Leo Lania: Der Feldherr als Aesthet

In einem kleinen Hotel im Berliner Westen machte ich seine Bekanntschaft. Ganz zufällig. Der Mann fiel mir auf: Ein Hüne. Scharf geschnitztes Gesicht, vorspringende Backenknochen, breiter Mund mit vollen Lippen – der Typus eines slawischen Bauern. Doch der runde, kahlgeschorene Schädel, ein gewisser lauernder Ausdruck in den harten Augen, die sich plötzlich verschleiern und dann so rührend träumerisch ins Leere blicken, unbeherrschte, hastige Bewegungen, vor allem dies eigentümlich Gespannte in seinem Wesen – er sieht wie ein entlaufener Sträfling aus, dachte ich unwillkürlich. Das ist Majakowski, der bedeutendste Vertreter des russischen Futurismus, einer der Großen der jüngsten russischen Dichtkunst, „das gewaltige Talent“, wie ihn Alexander Block genannt hat. Wir kommen ins Gespräch. Und dann sitzen wir oben in seinem Hotelzimmer und debattieren über die neue Kunst, über Rußland und die Revolution.

„Haben Sie Trotzkis letztes Werk über die russische Literatur gelesen?“ Majakowski weist auf ein dickes, zerlesenes Buch, das auf dem Tische liegt.

„Ich habe es gelesen. Allerdings nur einen Auszug, der vor kurzem in deutscher Uebersetzung erschienen ist. (Trotzki: Literatur und Revolution. Verlag für Literatur und Politik, Wien.) Ein ganz eigenartiges, ein erstaunliches Buch. Erstaunlich in doppelter Hinsicht: Wegen der Person des Verfassers und wegen des Stoffes, der hier in einer neuen Art behandelt wird.

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Trotzki, der Schöpfer der Roten Armee, als Aesthet? Manch einer wird wohl mit gemischten Gefühlen dies Büchlein in die Hand nehmen. Und wird nach wenigen Seiten völlig im Banne dieser einzigartigen Persönlichkeit stehen. Denn in keiner seiner zahlreichen historischen und nationalökonomischen, seiner militärischen und marxistisch theoretischen Schriften tritt uns das innerste Wesen Trotzkis so klar entgegen. Welche Energie, welche Arbeitskraft muß diesen Menschen auszeichnen, der auf einem der exponiertesten Posten der russischen Revolution, im Drang der Politik und der auftreibenden Tagesarbeit, die schon an die physischen Kräfte der Führer übermenschliche Anforderungen gestellt hat, noch Zeit und die innere Bereitschaft findet, um sich so völlig in kulturelle und literarische Probleme zu vertiefen. Trotzkis Buch räumt mit den Thesen und Edikten der zünftlerischen revolutionären Literaturhistoriker auf. „Das Proletariat wird die Schaffung einer neuen, das heißt sozialistischen Kultur und Literatur in Angriff nehmen können, nicht mit Laboratoriumsmethoden auf der Grundlage unserer jetzigen Armut, Knappheit und Unwissenheit, sondern durch weit ausholende, gesellschaftlich wirtschaftliche und kulturfördernde Methoden. Die Kunst braucht Wohlleben, bedarf des Ueberflusses. Dazu gehört, daß die Hochöfen heißer glühen, die Räder rascher surren, die Schiffchen flinker tanzen, die Schulen besser arbeiten… Es ist grundfalsch, der bürgerlichen Kultur und der bürgerlichen Kunst die proletarische Kultur und die proletarische Kunst entgegenzustellen…

Denen, die das Ultraradikale, den Appell zum Bruch mit der Vergangenheit und zur Liquidation der Tradition erschallen lassen, antwortet Trotzki sehr fein: „Die Arbeiterklasse hat es nicht nötig und kann mit der literarischen Tradition brechen, denn sie schmachtet nicht in den Fesseln der Tradition. Sie kennt die alte Literatur nicht, die muß sie erst kennen lernen, sie muß erst Puschkin noch erfassen, ihn aufsaugen und ihn dann auch überwinden. In der übertriebenen futuristischen Ablehnung der Vergangenheit steckt ein Nihilismus der Boheme, aber kein proletarischer Revolutionalismus.“

Aus dieser Einstellung der wahren Achtung vor jeder schöpferischen Kulturleistung kommt dann Trotzki zu seiner Forderung der Duldsamkeit: „Das Gebiet der Kunst ist nicht das Feld, wo die Partei zu kommandieren berufen ist.“ Das soll nun nicht heißen, daß Trotzki der Ansicht ist, die Regierung, bzw. die regierende Partei der Bolschewiki habe sich jeder Einmischung und jeder kritischen Stellungnahme in Fragen der Kunst zu enthalten und dürfe keine Kulturpolitik treiben: „Es ist vollkommen klar, daß auch auf dem Gebiete der Kunst die Partei nicht einen einzigen Tag dem liberalen Prinzip: laisser faire – laisser passer, frönen darf. Die ganze Frage besteht nur darin, in welchem Punkte die Einmischung beginnen soll und wo ihre Grenzen sind. Trotzki sieht viel klarer und schärfer als so manche ‚Berufenen’ die Schwierigkeiten, die Kompliziertheit der Probleme. Dieser Dogmatiker verleugnet nie, daß er ein Realpolitiker ist. Er ist nicht nur ein Meister im dialektischen Denken, sondern auch ein Beobachter von verblüffender Schärfe […] Mit leichter Ironie, mit einer milden Skepsis lächelt er über jene, die da glauben, die neue kommunistische Kunst gebrauchsfertig in einer Retorte erzeugen zu können. Er blickt um sich und sieht Ansätze, tastende Versuche, mehr oder weniger gelungene Experimente – keine Erfüllung. Und was den ‚Proletkult’ betrifft, so sind solche Ausdrücke wie ‚proletarische Kultur’ und ‚proletarische Literatur’ gefährlich, weil sie die Zukunft der Kultur fiktiv in den engen Rahmen des Heute hineinzwängen, die Perspektiven verfälschen, – den sehr gefährlichen Dünkel kleiner Kreise kultivieren. Wir wollen vereinbaren, daß ‚Proletkult’ soviel bedeutet wie ‚proletarischer Kulturismus’, das heißt, den zähen Kampf um die Hebung des kulturellen Niveaus der Arbeiterklasse.

[…]

            Was aber diese proletarische Literatur betrifft – so sind das literarische Werke begabter oder talentierter Proletarier, aber keineswegs proletarische Literatur. Und Trotzki warnt davor, „mit großen Worten zu spielen. Es ist nicht wahr, daß es einen proletarischen Stil gibt. Wo ist er? Zweifellos, selbst farblose und schwache, sprachlich unbeholfene Gedichte können den Weg des politischen Wachstums eines Dichters und einer Klasse markieren und dadurch eine unermeßliche kultursymptomatische Bedeutung haben. Aber schwache Gedichte – bilden noch keine proletarische Dichtung, denn sie sind überhaupt noch keine Dichtkunst. Auf dem Gebiete der Kunst hat eben das Proletariat noch kein Kulturmilieu geschaffen, während die bürgerliche Intelligenz ein solches Milieu – ein gutes oder schlechtes – besitzt. Also? Lernen! Man muß lernen, wenn auch die Lehrzeit – notgedrungen beim Feind – nicht ganz ungefährlich ist. Man muß lernen!“

                                                           *

Und Majakowski? Er lächelt: „O, er hat mit vielem recht, der gute Trotzki. Obwohl er ein gefährlicher ‚Rechtler’ ist.“

In: Prager Tagblatt, 9.7.1924, S. 3.

N.N. [Otto Bauer]: Die Weltrevolution.

4. Die historische Funktion des Bolschewismus.

            Die Kommunisten betrachten die Rätediktatur nicht als eine vorübergehende Phase, sondern als die abschließende, endgültige Form der Weltrevolution. Die Rätediktatur werde die Bourgeoisie „erdrosseln“, alles Privateigentum an Produktionsmitteln aufheben, die Spaltung der Gesellschaft in besitzende und besitzlose Klassen aufheben, die sozialistische Gesellschaftsordnung aufrichten, und sobald dieses Werk getan sei, werde der Staat überhaupt absterben, da es einer öffentlichen Gewalt nicht mehr bedürfe, sobald es keine unterdrückten und keine unterdrückenden Klassen mehr gibt. Die Rätediktatur, in einem Lande aufgerichtet, führt die Rätediktatur in den anderen Ländern durch die Macht ihres Beispiels herbei; nach wenigen Jahren werde der Kapitalismus in aller Welt überwunden sein.

            Daß in allen besiegten Ländern starke Tendenzen zur Diktatur des Proletariats ganz unvermeidlich entstehen, unterliegt keinem Zweifel; ob aber die Diktatur des Proletariats wirklich jene Wirkungen herbeizuführen vermag, die die Kommunisten von ihr erhoffen, ist eine ganz andere Frage. Die Geschichte aller Revolutionen zeigt, daß sehr oft die objektiven historischen Wirkungen der Revolution ganz andere sind als die subjektiven Vorstellungen, Absichten und Hoffnungen ihrer Urheber und Träger.

            Der Versuch des Proletariats, seine Alleinherrschaft aufzurichten und sich alle anderen Klassen zu unterwerfen, führt zunächst den Bürgerkrieg herbei. Selbst in Rußland kann sich die kommunistische Diktatur nur in ständigem blutigen Kriege gegen die konterrevolutionären Klassen erhalten; dieser Krieg gegen die Kornikow und Kaledin, die Denikin und Koltschak dauert nun schon mehr als anderthalb Jahre und sein Ende ist nicht abzusehen. Greift der Bolschewismus auf Mitteleuropa über, so wird er hier einen noch viel gewaltigeren, noch viel blutigeren Bürgerkrieg zu bestehen haben:  denn hier würde ihm eine viel breitere, zahlreichere, widerstandsfähigere Bourgeosie und vor allem eine viel selbstbewußtere, viel besser organisierte und viel konservativere Bauernschaft gegenüberstehen als in Rußland. Der Bürgerkrieg zerstört aber die Produktivkräfte des Landes, er macht den Wiederaufbau der Industrie, die Wiederherstellung der Verkehrsmittel, die Wiederbelebung der Landwirtschaft unmöglich. Er bereitet dem Aufbau der Organisation des Proletarierstaates und der Organisierung der sozialistischen Produktion unüberwindliche Schwierigkeiten. Infolge der Desorganisation, die die Folge des Bürgerkrieges überhaupt und der passiven Resistenz der Bauernschaft im besonderen ist, ist die Rätediktatur nicht imstande, die Großstädte zu ernähren; selbst Moskau, das doch die Hauptstadt des größten und fruchtbarsten Agrargebietes Europas ist, hungert, selbst Budapest, die Hauptstadt der getreide- und viehreichen ungarischen Ebene, ist heute schlechter versorgt als Wien. Und aus denselben Gründen stockt in den Sowjetrepubliken auch die industrielle Produktion; infolge der Unmöglichkeit, die Zufuhr von Roh- und Hilfsstoffen zu organisieren, stehen in Rußland die meisten Fabriken still und die Arbeiter sind teils in die Bauerndörfer zurückgekehrt, teils in die Rote Armee eingetreten.

