen Ländern fehlen die Voraussetzungen der Revolution. Die soziale
Revolution der besiegten, der ohnmächtigen und abhängigen Länder scheitert
unvermeidlich an der ungebrochenen Macht des Kapitals in den Ländern, die den
Sieg errungen haben und die Welt beherrschen.
Aber wenn die Diktatur des Proletariats in dem großen
Prozeß der Weltrevolution nur eine vorübergehende Phase ist, so ist sie darum
doch keine bedeutungslose Phase. Der Krieg hat die Gesellschaft mit ungeheuren
Schulden belastet; über den realen Produktivkräften, die den Reichtum der
Gesellschaft erzeugen, ist ein ungeheures Gebäude papierener Rechtstitel
getürmt. Wo dieser Ueberbau so drückend geworden ist, daß er mit den
gesetzlichen Mitteln der Demokratie nicht mehr abgetragen werden kann, dort
wird der Bolschewismus unvermeidlich. Er vernichtet alle die papierenen
Rechtstitel und zerreißt alle die papierenen Schuldverpflichtungen. Und wenn
dann sein Herrschaftssystem wieder zusammenbricht, dann lebt nicht wieder auf,
was er zerstört hat. Die Gesellschaft, von der Last jener unerträglichen
Schuldverpflichtungen, die der Krieg ihr zurückgelassen hat, befreit, kann nach
dem verheerenden und vernichtenden, aber auch reinigenden Sturme darangehen,
ihr Wirtschaftsleben von neuem aufzubauen. Der Bolschewismus ist nicht
imstande, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen; aber wenn einem Lande
unerträgliche Last aufgebürdet wird, die dem Wiederaufbau im Wege steht, dann
kann er der eiserne Besen sein, der die Last hinwegfegt und dadurch den
künftigen Wiederaufbau erst ermöglicht.
Der Bolschewismus ist ein Nachfahre des Jakobinertums vor
1793. Als die Jakobiner die Macht eroberten, glaubten sie durch den Terror des
Pariser arbeitenden Volkes eine ewige Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit
aufrichten und durch ihr Beispiel alle Länder zur Nachahmung zwingen zu können.
Darin haben sie sich getäuscht. Die Jakobiner haben kein tausendjähriges Reich
der Freiheit und Gleichheit aufzurichten vermocht, und ihr Beispiel ist von den
anderen Ländern nicht nachgeahmt worden. Aber wenn die Jakobiner nicht das
erreicht haben, was sie zu erreichen hofften, so hat ihre Herrschaft doch
anderes erreicht, wovon nichts ahnten: ihre Schreckensherrschaft hat nach
Marxens berühmten Worte mit eisernem Besen alle Ueberbleibsel der feudalen
Gesellschaftsordnung hinweggefegt und dadurch die Basis geschaffen, auf der
nach ihrem Sturze das neue kapitalistische Frankreich aufgebaut worden ist. So
wird auch der Bolschewismus nicht das erreichen, was er zu erreichen wähnt; er
wird nicht das tausendjährige Reich einer kommunistischen aufzubauen vermögen.
Aber wo unerträgliches Kriegsergebnis und unerträgliche Friedensbedingungen der
Gesellschaft ein Erbe hinterlassen, das sie zu erdrücken droht, dort wird seine
vorübergehende Herrschaft dieses Erbe hinwegfegen, um den Boden zu reinigen,
auf dem erst nach seinem Zusammenbruch in planmäßiger demokratischer Arbeit die
neue soziale Ordnung wird aufgebaut werden können.
In: Arbeiter-Zeitung, 28.6.1919, S. 1f.