Paul Hatvani: Der russische Mensch

Die Psychologie, soll sie als Wissenschaft erfolgreich bestehen können, wird einmal an die Systematisierung des vorhandenen Materials schreiten müssen. Es wird die Typenpsychologie entstehen: die Festlegung genau fixierter Arten und Abarten, mit denen man rechnen kann und muß.

. . . Es sei hier versucht, einiges über den „russischen Menschen“ zu sagen, als Beitrag zu einer künftigen Typenpsychologie.

I.

. . . Er ist nicht an den geographischen Begriff gebunden. Sein entscheidendes Merkmal aber hat sich geographischen Anschauungen assimiliert: es ist die Seele, hinter der unendlich die russische Ebene, von Europa nach Asien reichend, sich erstreckt. Der Mensch, dem diese grenzenlose Landschaft zur Staffage dient, muß vor den harten Tatsachen kapitulieren. Sein Mut wird weich, sein Gefühl resigniert; der Blick wendet der Erde sich zu: mit einemmal wird die Erde nah, wird Heimat, und nichts ist da, was unwesentlich wäre. Verachtung? Er steht mit den kleinen Dingen des Alltags auf trautem Fuß. Der Alltag wird Mythos; verwirrt ihn nicht das bißchen Hirn, die Vernunft, die Gigantisches ausklügeln will und immer wieder in Demut sich beugt? Was soll der nie vollendete Höhenflug? Ein wenig Güte: und die Erde nimmt dich wieder liebevoll auf.

In Rußland mußte die fast perverse Resignation des Tolstojanismus entstehen. Dem russischen Menschen leuchtet die Legende der Entsagung ein; es wird von der Parabel „Wieviel Erde braucht der Mensch“ gerührt. In anderen Atmosphären, wo Geist in steiler Konsequenz den Dom baut, darin Begriffe wohnen und der Vernunft ein Altar errichtet ist . . ., scheucht dich der Eindruck der Banalität aus dem frommen Verständnis. Hier aber – der Tag vergeht, die Zeit bleibt stehen . . . – ist von den Erwägungen einer bodenreformatorischen, also politischen Anschauung bis zum memento mori des Grabes nur ein Schritt.

 . . . Ein verhängnisvoller Schritt. Und es sei gesagt, daß ein Recht, dieses Verhängnisvolle aufzuzeigen, nur dem Russen zusteht. Maxim Gorki hat in großer Eindringlichkeit auf die Gefahr Tolstoj für den Russen hingewiesen. Und er hat auch, was wichtiger ist, die größere Gefahr in jenem Dichter erkannt, der für Europa den Typus des russischen Menschen überhaupt geliefert hat, in Dostojewski. Und er nennt diese dunkle Gefahr, die uns alle ergriffen hat, „Karamasowismus“.

Karamasowismus: das ist eine Romantik ohne Inventar. Das ist eine Exaltation der Seele, ein Kapitulieren vor den Tatsachen, ein Masochismus, der entsteht, wenn Liebe kein Objekt findet. Dostojewski hat ihn gewiß nicht „erfunden“; aber er hat ihn am Eindringlichsten gestaltet. Dostojewski hat die Figur des ethischen Verbrechers in die Welt gestellt; er hat Christus übertrumpft: er hat den Sünder begnadigt um der armen Seele willen. Hie war kein Allesversteher am Werk. Dem mußte alles verziehen werden. Ein Gefühl schuf sich das ethische Gesetz: der Mensch, zur Erde, zum Mütterchen Erde gebeugt, wird der Gnade teilhaftig. Kniee nieder, Mensch, Bruder, bete und bekenne: dann ist alles wieder gut. Was immer auch geschehen ist; was immer auch geschehen wird: das Himmelreich kennt nur deine reine Seele; was du tatest, tat die Welt, die böse auf dich gelauert hat. Beuge dich, Brüderchen; Mütterchen Erde wird dich warm umarmen.

Und dunkel schweben darüber die Töne der Kirchenglocken.

II.

. . . Der eine Typus. Der andere ist – sein Widerspiel? nein! – . . . der andere ist Flucht in die Vernunft. Also Flucht nach Europa. ( . . . Man wird Bedenken äußern: ist „Vernunft“ identisch mit Europa? Dürfen wir den europäischen Menschen – ein vom russischen genau verschiedener Typ – mit dem „vernünftigen“ gleichsetzen? In der Typenpsychologie wohl; wenn auch nicht erschöpfend. Denn erschöpfend ist der Europäer erst durch den Zweifel an sich, durch die skeptische Vernunft charakterisiert. Sein Bewußtsein reagiert aus negativen Gründen; sein Glaube, sein Wissen entsteht aus Skepsis, aus Polemik. Er empfindet polar; er stellt jedem A ein non A gegenüber. Aber . . . er ist auch, und es kommt hier darauf an, der Mensch der Vernunft. Sein Weltbild entsteht aus Überlegungen. Ist’s auch manchmal grau, entschädigt für alles die bunte Theorie. Hamlet aber ist teilweise schon ein Vorläufer russischer Lebensmöglichkeiten, ein reziproker Raskolnikow etwa, der sich über Schuld und Sühne jedenfalls schon Gedanken macht . . . )

. . . „Gedanken macht“: darauf kommt es an. Gleichem Impuls entwächst der eine wie der andere Typ. Reflektierend gelangt der eine zur Erde; der andere reflektiert bewußt: das ist der ganze Unterschied. Und lockend steht der helle, geradlinige Bau europäischer Mentalität vor dem Auge, das aus dunkler Gefühlswelt aufblickt: ein banaler Wunsch löst den Glauben an das Glück der Wissenschaft aus. Der russische Student, der nach dem Westen kommt um revolutionäres Material gegen Rußland zu sammeln (ich spreche natürlich vom vorbolschewistischen Rußland!); und der ein Stück Demut und einen Rest Dämonie nach Europa verpflanzt . . .; der intellektuelle Westler ist Frondeur des eigenen Ichs. Oder hört auf, dem Typus anzugehören. Solange er Russe ist, geht der Strahl seiner Seele über das konventionelle Kalkül hinaus; er konfrontiert die Dinge mit der Unendlichkeit, die Zeit mit dem Ewigen.

Das Ewige aber ist entweder Gott oder die Idee.

Dem „echten“ Russen bleibt Gott der Angelpunkt der Welt; der Westler hat die Idee . . .; mags nun eine politische, revolutionäre, wissenschaftliche oder kulturelle sein. Ihr dient er; sein Ich ist ausgelöscht; er unterordnet die leiseste Vibration seiner Nerven ihrem Diktat.

III.

Die russische Art, Theater zu spielen, ist uns ergreifendes Beispiel. Die Russen haben noch Schauspielertruppen im alten Sinne des Begriffs. Sie bringen es zuwege, aus Hamlet ein Ensemble-Problem zu machen. Wie plötzlich weiße Seidenfahnen, den Leichnam apotheotisch umwallend, die Neurasthenie des shakespearischen Neurasthenikers von der Szene verscheuchen, ist Symbol und musikalische Wirkung. Wir mißverstehen das russische Theater – wie wir ja auch die russische Malerei, die russische Musik mißverstehen – wenn wir aus dem Ensemble Namen lösen. Seine Wirkung ist ein kollektivistisches Ereignis, für das wir nicht mehr, oder noch nicht, die richtige Einstellung haben. Und nun sei, den Übergang Pedanten überlassend, Entscheidendes gesagt: der russische Mensch hat keine „Nervosität“. (Auch die „Masse“ hat keine; sie steht den Dingen höchstens romantisch gegenüber.)

. . . Eine schwer verständliche Tatsache für den Europäer: es gibt nun einmal einen Menschentyp subtilster Art, der nicht mit den Nerven reagiert. Dessen schöpferische Berauschtheit festgefügt im Rahmen seiner Wirklichkeit bleibt; dessen Dämonie nicht aus dem Dunkel irritierter Leidenschaften quillt.

Der russische Mensch denkt nicht an den Grenzen des Bewußtseins; dort führt der Europäer sein Schattenspiel auf. Der russische Mensch hat aus asiatischen Abgründen noch das Gefühl für Stabilität sich gerettet; er hat die Erde, die unendliche Erde, unter sich und wankt und zittert nicht im Sturm der Gedanken. Er beugt nur seinen Körper, seine Seele, tief hinab; Mütterchen Erde bleibt fester Halt. Er ersetzt unsere Sensationen mit den Wundern, die wir, sie determinierend, zerstören. Er läßt es mit sich geschehen, daß es unerklärliche Dinge gibt.

. . . Verhängnisvoll war es, in diese russische Welt das Wort „Fortschritt“ zu schleudern. (Verhängnisvoll für die Ideologie; notwendig und wunderbar für den Menschen, der sie bewohnt.) Fortschritt ist ein westlicher, ein „europäischer“ Begriff; er setzt die Tatsache einer Entwicklung voraus; er hat Rückgrat; er bäumt den Menschen auf; er ist ein Angriff auf die Demut, die den Menschen zur Erde beugt.

