E. K. Stein: Ansprache an sozialistische Künstler

(Gehalten am 28. d. M. in der gründenden Versammlung der Fachgruppe der Künstler, Schriftsteller der „Soz. Vereinigung geistiger Arbeiter“.)

            So wie der Zusammenschluß der „Geistigen Arbeiter“ zu einer besonderen Organisation innerhalb der Sozialdemokratie keine Scheidung, aus Überhebung etwa, vom Handarbeiter darstellen sollte; vielmehr diese Sonderorganisation eben als wirksamstes Mittel gewählt wurde, um der Sozialdemokratie aus der Gesamtheit der „geistigen Arbeiter“ möglichst großen Zuwachs zu sichern; so führte auch die Künstler nicht Dünkel und Überhebung zur gesonderten Organisierung innerhalb der „geistigen Arbeiter“. Auch wir sehen in solchem engeren Zusammenschluß zunächst nur das geeignetste Werkzeug, auch den Teil der Künstlerschaft, der heute noch dem Sozialismus fernsteht, in unser Lager zu ziehen.

            Als Arbeiter bekennen wir uns alle: das Band, das uns alle eint, ist das Lob der Arbeit; wie es uns scheidet von den Anderen, die den Segen der Arbeit nur in seiner fluchwürdigen Verwandlung, dem goldgemünzten Schweiß und Blut der Arbeiter preisen mögen.

            In zwei große Lager scheint sich so die Menschheit zu scheiden: Die Arbeiter und die Arbeitsscheuen. Da ich zu Künstlern spreche, die so gerne – mit mehr oder weniger Wohlwollen – von ihren „Gönnern“ als das „arbeitsscheue Gesindel“ hingestellt werden, muß ich kaum ausführlicher dartun, daß gerade der Künstler, der – im Geiste – immer Rege, bis zur Besessenheit Rege ist; er wahrhaftig kann die Arbeit nicht scheuen, nicht fliehen, da sie mit ihm verwachsen ist. So ist sein Platz im Lager der Arbeiter, der Regen.

            Diesem feindlich, tut sich drüben das andre Lager, das der Trägen, auf; wollen sie doch von der Regsamkeit der Anderen leben; müssen sie doch darum sich die Herrschaft über die Regen erzwingen und sichern; feindlich darum.

            Wie aber konnte es kommen, daß Trägheit über Regsamkeit die Herrschaft gewann? Die überlegene Masse, wir Alle kennen sie: das Kapital. Denn nicht Arbeit und Schaffen verleiht Herrschaft oder auch nur Freiheit; nicht dem Arbeitenden und Schaffenden selbst dienen diese: immer nur dem Kapital; der Burg der Trägheit; Bürger heißen sie darum, denen unsere Regsamkeit die Sicherheit ihrer Trägheit verbürgt.

            Der Bürger wurde vom Künstler zu allen Zeiten verhöhnt und verulkt; dennoch blieb dieser der geistige Sklave, bestenfalls der Hofnarr des Bourgeois. Und als die Armee der Millionen Arbeitssklaven sich endlich zum Widerstande auflehnte, da blieb der Künstler abseits stehen: seine Abhängigkeit vom Kapital war so endgiltig geworden, daß er allein unter all den Sklaven zitterte, seine Nahrung, sein Lebensunterhalt könne mit dem Untergang der Bourgeoisie und des Kapitals, von deren Brosamen er bisher gelebt, verschwinden.

            Wie aber konnte es dahin kommen, daß der Künstler so allen Zusammenhang mit dem Volke verloren hatte, aus dem allein seine Kunst, sein Schaffen die geistige Nahrung ziehen durften, daß er daran verzweifelte, bei ihm die leibliche Nahrung zu finden?

            Die Kunst hatte immer mehr die Fratze ihrer Brotgeber aufgedrückt erhalten; sie war volksfremd ins Innerste geworden. Der Geist, den Elend und Verfolgung nicht in Banden schlagen konnten, er war der Lockung des Goldes, der Trägheit erlegen. Der Geist, des Blut und Atem Freiheit ist, er hatte sie verkauft; das himmlische Recht der Erstgeburt des Geistes, es war ihm feil, wenn der Kapitalismus ihm den Fraßtrog rüstete.

            Der Kapitalismus hatte den Geist gekauft: oft, um sich damit zu schmücken; dosiert auch, um die Trägheit seiner Verdauung anzuregen; immer aber, um die Regsamkeit in die Fesseln der „gut bürgerlichen Ordnung“ zu schlagen: wehe, wenn sie losgelassen! das war der Bürgerschreck!