            Trotzdem kann sich die Rätediktatur behaupten, wo sie aus den Erzeugnissen des eigenen Landes wenigstens notdürftig den dringendsten Bedarf an Lebensmitteln und Rohstoffen zu decken vermag. Ganz andere Schwierigkeiten würden ihr in Ländern erwachsen, die, wie Deutschland und Deutschösterreich, die Zufuhr von Lebensmitteln und Rohstoffen aus überseeischen Ländern nicht entbehren können. Wenn wir unsere Bevölkerung ernähren, unsere Fabriken und Eisenbahnen betreiben wollen, müssen wir Getreide, Fett, Fleisch aus überseeischen Ländern, Kohle aus der Tschecho-Slowakei und aus Polen, Rohstoffe aus aller Welt einführen. Und alle diese Waren können wir nur auf Kredit bekommen; denn da wir vorerst nichts auszuführen vermögen, können wir die einzuführenden Waren nicht bezahlen. Kredit aber können wir nur von den Ländern bekommen, die allein nach Kriege kapitalstark geblieben sind; vor allem also von England und von Amerika. Die englischen und die amerikanischen Kapitalisten werden aber keinem Lande Kredit gewähren, das ihnen nicht die notwendigen Sicherheiten zu bieten vermag. Sie werden nicht einem Lande kreditieren, in dem der Bürgerkrieg wütet. Sie werden nicht einem Land Kredit gewähren, das heute durch dieses, morgen durch jenes Dekret das Privateigentum aufhebt und die privaten Rechtsansprüche für nichtig erklärt. Die Räterepublik, unfähig, den Kredit der weltbeherrschenden kapitalistischen Länder zu erlangen, ist damit auch unfähig, ihre Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, ihre Industrie  mit Rohstoffen zu versorgen. Die Folge ist gesteigertes Massenelend, verschärfte Hungersnot, fortschreitende Desorganisation des ganzen Wirtschaftslebens.

            Selbst im besten Falle also, selbst wenn die kapitalistischen Länder nicht zu offener Feindseligkeit gegen die Proletarierdiktatur übergehen, sondern ihr nur den Kredit verweigern, für den sie den Kapitalisten keine hinreichende Sicherheit zu bieten vermag, selbst in diesem Falle muß die Räterepublik in unüberwindliche Schwierigkeiten geraten, die ihr der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung schier unmöglich machen müssen. Aber alle Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es dabei nicht sein Bewenden haben wird, daß die kapitalistischen Weltmächte vielmehr gegen jede Räterepublik zum offenen Angriff übergehen werden, ganz so wie sie es gegen Rußland und gegen Ungarn getan haben. Denn die kapitalistischen Mächte fühlen durch die Existenz jeder Räterepublik ihre Interessen bedroht. Die besiegten Länder sind Schuldner der Sieger; ihr Staatsbankerott, ihre Einstellung der Schuldenzahlungen, ihre Expropriation des Privateigentums bedeutet daher den Versuch, den Siegern den geschuldeten Tribut zu verweigern. Die Rätediktatur in den besiegten Ländern bringt durch ihr Beispiel auch die kapitalistische Ordnung in den benachbarten kleineren Ländern in Gefahr, die die Sieger als ihre Vasallenstaaten aufgerichtet, als ihre wirtschaftlichen Interessenssphären und als Stützpunkte ihrer politischen Macht geschaffen haben: in Polen, in der Tschecho-Slowakei, in Jugoslawien und Rumänien. Und die Verbreitung der Proletarierdiktatur vom Osten nach dem Westen über immer weitere Teile Europas erschüttert schließlich auch die kapitalistische Ordnung in Italien, in Frankreich, in Belgien und gefährdet damit jene ungezählten Milliarden, die die angelsächsischen Länder diesen ihren Verbündeten geborgt haben. So widerstreitet die bloße Existenz der Räterepubliken den stärksten Interessen der herrschenden Klassen der weltbeherrschenden Staaten; deshalb suchen sie die Räterepubliken durch Blockaden zu erwürgen, durch materielle Unterstützung der Konterrevolutionäre niederzuwerfen. Der unvermeidliche Zusammenstoß zwischen den kapitalistischen Weltmächten und den proletarischen Räterepubliken treibt allerdings die soziale Entwicklung in den noch kapitalistischen Ländern weiter: denn die englische Arbeiterschaft ist erbittert über den Feldzug der englischen Herrenklassen gegen die Räterepubliken und die englische Bourgeoisie muß sie daher durch Zugeständnisse zu gewinnen, durch Beschleunigung der Demokratisierung und Sozialisierung in England selbst zu beruhigen und zu besänftigen suchen. Aber andererseits wird die Not der Räterepubliken durch den Angriff von außen furchtbar verschärft; und wenn auch große Agrarländer wie Rußland, die vom Ausland relativ unabhängig  und von außen her schwer angreifbar [gesperrt gedr.] sind, sich des Angriffs der kapitalistischen Mächte zu erwehren vermögen, so müßten Industrieländer wie Deutschland und Deutschösterreich, die amerikanischen Lebensmittel und Rohstoffe, amerikanischen und englischen Kredit, amerikanischen und englischen Schiffsraum nicht entbehren können, diesem Angriff bald und unvermeidlich erliegen.

            Die Verwüstung der Volkswirtschaft durch den Bürgerkrieg im Innern, die Verweigerung der Kredit- und Rohstoffhilfe durch das kapitalistische Ausland, schließlich gar der feindliche Angriff kapitalistischer ausländischer Mächte machen es den Räterepubliken unmöglich, die wirtschaftliche Lage der Arbeitermassen zu verbessern. Der Begeisterung der Arbeitermassen für die Diktatur des Proletariats folgt daher sehr bald die bittere Enttäuschung, die sich gegen die Rätediktatur, gegen ihre unvermeidlichen Begleiterscheinungen, wie den Terror, wie die Aufhebung des Streikrechtes, der Preß- und Versammlungsfreiheit, wie der Rekrutierung zur Roten //Armee, kehrt. Die Diktatur des Proletariats führt schließlich zur Auflehnung des Proletariats gegen die Diktatoren. In Rußland stand im Oktober 1917, in Ungarn im März 1919 sicher das ganze Proletariat hinter der Diktatur: heute sind da wie dort unzweifelhaft schon breite proletarische Schichten in Gegensatz gegen die Räterepublik geraten und der Terror der Diktatoren richtet sich nicht nur mehr gegen die Bourgeoisie und Bauernschaft, sondern auch gegen die opponierenden Schichten des Proletariats. Von außen bedrängt, im Innern von der Bourgeoisie und der Bauernschaft leidenschaftlich bekämpft, schließlich auch von immer breiteren Schichten des darbenden, hungernden, kriegsmüden Proletariats verlassen, verwandelt sich die Diktatur des Proletariats in eine reine Militärdiktatur, die sich auf nichts mehr stützt als auf die Bajonette der durch eiserne Disziplin zusammengehaltenen, durch wirtschaftliche Begünstigungen befestigten Roten Armee. Aber die alte Wahrheit, daß man auf Bajonetten nicht sitzen könne, gilt auch für Räterepubliken. Sobald das Proletariat von den Wirkungen der Diktatur enttäuscht ist und sich gegen die verschärfte Hungersnot und den erneuten Krieg auflehnt, ist die Rätediktatur verloren und die Militärdiktatur der Roten Armee wird abgelöst von der Militärdiktatur der Konterrevolution. 

            Auch die Kommunisten wissen sehr wohl, daß die Rätediktatur scheitern muß, wenn sie auf die besiegten Länder beschränkt bleibt. Aber sie glauben, daß die Diktatur in den besiegten Ländern sehr bald die Revolution in den Ländern der Sieger auslösen werde, und darauf stützen sie ihre Hoffnungen. Diese Hoffnung ist trügerisch. Selbst wenn die soziale Revolution wirklich über die besiegten Länder hinaus greifen, selbst wenn sie auch Frankreich und Italien erfassen, auf dem ganzen europäischen Festland triumphieren sollte, selbst dann wäre der Kommunismus nicht gerettet. Denn alle wirtschaftliche Macht ist jetzt in den angelsächsischen Ländern, in England und Amerika, konzentriert; diese Länder allein verfügen über die Rohstoffe, über die Lebensmittel und über den Schiffsraum, die das ganze Festland braucht, und gerade in diesen Ländern fehlen die Voraussetzungen der Revolution. Die soziale Revolution der besiegten, der ohnmächtigen und abhängigen Länder scheitert unvermeidlich an der ungebrochenen Macht des Kapitals in den Ländern, die den Sieg errungen haben und die Welt beherrschen.

            Aber wenn die Diktatur des Proletariats in dem großen Prozeß der Weltrevolution nur eine vorübergehende Phase ist, so ist sie darum doch keine bedeutungslose Phase. Der Krieg hat die Gesellschaft mit ungeheuren Schulden belastet; über den realen Produktivkräften, die den Reichtum der Gesellschaft erzeugen, ist ein ungeheures Gebäude papierener Rechtstitel getürmt. Wo dieser Ueberbau so drückend geworden ist, daß er mit den gesetzlichen Mitteln der Demokratie nicht mehr abgetragen werden kann, dort wird der Bolschewismus unvermeidlich. Er vernichtet alle die papierenen Rechtstitel und zerreißt alle die papierenen Schuldverpflichtungen. Und wenn dann sein Herrschaftssystem wieder zusammenbricht, dann lebt nicht wieder auf, was er zerstört hat. Die Gesellschaft, von der Last jener unerträglichen Schuldverpflichtungen, die der Krieg ihr zurückgelassen hat, befreit, kann nach dem verheerenden und vernichtenden, aber auch reinigenden Sturme darangehen, ihr Wirtschaftsleben von neuem aufzubauen. Der Bolschewismus ist nicht imstande, die sozialistische Gesellschaft aufzubauen; aber wenn einem Lande unerträgliche Last aufgebürdet wird, die dem Wiederaufbau im Wege steht, dann kann er der eiserne Besen sein, der die Last hinwegfegt und dadurch den künftigen Wiederaufbau erst ermöglicht.