Mütterchen Erde mach ein verdutztes Gesicht: wer befahl dem Söhnchen, gerade zu stehen? Wer hebt ihn in die Labilität? Der schwerfällige Körper, der schwerfällige, der schwermütige Geist, setzt sich dem Abenteuer aus. Ist’s nicht das große europäische Abenteuer, in das der Asiate, der Gleichgewichtsmensch, sich da stürzt?! Zwischen den beiden Möglichkeiten, Europa und Asien, ist Rußland das Versuchskaninchen. Wer der russischen Erde flieht, hat nur diese zwei Wege offen: beide bedeuten Revolution.

Den Typus hält die seelische Struktur aufrecht. Die Seele weiß vom Dilemma der beiden Möglichkeiten nichts; sie hat sich von den geographischen Problemen abstrahieren lassen. Der „russische Mensch“ kommt überall vor; ein Hauch auch jener Steppe, aus Dostojewski, erfaßt den Ahnungslosen, der „ahnungslos“ in jenem tieferen Sinne ist. Dich ergreift plötzlich diese aktive Passivität des Karamasowismus; plötzlich hat das Ethos ein neues, ein uralt-zeitloses Gesicht. Du überwindest den Alltag; die kleinen Dinge werden wesenhaft; sie sind Symbole zweiten Ranges und rührend elementar. Die Welt, Gottes Spielzeugschachtel, ist eng und weit zugleich: ihr buntes Ornament, – fröhliches Lachen, trauriges Lächeln – ist da, um dem unerbittlich-ernsten Inhalt die annehmbare Form zu geben. Der russische Mensch hat keine Banalität.

IV.

. . . Ergreifend Neues in der europäischen Literatur dieser Zeit: der unbanale Mensch.

Man wird die Erscheinung, oberflächlich, aus den Einflüssen der großen russischen Dichter, der großen russischen Tatsachen, ableiten wollen. Aber diese Einflüsse treffen mit einer zeitbedingten seelischen Stimmung zusammen, die den melodischen Akkord erklingen läßt. Der Europäer ist von der Sehnsucht des Russentums erfaßt . . .: er verläßt mit einemmal die Ebene der Nerven und neigt sich dem faszinierenden Typus zu. Die Erde hat ihn wieder!

. . . Europäische Geistigkeit, Europas Geist, ist eine Angelegenheit des bewußten Nervensystems. Die schöpferische Nervosität des europäischen Menschen ist der Inhalt seiner „Kultur“; er reagiert subtil und ist imstande, aus Dingen der Vernunft ein Gefühl zu produzieren. Seine ganze Tragik läßt sich aus der Diskrepanz ableiten, die zwischen der Menge des Wissens und der Menge der Gefühle besteht. (Oder eigentlich: seine Problematik. Sie verursacht, letzten Endes, die kulturelle Nervosität; sie treibt ihn in die schöpferische Decadence, aus der ihn ein scheinbarer, oft maskierter Optimismus hebt, um ihn wieder ins Chaos versinken zu lassen . . .) Für den Russen besteht diese Problematik nicht; er verzichtet auf die Feststellung der entscheidenden Mengen; er verzichtet zugunsten des Gefühls. Seine Nerven werden von den kulturellen Tatsachen nicht berührt; seine Nervosität ist allenfalls eine Zivilisationserscheinung und niemals kulturschöpferisch. Das russische sei ein junges Volk, sagt einmal Dostojewskij und die Jugend junger Völker zehrt noch aus dem Kräfteüberschuß der Erde. Kindern ist nichts banal; darum steht der russische Mensch noch gläubig und unbeirrt vor den von uns, ach! so hemmungslos überwundenen Tatsachen. Er hat Sentiment noch nicht zur Sentimentalität degradiert; er hat sich das Gefühl restloser Sachlichkeit bewahrt. Er bleibt Mensch, bedingungslos, vor den Ereignissen seiner Welt und seines Ichs.

Sehnsucht nach dieser Sachlichkeit, Sehnsucht nach der Unbedingtheit des russischen Menschen, hat den Typus in Europa erstehen lassen, Er, der Typus ist eine Überwindung der Nervosität . . .: vielleicht nur Krisis, aber immerhin Tatsache.

. . . Wenn nun aber der europäische Mensch (wobei wir an seine restlos entbürgerlichte Form denken wollen) den nervösen Typ darstellt, so bedeutet russisches „Westlertum“ – wie es etwa Turgenjew personifiziert – Revolte gegen das statische Prinzip der Seele. Wir können Dostojewskis Auflehnung gegen Turgenjew verstehen; er mag gefühlt haben, daß da ein bedenkliches Experiment vor sich geht. Man lese den ergreifend-hassenden Brief, den er, 1867 aus Genf, über seine Begegnung mit Turgenjew an Apollon Maikow schrieb: in dessen Zeilen empört sich die erdnahe Religiosität wider dem Zweifel der Nerven. Rußlands grenzenloser Raum steht den europäischen Tatsachen gegenüber.

. . . Man liest heute in Europa sehr viele russische Bücher und weiß nicht genau, was dies bedeutet. Man gibt sich dem Gefühl der seelischen Werte hin und unterscheidet nur ungenau: uns überwältigt das Szenarium, wir haften am Gegenständlichen, wir sind befangen. Aber das Serum der russischen Idee – oder vielleicht ists die slawische überhaupt?! – ist in unser Blut gedrungen und siehe da: der „russische Mensch“ wird heimisch in Europa. Oder können wir etwa das Phänomen Kunt Hamsun anders deuten?!

In: Die Wage, 12.5.1923, S. 296-300.

René Fülöp-Miller: Das Kino als Konkurrent der – Kirche. Trotzki über das Kino.

Die Russischen Machthaber betrachten Philosophie, Kunst, Dichtung, Malerei und Musik, einzig und allein von dem Standpunkt ihrer parteipolitischen Verwendbarkeit ; bei jedem Kunstwerk wird nur danach gefragt, inwieweit es für die „Vergesellschaftung“, für die Propaganda kommunistischer Ideen unter den Massen geeignet sei. So ist es denn nicht zu verwundern, daß die Bolschewisten auch die große suggestive Kraft des Films erkannt, und daß sie daher dem Kino eine ganz besondere Bedeutung zugemessen haben : Filmautoren und Kinoschauspieler, Operateure und Kinounternehmer gelten in Rußland als die „Stoßtruppen der militanten marxistischen Propaganda“.

In jener großen „Offensive gegen die alten Sitten und Bräuche“ wurden die bolschewistischen Filmleute mit einer sehr wichtigen Aufgabe betraut : sie sollten den Kampf gegen den Zauber der orthodoxen Kirche und gegen die religiösen Traditionen des russischen Lebens erfolgreich durchführen. Das Kino aber sollte gleichzeitig auch die Bevölkerung von dem Banne des Branntweins befreien, der in Rußland einen außerordentlichen Einfluss auf das Leben der Menschen ausgeübt hatte.

Die Führer der bolschewistischen Agitation hatten zuerst versucht, durch „aufklärende Vorträge“, durch atheistische und antireligiöse Flugschriften gegen die orthodoxe Kirche anzukämpfen ; durch einen Appell an das „kommunistische Gewissen der Bauern“ wieder glaubte man diese vom Schnapstrinken abhalten zu können. In keiner der beiden Richtungen jedoch gelang es, mit diesen Mitteln nennenswerte Erfolge zu erzielen. So sah man sich denn zu neuen Maßregeln genötigt und entschloß sich, das Kino zum Zweck der kirchenfeindlichen Agitation sowie einer geeigneten materialistischen Schulung der Massen im weitesten Maße heranzuziehen.

Leo Trotzki ist es gewesen, der die Unzulänglichkeit einer trocken-sachlichen Aufklärungspropaganda zuerst erkannt hat ; er ist zu der Überzeugung gelangt, man müsse der Eigenart des russischen Volkes Rechnung tragen und dessen Sehnsucht nach Anschaulichem, nach Zerstreuungen und Unterhaltung irgendwie befriedigen. In einer Schrift über die „Probleme des Alltagslebens in Rußland“ versucht Trotzki, seine Parteigenossen davon zu überzeugen, daß einig und allein das Kino geeignet sei, für die alten Lebensgewohnheiten der breiten Massen in Rußland ausreichend Ersatz zu bieten.

„Wir nehmen die Menschen so,“ heißt es in dieser Schrift, „wie die Natur sie geschaffen und wie die alte Gesellschaft sie zum Teil erzogen, zum Teil verstümmelt hat. Wir suchen nach Stützpunkten in diesem lebendigen Menschenmaterial, um unseren Parteihebel anzusetzen.“ Der Wunsch nach Aufheiterung und Zerstreuung, heißt es weiter, sei „ein durchaus berechtigtes Empfinden“ und darum müsse diesem Bedürfnis in immer künstlerischerer Weise entsprochen werden ; das Vergnügen solle gleichzeitig „zum Werkzeug der kollektiven Erziehung“ werden, „ohne pädagogische Bevormundung, ohne aufdringliches Hinlenken auf die Bahn der Wahrheit“.