            So kam die Weltkatastrophe: der Weltkrieg. Der verratende und gefesselte Geist versagte; die Künstler aller Völker, die berufenen Priester der Menschheit, auch sie segneten wie die Pfaffen die mörderischen Waffen; fast ausnahmslos. Der Stolz dieser Stadt wird es bleiben, daß unter den ganz Wenigen, die dem Geiste treu geblieben waren, der Name eines Wieners, Karl Kraus, steht.

            Aus dem fürchterlichsten Debakel der Menschheit soll die neue Zeit erstehen, der neue Geist sich gebären. Fünfzig Monate bestialischen Mordens sollen vom Frieden abgelöst werden. Was ist Friede? Kann es jener Zustand sein, dem „unser“ Krieg entwuchs, entwachsen mußte? Ist darum Friede auf Erden, weil an die Stelle der 42er Mörser jetzt wieder – im sozialen Kampf, nennts die bourgeoise Phraseologie – die „friedlichen“ Waffen, die Milliarden-Trusts treten? Weil die kriegerische „Hungerblockade“ nun abgelöst wird durch Hungerlöhne?

            Wie die Arbeit das Element des Regsamen ist, so ist der Krieg, der ja immer auf Unterjochung abzielt, der soziale wie militärische, das Element des Arbeitsscheuen. Wir wollen schaffen und arbeiten in Frieden und Freiheit. Deshalb scharen wir uns um die Zeichen des Sozialismus, die Frieden und Freiheit verheißen.

            „Der Geist marschiert!“ tönt uns da höhnend ein Schlagwort entgegen; der Künstler, der Geist könne sich nicht organisieren; das widerstreite seinem innersten Wesen.

            Nun: es scheint mir immerhin einer weitreichenden Abrüstung nahe zu kommen, wenn der „Geist“, der widerspruchslos, wenn nicht antreibend, sich in Reih und Glied der Kriegshorden fügte, oder ärger noch, vom sicheren Pfühl sie zum Marschieren aneiferte: wenn er zunächst einmal, um den Schießprügel in Trümmer zu hauen, eine Vereinigung der Kräfte sucht; wenn er – jetzt ohne Schießprügel – „marschiert“, um sich und seinem Volke den Frieden zu sichern und seiner Arbeit Früchte.

            Wir wollen nichts von Kriegskunst wissen, nichts auch von jener Kunst, die auf den Blutäckern des sozialen Krieges blüht. Wir wollen den Völkerfrieden, aber auch den sozialen, den Menschheitsfrieden; in diesem Tale des Friedens allein kann die wahre Kunst gedeihen; dort erst kann der Geist schaffen und walten; dort wartet des Geistes seine wahre Bestimmung: in friedlichem Wettstreit die Individualität zu pflegen, Führer und Priester seinem Volke zu sein!

In: Die Wage. Eine Wiener Wochenschrift, Nr. 5, 31.1.1919, S. 97-99.

Jakob Wassermann: Auflösung der Form

Wenn die Literatur ein Zeiger ist, der die geistig-seelische Verfassung einer Epoche meldet, so gibt sie den europäischen Völkern heute Signale, deren Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Es hat den Anschein als sei man der Geschlossenheit aller gültig gewesenen Formen überdrüssig geworden; man will sich nicht mehr an Gesetze binden, die man für veraltet hält, und anerkennt weder ein Metier, noch glaubt man an seine Erlernbarkeit ; man tritt fertig auf den Plan, mit zwanzig Jahren schon, und prätendiert, daß alles, was man macht, auch fertig sei. Es gibt unter jungen Autoren und Kritikern ein bequemes Schlagwort, das immer kräftiger zu lesen ist: es heißt bürgerlich und wird selten anders als in abschätziger Bedeutung angewendet. Aber es macht mich heimlich lachen, weil ich sehe, daß das sogenannte Bürgerliche bei allen Umkehrungen und Umstürzen am Ende obenauf bleibt wie die Ölschicht in einer Flasche mit Wasser. Außerdem kann ich nicht ganz vergessen, welche Galerie unsterblicher Werke diese bürgerliche Welt aufzuweisen hat, überflüssig, sie herzuzählen. Die Jugend erklärt aber, sie wolle sich diese Bevormundung durch Meisterwerke nicht mehr gefallen lassen, sie habe es nicht nötig, sie wünsche sich davon zu befreien, sie statuiere weder Meister noch Geselle noch Lehrling, jeder hab sich nach seiner Erfahrung, seiner Erkenntnis und dem Zustand seines Herzens zu äußern und gemäß den ihm innewohnenden Kräften zu behaupten. Was aber darnach zutage tritt, ist kläglich und hat so wenig Leben und Dauer in sich, daß die Offenbarungen von gestern immer schon die Makulatur von morgen sind. Sonderbare Verschwendung an Glut und Gut und Wille. Kein Zweifel, daß jede Übergangsepoche solche Stimmen kenn, ein- bis zweimal in jedem Jahrhundert kommt es dazu, daß selbst die konservativen Geister eine skeptische Bilanz der Zeit ziehen, warum sollten da die rebellischen nicht ihre Autodafés veranstalten ; die Menschheit hat einen großen Verbrauch in ihrer Wirtschaft, die zunehmende Verdichtung der Gesellschaftsgruppen bedingt eine Vermehrung der Abfallprodukte, mit derselben Regelmäßigkeit und Notwendigkeit wie die Städte verrottetes Eisen, Asche, Lumpen und schmutziges Papier ausscheiden, Ergebnis ihres gewaltigen Verdauungsprozesses, entledigen sich Nationen und Berufsklassen der Ideen, die ihnen gedient haben, der Werke, die in ihrer Mitte entstanden sind und deren sie von einem Tag zum andern nicht mehr bedürfen.