            Der Bolschewismus ist ein Nachfahre des Jakobinertums vor 1793. Als die Jakobiner die Macht eroberten, glaubten sie durch den Terror des Pariser arbeitenden Volkes eine ewige Gesellschaft der Freiheit und Gleichheit aufrichten und durch ihr Beispiel alle Länder zur Nachahmung zwingen zu können. Darin haben sie sich getäuscht. Die Jakobiner haben kein tausendjähriges Reich der Freiheit und Gleichheit aufzurichten vermocht, und ihr Beispiel ist von den anderen Ländern nicht nachgeahmt worden. Aber wenn die Jakobiner nicht das erreicht haben, was sie zu erreichen hofften, so hat ihre Herrschaft doch anderes erreicht, wovon nichts ahnten: ihre Schreckensherrschaft hat nach Marxens berühmten Worte mit eisernem Besen alle Ueberbleibsel der feudalen Gesellschaftsordnung hinweggefegt und dadurch die Basis geschaffen, auf der nach ihrem Sturze das neue kapitalistische Frankreich aufgebaut worden ist. So wird auch der Bolschewismus nicht das erreichen, was er zu erreichen wähnt; er wird nicht das tausendjährige Reich einer kommunistischen aufzubauen vermögen. Aber wo unerträgliches Kriegsergebnis und unerträgliche Friedensbedingungen der Gesellschaft ein Erbe hinterlassen, das sie zu erdrücken droht, dort wird seine vorübergehende Herrschaft dieses Erbe hinwegfegen, um den Boden zu reinigen, auf dem erst nach seinem Zusammenbruch in planmäßiger demokratischer Arbeit die neue soziale Ordnung wird aufgebaut werden können.

In: Arbeiter-Zeitung, 28.6.1919, S. 1f.

Robert Neumann: Zum Problem der Reportage

Jede Zeit krankt an einer besonderen Art von Maßlosigkeit. War es vorgestern noch ein Überschuß an Formdrang, dem nicht genügend neuen Stoffgehaltes sich darbot – unsere heutige, unsere besondere Maßlosigkeit liegt im Stoff, der in seinem Überquellen nicht mehr gefasst und geformt werden kann. Niemals drang eine solch beklemmende Fülle rein stofflichen Geschehens rufend, winkend, // fordernd, gestikulierend, hämmernd mit Hämmern auf den einzelnen ein. Das tragisch groteske Megaphon dieser Stofflichkeit ist die Zeitung. Der sie macht, ist nicht Diener am Wort und nicht Diener am Geist – er ist Diener am Stoff.

Es geht also um das Problem der Stoff-Jagd. Wo das noch mit Telegraph, Telephon geschieht, wo die Nachricht durch Technik entmenschlicht und vervielfältigt wird, wo sie schon nicht mehr blutet, sondern schon Präparat ist, Sache = Sache, die man gewissermaßen in die Hand zu nehmen, zu schneiden, zu appretieren vermag, ist sie vergleichsweise schon gefahrlos geworden. Aber der, der die Zeitung macht, gibt sich mit dem Stoff nicht zufrieden, der auch einem andern Zeitungsmacher in gleicher Form auf den Schreibtisch fliegt. Und der, für den die Zeitung gemacht wird, der Tänzer, für den getanzt wird, der Treibende, für den sie es treiben, er, der den Stoff frisst, bis er von ihm gefressen wird: der Leser also gibt sich nicht zufrieden mit dem leergebluteten Stoff-Präparat. Hört er von einem Bergwerksunglück in Yorkshire – die Ziffer der Erschlagenen genügt ihm nicht mehr. Zucken muß er sie sehen. Und der ausgeschickt wird, diese Zuckungen zu belauschen, ist der Reporter.

Reportage ist also ein Sachbericht, der – umgekehrter Weg wie beim Kunstwerk – im Typischen das Besondere, im Eisenbahnunfall das Besondere d i e s e s Eisenbahnunfalls, das Speziale, das Einmalige sucht und darstellt. (Ihr publizistischer Gegenpol ist die ‚Schmucknotiz’, das Entrefilet, das bemüht ist, den einmaligen Vorgang zu verwischen, zu typisieren, ihn gewissermaßen zu paraphrasieren mit Weltanschauung.)

Nun aber: wenn früher gesagt wurde, die Reportage spüre der Sache nach, so ist das in einer tieferen Schicht nicht mehr richtig. Die Sache darzustellen, ist Sache des Kunstwerks (und war es immer trotz „neuer Sachlichkeit“). Sein Mittel ist das Bildhaft-Bedeutende, das Sinn-Bild, sein Weg ist Eklexis, Auswahl des Wesentlichen. Anders die Reportage. Sie operiert nicht eklektisch, ihr fällt kein Detail unter den Tisch – und so stößt sie zum Sach-Kern zunächst nicht durch. Sie rafft an Stofflichem auf, was am Wege liegt, Materie, Material, Tatsachen mit einem Wort, wie man ja ganz allgemein die Tatsache// als Surrogat der Sache bezeichnen könnte. Dem Reporter wie dem Reportagenleser setzt sich Sachlichkeitsfanatismus alsbald um in Tatsachenhunger. Und so erfährt man schließlich von Napoleon erst in zweiter Linie, daß er die Schlacht bei Waterloo geschlagen hat, und in erster, was er an jenem Tage zum Frühstück zu sich nahm.

Das sei hieher gesetzt, ohne daß damit eine Wertung verbunden wäre. Reportage ist also etwas Wesensanderes als Kunstproduktion – und muß es sein. Was wir vom Tatsachenbericht verlangen, ist nicht Welt, geläutert durch das Filter einer Persönlichkeit, sondern so etwas wie eine geschriebene Menschen-Landkarte. Und eine Landkarte schätzen wir um so höher, je mehr Details in ihr verzeichnet sind. Eine, die, den Grundtypus, die ‚große Linie‘ des Amazonas herauszuarbeiten, seine Nebenflüsse unterschlüge, fände nicht unseren Beifall.

Es geht also um eine Sachlichkeit in sehr oberflächlicher Schicht. Und wie die systematische Logik lehrt, daß der Abstraktionsakt der Begriffsbildung ersetzt werden kann durch eine enumeratio, eine planvolle und vollständige Aufzählung, so nähert sich die Reportage der Sach-Erfassung um so erfolgreicher, je mehr sie uns ‚aufzählt‘. Das wird in dem Maße gelingen, als Impressionismus, Subjektivismus, mit einem Wort: die Person des Berichtenden eliminiert werden kann. Damit umschreibt sich Sinn und Kern der Reportage als: unpersönlicher Tatsachenbericht von einem Sonderfall.

In: Die Literatur. Monatsschrift für Literaturfreunde. Begründet von Dr. Josef Ettinger. Hg. von Dr. Ernst Heilborn. 30. Jg. Okt. 1927-Okt. 1928, Stuttgart-Berlin, DVA, S. 3-6.

Richard v. Schaukal: Die Idee Österreichs

V o r b e m e r k u n g   d e r   S c h r i f t l e i t u n g: Die Zollunion Deutschland-Österreich ist verboten worden. Sie wäre auch in der Form der ersten Pläne kaum durchzuführen gewesen, denn zu verschieden sind die Verhältnisse und Lebensbedingungen der österreichischen Volkswirtschaft von der reichsdeutschen. Aber auch sonst wäre eine bloß auf das Nationale gestellte Union, selbst wenn sie eine politische würde, keine Lösung. Die Endlösung des deutschen bzw. österreichischen Problems ist nicht ein Nationalstaat mit unmöglicher Grenzgestaltung, die Endlösung heißt: das föderierte Mitteleuropa. Und je mehr heute von der Weltpolitik Gräben aufgerissen werden zwischen Deutschland und Österreich, um so mehr mag letzteres Vorarbeit für das künftige Mitteleuropa leisten durch Ausbau von Beziehungen vor allem mit seinen bisherigen engeren Weggenossen im Rahmen der altösterreichischen Monarchie. Das ist wohl der tiefere Sinn des folgenden Bekenntnisses eines hervorragenden Dichters und Denkers von Österreich.


    Der Österreicher, der als österreichischer Mensch seiner Herkunft und Natur gemäß fühlt und denkt, muß vor allem einen „Anschluß“ wünschen: den an seine Vergangenheit, die Österreich heißt, also an das Landgebiet, das ihn in Wechselwirkung seit Jahrhunderten bestimmt hat. Österreich, das von den schlecht beratenen Siegern in den Friedensverträgen auf das grausamste verstümmelt worden ist, aber in seiner Hilflosigkeit die zähe Lebenskraft seines Selbstvertrauens bewahrt hat, muß wieder zu sich selbst auferstehen als das vielfarbige, vielstimmige Reich der Mitte, zu dem es sein Schicksal ausersehen hat. Seine Entwicklung, die seine Geschichte ausmacht, war nichts weniger als Willkür, sondern gesetzmäßiges Wachstum aus den eigenen weitverzweigten Wurzeln. Diese Entwicklung ist gewaltsam unterbrochen worden, aber ihren Sinn kann Willkür nicht Lügen strafen. Daß sich die in der Monarchie vereinigten Völker, die kurzsichtige Regierungs- und Verwaltungsanschauung nach dem zerstörerischen Freiheitstaumel des Jahres 1848 durch ungeschickte Versuche gegeneinander getrieben statt wieder zusammengebracht hatte, auf den Trümmern des Reiches selbständig gemacht haben, ist mitnichten ein dauerndes Hindernis wohlbedachten, weil dem auseinandergerissenen Ganzen zuträglichen Zusammenschlusses. Die äußere Form ist fast gleichgültig: es kommt auf die innere Gestalt an, die sich in der Vereinigung ausdrückt. Um die Donau und ihre Nebenflüsse hat sich ein Gefüge zu erneuern, das in seiner Vielfalt eine Einheit bildet. Künstliche Schranken zwischen den zusammenstrebenden Teilen sind widersinnig. Die Alpen und ihre südlichen Ausläufer sind ein Ganzes, ebenso wie das von Randgebirgen abgegrenzte böhmisch-mährische Becken zum österreichischen Strom als ein Ganzes herniedergeht, wie die ungarische Tiefebene von diesem Strom aus bis an ihre Berge als ein Ganzes verbreitet. Und die Völker, die in diesem Mittelraum – man mag ihn bis an die „Vorlande“, die schwäbische Alp, den Bodensee erstrecken – seit mehr als einem Jahrtausend sich zusammenfanden, haben, ebenso wie der Boden, den sie besiedelten, seinen natürlichen Verlauf zeigt, sich von einander nicht gesondert, sind in einander über-, in einander aufgegangen. Es ist ein österreichisches Volk entstanden, in das der Österreicher, unbefangen sich selbst darangebend, wohl auch den Ungarn aufnimmt, der sich dagegen sträubt. Die Ostmark ist aus dem Herzogtum Bayern als Siedlung hervorgegangen. Als Rudolf von Habsburg, schwäbischer Herkunft, den Przemysliden Ottokar besiegt und sein gewaltiges Reich zur Grundlage der österreichischen Hausmacht bestellt hatte, ist das Österreich entstanden, von dem es am Ausgang des Mittelalters hieß, es werde zuletzt in der Welt sein. Viele Kronen hat sein Herrscher in seinem „großen Titel“ vereinigt. Der Weltkrieg hat sie zerschlagen. Aber was sie versinnlichten in ihrem stolzen Gefüge, die Zusammengehörigkeit des Zusammenhangenden [sic], in einander Verwachsenen und Verschlungenen, das hat er im Gedächtnis der Überlebenden nicht zu tilgen vermocht. In der Vergangenheit besitzt der Österreicher sein Vater- und Mutterland: daß er wieder erwerbe, was sein bleibt, hofft er von der Zukunft. Denn die Wandlungen der Geschichte können, was als Idee wirklich ist, verwischen und verdunkeln, nicht auslöschen.