„Das wichtigste Werkzeug auf diesem Gebiete, das alle anderen bei weitem übertreffen kann“, sei gegenwärtig das Kino, „Diese verblüffende Neuerung auf dem Gebiete des Schauspiels“, führt Trotzki des näheren aus, „hat das Leben der Menschheit mit unerhörter Geschwindigkeit durchdrungen. Der Kinoleidenschaft liege das Bestreben, sich abzulenken, zugrunde, der Wunsch, etwas Neues zu sehen, zu lachen und zu weinen. „Allen diesen Bedürfnissen gewährt das Kino die unmittelbarste und lebendigste Befriedigung, fast ohne an den Zuschauer irgendwelche Anforderungen zu stellen. Das erklärt die dankbare Liebe des Publikums für das Kino, für jene unerschöpfliche Quelle der Eindrücke und Erlebnisse. Dies ist der Punkt, ja sogar jene Fläche, auf der die erzieherischen Bemühungen des russischen Sozialismus ansetzen können.

Indem das Kino anzieht und zerstreut, wetteifert es schon eben dadurch mit dem Wirtshaus und dem Schnaps, vor allem bei dem Problem, das der Achtstundentag mit sich gebracht hat, dem Problem, das freie Drittel des Tages angenehm auszufüllen. „Könnten wir“, fragt Trotzki, uns nicht dieses unvergleichlichen Werkzeuges bemächtigen?“ „Warum nicht?“ antwortet er. „Die zaristische Regierung hat durch ein weitverzweigtes Netz staatlicher Branntweinschenken eine jährliche Einnahme von rund einer Milliarde Goldrubel erzielt ; warum sollte der Arbeiterstaat nicht ein Netz staatlicher Kinos schaffen können, diesen Apparat der Zerstreuung und Erziehung immer tiefer in das Volksleben eingreifen lassen, hiemit den Alkohol bekämpfen und zugleich hohe Einnahmen erzielen? Gewiß wäre die Durchführung dieses Projekts nicht einfach, aber sie wäre auf jeden Fall natürlicher und zweckmäßiger als die Wiederaufrichtung des Schnapsvertriebes.“

Trotzki führt dann weiter aus, wie das Kino nicht nur mit der Kneipe, sondern auch mit der Kirche konkurrieren könne. Die russische Arbeiterklasse hänge nur aus Gewohnheit und Bequemlichkeit an dem Zeremoniell der orthodoxen Kirche. In diesem aber spiele das Element der Zerstreuung und der Ablenkung eine gewaltige Rolle. Da Bedürfnis des Menschen nach dem theatralischen Wesen werde durch die Kirche in sehr geschickter Weise befriedigt, während die antireligiöse Propaganda diesen Wirkungen bisher nichts Gleichwertiges habe entgegenstellen können.

Und hier, meint Trotzki, werde unser Denken wiederum ganz von selbst auf jenes mächtige und am meisten demokratische Werkzeug der Theatralik, auf das Kino, hingelenkt. Das Kino entfalte auf der weißen Leinwand viel großartigere Effekte als selbst die reiche, durch Erfahrung von Jahrtausenden hindurchgegangene Kirche. „In der Kirche wird immer nur eine religiöse Handlung Jahr für Jahr wiederholt, während das Kino von Tag zu Tag andere fesselnde und packende Vorführungen zu bieten vermag. Das Kino zerstreut, klärt auf, erstaunt die Phantasie durch seine Bilder und befreit die Menschen von dem Drang, in die Kirche zu gegen. Das Kino ist also auch die große Konkurrenz der Religion und darum jenes Werkzeug, dessen wir uns unbedingt bemächtigen müssen.“

Zum Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht führt Trotzki auch noch die Erklärung eines Arbeiters an, den er über die Wirkung des Kinos auf die Massen befragt hatte.

„Die Arbeiter,“ erklärte Trotzkis Gewährsmann, „sind jetzt für das Kino begeistert. Ich selbst liebe es sehr und die Leute gehen in Massen hinein. Freilich hat es in der letzen Zeit eine Menge spannender, aber im übrigen wertloser Filme gegeben, die das Publikum stark demoralisiert haben ; im allgemeinen aber ist das Kino doch eine große Errungenschaft und ein bedeutender Faktor der Kultur. Es muß nur darauf geachtet werden, daß die Filme einen anderen, wertvolleren Inhalt bekommen.“

Es ergibt sich aber aus der Betrachtung der wahren Situation, daß der Versuch, das Kino in dem Kampfe gegen Orthodoxie als revolutionäre Waffe zu verwenden, als gescheitert anzusehen ist.

Die russischen Kinos sind allerdings durchaus sehr gut besucht, aber daneben erfreuen sich, nach wie vor, auch die Kirchen eines regen Besuches ; der in seinem Innersten durchaus konservative Russe ließ sich eben aus seinen alten Gewohnheiten auch durch die Kinorevolution nicht aufstören. Und so kam es auch, daß die große Masse, ungeachtet selbst aller jener, zweifellos wertvollen und gutgemeinten antialkoholistischen Kulturbestrebungen Trotzkis, auch seinen Trinkergewohnheiten weiterhin vielfach treugeblieben ist.

Zur Zeit des strengen Alkoholverbots der letzen Jahre wurde eben neben dem eifrigen Kinobesuch heimlich, im stillen Kämmerlein, Schnaps gebrannt ; jener berühmt gewordenen „Samagonka“, der erst verschwand, nachdem jetzt das Alkoholverbot aufgehoben worden ist. Die Heilslehre von der sittigenden Kraft des Kinos hat also versagt und der Film wird wohl auch in Rußland sich mit der Rolle begnügen müssen, die er innerhalb seiner wahren Grenzen auch in Westeuropa unter Umständen als ein wertvolles Kulturinstrument zu spielen vermag.

In: Neue Freie Presse, 1. Januar 1926, S. 27

Ernst Fischer: Wandlung des russischen Geistes

Russische Revolution! Ungeheures Gefühl, sagenhaftes Erlebnis über alle Kritik hinaus. Man kann das Resultat der großen Erschütterung prüfen, so weit uns das Resultat bekannt ist, man kann die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Ergebnisse des Bolschewismus, des Leninismus analysieren, man kann seine Zeitung bejahen oder verneinen, anerkennen oder verwerfen, man kann sich in tausendfältiger Form mit ihm auseinandersetzen – aber es bleibt ein Rest, der aller Vernunft entrückt scheint: die Intensität, die Größe dieser Revolution, die unvergleichlich und beispiellos ist. Und, je mehr die vulkanische Masse auskühlt, je deutlicher das Produkt, der Niederschlag der gigantischen Gärung mit all den Widersprüchen, die das Wesen der Wirklichkeit sind, statistisch erfaßbar, objektiver Betrachtung und subjektiver Wertung zugänglich wird, desto bezwingender wird die Erkenntnis, daß diese Revolution viel mehr als ein politisches Faktum, daß sie ein geistiges Ereignis von welthistorischer Bedeutung war. Und so selbstverständlich es ist, daß man an politischen Überzeugungen, taktischen Maßnahmen, wissenschaftlichen Theorien Kritik übt, daß man sie für gut oder schlecht, klarer gesagt, für nützlich oder für schädlich hält, so töricht wäre es, geistige Umgruppierungen, kulturelle Wandlungen zu kritisieren, an dem zu messen, was bisher war. Man kann ein Buch, ein Bild, ein Theaterstück technisch bewerten – obwohl auch das sehr schwierig und problematisch ist – man kann eine Kunstform für diletantisch, wirkungslos, unecht halten, aber man kann nicht die Lebensform, die geistige Haltung, deren Ausdruck sie ist, mit einer abfälligen, höhnischen oder entrüsteten Kritik aus der Welt schaffen. Ihre Bedingungen nachzuspüren, ihre Elemente zu untersuchen, ihr Lebendiges zu erfühlen, das ist Aufgabe dessen, der sie darzustellen versucht – ob er sie anerkennt oder ablehnt, ist seine Privatsache. Nur wenn er liebt oder haßt soll er zu seiner Liebe, zu seinem Haß sich bekennen – denn dann will er nicht sie, die fremde Lebensform, sondern seine an ihr sich entzündende Leidenschaft darstellen.

Solche Leidenschaftsausbrüche haben wir häufig erlebt – und es schien lange Zeit, als könne man über die geistige Bedeutung der russischen Revolution nur in Ekstasen der Liebe, in Krämpfen des Hasses sprechen: wurde von einer Seite alles, was diese Revolution gebar, bedingungslos wie Blendwerk der Hölle verdammt, so wurde es von der andern Seite wie Erfüllung tiefster Träume gefeiert. […]