Aber das Tempo dieser Verdauung wird allmählich etwas zu stürmisch, und man fragt sich, ob dabei die Blutgefäße noch Säfte verarbeiten und der Magen noch einigermaßen funktioniert. So viel Absonderung fordert sehr viel Speise; daran mangelt es ja nicht; während noch vor fünfzig, vor dreißig Jahren der geistige Konsum auf bevorzugte Klassen und vorgebildete Schichten beschränkt war, gibt es solche Scheidungen heute kaum mehr, alle verzehren alles, aber die Flüchtigkeit der Aufnahme ist beinahe so groß wie die Mittelmäßigkeit des Aufgenommenen und die Vergeßlichkeit der Aufnehmenden. Dies ist keine Jeremiade, sondern Feststellung; es ziemt auch keinem einzelnen, sich darüber in Klagen zu ergehen, da er auf seine Weise teil hat an der Bewegung des Ganzen, und wenn er seine Kräfte zu fruchtlosem Wiederstand verwendet statt zur Bewältigung und Hilfe, wird er mitzermalmt und selber zum Kehricht geworfen. Wir stehen vor einer ungeheuren Veränderung des gesamten sozialen Organismus, und ob der Prozeß, der vor hundertvierzig Jahren begonnen hat, bereits zu seinem Höhepunkt gediehen ist, wage ich nicht zu sagen; die doppelt so lange Ära des Humanismus hat dem Gesichte Europas die Züge verliehen, durch die es dreimal vorher schon, in der Antike, im römischen Kaiserreich und in der Renaissance, sein individuelles Gepräge erhielt: nun ist es alt geworden und sein Träger tritt den in der Geschichte ewig wiederholten Gang zum Jungbrunnen an. Amerika war stets nur Abbild und Widerspiel dieser Kultur; anfänglich schien alles ein Zufallswesen und innere Verarmung, was dort in kolonialer Abhängigkeit von den Mutterländern geschah, plötzlich hat sich erwiesen und wird mehr und mehr zur historischen Tatsache, daß die zersprengten Teile wie ein einem Völkerglühofen zu neuer Einheit, neuer Gesellschaft und neuen Gesellschaftsidealen mit neuen Staatsgedanken zusammengeschmolzen sind, denn ich glaube, alles bei uns landläufige Urteil über Amerika ist Vorurteil, Unkenntnis und alexandrinischer Hochmut. Die östliche Welt aber war bis vor kurzem nur von esoterischen Plänklern und kühnen Geographen in unseren Gefühls- und Wissenskreis einbezogen worden. Asien, das schlummernde Rätsel, für ahnungsvolle Geister ein halb lockender, halb beunruhigender Traum, Rußland das große dunkle Tor, aus dem verführerische und prophetische Stimmen herüberdrangen und hinter dem visionär-verschwörerisch die ersten Versuche gemacht wurden, den ehrwürdigen Bau der christlich-germanischen Weltordnung in die Luft zu sprengen.