In: Schönere Zukunft. Nr. 2, 11.10.1931, S. 30-31.

Richard von Kralik: Kulturpolitische Exkurse

 […]

Kultur und Barbarei.

Kultur ist Tradition. Aufgeben der Tradition ist Barbarei. Die „Wilden“ haben keine oder wenig Tradition. Die große einheitliche Kultur beruht auf der zusammenhängenden Tradition von Homer an durch das ganze Griechentum und Römertum bis ins Christentum hinein. Gefährliche Auswüchse der Tradition wurden immer durch „Wiedergeburten“ oder Regenerationen, Restaurationen, Restitutionen, „Reformationen“ im richtigen Sinne auf die richtige Bahn der Tradition zurückgelenkt. Ich meine etwa die Reform von Cluny usw., nicht die des Luther-Jahrhunderts. Selbst das Wort und der Begriff „Revolution“ bedeutet, richtig gefaßt, die Umwälzung zum Ausgangspunkt zurück. Kultur ist Konservatismus in diesem Sinn. Fortschrittlichkeit ist Entfernung von der Kultur. Darum hat der Syllabus von 1864 schon im Sinne der Kultur sehr recht, wenn er den prinzipiellen Fortschritt, den „Progressus“ als Irrtum verdammt. Fortschrittlicher Katholizismus z. B. wäre das Fortschreiten, das Hinwegschreiten aus dem tatsächlichen Katholizismus zu einer neuen Sektierung. Luther war in dieser Bedeutung ein fortschrittlicher Katholik, denn er bildete sich ein, reiner katholisch werden zu müssen, „integraler“ als der Papst. Wir kirchlichen Katholiken sind zufrieden, genau so katholisch sein zu können wie der Papst. Seinerzeit wollte das „Junge Deutschland“ über Goethe und Schiller hinausgehen; unser Grillparzer hat mit Recht gesagt, es wäre schon viel, schon genug geleistet, dort stehen bleiben zu können, wo Schiller und Goethe stand. Impressionisten, Expressionisten dachten neue Standpunkte in der Kunst einnehmen zu können; Nazarener, Präraffaeliten verstanden es besser, wenn sie versuchten, zum Heil der gefährdeten Kultur an die wunderbare Kunst der Vorzeit anzuknüpfen. Grillparzers Prinzip hat sich bewährt. Es ist das Prinzip der immerfort neu und doch gleich Entzückendes schaffenden, und darum unerschöpflichen Natur.

Großstadt und Kultur.

Ich schätze sehr die Heimatkunst, die Heimatkultur, die Dialektdichtung, die so mannigfaltig, köstliche Provinzkultur. Ich bin selbst auf dem Land, im Urwald geboren, dann in der Landstadt Linz aufgewachsen. Mein Herz hat sich immer erweitert, wenn ich durch die Gassen Innsbrucks, über die Grazer Plätze, durch Klagenfurt und Villach schreiten konnte, aber je älter ich wurde, um so deutlicher mußte ich einsehen, daß ein Schaffen in größerem Stil, eine nationale Kunst, eine freierer Wissenschaft nur in der Großstadt möglich ist. Schon die Athener haben erkannt und es ausgesprochen, daß ein Themistokles, Aristides nicht in einem ländlichen Dorf zur vollen Entfaltung gekommen wären. Das ist ja für den Politiker, den großen Staatsmann selbstverständlich, aber auch der Mann stiller geistiger Arbeit findet nur in der Großstadt heutzutage den Nährboden seiner Ideen. Vor mehr als 100 Jahren konnte eine „Allgemeine Zeitung“ in Augsburg, der alten Reichsstadt, erscheinen; bald ward ihr aber selbst die Übersiedlung in die bayrische Hauptstadt zu einem nur unzulänglichen Vorteil. Augsburg, München, und andere Mittelstädte haben für die Kultur ihre unleugbare, unersetzliche Bedeutung; aber eine Weltanschauung im Sinne der großen Weltgeschichte können sie nicht so leicht schaffen, wie Großstädte mit ihrem weiteren traditionsreichen Gesichtskreis, ihren wissenschaftlichen und staatlichen Instituten. Kant, der wohl eine Weltansicht erarbeitet hatte, rühmt dafür sein Königsberg, das vielleicht zu seiner Zeit im geistigen Sinn mehr Weltstadt war als Berlin. Auf die Einwohnerzahl kommt es ja gewiß nicht an: New York ist doch nur eine große Handelsbude. Ohne andern bedeutenden Städten zu nahe zu treten, möchte ich doch meine Überzeugung nicht verhehlen, daß man z. B. von Wien aus größere Kulturpolitik treiben kann als etwa von Tripstrill.

Poesie und Politik.

Die nahe Verwandtschaft von Poesie und Politik kann nicht stark und oft genug betont werden. Die altgriechische Staatskunst beruhte zumeist auf Poesie. Homer wurde sowohl von Lykurg wie von Solon als festeste Stütze der hellenischen Staatswesen anerkannt. Die Vorlesung oder Rezitation der Homerischen Gedichte von Staatswegen zu festen Zeiten galt wohl in Sparta wie in Athen als ein Fundament des den Staat tragenden Nationalgefühls. In gleicher tiefer Erkenntnis ließ Augustus durch Vergil das römische Staatsepos, die Aeneis, verfassen, durch Ovid den staatlichen Festkalender (die Fasten) dichterisch besingen, durch Horaz seine Taten und die Feste des Staates in Oden verherrlichen. Karl der Große zeigte dieselbe politische Einsicht durch seinen Auftrag, die deutschen Heldensagen zu sammeln und zu erhalten. Im gleichen Sinne habe ich vor 20 Jahren mein „Deutsches Götter- und Heldenbuch“ abgeschlossen und herausgegeben, und noch vorherein Prinz Eugen-Epos, nicht bloß als Spielerei zum Zeitvertreib, sondern auch als eigensten Ausdruck gesamtnationalen Geistes und Zusammenfassung einer nationalen Arbeit von 14 Jahrhunderten (seit Theoderich dem Großen). Ich bin der Überzeugung, daß die Freiheitskriege von 1813 bis 1815 nicht so glänzend ausgegangen wären, wenn sie nicht die Poesie der Zeit als sieghaften Genius hinter sich und vor sich gehabt hätten – der Freiherr von Stein hat das selber als führender Politiker der Zeit zugestanden. Andrerseits scheint mir der Mißerfolg des Weltkrieges bereits durch das skandalöse, rein negativ gehaltene Festspiel G. Hauptmanns von 1913 sozusagen mitbedingt. Schlechte oder gute Poesie, echte oder Antipoesie wirkt sich in aller Politik aus. Was ist denn der Kommunismus seit St. Simon und Fourier, seit Marx und Lassalle anderes als eine Abirrung der allen Seelen notwendigen Poesie auf eine falsche Bahn? So muß und kann uns nur echte Poesie auf rechten Wegen auch der Politik einer schöneren Zukunft zuführen.

[…]

In: Schönere Zukunft I, 1925, S. 3-5.

Richard v. Schaukal: Studentenrecht und Judenfrage. Tatsachen und Grundsätzliches

In Österreich geht gegenwärtig ein Kampf um das Studentenrecht, welches durch das Bedürfnis studentischer Selbstverwaltung notwendig gemacht wird. Dabei wird eine Gliederung auf volksbürgerlicher Grundlage angestrebt, da nur homogene Gruppen arbeitsfähig erscheinen; da andererseits die Studentenschaft in Österreich insoferne recht vielgestaltig ist, als an einzelnen Hochschulen beinahe zwei Drittel der Studentenschaft Nichtösterreicher sind und an allen Hochschulen die Zahl der Nichtdeutschen verhältnismäßig sehr groß ist. Gegen solche Gliederung der Studenten nach volksbürgerlichen Gesichtspunkten läuft nun das Judentum Sturm, weil seine Studentenkreise sich in einer eigenen Gruppe zu organisieren hätten, wobei die übermäßig starke Position des Judentums im Vergleich zu seinem Zahlenanteil an der Bevölkerungsziffer allzu sichtbar in Erscheinung treten würde. Das zum Verständnis der folgenden Darlegungen. Wir geben sie wieder als das beachtenswerte Bekenntnis einer berühmten Schriftstellerpersönlichkeit, ohne die dabei gebotene Behandlung der Judenfrage als erschöpfend zu betrachten.

                                                                               Die Schriftleitung.

Der Sturmlauf der jüdischen Presse gegen das durch ein Gesetz zu erneuernde Studentenrecht hat begonnen. „Zweierlei Volk in Österreich“ überschreibt die „Neue Freie Presse“ einen Leitartikelsatz, der sich nicht entblödet, von „einer künstlichen Scheidewand“ zu verkünden, die zwischen Angehörigen des deutschen Volkes 1 aufgerichtet werden solle, und zu erwägen, daß „sich die ganze Aktion gegen die jüdischen Angehörigen des deutschen Volkes richtet, jedenfalls gegen jenen Teil, der sich durch Erziehung, Erlebnis und Schicksal mit der deutschen Nation untrennbar verbunden fühlt“. (Der andere Teil sind offenbar die Zionisten, also die Juden, die so ehrlich sind, sich als Juden, als Angehörige des jüdischen Volkes zu bekennen.) Die „Wiener Sonn- und Montagszeitung“ bringt gar einen – von der „Neuen Freien Presse“ alsbald übernommenen – Aufruf, der mit Riesenbuchstaben „Ein Hitler-Gesetz in Österreich“ in drohende Aussicht stellt und gegen den „schmachvollen Entwurf des neuen Studentenrechtes“ in bunter Reihe Sozialdemokraten und Landbund, den Kardinalfürsterzbischof von Wien, die „tonangebenden“ Christlichsozialen, den Altbundeskanzler Dr. Seipel, Minister Dr. Dollfuß als „den Führer der katholischen Studentenschaft“, „das freiheitliche Bürgertum“, Kanzler und Vizekanzler und endlich gar die Mütter, ja den Friedensvertrag von Saint-Germain nebst den Staatsgrundgesetzen und der Moral  zu Hilfe ruft gegen „freche Hakenkreuzbuben“.

„Wir sind unter keiner Bedingung geneigt, von unserer Forderung“ – „daß diese Studentenordnung …endgültig verschwinden muß“ – „abzugehen, und wir werden, auch wenn das Haus in Trümmern gehen sollte, niemals zulassen, daß dieser Entwurf zum Gesetz erhoben wird.“ Ein „Kupon“ ist angeschlossen, der um Unterschriften zum „Protest gegen ein auf dem Rassenprinzip aufgebautes Studentenrecht“ wirbt.