Interessanter und wesentlich ergiebiger als die maßlosen Manifeste für und wider die geistige Schöpfung des Bolschewismus, als das unfruchtbare Geschwätz der bürgerlichen Ästheten war ein Buch des großzügigen Journalisten René Füllöp-Miller, „Geist und Gesicht des Bolschewismus“, das vor einigen Jahren erschien. Füllöp-Miller hatte begriffen, daß die russische Revolution mehr war als ein politisches und wirtschaftliches Ereignis, daß sich dort im Osten ein kultureller Umsturz vollzogen hatte, dessen Konsequenzen noch unabsehbar sind. Und er fürchtete, daß das, was in Rußland geschah, Europas Kultur gefährden, Europas Seele vergewaltigen könne. Daher wollte er warnen, wollte er zeigen, daß die neue Lebensform europäischem Wesen vollkommen fremd sei, daß der Bolschewismus als geistiges Erlebnis zwar asiatische Barbaren, nicht aber westliche Kulturmenschen befriedigen könne. Trotz dieser kaum verhüllten Tendenz und obwohl sehr viele Behauptungen des geistreichen Autors unbewiesen, sehr viele Kombinationen gewaltsam, sehr viele Erklärungen oberflächlich sind, ist das Buch wichtig, nicht nur, weil es ein großes kulturhistorisches Material enthält, sondern auch und vor allem, weil es einen ernsthaften Versuch darstellt, hinter der wirtschaftlichen und politischen Umgestaltung die geistige Wandlung zu sehen. Das Füllöp-Miller meint, die Mechanisierung des Lebens, die Entpersönlichung des Menschen, der Triumph der Maschine über die Seele sei der Sinn dieser Wandlung, daß er den Schatten Dostojewskys beschwört, der ihm wie den meisten Europäern als der Inbegriff des „Russentums“ (einer unveränderlichen und undefinierbaren Substanz) gilt, um über den Leninismus Gericht zu halten, daß er über Experimente sich lustig macht, ohne zu untersuchen, was sie bedeuten – das alles vermindert zwar das Gewicht seiner Leistung, entwertet sie aber nicht. […]

Die Revolution war die gewaltsame Lösung, der explosive Ausgleich. Der Feudalismus wurde zertrümmert, der Bauer bemächtigte sich des Bodens, das Mittelalter verbrannte und in den Flammen ahnte man eine neue Welt. Ungeheuerste Aktivität entfaltet sich; in Lenin, dem gewaltigsten Tatmenschen aller Zeiten, kündigte sich auf einmal der neue Typus an, in ihm verkörperte sich das Rußland des zwanzigsten Jahrhunderts. Probleme der Wirklichkeit waren zu lösen, wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische Probleme, Gestaltung des Staates war möglich, war brennend wichtig, Trägheit, Schwermut und Passivität mußten als ärgste Laster gelten – die historische Situation siegte über die „russische Seele“. Daß diese ungestüme und radikale Wandlung groteske Übertreibungen zeitigte, daß der fanatische Wille, die Entwicklung eines halben Jahrtausends in einige Jahre zusammenzupressen und nicht nur alles Versäumte nachzuholen, sondern plötzlich allen voran in die Zukunft zu stürmen, oft in phantastischen Experimenten zum Ausdruck kam, daß die Verneiner jeder Romantik aus der Sachlichkeit selber etwas Romantisches machten, war kein Wunder: und der scheinbare Widersinn, daß diese russischen Revolutionäre die sehr primitiven Wirtschaftsformen dem Sozialismus aufzwingen wollten, das kapitalistische, mechanistische Amerika vergöttern, ist nichts Ungewöhnliches, nichts dem „Russentum“ eigentümlich. Es gibt eine Reihe von deutschen Literaten, die ebenso verzückt von Amerika reden, für die Großstadt, Technik, Maschine, die in der Seele des Amerikaners keine besonderen Gefühle auslösen, weil er sie als selbstverständliche Elemente seiner Welt betrachtet, lyrische, mythische Angelegenheiten sind, ungefähr so, wie für den Emporkömmling die Manieren der guten Gesellschaft etwas Geheimnisvolles und Beunruhigendes sind; tausendmal mehr in dem wirtschaftlich unentwickelten Rußland, in dem „Elektrifizierung“ ein Zauberwort, das Taylor-System ein Kultus, die Technik ein Glaubensbekenntnis wurde. Wer in Rußland an den Erfolg der Revolution glaubte, mußte voll Inbrunst an neue technische und ökonomische Formen glauben, mußte sich mit Pathos und Leidenschaft zu ihnen bekennen, mußte sie fast ins Religiöse steigern, weil er sonst empfindungsgemäß die Zusammenhänge zwischen den Schwung des Geistes, dessen jede Revolution bedarf, und den realen Aufgaben der russischen Revolution verloren hätte. An Inbrunst, an Spannkraft, an Gläubigkeit fehlte es den Revolutionären nicht, aber an Maschinen, an Fabriken, an Elektrizitätswerken fehlte es und deshalb blickten sie voll Sehnsucht und Neid nach Amerika und deshalb mußte die mangelnde Realität durch den glühenden Willen, sie förmlich aus der Erde zu stampfen, ersetzt werden. Das Bekenntnis zu Amerika, es war das Bekenntnis zu den Voraussetzungen der Sozialisierung, die man in übermenschlicher Arbeit der Geschichte abtrotzen wollte.

Das formte die neue Geistigkeit: die Kunst, vor dem Zusammenbruch der alten Mächte psychologisch, fatalistisch, Sprengstoff der Seele, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in die Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse konzentrierend. Majakowsky, einer der Dichter, die im alten Rußland die Würdigkeit und den Überdruß des an allem verzweifelnden geistigen Menschen verkörperten, begeisterte sich an den Umsturz des Bestehenden, an der grellen Härte und Sachlichkeit der neuen Forderungen, er, der an den Sinn der Kunst nicht mehr glaubte, begriff angesichts der Revolution, daß man der Kunst neuerlich einen Sinn geben konnte: Aufruf zum Kampf, Ausdruck dessen, was nun wichtiger und bezwingender waren als alles, Ausdruck der politischen und sozialen Ereignisse. Die Sprache als Instrument der schönen Gefühle, der einsamen Seelenkomplikationen war abgebraucht, nun aber gab es Worte, die wie mit Ekrasit geladen waren, die man wie Bomben in die Masse schleudern konnte, die unmittelbar und berauschend wirkten: Elektrifizierung, Technik, Revolution, Internationale, Rote Garde – und diese Worte wie Blöcke aneinandergereiht, gegenständlich und dennoch durchfiebert von Fanatismus, waren die Elemente der Poesie, die nun begann. Einfacher und wuchtiger als die Gesänge des intellektuellen Majakowsky waren die plumpen Hymnen Budnji Demjans, poetische Tagesbefehle der Revolution, unverschnörkelte Manifeste des Klassenkampfes.

Es würde zu weit führen, alle Experimente zu schildern, in denen der Geist des Bolschewismus um Ausdruck rang: was diesen Experimenten gemeinsam war, ist die Erkenntnis von der sozialen, von der revolutionären Funktion der Kunst, die Erkenntnis, daß es im Sturme der Weltgeschichte nicht auf das Schicksal des einzelnen ankommt, nicht auf Seelenprobleme, nicht auf das, was die Menschen unterscheidet, sondern auf das, was sie zu kollektiver Aktion vereinigt, daß es sich, wenn Tausendjähriges stürzt und Niegewesenes aufsteigt, nicht um den „Ewigkeitswert“ einer Dichtung, eines Kunstwerkes, sondern um Aktualität und politische Wirkung handelt. Erst, wenn eine Klasse ihr Wesen gesellschaftlich verwirklicht, wenn sie das in ihr waltende revolutionäre Prinzip erfüllt hat, wenn nicht mehr die Macht zu erobern, sondern die Macht zu verwalten ist, kann sie versuchen, im Kunstwerk unpolitisch und weise zu sein! Solange sie kämpft, solange sie gegen alte Gesellschaftssysteme anrennt, ist Kunst ein Mittel, ist Kunst eine Waffe in diesem Kampf. Das haben die Künstler des Bolschewismus erkannt. Und mit unerhörter Entschlossenheit unterwarfen sie das Theater, das Kabarett, die Literatur, alle Kunstgattungen dieser Erkenntnis. Es gelang ihnen, das Theater, den Film, die kulturellen Gebilde, die am stärksten und unmittelbarsten soziologisch bedingt sind, von Grund aus zu wandeln, es gelang ihnen nicht oder nicht in diesem Maße bei allen übrigen Kunstgattungen.

[…]

Aber die freie, die auf sich selber angewiesene Kunst?

Sie ist lebendig wie nirgends in Europa. Und vor allem der russische Roman ist wieder bedeutungsvoll, fast so bedeutungsvoll wie der russische Film.

Um Romane zu schreiben, bedarf der Künstler einer gewissen Ruhe, einer gewissen Stabilität. In der ersten Revolutionszeit konnten keine Romane entstehen, in Gedichten und Theaterstücken entlud sich die geistige Spannung: als aber der Bolschewismus gesichert war, als Trotzky der Armee „das Knochengerüst eingerenkt“ und Lenin die Wirtschaft verhältnismäßig stabilisiert hatte, als man die Ereignisse einiger Jahre überblicken konnte ohne fühlen zu müssen, daß morgen schon alles anders sein könne als heute, war es wieder möglich, Romane zu schreiben. Und es zeigte sich, daß die junge Generation in Rußland, obwohl das Tempo der Entwicklung auf einmal stockte, obwohl die wirtschaftliche Reaktion die Seelen ernüchtert hatte, obwohl das Resultat der Ereignisse eine große Halbheit ist, die Zeit, in der wir leben, begreift, tausendmal besser begreift als die junge Generation in Deutschland, in Frankreich, in England. An der Idee des Bolschewismus gemessen enttäuscht seine Wirklichkeit: aber diese Enttäuschung verleitet die jungen Russen nicht dazu, aus der Wirklichkeit in die Romantik zu fliehen – im Gegenteil: stolz und tapfer bekennen sie sich zu dieser Wirklichkeit, schonungslos setzen sie sich mit den Problemen der Revolution, mit den Problemen des Sozialismus auseinander, unsentimental, in glühender Sachlichkeit schreiben sie die Geschichte der letzten Jahre. Immer ist es die Gesellschaft, die sie interessiert, immer ist es ein überpersönliches Schicksal, das sie schildern, immer stellen sie Menschen dar, in denen das welthistorische Ringen um die Neugestaltung aller Beziehungen zwischen den Menschen und Dingen sich spiegelt, nein, in denen es sich vollzieht. Sie wissen genau, daß es nichts Größeres gibt als die Revolution, deren erste Phasen wir erlebt haben, und weil sie das wissen, gibt es für sie nur einen Stoff: eben diese Revolution. In den westlichen Ländern knüpfen die meisten jungen Künstler dort an, wo man 1914 aufhörte, schwächlich und unfruchtbar: mag sein, daß die Revolution in Deutschland zu schnell vor sich selber erschrak, um künstlerisch so verpflichtend zu wirken wie die Revolution in Rußland, jedenfalls gibt es in Deutschland sehr, sehr wenige Bücher und Theaterstücke, die wichtig sind, wogegen in Rußland ein wichtiges Kunstwerk nach dem andern produziert wird.