Indessen ist alles in Fluß geraten, wie wenn ein riesiger Zauberer im Weltraum den Planeten mit seinem Stab angerührt hätte; sogar der Kontinent, der durch Jahrtausende nie den Charakter als Appendix herrschender Kulturen und Imperien verloren hatte, Afrika sogar zeigt sich von eigenstrebenden Kräften belebt und steht auf und weist unbezahlte Schuldenrechnungen vor, die eines Tages eingelöst werden müssen, ob friedlich oder mit Blut, das wird ein Teil unseres Schicksals und ein besonderes Buch der Geschichte sein. Es ist kein Anlaß, zu erschrecken, es geht um anderes als um dein und mein Glück, wir sind nicht dazu geboren, um wie Kinder unterm Weihnachtsbaum jährlich eine Portion Versprechungen und Hoffnungen von der Weltregierung einzustreichen, damit wir uns dann arglos daran ergötzen können, es handelt sich um Verantwortlichkeit. In einer Gemeinschaft, deren Vitalität und geistige Zielgebung vornehmlich darin besteht, daß Formen zerstört werden, die nicht zurücklassen als Zersetzungsstoffe, das heißt Gärungs- , da heißt Aufruhrkeime, wo also unverhehlter Raubbau an allem überlieferten Besitz getrieben wird, verringert sich die Verantwortlichkeit in demselben Maße, in dem der lebendige Vorrat an geistigen, seelischen, religiösen Gütern zum Petrefakt wird, ein Zusammenhang, der zu jeder Stunde, durch jedes Geschehnis im öffentlichen wie im privaten Leben beweißbar ist, von den Gewaltmethoden der politischen Parteien bis zur Veräußerlichung und Verwahrlosung der Handwerke und Künste. Eine Sache können heißt, sich mit Freiheit der Formen bedienen, durch die sie zur Wirkung oder zur Erscheinung gelangt. Nicht anders ist es im Moralischen; wenn der  handelnde Mensch sich der Formen entschlägt, die die Arbeitsfrucht von Generationen sind, und zugleich ohne daß er es merkt, die Grenzen seiner Persönlichkeit ausmachen, wird sein Tun und sein Werk ursach- und folgenlos und steht unheimlich leer im Raum. Das ist das Tragische an so vielen Existenzen heute, das Leerstehen im Raum. Zu frühe Freiheit, zu frühe Befreiung, zu früher Verzicht auf Bindung, daher die Isolation, die so nah der Verzweiflung und dem Sturz ist. Inneres Gesetz wächst wie die Pflanze, kann nicht nach Willkür und Bedünken gezeugt oder gezüchtet werden; je tiefer die Wurzeln ins Erdreich gehen, je höher reckt sich der Gipfel, je mehr Vorleben einer in den Geschlechtern hat, je mehr Selbstleben hat er, je mehr Nachleben, es sei denn, Kern und Säfte seien erkrankt. Zu frühe Freiheit, das ist es; verbrauchte Form fällt von selber ab, doch dann ist die neue auch schon da : wie der Baum seine Ringe, die Natur ihre Gezeiten, so hat der Geist seine Erneuerungen und das Leben der Nationen seine auf- und niedersteigenden Perioden. Niemand kann aus eigener Machtvollkommenheit organisches Werden veranlassen, alles Dasein beginnt und endigt im Geheimnis und besteht durch die geschaffene Form.