Die Juden fühlen sich, wie man aus diesen Drohungen ersieht, trotz ihren Jammer- und Hilferufen sehr stark und rechnen mit der leisetreterischen Feigheit, die sie uns so hat über den Kopf wachsen lassen. Wer den Dreyfushandel in der aktenmäßigen Darstellung von Henri Dutrait-Crozon („Précis de l’Affaire Dreyfus“, Edition définitive. Paris, Nouvelle Librairie Nationale 1924) gelesen hat, wer sich an Hilsner und Halsmann erinnert, wer die Schnitzler-Apotheose und eben erst die lächerliche Stephan Zweig-Huldigung über sich hat ergehen lassen, ja wer nur einen Blick ins tägliche „führende“ Blatt wirft, um dort Finanz- und Kunstwelt, Geschäft und Vergnügen, Bildung und Erziehung von Juden beherrscht, verwaltet und nach ihrem Bild erstellt zu sehen, der kann sich nicht mehr darüber wundern, daß man im Lager der Weltüberwinder diese herausfordernde Sprache führt. Worum handelt es sich? Daß die „Deutsche Studentenschaft“, richtiger und deutlicher gesagt, die nach Abstammung und überlieferter Kultur dem deutschen Volk zuzuzählende Studentenschaft, ihre Volkszugehörigkeit zu bewußtem Volkstum zu erbilden, dieses ihr Volkstum in gemeinsamer Arbeit zu pflegen und zu stärken, befugt und in der Lage sei. Dasselbe Recht soll allen anderen Volksgemeinschaften auf akademischen Boden zustehen. „Reinliche Scheidung“, jawohl: klare, aller Vermischung und Verwischung sich widersetzende Gestalt ist das sittlich-ernste und notwendige Ziel des „Studentenrechts“. Sittlich-ernst, denn es geht um die Selbsterhaltung des dem Menschen bestimmenden leiblich-seelischen Erbes; notwendig, denn dieses// Erbe ist bedroht. Von wem bedroht? Von den „jüdischen Angehörigen“ nicht des „deutschen Volkes“ – das ist ein Widersinn und eine bewußte Falschmeldung – sondern der „Nation“, das ist der durch Bekenntnis zu deutschen Sprache und Staatsbürgertum in einem der zwei deutschen Staaten, dem deutschen Reich und dem österreichischen Bundesstaat als „Staatsvolk“, richtiger als Staatsbevölkerung festgestellten „Einheimischen“. Die Überflutung der Hochschule druch den stetigen Zustrom nicht so sehr von „Ausländern“ wie von einheimischen Juden ist eine nicht zu bestreitende Tatsache. Ich habe seit dem Kriege durch viele Jahre an der philosophischen  Fakultät der Wiener Universität als Hörer verschiedener Fächer, insbesondere der alten und der neueren Sprachen, den Vormittag verbracht, zwei meiner Kinder haben innerhalb dieser Zeit ihre akademischen Studien, in Jus und Philosophie, vollendet. Ich spreche also aus Erfahrung, nicht vom Hörensagen. Es gibt zumal auf dem Gebiete der Literaturgeschichte, Vorlesungen, in denen die jüdischen Besucher, in auffallender Weise die jüdische Weiblichkeit, überwiegen. Ähnlich ist es in der Rechtswissenschaft bestellt, und daß die medizinische Fakultät  schon seit geraumer Zeit ein ausgesprochen jüdisches Gepräge zeigt, ist bekannt. Wer die Gegend der Hochschule für Welthandel betritt, erhält schon auf der Gasse denselben, man darf wohl sagen, „befremdenden“ Eindruck. Ja, es ist nicht zu leugnen, daß das massenhafte Auftreten von Juden – wie auf akademischen Boden so an allen Stätten der Erholung und der Unterhaltung, Badeanstalten und Badeorten, Theatern, Konzertsälen, Tanzräumen, Kaffeehäusern, Hotels – auf den Nichtjuden, der sich zwischen seinen Wänden in eine fremdartige und nicht eben einnehmende Welt verschlagen dünkt, mehr als peinlich, daß es bedrohlich wirkt. Mag er Erwägungen darüber anstellen, daß diese bereits als Verjudung zu bezeichnende Inanspruchnahme eines großen, ja des im Bereiche städtischen Daseins größeren Teils des Verkehrslebens, der öffentlichen  Geselligkeit vor fünfzig, ja noch vor dreißig Jahren nicht als möglich gegolten hätte, daß das Emporkommen der Juden aus einer bescheidenen Teilnahme am allgemeinen Zustand zu solcher den Anblick dieses Zustands verwandelnden Ausbreitung einem Wohlwollen, einer Nachsicht, einer Duldung zu Lasten geschrieben werden müsse, die es sich nicht verhehlen können,  ausgenützt, mißbraucht worden zu sein; mag er, nachdenklich, dem Geist einer empfindsamen und verwaschenen „Menschlichkeit“ , wie sie seit den bürgerlichen Revolutionen allenthalben eben die Juden im Munde führen, die Schuld beimessen an einer nachgerade unausstehlichen Vorherrschaft freisinnig-aufklärerischer Wendungen, denen sich, eingeschüchtert, die Kenntnis- und Urteilslosigkeit der Halbgebildeten allzu leichtgläubig unterworfen hatte; mag er sich, ohne solche Betrachtungen anzustellen, nur dem Eindruck hingeben einer ebenso aufdringlichen wie abstoßenden Menge, wie sie ihm allüberall als der zu Erwerb und Genuß durch Anlage, Trieb und Gelegenheit bevorrechtete Stock seiner Mitmenschen entgegenwogt; er fühlt sich an den Rand unbefangenen Gehabens geschoben, ja aus seinen vertrauten Grenzen gedrängt, um die Heimat betrogen durch eine rücksichtslos ihrer Begehrlichkeit fröhnende Schar, die er, unwillig über die Unbilde solcher Behelligung, grollend über seine Wehrlosigkeit gegenüber der geschlossen vorstoßenden, zähen und geschmeidigen Körperlichkeit der Eindringlinge, unwillkürlich als seinen Feind empfindet.2

Das ist die Lage, die die „Judenfrage“ geschaffen hat, eine der wichtigsten, vielleicht die wichtigste Frage unserer Zeit, der Welt des 20. Jahrhunderts. Der Jude hat die Herrschaft über die europäische Gesellschaft angetreten, der jüdische Geist – der Inbegriff des wühlenden Intellektualismus, der zersetzenden Kritik, zugleich der hemmungslosen Sinnlichkeit und Stofflichkeit – verseucht das schlecht verteidigte, diesem Geist in vielen Vorwerken bereits ausgelieferte Abendland. Es gilt, ihm, dem unersättlichen, zerstörungslustigen, Einhalt zu tun, wo man ihm noch aus ungetrübter Besinnung Widerstand zu leisten fähig ist. Das ist vor allem dort der Fall, wo ungebrochene Jugendlichkeit, wahrhaftiges Selbstbewußtsein des zu sich selbst Wachsenden gedeihen: in der Studentenschaft. Man lasse sie nicht durch übelangebrachte Bedenken wehleidiger „Gerechtigkeit“ – die  Juden berufen sie immer nur für ihre Zwecke –, gar durch die von haßerfüllten Schreiern heuchlerisch beschworenen „Grundsätze der Religion“, der „Moral“ am klar erkannten Ziel irre machen. Es handelt sich hier nicht um Religion und „Konfession“, nicht um Nachbarlichkeit, Gastrecht und wie die Schlagworte sonst lauten mögen, es handelt sich nicht – eine freche, kniffige Bezichtigung – um einen Verstoß gegen die sogenannten Friedensverträge: es handelt sich um die eigene Haut, um die eigene Seele, um das unzweifelhafte Recht, auf eigenem Boden zu stehen, in ihm wurzeln zu dürfen, sich ihn nicht unter den eigenen Füßen wegziehen zu lassen, es handelt sich darum, die Zukunft, die düstere Zukunft auszuharren, zu retten, was noch zu retten ist an erbeigentümlicher Art, an volks- und stammestreuer Geistigkeit, kurz an dem, was einen Staat, soll er nicht eine Karawanserei vorstellen, ausmacht: ein sich aus sich selbst erneuerndes, in Boden, Blut und hergebrachter – bei uns also der christlichen – Kultur dauerndes  Staatsvolk.

In: Schönere Zukunft, Nr. 13, 27.12.1931, S. 303-304.


Vgl. dazu den Originalartikel, der hier von Schaukal tendenziös zusammengefasst und kommentiert wird: Neue Freie Presse, 13.12.1931, S. 1.


  1. Alle kursiv gesetzten Textstellen sind im Original gesperrt gedruckt und somit eigens hervorgehoben.
  2. Jeder, der jüdische Freunde hat – ich bekenne mich gern, treu und dankbar für ihre Anhänglichkeit, zu einer Reihe bewährter jüdischer  Jugendgenossen, ebenso wie  ich mich gern, treu und dankbar bekenne zu einer Reihe jüdischer und ‚halbjüdischer‘ Schöpfer, Denker und Künstler, Montaigne, Proust, Bizet, Marées, Offenbach, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Cézanne, Altenberg, Kraus – , jeder, der jüdische Freunde und schätzbare Bekannte hat, weiß, unterscheidend zwischen dem einzelnen und der Gesamtheit, zwischen den eben als einzelne in der Gemeinschaft von Erziehung, Gepflogenheit, Erinnerung aufgegangenen alteingesessenen Angehörigen dieses von uns grundverschiedenen Volkes und dem als Ganzes seine Verschiedenheit, seine Gegensätzlichkeit nur um so stärker betonende Volke selbst, daß es sich bei der unvermeidlichen, der aufgenötigten Auseinandersetzung mit dem Judentum als Fremdkörper um Ideen, Grundgefühle und Grundsätze, um Weltanschauungs- und Machtfragen, nicht aber darum handelt, ob einem im besonderen Fall etwa ein Jude oder ‚Judenstämmling‘ – was bei der Beharrlichkeit des jüdischen Blutes dasselbe deutet – aus triftigen Gründen und ehrlichen Empfindungen angenehmer, lieber sei als so mancher sei es rasseloser oder rassereiner ‚Arier‘. Auch wird kein Unbefangener leugnen, daß dem jüdischen Volke neben unleidlichen in hohem Grade Eigenschaften zumal der Vernunft zugutekommen, die es vor anderen auszeichnet. Was wir als jüdisch erachten und bekämpfen, ist ein Verhalten und  Zusammenhalten, das sich, auch in scheinbarer Anlehnung, immer wieder auf unverkennbare Weise gegen uns und unsere Selbstbestimmung kehrt. – Man lese, was die „Neue Freie Presse“ im Leitaufsatze vom 13.12.31 gegen die „widerwärtige Sophistik“ der Verteidiger des Studentenrechtes auf volksbürgerlicher Grundlage ins Treffen führt bei „Bestrebungen, die auf eine Monopolisierung des Deutschtums hinausläuft (sic, statt = „laufen“) in den Händen der Rassenjünglinge…“ Es sollen nach der N.F.P. alle „Mißliebigen“ aus der (deutschen) „Studentennation“ ausgeschlossen werden, „auch wenn sie sich aus vollem Herzen und nach ihrer ganzen Gemütsverfassung zum Deutschtum bekennen“. Unter den Beispielen, welche Bekenner, lebten sie heute, von dieser Gewalttat betroffen würden, marschiert an erster Stelle „der Dichter der Loreley“ auf, „der Schöpfer des neuen Stils der deutschen Sprache (!), Heinrich Heine…Wann wäre wohl das Wort Sophistik besser angebracht als  bei der Beschwörung dieses Kronzeugen für deutsche „Gemütsverfassung“!