Da ist vor allem Gladkows großer Roman „Zement“. Das Problem der Nepzeit, das Problem der siegreichen Revolution wird aufgerollt. Gljep, der Rotgardist, kehrt aus hundert Schlachten in sein Heimatsdorf zurück. Er träumte von einem romantischen Wiedersehen mit all den hübschen Dingen, die er verlassen hatte, von einer Familienidylle, von einem Leben wie eh und je.

Aber die Wirklichkeit ist anders als dieser Traum, die Straßen sind schmutzig und ungepflegt, die Häuser verwahrlost und halb verfallen, die Menschen hungrig und faul. Und die Frau, die kleine verliebte Frau, nach der er sich sehnte, ist anders geworden, hart, sicher und selbstbewußt, sie hat das Kind in ein Kinderheim gegeben, sie kümmert sich nicht um den Haushalt, sie sitzt nicht am Fenster und wartet auf ihren Gljep, sie spielt in der politischen Organisation eine Rolle, studiert marxistische Werke, sie nimmt an Sitzungen und Versammlungen teil, sie hat eine eigene Meinung und einen eigenen Willen. Ja, der Krieg hat alles umgestürzt, die Revolution hat alles verwandelt. Und wie ein Kleinbürger, wie einer der nichts von der neuen Zeit wissen will, bäumt sich Gljep gegen das veränderte Leben auf. Er war bereit, sein Blut und seine Gesundheit für die Revolution hinzugeben, aber sein Heim, seinen Traum von Familienglück und Ehebehaglichkeit, den will er nicht hingeben, den hält er für sein ewiges Recht. Das ist das eine – das andere ist nicht so persönlich, aber nicht weniger problematisch: die Fabrik, die große Zementfabrik, steht schon seit vielen Jahren, die Arbeiter, zermürbt und korrumpiert von dem dröhnenden Müßiggang des Krieges, der Revolution, wollen lieber in ihren Klubs debattieren, um jedes Stück Brot mit den Kommissären streiten, in Hunger und Elend verkommen als arbeiten. Nein, sie denken gar nicht daran, die verrosteten, von Spinnweb überwucherten Maschinen wieder in Gang zu setzen, sie lungern zerlumpt herum und warten auf irgendein Wunder. Nur der Maschinenmeister behütet seine eisernen Lieblinge, nur einer der alten Ingenieure hockt in seinem Arbeitszimmer über den Zeichnungen, gespenstischer Wächter einer zerborstenen Welt.

[…]

Arbeiten muß man, sagt Gljep, das ist die einzige Lösung. Und er reißt die Genossen mit, die Muskeln straffen sich wieder, das Blut pulsiert in den Adern. Arbeit, Arbeit, Flamme, die über alles Persönliche, alles Quälende und Verworrene triumphiert. Und die Maschinen erwachen aus ihrem Schlaf, die Kolben stampfen, die Transmissionen singen, die Förderkörbe klimmen den Berg hinan. Ungeheure Musik der Arbeit. – Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, hundert Schwierigkeiten müssen sie überwinden, hart und grausam müssen sie sein, um sich das Nötigste zu beschaffen, aber sie greifen zu, sie sind nicht sentimental, sie kennen keine Schonung. Kosaken, Weißgardisten überfallen das Werk, da legt man die Schaufel weg und nimmt das Gewehr, da kämpft man mit derselben unerbittlichen Kraft gegen Menschen, wie man gegen den Widerstand der Materie kämpfte – und kehrt wieder zurück zur Arbeit, die das Entscheidende ist. Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, sie müssen mit Dingen fertig werden, von denen sie früher nichts wußten, mit Problemen der Verwaltung, der Organisation, der Weltanschauung, mit Problemen der Erotik und des Gesellschaftslebens, der Freiheit und der Verantwortung. Alles müssen sie aus sich selber vollbringen, es gibt keine Traditionen, unbeholfen und schwerfällig, wie man ist, muß man die neue Welt gestalten, muß man sich in der neuen Welt zurechtfinden. Aber über alles hinaus donnert und singt das Werk, das sie, die Arbeiter, auf eigen Faust, aus freien Stücken, wieder in Gang gebracht haben, steigt der Hymnus der Arbeit, der Hymnus der Revolution empor.

Tapfer, ehrlich und strotzend von Lebenskraft ist dieses Buch, „unrussisch“, wenn man nur die Dichter des Zarenreiches als russisch gelten läßt, durchstürmt von ungestümer Aktivität. Gladkow macht sich und den Lesern nichts vor, er weiß, daß in Rußland nur ein Bruchstück dessen verwirklicht wurde, was man verwirklichen wollte, er kennt die Schwächen und Mängel der bolschewistischen Gesellschaft, er schildert sachlich und objektiv – aber durch all das braust und jubelt das leidenschaftliche Bekenntnis zu der Wandlung des Lebens, zu der Wandlung des Geistes in Rußland, seine Liebe zur Revolution und zur Arbeit. Und darum ist das Buch nicht „naturalistisch“ und nicht „romantisch“, nicht ein Stück Literatur, sondern ein Stück Leben.

[…]

Erkennt man in diesen drei Romanen, die aus einer Fülle von interessanten und bedeutenden Büchern herausgegriffen wurden, die Wandlung des russischen Geistes? Welch ein Bekenntnis zur Wirklichkeit, welch eine Härte und Präzision, welch ein unverschwommener, unromantischer Wille zur Lebensgestaltung! Das ist nicht mehr die „russische Seele“, die man wie eine rätselhafte Gottheit verehrte, das ist der Geist des Marxismus, der Geist der Revolution, der unsere Sprache spricht wie die Sprache des jungen Rußland. Die Probleme, die Tragödien, die Erkenntnisse jeder Revolution werden in diesen Büchern dargestellt, und während die deutsche, die westliche Literatur noch immer an der Vergangenheit schmarotzt, ist die russische Literatur heute der Ausdruck unserer Zeit, Flamme und Geist der Gegenwart. Darum lieben wir über alle Kritik und alle Gegensätze hinaus dieses bolschewistische Rußland.

In: Der Kampf, 1927, S. 499-507

Béla Balazs: Das entfesselte Theater

             Gelt, das klingt gefährlich? Das klingt nach Unbändigkeit und Wahnwitz, nach Revolte gegen alle Gesetze und Regeln, nach formlosem Sturm und Drang. Ein entfesseltes Theater! Was stellt man sich dabei vor? Die Phantasie bricht aus seinem Kulissenkäfig und rast durch die Straßen der Nüchternheit? Das Spiel schwillt an, steigt über die Dämme der isolierten Kunststätte und überschwemmt den Ernst des Lebens. Eine brausende Sturzflut von Masken und Kostümen ergießt sich mit Harfenklang und Schellengeläute – entfesselt – über die philiströse Ordnung des Alltags.

             Es klingt nur so, es scheint nur so, Tairoff, der Direktor der Moskauer Künstlerspiele, der seinen Reformversuchen diesen populär gewordenen ausdrucksvollen Namen gab, ist kein zügelloser Stürmer und Dränger, der alle Gesetze verachtet. Im Gegenteil. Er ist ein streng-dogmatischer Ästhet. Wenn er ein Revolutionär ist, so ist er ein doktrinärer wie die Kommunisten, denen er angehört, die nach den Vorschriften eines gelehrten Buches die Welt neuschaffen wollen. Er könnte auch ruhig sagen: ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu zerstören, sondern um es durchzuführen. Tairoff, der prominenteste Vertreter der neuesten Bühnenreformbewegung, der Schöpfer des „entfesselten Theaters“, ist ein fanatischer Pedant.

             Denn was meint er eigentlich mit der Entfesselung des Theaters? Er meint die Befreiung von der Diktatur der Literatur. Das Theater, sein Theater, will nicht mehr dienend die vorgeschriebenen Wege des vorher geschriebenen Dramas gehen. Es will nicht mehr bloß Kanzel der Dichter, unselbständiger Dolmetsch außerhalb stehender Schriftsteller sein.