Woher rührt eigentlich das rebellische Verlangen nach Lösung und Frucht von Formen, das vor keiner Errungenschaft mehrt Halt machen will, auch vor dem geheiligtesten Bestand nicht? Sind so viele eben dieses Bestandes müde geworden? Müde von dem, was man das Hergebrachte nennt (eine Bezeichnung mit einem wunderlichen Beigeschmack von Trägheit und Fäulnis), dieses großen Reservoirs von Bräuchen, Sitten, Moden, Regeln, Schulen, Zeremonien, Verträgen und Gesetzen, das den ungeduldigen Enttäuschen zu getrübt erscheint, als daß sie es noch länger der Verwaltung eines kraftlosen Regimes anvertrauen möchten? Müde der Kluft zwischen Wissen und Handeln, müde der vergeblichen Erfahrungen, der Institutionen und der Verheißungen? Müde der Juristenjustiz, der Künstlerkunst, der Priester- oder Kirchenreligionen, der Geschichtslügen und der Gesellschaftslügen? Unsicherheit ist das Gefühl, von dem sie am stärksten ergriffen sind, Zeit-, Welt- und Lebensunsicherheit. Das eigene Tun, der eigene Wert, der eigene Charakter sogar hat in ihren Augen keine Konsistenz und keine Kontinuität mehr. Ich verstehe es gut. Lichtenberg schreibt einmal: „Ich kann nicht sagen, ob es besser wird, wenn es anders wird, aber so viel kann ich sagen, es muß anders werden, wenn es besser werden soll.“ Das ist wohl die herrschende Meinung bei allen heute, die von einer Aufgabe und Idee getrieben werden, freilich auch bei denen, die nichts im Sinn haben als Ruinen hinter sich zu lassen. Lichtenberg konnte sich so einen Ausspruch leisten, denn in ihm war so viel vom Empörer wie vom Reaktionär, und nur durch die Resultante aus diesen beiden Kräften wird die Welt in Gang erhalten. Es ist kein Unglück, wenn das Ab- und Ausgelebte beiseite geworfen wird, wohl aber ist es eins, wenn die Kärrner den Königen ins Handwerk pfuschen, die Kühe, die Milch geben sollen, den Melkern den Bauch aufschlitzen und die Maschine ihren Erfinder und Erbauer zum Sklaven macht. Und ein weit größeres, wenn die aus dem Chaos sich lösende neue Form keine Spiegelung, kein Gleichnis mehr in den Menschen hat, die durch Verzerrungen geängstet und durch Ausschweifungen des Auges und der Phantasie entnervt, nicht mehr sehen was sie sehen und nicht mehr hören was sie hören. So ekel die Phraseologie der trägen Beharrung ist, so gefährlich und giftig ist die der Bilderstürmerei. Man muß die Form begreifen als ein Ausbruch der Gottheit, als das Symbol des in sich geschlossenen Ringes, der den einzigen Schutz darstellt gegen das Grauen der Ewigkeit und die auf allen Seiten hereinragende Finsternis des Todes. Anders zu leben ist unmöglich.

In: Neue Freie Presse, 1.1.1926, S. 1-3.

N.N.: Der Tatlinismus.

Der neueste Kunstwahnsinn.

Daß die russische Kunst unter der Herrschaft des Bolschewismus besonders modern und revolutionär sich entfaltet hat, ist bekannt. Aber die Weiterentwicklung dieses Stils, der für uns im wesentlichen durch den bereits vor dem Krieg aufgetauchten Expressionismus Chagalls und Kandiskys repräsentiert wird, war bisher in Dunkel gehüllt. Nun dringen Nachrichten aus Berichten russischer Reisender und neuesten Moskauer Kunstblättern herüber über die jüngste Bewegung, und Frank Thieß erzählt von dieser neuesten russischen Kunst in der „Freien Deutschen Bühne“. Der Hauptmeister und Mittelpunkt dieser Malerei ist Wladimir Tatlin, der in den ersten Kriegsjahren mit seinen Arbeiten an die Oeffentlichkeit trat. Um ihn hat sich eine große Schule gebildet, die Schule der Tatlinisten, die mit Leidenschaft das neue Evangelium der Schönheit, den Tatlinismus, predigen. Diese „Kunst“, der sich neuerdings auch Dichter und Musiker angeschlossen haben, geht über die Forderungen des Expressionismus weit hinaus und will überhaupt die gesamten Grundlagen aller bisherigen Kunst forträumen. Nach // den Angaben scheint es sich dabei um einen Stil zu handeln, der auch bei uns [] von einigen kühnen Neuerern in der Form der „Merzbilder“ angewendet wird. Der Tatlinismus erklärt nämlich „die souveräne Herrschaft der Objekte, des maschinellen, des Materials“. Das Material, der tote Stoff, welcher unser Leben beherrscht, hat auch die Kunst zu beherrschen. Die Kunst hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, dieses Material zu ihrem „Material“ zu machen, muß sich also des Holzes, des Eisens, des Glases, der Schrauben, der elektrischen Drähte und der mathematischen Formeln genau so bedienen, wie sich die Zeit ihrer selbst bedient: Alle Dinge der Außenwelt haben Heimatsrecht in der Kunst, welche dem Geist die Wohnung zu kündigen hat, um die Maschine an seine Stelle zu setzen. Der gegenstandslosen „Kunst“, welche die Tatlinisten höhnisch in Ausführungszeichen setzen, tritt die radikale gegenständliche Maschinenkunst entgegen, die sich aller Dinge zu gleichen Rechten bedient und jedem, auch dem belanglosesten Objekt, gestattet, auf der Bildfläche zu erscheinen. Der Tatlinismus ist der Schrittmacher der „totalen Materialisiertheit“ unseres Lebens und opfert – ähnlich wie die Dadaisten in Deutschland und die Männer um die Zeitschrift „Valori Plastici“ in Italien dem „rational“ meßbaren Ding die „Irrationalität“ des Geistes und der Seele.

In: Neues Wiener Journal, 13.4.1920, S. 4-5.