Kurt Sonnenfeld: Russische Gegenwartskunst

„Die Kunst der Zeit“, sagt Fritz Karpfen in seinem soeben erschienenen geistvollen Buch über die russische Gegenwartskunst (Verlag Literaria Wien), „ist Emporstreben, Sturm, Aufschrei, Empörung, Umsturz, Revolution.“ Nun, das war echte Kunst wohl immer, und darum ist auch jeder wahre Künstler, weil er, über den konventionellen Bindungen stehend, nur den Gesetzen seines innersten Wesens gehorcht, ein Revolutionär.

Der Expressionismus, die gegenstandslose Ausdruckskunst, hält sich für besonders radikal, weil ihre Kunstwerke nicht Wiedergabe des Geschauten, sondern Wiedergabe des gefühlsmäßig, traumhaft Erlebten sind. Ein Schulbeispiel für den Expressionismus in seinen letzten Konsequenzen ist der russische Maler Wassili Kandinski. Er ist der Erfinder des Abstrakten in der Malerei. Er fand und schuf das Ungegenständliche, um das Gegenständliche künstlerisch lebendig darzustellen. Die Farben allein sind sein Ausdrucksgebiet, mit ihnen, nur mit ihnen drückt er das aus, was er sagen will. Er malt alle Empfindungen, Geschehnisse, Modelle nur in der Farbe, ohne gegenständliche Form. Freilich darf sich nur ein großer Künstler diesen Superlativ der Eigenwilligkeit gestatten. Was bei Kandinski eigenartig wirkt, das wirkt bei seinen Nachäffern, die einfach Farbenkleckse auf die Leinwand patzen und diese Pinselei als den Ausdruck ihrer seelischen Erlebnisse bezeichnen, als frecher, geistloser Schwindel.

Es ist überaus erfreulich, dass Fritz Karpfen, der in seiner Gesinnung den radikalsten Strömungen nahe steht, von allen Entartungserscheinungen des künstlerischen Radikalismus so deutlich abrückt. Seine harten Worte über den Dadaismus (der in Sowjetrußland, wo man sich für alle gewagten Experimente und Verstiegenheiten interessiert, besonders üppig gedeiht) kann jeder unterschreiben.

Rußland ist heute das Land der „Ismen“. Nun wäre es aber durchaus unangebracht, über diese geistige Zerklüftung zu spotten, da eben diese Sektiererei, dieser Partikularismus Zeichen der Kraft und Aktivität sind. Aber diese künstlerischen Sekten entwickeln sich nicht durch, sondern gegen den Bolschewismus, da dieser bekanntlich für Vielfältigkeit kein Verständnis aufbringt und alles in seine Uniform zwängen will. Auch auf künstlerischem Gebiet erweist sich das rote Zarat als ebenso engherzig wie das weiße Zarat.

Mit Recht wendet sich Karpfen auch gegen den falsch angewendeten russischen „Proletkult“. Ein so herrliches Ziel es auch ist, die Kunst zum Gemeingut des Volkes zu machen und die Genialität, die im Volke schlummert, zum Leben zu erwecken – die Wege, auf denen der Bolschewismus dieses Ziel anstrebt, führen in die Irre. Es wurde der ungeheuerliche Fehler begangen, Menschen zu Künstlern handwerksmäßig erziehen zu wollen. Statt aus der Masse der Arbeiter die Begnadeten auszusuchen und diesen, nur diesen, den Weg zu ihrem Künstlertum zu ermöglichen, will man in Schulen ganz einfach alle, die sich melden, zu Künstlern herandrillen. Es ist Bedingung, daß nur Industriearbeiter in den Proletkult Aufnahme finden. So will man eine neue Kunstepoche schaffen, die aus den Herzen der neuen Zeit, den Fabriken, entsteht. Ödester Dilettantismus ist die Folge. Aber schon strebt diese Richtung aus gesundem Instinkt nach ganz anderen Zielen. Das Kunstgewerbe meldet sich in dieser Gruppe und hier mag wohl das Erreichbare sein. Denn die russische Volkskunst, die Bauernkunst insbesondere, hat köstliche Kleinodien als ursprüngliche Nationalkunst hervorgebracht.

Eine wichtige Rolle spielt in Rußland gegenwärtig die Maschinenkunst, die Richtung Wladimir Tatlins, der Tatlinismus, bei dem, wie Umansky sagt, das Bild als solches tot ist; dem Dreidimensionalen ist es zu eng auf der Bildfläche, neue Probleme fordern zu ihrer Lösung reichere technische Mittel. Die Kunst der Maschine mit ihrer Konstruktion und Logik, ihrem Rhythmus, ihren Bestandteilen, ihrem Material, ihrem metaphysischen Geist findet keine Art von Material der Kunst unwürdig. Holz, Glas, Papier, Blech, Eisen, Schrauben, Nägel, elektrische Armatur, gläserne Splitter – alles das wird zu rechtmäßigen der neuen Kunstsprache erklärt und deren neue Grammatik und Aesthetik fordert vom Künstler weitere handwerksmäßige technische Ausbildung und einen engeren Bund mit der Maschine… Das ist der Tatlinismus, der Snobs und Nichtkönnern Gelegenheit zu Stümpereien, aber Künstler wie Archipenko Gelegenheit zu bleibenden Kunstwerden geboten hat. Es kommt eben durchaus nicht auf die Kunstrichtung, sondern immer nur auf den Künstler an.

Der leidenschaftliche Kampf, der in Rußland, wo die Hungersnot herrscht, um neue künstlerische Ausdrucksformen gekämpft wird, wirkt rührend. Jedenfalls ist der Russe ein ungleich geistigerer Mensch als etwa der Wiener; denn während es in Wien immer nur die gleichen, leider völlig sinnlosen Gesprächsthemen über die Teuerung und über die Schieber gibt, vermag man sich in Rußland, wo die Not ungleich ärger ist als bei uns, über künstlerische Fragen glühend zu erregen. Die russische Geistigkeit konnte weder durch das Zarentum, noch durch den Bolschewismus zerstört werden.

Fritz Karpfen verdient aufrichtigen Dank für sein ungemein geistvolles und mit prächtigen Abbildungen geschmücktes Buch, dem er eine Reihe weiterer Bücher über die Gegenwartskunst der anderen Länder folgen lassen wird.

In: Neues Wiener Journal, 23.1.1922, S. 8.S

Hans Suschny: Manifest

Ich spreche vor allem zu allen jungen produktiven Menschen meines engeren Werkkreises Österreich. Ich spreche zu all jenen, die bereit oder auf dem Wege sind, in ihr Hirn einzugreifen und ihre Gehirnzellen umzuschichten.

Wir müssen vor allem den Kampf gegen unsere eigene Natur aufnehmen.

Wir müssen als geschichts- und weltbewußte Individuen den Selbstmord unserer Passivität begehen.

Als solche müssen wir uns auch gegen die äußere Natur, gegen die Elemente, die diese unsere Passivität bedingen, auflehnen.

Ich spreche zu all jenen, die sich befähigt fühlen, auf welchem Lebensgebiete immer, dem heute bestehenden Chaos gegenüberzutreten und es mit festen Händen und zähen Nerven in seine Teile aufzulösen oder seine Elemente neu zu organisieren.

Wir sind zum Großteile in versteinerte Formen eingeschlossen und in Pyramidengräbern erstickt.

Wenn unser Hirn gleichfalls verkalkt ist, lebt es sich ein, oder besser, stirbt es hinein in dieses Steinmassiv.

Wenn wir aber freier leben, gelangen wir zur Wahrnehmung der in Vermischung vegetierenden Elemente und zur Erkenntnis der Organisationsfähigkeit dieser sei es in unserem Hirne dialektisch oder in der äußeren Welt freigewordenen Elemente.

Wir leben, wenn wir jede auftauchende Frage in unseren Gedankenorganismus einbeziehen, unsere Sinne neuen Fragen eröffnen und Lösungen versuchen.

Wir werden zu produktiven Menschen, wir schaffen, wenn wir diese Frage lösen.

Jedes Kunstwerk sei ein gelöstes Problem, und je mehr es dieser Forderung entspricht, umsomehr befriedigt es den Aufnehmer.

Wer aber in der Versteinerung althergebrachter Formen eingeschlossen ist, welche Formen insgesamt gelöste Probleme bedeuten, für den sind eben alle Probleme gelöst, für ihn ist kurzhin alles gelöst, er fühlt kein Bedürfnis nach neuen Lösungen, denn er sieht keine neuen Probleme.

Ihm fehlt aber auch die Aufnahmsfähigkeit neuer Lösungen, das heißt auch neuer Kunstwerke, er steht ihnen fern, fremd und blind gegenüber, sie sind ihm vor allem zu einfach, – welche Eigenschaft ihnen auch wirklich zukommt, da sie eben Lösungen sind -.

Er liebt jedoch die Widerkäue längst gelöster Fragen, er liebt sie in leicht zu hebende ‚zarte‘ Schleier gehüllt, er liebt sie in Symbolen ausgedrückt, in welchen er mühelos den Sinn zu entdecken vermag, seine Langweile ‚sehnt‘ sich nach Komplikationen und er verstrickt sich und zerbröselt immer mehr ihm Chaos.

Wer aber in der Gegenwart die Fragen der Gegenwart erschaut und auffühlt, wer sie zu lösen versucht und wem die Lösung gelingt, der ist ein einfaches, unkompliziertes Individuum einer einfachen, zum Teile noch ihrer Kollektivität unbewußten Gemeinschaft, das darum nur wieder einfache oder nach Einfachheit verlangende Menschen anspricht.

Wir hassen die Problematik und Symbolik im Kunstwerk.

Wir lieben den reinen Stoff, der uns Mittel zur Lösung ist.  

Wir lieben jene Mitmenschen, die von uns Lösungen erwarten, und hassen jene, deren Nerven vom Künstler gekitzelt werden wollen. Hierin liegt auch der Sinn und die Erklärung für unser Verbundensein mit dem Proletariat einerseits und der Technik andererseits.

Der Kampf des Proletariats ist das Ringen nach Problemlösung.

Jedes Werk der Technik ist Problemlösung und daher selbst unproblematisch wie die reife Frucht, wie jeder in sich geschlossene einheitliche Organismus.