             Das Orchester meutert und empört sich gegen die Partitur, will autonom, aus seinem eigenen Element, spontane Gestalten schaffen. Das Theater soll nicht mehr Ausschank der Literatur sein, sondern ursprüngliche Quelle einer eigenen, selbständigen Kunst werden.

             So ungewohnt diese Absicht auch heute ist, ist sie nichts weniger als neu und unerhört. Bekanntlich ist das Theater älter als das geschriebene Drama, das nur als nachträgliche Kodifizierung und Regelung der allgemein üblichen Stegreifspiele entstanden ist. Die Stücke der Commedia dell’ arte waren keine Literatur, und selbst Shakespeares Dramen sind zum Teil auf der Bühne entstanden. Neu ist also diese revolutionäre Idee nicht. Noch weniger aber ist sie anarchistisch und wider das Gesetz. Vielmehr wird mit ihr die pedante Durchführung eines alten akademisch-ästhetischen Dogmas bezweckt. Es ist das ästhetische Dogma vom „reinen Stil“, von der materieechten, ungemischten Kunst. Denn ein Gemälde etwa, das musizieren täte, oder eine Statue, die Verse sprechen könnte, wäre doch ein grauenhafter Kitsch. Und hat man nicht ästhetische Bedenken gehabt gegen Textillustrationen oder gegen die Oper, gegen diese Mischform von Musik und Drama? Hat man sich nicht ereifert gegen die „literarischen“ Bilder, die irgend einen erzählbaren Inhalt haben? Ja, die Forderung einer reinen, ungemischten Kunst schien ein unbezweifeltes, ästhetisches Dogma zu sein, wiewohl sie auf keinen steinernen Tafeln geschrieben stand. Auch ging man nicht soweit in der Konsequenz, etwa dem Lied die Existenzberechtigung abzusprechen und zu behaupten, Schubert, Schumann, Brahms, Wolff wären Kitscheure, weil sie Musik mit Literatur mischten. Es kommt eben darauf an, ob dabei durch eine wirklich „chemische“ Mischung ein organisches drittes Ding entsteht. Und man kann wohl kaum leugnen, daß dies bei der Mischung von geschriebenem Drama und Bühnenpantomime in vielen Fällen restlos gelungen ist.

             Und doch scheint die Freiheitsbewegung des Theaters um sich zu greifen. Die selbsttätige Bühne in der Form von Balletts, Pantomimen und Sprechchören (bei denen das Wort lediglich nur als akustische Masse mit den Form- und Farbwirkungen kombiniert wird) ist ohne Zweifel aktuell geworden. Das muß außer den besagten ästhetischen Bedenken tiefere Gründe haben. Gewiß ist ein so unliterarisches, autonomes, „entfesseltes“ Theater eine sinnvolle und berechtigte Kunstgattung. Aber daß sie just in unseren Tagen modern wird, das wird mit Dingen zusammenhängen, die außerhalb der Ästhetik liegen.

             Warum kommt man heute vom Worte ab? Warum ist man heute mehr für dekorative Schaustellungen als früher? Das kommt daher, daß das Wort heute nicht mehr zielsicher ist. Dichter und Schauspieler wissen nicht mehr, ob ihr Wort auch richtig verstanden wird. Die geschlossene bürgerliche Kulturgemeinschaft hat aufgehört. Man ist nicht mehr intim unter sich, wie man es seinerzeit in den fürstlichen Theatres parés und auch später im Kreise der gebildeten Patrizier war. Soziale Schichten haben sich verschoben, Klassen und Stände sind durcheinandergewürfelt. Das Publikum ist nicht mehr homogen; es ist ein zufälliges, und man weiß nicht mehr, zu wem man spricht. Was der eine versteht, muß dem anderen fremd klingen. Will man also das Theater für die breite Öffentlichkeit retten und doch auf einem artistischen Niveau erhalten, so greift man eben zu den dekorativen Schaustellungen. Denn diese sind nicht so präzisen Sinnes wie das Wort. Man kann sie auslegen, stimmungsgemäß, je nach Anlage, und subjektiv verschieden deuten. Jeder holt sich daraus, was ihm entspricht. Die unbegrenzte Möglichkeit des Mißverständnisses bürgt für allgemeine Wirkung.

             Das entfesselte Theater deutet eine Freiheit aus Not. Hier ist eine Kunst wieder einmal frei geworden, wie ein Vagabund, der seine Heimat verloren hat.

In: Der Tag, 1. November 1924, S. 2.

Paul Wertheimer: Zement. Roman von Feodor Gladkow.

Aus dem Russischen übertragen von Olga Halpern. 11. bis 18. Tausend. Verlag für Literatur und Politik, Berlin-Wien

Ein flammendes Buch, eine flammende Beichte. Eines der seltenen Bücher von heute, die, nicht in der Schreibstube, sondern aus glühender Wirklichkeit geboren, uns wie mit glühenden Armen umpressen. Gladkow – man wird diesen Namen als eines der stärksten, jüngeren wortbildnerischen Talente Rußlands merken müssen – hat die russische Revolution aus der Nähe gesehen. Was er sah, steigt hier in vorüberflackernden, oft in das Ekstatische gesteigerten, expressionistischen, aber doch unendlich einprägsamen Visionen vor dem erstaunt-erschütterten, oft abgestoßenen, aber immer wieder mit harter Faust zum Interesse gezwungenen Leser auf. Ein Zeitdokument von authentischer Echtheit und, weil Gladkow nicht ein Schreier, sondern ein Bildner im Streit ist, ein künstlerisches Werk von nicht gewöhnlicher Bedeutung. Eines der wenigen, die wir einstweilen aus diesen chaotischen Tagen, dieser chaotischen Welt besitzen. Weil es den repräsentativ modernen Roman des Rußland von heute oder von gestern bedeuten soll, ist es ein Roman der Masse und der Maschinen und des maschinell gewordenen Menschen. Aber dennoch ist es kein konstruktives, maschinelles Gebilde. Vielmehr sind in diesem großen, zeitreflektorischen Roman nach einem Wort Heines die Maschinen, die Daimler Motoren etwa, wie Menschen. Und die Menschen, kommunistische Arbeiter, zwischen denen ein westeuropäisch gesinnter Ingenieur sich mühsam behauptet, sind nicht Maschinen, sondern, trotz ihres programmatischen Lebens von Leidenschaften, nicht motorisch, sondern gewaltsam durch ihr Blut vorwärts getrieben. Ungezählte Figuren in schärfster Kontur, wie auf den Zeichnungen Krinskis, Kustodjews und Annenkows, der Graphiker dieses Bolschewismus. Die „Masse Mensch“, gebändigt von der Hand eines starken, nie im Parteiwortschaum verlorenen, durch sein sicheres Gefühl für das Bildnerische geleiteten Künstlers. Hat dieses seltsam aufwühlende Werk, was man früher Handlung nannte, die Geschlossenheit eines aufwärts steigenden Geschehens? Keineswegs. Es hat nur Figuren und Atmosphäre der Zeit, — eine Atmosphäre von Schweiß und Blut — tausend drohende, schwielige Arme, gestraffte Muskeln heben sich gegen den Betrachter wie auf manchen Plakaten. Diese Menschen, dumpf, trieb- und tierhaft, russische Menschen der Arbeit, nicht, wie bei Dostojewski und Gorki, des Sinnierens, Gott- und Sich-selbst Suchens. Sie gruppieren sich um den aus Kämpfen der Roten Armee siegreich in sein Städtchen und seinen Betrieb heimgekehrten Werkmeister Gleb. Er will das große, durch die Planlosigkeit der als Organisatoren versagenden Führer zum Stillstand gebrachte Werk wieder in Gang bringen, die Schlote blau wie Gaszylinder sehen, das Herz, nach dessen Pochen er sich – die russische Romantik des Maschinellen – sehnt, wieder vernehmen. Wie ihm dies zuletzt gelingt, trotz des Widerstandes der kommunistischen Bureaukratie, die Gladkow mit ingrimmiger Laune schildert: dies ist der ganze Roman. Er kling in einen Päan der Arbeit aus. Dieser Ton ist der russisch-zeitdokumentarische. Aber Gladkows Werk birgt einen gewichtig menschlich-künstlerischen. Es sind Episoden in diesem Buche, die man nicht vergißt: Das Sterben des Töchterchens Glebs Njurka, das, fremder Obhut überlassen, weil Dascha, die Mutter, sich der Parteipropaganda hingegeben, buchstäblich an mangelnder Liebe verhungert. Es sind Figuren, die sich wie aus dem ›Germinal‹ einprägen, wie der Vorsteher-Genosse Badjin mit dem metallenen, harten Gesicht. Es gibt hier Gesichte des Schreckens, Szenen aus den Kämpfen zwischen den ›Roten‹, ›Weißen‹ und ›Grünen‹, Schilderungen des entfesselten Trieblebens wieder von Zolascher Wucht, so abschreckend sie auch, vielleicht gegen die Intention des Dichters wirken mögen. Die Landschaftsbilder, Stimmungen der russischen Haide, der weißen Kalkfelsen, des Sommers, der Sonntagmorgen, aufblühend zwischen Blut und Grauen – ein Dichter hat sie mit solcher Zartheit gefühlt. Kein Zweifel: der Sturm, der über dieses, uns noch immer halb sagenhafte Land getobt, ist hier nicht zu einem Säuseln abgedämpft, doch es sind auch leisere Stimmen darin, die seinen Schrecken mildern.

In: NFP, 10.6.1928, S. 28.

Ernst Decsey: Der „Blaue Vogel“

Das russische Kabarett in den Kammerspielen

            Der ›Blaue Vogel‹ bedeutet: das fröhliche Rußland. Es gibt nicht nur ein Rußland der Hungernden, Frierenden und Verzweifelten, nicht nur eines der legendären Talglichtesser, sondern auch eines, das lacht, trotzdem und trotzdem. Man denkt bei den Drolligkeiten dieser Kleinkunst fortwährend an finstere Volkskommissäre, Sowjet, Bolschewistengreuel, glaubt, das Lachen sei den Leuten dort längst vergangen, sieht aber die triumphierende, ›breite Natur‹ der Russen, und freut sich: Lachenkönnen bedeutet Lebenskraft.

            Einreiseschwierigkeiten haben dem ›Blauen Vogel‹ Reklame gemacht, und man sieht überrascht: es gibt Reklame sogar für reizende, anständige, eigenartige Dinge sowie es Protektion bei wirklichen Talenten geben soll.

            Schon die erste Nummer des russischen Kabaretts ›Der Tanz der holländischen Fayence‹ bestätigt es, denn er schlägt ein – jedoch die allererste Nummer des Kabaretts ist jemand andrer: der Direktor J. Jushnij. Ein sehr eleganter Herr tritt vor den braunen Vorhang, sagt in russischer Belautung barocke Dinge, die man in Berlin, wo er damit Furore machte, ›Dalbern‹ nennt – kurz, er zeichnet sich durch schlechte Witze und einen prachtvoll sitzenden Frack aus, was den Ausschlag gibt, denn schon, schon hat er die Damen am Bändel…

            Der Conférencier und Direktor soll dem Publikum die Einstellung geben, das pointenlose Volkskabarett erklären: aber Jushnij, ein gelehrter Schüler Mephistos, weiß, worauf es ankommt: „vor allem lernt die Weiber führen!“ Und er führt sie. Am Schluß klatschen sie nach seinem Kommando, hören nach seinem Kommando auf, singen auf Befehl russische Lieder mit, sprechen ihm russische Worte „toddellos“ nach, obwohl nach Jushnijs Versicherung Russisch nur in den ersten zehn Jahren schwer zu lernen ist. Humorlose Männer wehren Herrn Jushnij zuerst innerlich ab – sprechen dann aber auch Russisch und finden sein Deutsch, die angekündigten „Kostjume“ der „Dammen“, entworfen vom unausprechlichen Chudjakow, klassisch. Das ist die erste Nummer des Kabaretts: Herr Jushnij persönlich, der wahrscheinlich die deutsche Muttersprache trefflich beherrscht…

            Um auf die tanzenden Fayencen zurückzukommen: man sieht einen blauen Riesenteller mit zwei Delfter Figuren, die zum Leben erwachen und auf malerische Art tanzen. Das ist sehr nett, allein deshalb brauchte es noch keine Paßschwierigkeiten zu geben. Ebensowenig der „Abendglocken“ wegen: ein Mönch, an einem Baumstamm gelehnt, sieht ein erleuchtetes Kloster in der Ferne und singt ins melancholische Geläut der Glocken eine melancholische Romanze. Nun?

            Da, beim „Streletschek“ bekommt man die Einstellung. Der „Streletschek“ (Jägerlein) ist ein froschgrün gekleideter, märchenblonder, bauchiger, safranbärtiger Jägersmann, der auf drei russische Mädel Jagd macht, hinter ihren sehr roten, sehr blauen, sehr gelben Schürzen her ist, augenzwinkernd, schwerenöterig, siegesgewiß, bis er das Unglück hat, bei einer davon zu „siegen“. Mit bedauernder Geste segnet den Verlorenen der  Conférencier…Dann sieht man, was man noch nie gesehen hat: die deutsche und die russische Kneipe. Ein tollfarbiges Tableau zeigt ein expressionistisches Wirtshaus, Tisch, Bänke, Würste, Krüge, Gäste und deren Köpfe, in der Fläche verteilt, beginnen die Augen zu drehen, die Münder gehen auf, und in kräftigem Unisono erschallt: „Mädel, ruck-ruck-ruck an meine grüne Sei-ei-te, i hab‘ di gar so gern, i kann di leide…“ Die Künstler stehen hinter dem Tableau, stecken durch Oeffnungen die Gesichter ins Bild, lustige Fratzen mit einem rotumalten Aug‘, einer schachbrettgemusterten Backe, einem grün geränderten Mund. Und nun wird das Ganze ins Russische übersetzt, ein russisches „Madel  ruck-ruck-ruck“ gesungen. Ein Hallo des Publikums folgt: es hat verstanden, hat eingeschnappt.

            Das scheint sehr primitiv, und ist es auch: nichts als ein dramatisches Volkslied.  Ein Gassenhauer, von Farben umkränzt. Aber derlei primitive Angelegenheit sucht der Russe eben im Kabarett. Der Pariser späht nach gespitzten Bosheiten, sättigt sich an graziösen Verhöhnungen des öffentlichen Lebens. Der Münchner Kabarettgeist trachtete den Philister durch Exzentrik  zu bluffen, die dem Leben ausgetrieben war. Der Russe will sich einlullen. Das Leben vergessen. Durch holde kleine Thorheiten. Es genügt ihm, das Lied der Kathinka auf der Bühne zu sehen. Rechts sitzt der Vater mit dem großrussischen Portiersbart, links die Mutter mit dem bäuerlichen Riesenkopftuch, in der Mitte sitzt die strohblonde Kathinka  mit den bastumwickelten Beinen und singt ihre Polka: Sie verkehrt mit Offizieren, hat jetzt Manieren, will deshalb heiraten, biegt die elterlichen Vorwürfe um, versichert augenblicklich zu sterben, bis sie Segen und Einwilligung erhält und alle drei anstimmen:  Seht mal her, seht mal her, ach wie ist das Leben schwer, alles muß sich, wie Sie sehen, jetzt im Polkatakte drehen…

Einfach, nicht wahr? Aber immer ist die russische Kunst volkhaft. Man hört eine Symphonie von Tschaikowsky, westliche Kultur in drei Sätzen, sogar Salon; aber das Scherzo ist Volk, ist russische Erde. Und der ›Blaue Vogel‹ ist das Scherzo des russischen Lebens.

Nur wurde das Primitivste in die radikalste Formen- und Farbenkunst gestellt – die Kostjume von Chudjakow zierten jedes expressionistisches Bilderbuch – und sie akzentuieren, gerade mit ihrem Raffinement, wieder das allerprimitivste: wie ein blühender Acker im Frühjahre mit Mohnblume, Wicke und Kornblume wirren die farbigen und beborteten Kleider der Frauen Kommissarshewskaja, Torkaskaja und der anderen Künstlerinnen mit und ohne Kaja.

Für Damen ein weites Beobachtungsfeld. Um so mehr, als an dessen Rand niemals die Zote auftaucht. Niemals, auch nur von fern, die gewisse Glocke läutet. Keinerlei Anspielung über die keuschen Ohren gleiten: es geht auch so, sogar ohne aufgeschlagenes Bett.

Einmal sieht man einen mit Trauben beladenen Esel, auf dem ein Tatar sitzt und von einer Kamelkarawane phantasiert: „ein Kamel, zwei Kamele, drei Kamele, vier Kamele, fünf Kamele…“ Zierlich erscheinen auf einem Fenster der Hinterwand die Umrisse von Miniaturkamelen im Gänsemarsch: ein Kamel, zwei Kamele…, sechs Kamele. Man ergötzt sich, weiß nicht warum, lacht mit und rechnet sich zum siebenten Kamel. Man sagt: Blödsinn. Ja, im ›Blauen Vogel‹ wird man naiv wie ein Muschik.

Einmal sieht man dramatisierte alte Romanzen, ein Rokokopaar, das einem Rokokospieler am Spinett zuhört, findet es nichtssagend und hält es für ein Werk Kitschikows… dann entzückt man sich an den adretten Zinnsoldaten, ihren gepluderten linnenweißen Hosen, den Marionettenrucken ihrer Füße, den violetten Kinderflinten, den Naturlauten des kommandierenden Leutnants und ist betört: „O selig, o selig, ein Kind noch zu sein…!“

Dann verulkt russische Naivität den amerikanischen Merkantilismus. „Sie“ ist Besitzerin eines Wäschestores, „er“ Inhaber eines Makkaroni-Imports. Er droht, sich mit dem Revolver zu töööten, wenn sie ihn verschmääääht, worauf sie die Situation und die Geschäfte rettet, ja sagt und eine Kompagniefirma gründet. Drei Boys, Chor rechts, drei Mannequins, Chor links, wandelnde Annoncen plappern dazu unaufhörlich die Reklame: Firma, Straßennamen, Hausnummer, Telephon. Der Selbstmord und die Hochzeit als Geschäftstrick. Amerika auf die einfachste Formel gebracht. Triumph der russischen Kinderaugen, die der Welt verborgenste Dynamik durchschauen.