Unsere Werke sind ebensolche Organismen.

Sind die in eine neue, vollkommene, reale Einheit gebrachten und nach dieser Einheit verlangenden Elemente des Chaos.

Die verschiedenen Kunstrichtungen unserer Epoche haben sich vergeblich bemüht, eine neue Schaffensbasis zu finden. Was ihnen zum Teile gelang, war die Sprengung der inaktuellen Formen, die Befreiung der Elemente und Elementarformen, aber den neuen Schaffensgrund konnten sie nicht finden. Als Beispiel erhoben sie Malerei und Dichtung im Banne der Musik zur musikalischen Komposition. Erst dem Konstruktivismus gelang es, malerische Formen in ihrem Eigenwerte zu erkennen, die dichterischen Begriffe in ihrem Vollwerte zu denken und daraus neue Organismen zu bauen, zu konstruieren.

Wir schufen den Grundriß und fanden den Spitzbogen [gesperrt gedr. im Orig.]

Damit ist das Werk des Konstruktivismus beendet. Damit begräbt sich der letzte

–Ismus. Wir treten in eine neue Epoche, in die –ismenlose des universellen Schaffens, begeben uns auf die Suche nach einer neuen Hirneinheit. Auf Grundriß und Spitzbogen – den Bau! [gesperrt gedr.]

Österreicher! In den Ländern um euch zerbrechen die Kalkmauern. In den Hirnen ringsum platzen die klassischen Vorurteile. Nur in Wien werden noch immer die Häuserwände mit ‚lieblichen‘// Stukkaturen beklebt, die Zimmer mit violetten Akten und blühenden Landschaften verunstaltet, die Plakatwände mit Pornographien, sentimentalen Liebespaaren und ‚ästhetischen‘, stilisierten, weichfarbigen Reklamen beschmutzt.

In den Konzert- und Theatersälen wird in ätherischen und Trancezuständen traumgeschwitzt.

In den Schulen umklammern Polypenarme die Hirne der Jugend und sie erstickt oder entwindet sich resigniert.

Wer aber seine Muskeln spürt, kommt mit uns.

Wer freiere Luft atmen möchte, geht mit uns.

Ich grüße Ludwig Kassák als den Arm, der mir aus dem Sumpfe half.

Ich grüße Ludwig Kassák als den Kopf und die Füße unserer Bewegung und in seinem Namen all jene, die bereit sind, sich der Erfüllung unserer großen Aufgabe anzuschließen.

Unter den Ventilatoren technischer Ökonomie und wissenschaftlicher Dialektik, unter den Scheinwerfern elementarer Gestaltung und proletarischer Einfachheit.

                                                                                   [Hans Suschny]

In: MA 10 (1925), H. 2, S. 6-7.S

E. K. Stein: Ansprache an sozialistische Künstler

(Gehalten am 28. d. M. in der gründenden Versammlung der Fachgruppe der Künstler, Schriftsteller der „Soz. Vereinigung geistiger Arbeiter“.)

            So wie der Zusammenschluß der „Geistigen Arbeiter“ zu einer besonderen Organisation innerhalb der Sozialdemokratie keine Scheidung, aus Überhebung etwa, vom Handarbeiter darstellen sollte; vielmehr diese Sonderorganisation eben als wirksamstes Mittel gewählt wurde, um der Sozialdemokratie aus der Gesamtheit der „geistigen Arbeiter“ möglichst großen Zuwachs zu sichern; so führte auch die Künstler nicht Dünkel und Überhebung zur gesonderten Organisierung innerhalb der „geistigen Arbeiter“. Auch wir sehen in solchem engeren Zusammenschluß zunächst nur das geeignetste Werkzeug, auch den Teil der Künstlerschaft, der heute noch dem Sozialismus fernsteht, in unser Lager zu ziehen.

            Als Arbeiter bekennen wir uns alle: das Band, das uns alle eint, ist das Lob der Arbeit; wie es uns scheidet von den Anderen, die den Segen der Arbeit nur in seiner fluchwürdigen Verwandlung, dem goldgemünzten Schweiß und Blut der Arbeiter preisen mögen.

            In zwei große Lager scheint sich so die Menschheit zu scheiden: Die Arbeiter und die Arbeitsscheuen. Da ich zu Künstlern spreche, die so gerne – mit mehr oder weniger Wohlwollen – von ihren „Gönnern“ als das „arbeitsscheue Gesindel“ hingestellt werden, muß ich kaum ausführlicher dartun, daß gerade der Künstler, der – im Geiste – immer Rege, bis zur Besessenheit Rege ist; er wahrhaftig kann die Arbeit nicht scheuen, nicht fliehen, da sie mit ihm verwachsen ist. So ist sein Platz im Lager der Arbeiter, der Regen.

            Diesem feindlich, tut sich drüben das andre Lager, das der Trägen, auf; wollen sie doch von der Regsamkeit der Anderen leben; müssen sie doch darum sich die Herrschaft über die Regen erzwingen und sichern; feindlich darum.

            Wie aber konnte es kommen, daß Trägheit über Regsamkeit die Herrschaft gewann? Die überlegene Masse, wir Alle kennen sie: das Kapital. Denn nicht Arbeit und Schaffen verleiht Herrschaft oder auch nur Freiheit; nicht dem Arbeitenden und Schaffenden selbst dienen diese: immer nur dem Kapital; der Burg der Trägheit; Bürger heißen sie darum, denen unsere Regsamkeit die Sicherheit ihrer Trägheit verbürgt.

            Der Bürger wurde vom Künstler zu allen Zeiten verhöhnt und verulkt; dennoch blieb dieser der geistige Sklave, bestenfalls der Hofnarr des Bourgeois. Und als die Armee der Millionen Arbeitssklaven sich endlich zum Widerstande auflehnte, da blieb der Künstler abseits stehen: seine Abhängigkeit vom Kapital war so endgiltig geworden, daß er allein unter all den Sklaven zitterte, seine Nahrung, sein Lebensunterhalt könne mit dem Untergang der Bourgeoisie und des Kapitals, von deren Brosamen er bisher gelebt, verschwinden.

            Wie aber konnte es dahin kommen, daß der Künstler so allen Zusammenhang mit dem Volke verloren hatte, aus dem allein seine Kunst, sein Schaffen die geistige Nahrung ziehen durften, daß er daran verzweifelte, bei ihm die leibliche Nahrung zu finden?

            Die Kunst hatte immer mehr die Fratze ihrer Brotgeber aufgedrückt erhalten; sie war volksfremd ins Innerste geworden. Der Geist, den Elend und Verfolgung nicht in Banden schlagen konnten, er war der Lockung des Goldes, der Trägheit erlegen. Der Geist, des Blut und Atem Freiheit ist, er hatte sie verkauft; das himmlische Recht der Erstgeburt des Geistes, es war ihm feil, wenn der Kapitalismus ihm den Fraßtrog rüstete.

            Der Kapitalismus hatte den Geist gekauft: oft, um sich damit zu schmücken; dosiert auch, um die Trägheit seiner Verdauung anzuregen; immer aber, um die Regsamkeit in die Fesseln der „gut bürgerlichen Ordnung“ zu schlagen: wehe, wenn sie losgelassen! das war der Bürgerschreck!

            So kam die Weltkatastrophe: der Weltkrieg. Der verratende und gefesselte Geist versagte; die Künstler aller Völker, die berufenen Priester der Menschheit, auch sie segneten wie die Pfaffen die mörderischen Waffen; fast ausnahmslos. Der Stolz dieser Stadt wird es bleiben, daß unter den ganz Wenigen, die dem Geiste treu geblieben waren, der Name eines Wieners, Karl Kraus, steht.

            Aus dem fürchterlichsten Debakel der Menschheit soll die neue Zeit erstehen, der neue Geist sich gebären. Fünfzig Monate bestialischen Mordens sollen vom Frieden abgelöst werden. Was ist Friede? Kann es jener Zustand sein, dem „unser“ Krieg entwuchs, entwachsen mußte? Ist darum Friede auf Erden, weil an die Stelle der 42er Mörser jetzt wieder – im sozialen Kampf, nennts die bourgeoise Phraseologie – die „friedlichen“ Waffen, die Milliarden-Trusts treten? Weil die kriegerische „Hungerblockade“ nun abgelöst wird durch Hungerlöhne?

            Wie die Arbeit das Element des Regsamen ist, so ist der Krieg, der ja immer auf Unterjochung abzielt, der soziale wie militärische, das Element des Arbeitsscheuen. Wir wollen schaffen und arbeiten in Frieden und Freiheit. Deshalb scharen wir uns um die Zeichen des Sozialismus, die Frieden und Freiheit verheißen.

            „Der Geist marschiert!“ tönt uns da höhnend ein Schlagwort entgegen; der Künstler, der Geist könne sich nicht organisieren; das widerstreite seinem innersten Wesen.

            Nun: es scheint mir immerhin einer weitreichenden Abrüstung nahe zu kommen, wenn der „Geist“, der widerspruchslos, wenn nicht antreibend, sich in Reih und Glied der Kriegshorden fügte, oder ärger noch, vom sicheren Pfühl sie zum Marschieren aneiferte: wenn er zunächst einmal, um den Schießprügel in Trümmer zu hauen, eine Vereinigung der Kräfte sucht; wenn er – jetzt ohne Schießprügel – „marschiert“, um sich und seinem Volke den Frieden zu sichern und seiner Arbeit Früchte.

            Wir wollen nichts von Kriegskunst wissen, nichts auch von jener Kunst, die auf den Blutäckern des sozialen Krieges blüht. Wir wollen den Völkerfrieden, aber auch den sozialen, den Menschheitsfrieden; in diesem Tale des Friedens allein kann die wahre Kunst gedeihen; dort erst kann der Geist schaffen und walten; dort wartet des Geistes seine wahre Bestimmung: in friedlichem Wettstreit die Individualität zu pflegen, Führer und Priester seinem Volke zu sein!

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 5, 31.1.1919, S. 97-99.

Jakob Wassermann: Auflösung der Form

Wenn die Literatur ein Zeiger ist, der die geistig-seelische Verfassung einer Epoche meldet, so gibt sie den europäischen Völkern heute Signale, deren Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Es hat den Anschein als sei man der Geschlossenheit aller gültig gewesenen Formen überdrüssig geworden; man will sich nicht mehr an Gesetze binden, die man für veraltet hält, und anerkennt weder ein Metier, noch glaubt man an seine Erlernbarkeit ; man tritt fertig auf den Plan, mit zwanzig Jahren schon, und prätendiert, daß alles, was man macht, auch fertig sei. Es gibt unter jungen Autoren und Kritikern ein bequemes Schlagwort, das immer kräftiger zu lesen ist: es heißt bürgerlich und wird selten anders als in abschätziger Bedeutung angewendet. Aber es macht mich heimlich lachen, weil ich sehe, daß das sogenannte Bürgerliche bei allen Umkehrungen und Umstürzen am Ende obenauf bleibt wie die Ölschicht in einer Flasche mit Wasser. Außerdem kann ich nicht ganz vergessen, welche Galerie unsterblicher Werke diese bürgerliche Welt aufzuweisen hat, überflüssig, sie herzuzählen. Die Jugend erklärt aber, sie wolle sich diese Bevormundung durch Meisterwerke nicht mehr gefallen lassen, sie habe es nicht nötig, sie wünsche sich davon zu befreien, sie statuiere weder Meister noch Geselle noch Lehrling, jeder hab sich nach seiner Erfahrung, seiner Erkenntnis und dem Zustand seines Herzens zu äußern und gemäß den ihm innewohnenden Kräften zu behaupten. Was aber darnach zutage tritt, ist kläglich und hat so wenig Leben und Dauer in sich, daß die Offenbarungen von gestern immer schon die Makulatur von morgen sind. Sonderbare Verschwendung an Glut und Gut und Wille. Kein Zweifel, daß jede Übergangsepoche solche Stimmen kenn, ein- bis zweimal in jedem Jahrhundert kommt es dazu, daß selbst die konservativen Geister eine skeptische Bilanz der Zeit ziehen, warum sollten da die rebellischen nicht ihre Autodafés veranstalten ; die Menschheit hat einen großen Verbrauch in ihrer Wirtschaft, die zunehmende Verdichtung der Gesellschaftsgruppen bedingt eine Vermehrung der Abfallprodukte, mit derselben Regelmäßigkeit und Notwendigkeit wie die Städte verrottetes Eisen, Asche, Lumpen und schmutziges Papier ausscheiden, Ergebnis ihres gewaltigen Verdauungsprozesses, entledigen sich Nationen und Berufsklassen der Ideen, die ihnen gedient haben, der Werke, die in ihrer Mitte entstanden sind und deren sie von einem Tag zum andern nicht mehr bedürfen.

Aber das Tempo dieser Verdauung wird allmählich etwas zu stürmisch, und man fragt sich, ob dabei die Blutgefäße noch Säfte verarbeiten und der Magen noch einigermaßen funktioniert. So viel Absonderung fordert sehr viel Speise; daran mangelt es ja nicht; während noch vor fünfzig, vor dreißig Jahren der geistige Konsum auf bevorzugte Klassen und vorgebildete Schichten beschränkt war, gibt es solche Scheidungen heute kaum mehr, alle verzehren alles, aber die Flüchtigkeit der Aufnahme ist beinahe so groß wie die Mittelmäßigkeit des Aufgenommenen und die Vergeßlichkeit der Aufnehmenden. Dies ist keine Jeremiade, sondern Feststellung; es ziemt auch keinem einzelnen, sich darüber in Klagen zu ergehen, da er auf seine Weise teil hat an der Bewegung des Ganzen, und wenn er seine Kräfte zu fruchtlosem Wiederstand verwendet statt zur Bewältigung und Hilfe, wird er mitzermalmt und selber zum Kehricht geworfen. Wir stehen vor einer ungeheuren Veränderung des gesamten sozialen Organismus, und ob der Prozeß, der vor hundertvierzig Jahren begonnen hat, bereits zu seinem Höhepunkt gediehen ist, wage ich nicht zu sagen; die doppelt so lange Ära des Humanismus hat dem Gesichte Europas die Züge verliehen, durch die es dreimal vorher schon, in der Antike, im römischen Kaiserreich und in der Renaissance, sein individuelles Gepräge erhielt: nun ist es alt geworden und sein Träger tritt den in der Geschichte ewig wiederholten Gang zum Jungbrunnen an. Amerika war stets nur Abbild und Widerspiel dieser Kultur; anfänglich schien alles ein Zufallswesen und innere Verarmung, was dort in kolonialer Abhängigkeit von den Mutterländern geschah, plötzlich hat sich erwiesen und wird mehr und mehr zur historischen Tatsache, daß die zersprengten Teile wie ein einem Völkerglühofen zu neuer Einheit, neuer Gesellschaft und neuen Gesellschaftsidealen mit neuen Staatsgedanken zusammengeschmolzen sind, denn ich glaube, alles bei uns landläufige Urteil über Amerika ist Vorurteil, Unkenntnis und alexandrinischer Hochmut. Die östliche Welt aber war bis vor kurzem nur von esoterischen Plänklern und kühnen Geographen in unseren Gefühls- und Wissenskreis einbezogen worden. Asien, das schlummernde Rätsel, für ahnungsvolle Geister ein halb lockender, halb beunruhigender Traum, Rußland das große dunkle Tor, aus dem verführerische und prophetische Stimmen herüberdrangen und hinter dem visionär-verschwörerisch die ersten Versuche gemacht wurden, den ehrwürdigen Bau der christlich-germanischen Weltordnung in die Luft zu sprengen.

Indessen ist alles in Fluß geraten, wie wenn ein riesiger Zauberer im Weltraum den Planeten mit seinem Stab angerührt hätte; sogar der Kontinent, der durch Jahrtausende nie den Charakter als Appendix herrschender Kulturen und Imperien verloren hatte, Afrika sogar zeigt sich von eigenstrebenden Kräften belebt und steht auf und weist unbezahlte Schuldenrechnungen vor, die eines Tages eingelöst werden müssen, ob friedlich oder mit Blut, das wird ein Teil unseres Schicksals und ein besonderes Buch der Geschichte sein. Es ist kein Anlaß, zu erschrecken, es geht um anderes als um dein und mein Glück, wir sind nicht dazu geboren, um wie Kinder unterm Weihnachtsbaum jährlich eine Portion Versprechungen und Hoffnungen von der Weltregierung einzustreichen, damit wir uns dann arglos daran ergötzen können, es handelt sich um Verantwortlichkeit. In einer Gemeinschaft, deren Vitalität und geistige Zielgebung vornehmlich darin besteht, daß Formen zerstört werden, die nicht zurücklassen als Zersetzungsstoffe, das heißt Gärungs- , da heißt Aufruhrkeime, wo also unverhehlter Raubbau an allem überlieferten Besitz getrieben wird, verringert sich die Verantwortlichkeit in demselben Maße, in dem der lebendige Vorrat an geistigen, seelischen, religiösen Gütern zum Petrefakt wird, ein Zusammenhang, der zu jeder Stunde, durch jedes Geschehnis im öffentlichen wie im privaten Leben beweißbar ist, von den Gewaltmethoden der politischen Parteien bis zur Veräußerlichung und Verwahrlosung der Handwerke und Künste. Eine Sache können heißt, sich mit Freiheit der Formen bedienen, durch die sie zur Wirkung oder zur Erscheinung gelangt. Nicht anders ist es im Moralischen; wenn der  handelnde Mensch sich der Formen entschlägt, die die Arbeitsfrucht von Generationen sind, und zugleich ohne daß er es merkt, die Grenzen seiner Persönlichkeit ausmachen, wird sein Tun und sein Werk ursach- und folgenlos und steht unheimlich leer im Raum. Das ist das Tragische an so vielen Existenzen heute, das Leerstehen im Raum. Zu frühe Freiheit, zu frühe Befreiung, zu früher Verzicht auf Bindung, daher die Isolation, die so nah der Verzweiflung und dem Sturz ist. Inneres Gesetz wächst wie die Pflanze, kann nicht nach Willkür und Bedünken gezeugt oder gezüchtet werden; je tiefer die Wurzeln ins Erdreich gehen, je höher reckt sich der Gipfel, je mehr Vorleben einer in den Geschlechtern hat, je mehr Selbstleben hat er, je mehr Nachleben, es sei denn, Kern und Säfte seien erkrankt. Zu frühe Freiheit, das ist es; verbrauchte Form fällt von selber ab, doch dann ist die neue auch schon da : wie der Baum seine Ringe, die Natur ihre Gezeiten, so hat der Geist seine Erneuerungen und das Leben der Nationen seine auf- und niedersteigenden Perioden. Niemand kann aus eigener Machtvollkommenheit organisches Werden veranlassen, alles Dasein beginnt und endigt im Geheimnis und besteht durch die geschaffene Form.

Woher rührt eigentlich das rebellische Verlangen nach Lösung und Frucht von Formen, das vor keiner Errungenschaft mehrt Halt machen will, auch vor dem geheiligtesten Bestand nicht? Sind so viele eben dieses Bestandes müde geworden? Müde von dem, was man das Hergebrachte nennt (eine Bezeichnung mit einem wunderlichen Beigeschmack von Trägheit und Fäulnis), dieses großen Reservoirs von Bräuchen, Sitten, Moden, Regeln, Schulen, Zeremonien, Verträgen und Gesetzen, das den ungeduldigen Enttäuschen zu getrübt erscheint, als daß sie es noch länger der Verwaltung eines kraftlosen Regimes anvertrauen möchten? Müde der Kluft zwischen Wissen und Handeln, müde der vergeblichen Erfahrungen, der Institutionen und der Verheißungen? Müde der Juristenjustiz, der Künstlerkunst, der Priester- oder Kirchenreligionen, der Geschichtslügen und der Gesellschaftslügen? Unsicherheit ist das Gefühl, von dem sie am stärksten ergriffen sind, Zeit-, Welt- und Lebensunsicherheit. Das eigene Tun, der eigene Wert, der eigene Charakter sogar hat in ihren Augen keine Konsistenz und keine Kontinuität mehr. Ich verstehe es gut. Lichtenberg schreibt einmal: „Ich kann nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es besser werden soll.“ Das ist wohl die herrschende Meinung bei allen heute, die von einer Aufgabe und Idee getrieben werden, freilich auch bei denen, die nichts im Sinn haben als Ruinen hinter sich zu lassen. Lichtenberg konnte sich so einen Ausspruch leisten, denn in ihm war so viel vom Empörer wie vom Reaktionär, und nur durch die Resultante aus diesen beiden Kräften wird die Welt in Gang erhalten. Es ist kein Unglück, wenn das Ab- und Ausgelebte beiseite geworfen wird, wohl aber ist es eins, wenn die Kärrner den Königen ins Handwerk pfuschen, die Kühe, die Milch geben sollen, den Melkern den Bauch aufschlitzen und die Maschine ihren Erfinder und Erbauer zum Sklaven macht. Und ein weit größeres, wenn die aus dem Chaos sich lösende neue Form keine Spiegelung, kein Gleichnis mehr in den Menschen hat, die durch Verzerrungen geängstet und durch Ausschweifungen des Auges und der Phantasie entnervt, nicht mehr sehen was sie sehen und nicht mehr hören was sie hören. So ekel die Phraseologie der trägen Beharrung ist, so gefährlich und giftig ist die der Bilderstürmerei. Man muß die Form begreifen als ein Ausbruch der Gottheit, als das Symbol des in sich geschlossenen Ringes, der den einzigen Schutz darstellt gegen das Grauen der Ewigkeit und die auf allen Seiten hereinragende Finsternis des Todes. Anders zu leben ist unmöglich.

In: Neue Freie Presse, 1.1.1926, S. 1-3.