So steht Szene an Szene, ohne Zusammenhang, was dem Denkapparat willkommen ist. Es gibt nichts zu verstehen, nichts mißzuverstehen, man sieht Farben, Kostüme, Blödsinn, Exoten wie Spielzeug, das ganze Leben scheint Spielzeug, und nie sieht man einen Versager: die Regie arbeitet sicher und heimlich wie die russische Justiz, und immer ist die Musik, die Golgotzy am Flügel spielt, von Jushnij. Immer von ihm, Jushnij macht alles. Macht auch die große Stimmung, bis das Publikum ohne Gage mitspielt, worauf es bekanntlich beim Kabarett ankommt.

Ihm muß auch ein großrussischer Schnapstrinker mit Zigeunern im lieben alten Moskau Spaß machen. Wir wußten damit nichts Rechtes anzufangen, dachten an Figuren aus Raskolnikow und an Väterchens sehr unromantisches Alkoholverbot. Jushnij tut entzückt. Er vergoß eine heimliche Träne beim Namen des „alten lieben Moskau“, wie Wiener beim Namen des alten lieben Wien, und zeigt sich auf stürmisches Verlangen bereit, die Sache zu wiederholen: „Morgen nämlich, meine Cherrschaften, morgen…bei nechste Vorstellung.“ Womit man zugleich eine Probe vom Witz des ›Blauen Vogel‹ hat, dessen Geheimnis die raffinierteste Primitivität ist, sozusagen: die Simplicitas russkaja.

In: Neues Wiener Tagblatt, 2.12.1922, S. 2-3.

Joseph Gregor: Mayerhold

Die Erscheinung des Theaters von Mayerhold – zweifellos die bedeutendste des ganzen modernen russischen und vielleicht europäischen Theaters – ist nicht frei von Ironie. Mayerholds Vorstoß, um zu den reinen Elementen des Theaters zu gelangen, ist noch weit energischer: führte der Tairoffs ins Barocktheater zurück, der Wachtangoffs ins Shakespeare-Theater, so befinden wir uns bei dem Mayerhold in der Gegend des klassischen Theaters und des Mimus. Seine Räumigkeit des Theaters ist die größtmöglichste: für ihn ist jedenfalls auch Tairoffs Raumkonstruktion nur Kulisse und so spielt er ohne Vorhang vor dem leeren Bühnenhause. Man denke aber nicht, daß damit auf die verschiedenen Raumwertigkeiten, wie sie die Bühne gewährt, verzichtet sei: Ausgangsebene ist meist eine kreisförmige oder oblonge Orchestra („Der Lehrer Bubus“, „Mandat“, „Der Revisor“), die eine Rückwand besitzt (im ersten aus Stäben, im zweiten und dritten aus politierten* Flächen). Durch diese Maßnahme wird endlich erreicht, den Schauspieler tatsächlich räumlicher, von verschiedenen Seiten beschaubar zu machen. In der Tat erlauben sogar schon die hier beigebrachten Figuren, sich von der großen Plastik der menschlichen Erscheinungen und Gruppen jedenfalls der größten, die je auf einer Bühne erreicht würde, zu überzeugen. Wird nur das Bühnenhaus mit seinen Rohwänden verwendet („Der Wald“, „Die Erde bäumt sich“, „Tarelkins Tod“, „Die Morgenröte“), so dient ein konstruktiver Aufbau auf der Bühne dazu, die in Gefahr stehenden Raumwertigkeiten wieder zu gewinnen. Öfters so deutlich, daß er in einem Anlauf vom Proszenium bis hoch über die Bühne führt („Der Wald“) oder daß praktikable Gerüstaufbauten errichtet werden („Die Erde bäumt sich“), auf denen sich Vorgänge abspielen können. Es ist also in jedem Falle vorgesorgt, keinen Teil des an sich leeren Bühnenraums unbeschäftigt, ungespielt zu lassen. Doch mehr als das. Die von Mayerhold angewandten Konstruktionen sind im Gegensatze zu den in dieser Untersuchung mehrfach genannten nicht fix, sondern beweglich. Die ganze Fallenkonstruktion in „Taraelkins Tod“ ist fahrbar, die Maschinerie in „Der großmütige Hahnrei“ ist in Gang zu setzen, im „Revisor“ fährt die ganze geneigte Spielfläche mehrmals auf die Bühne hinaus und verschwindet wieder. Bewegliche Wände, („Trust D. E.“), Flächen, die eigentlich Drehtüren sind, die Verwendung allerlei wie immer gearteten Vehikels ist keine Seltenheit. Zu dieser außerordentlichen Beweglichkeit und turnerischen Grazie seiner Schauspieler ­– was nicht wundernehmen kann, da sie so stark im Blicke stehen – gesellt sich die bewegte Dekoration. Es herrscht ein wahrer horror quietatis, ein Abscheu vor der Ruhe, das Theater in Bewegung.

Man kann nicht annehmen, daß dieses System nur zufällig sei oder einer billigen Sensation entsprechen würde. Dagegen spricht seine ganz außerordentliche starke Wirkung und der hohe Ernst seines Autors. Es ist vielmehr nichts Geringeres beabsichtigt, als den Ausdruck des Spiels statt im Bilde und in der Stimmung, statt in der Rede und in der Beleuchtung in der Bewegung zu finden, motorischer Symbolismus. Für dieses Theater wäre beispielsweise eine Abendstimmung nicht in den üblichen Beleuchtungsszenarien zu suchen, sondern in den Reihen der müde aus den Fabriken heimgehenden Arbeiter, eine Morgenstimmung im machtvollen Ausschreiten eines zuversichtlichen, erwartungsvollen Chores. Tatsächlich ist beides bei der Inszenierung der „Morgenröte“ Verhaerens in dieser Weise aufgefasst worden. Chorischer Ausdruck ist also die notwendige Ergänzung des tänzerisch-turnerischen des Schauspielers, wird in dieser ein Prinzip des Minus, so in jener gewiß eines der leider verloren gegangenen mimischen Anweisungen des antiken Chores erreicht.

Es wird sich lohnen, eine ganze Inszenierung Mayerholds auf diese Prinzipien zu untersuchen, um deren wechselweise Anwendung und Anschaulichkeit kenntlich zu machen. Wir wählen einen Fall, von dem als einer Art, Gradmesser der russischen Bühne schon mehrfach die Rede war, den „Revisor“, und gehen das Stück analytisch auf die eben genannten Elemente ebenso durch, wie sie nacheinander zum Bewußtsein des Beschauers treten.

Mayerhold spielt den „Revisor“ vor der genannten Wand hochglanzpolitierter Türen. An Stelle des eliminierten Vorhangs tritt das Licht; nach akustischen Anfangszeichen erfolgt das Aufleuchten der meist ungedeckten Scheinwerfer, es erscheint, auf Rollen hereingeschoben, die kleine, geneigte Spielfläche, mit der für alle im Interieur spielenden Szenen das Auslangen gefunden wird. Einige Möbelstücke, Kasten, Chaiselongue, Fußschemel, stellen auf dieser Spielfläche für diesen Fall den Eindruck eines Zimmers der gewünschten Zeit her. Die außerordentliche Enge, die insbesondere bei der Verwendung größerer Gruppen entsteht, ist deutlicher räumlicher Symbolismus, in ihr findet die Begriffsenge des Milieus ihren, wenn auch sehr naiven, immerhin aber für die große Masse schlagkräftigen Ausdruck. Aus dieser Kleinformung der Szene ergreift aber der Regisseur jeden sich bietenden Anlaß, um zu der gewohnten Großformung zu greifen; als erster bietet sich die Heimkehr Chlestakoffs nach dem Frühstück dar, die als Freilichtszenerie, über die ganze Breite der Szene, längs einer hereingeschobenen Barrière gespielt wird, auf deren einer Seite der falsche Revisor, auf deren anderen die devoten Begleiter in fortwährendem Auf und Nieder begriffen sind. Natürlich liegt der Ton auf diesem motorischen Moment. Desgleichen wird, im fortwährenden Alterieren mit der engen Interieurszene – ein Motiv besonderer Wirkung – natürlich auch die Übergabe der Gesuche und das Vertreiben der Bittsteller des Städtchens sehr breit motorisch durchgeführt. Schließlich sogar die Bestechungsszene, mit dem gespensterhaften Motiv der vielen Türen, aus denen immer wieder Personen sichtbar sind, Hände mit zerknüllten Banknoten greifen usw. Damit übergeht für Mayerhold das Stück schon von dieser Szene an in die pathologische Atmosphäre, die für den Schluß auch dem Autor nicht unerwünscht war. Nach der Schlußrede des Polizeimeisters an das Publikum beginnen die Figuren des Stückes Hand in Hand, in langer Reihe, von der Szene hinab ins Publikum zu schwirren, umkreisen turbulent das ganze Haus, bis der Zuschauer gewahr wird, daß sie verschwunden und auf der Szene eine Reihe von Wachspuppen übrig geblieben sind, verfallen, abgetötet, aber genau im Kostüm und den Haltungen der Darsteller.

Wir leugnen nicht, daß sich die hier verbergende Symbolik, die für den Leser unserer Untersuchungen jetzt schon bereits Schritt für Schritt erkannt werden wird – bildlicher, räumlicher, motorischer Symbolismus – recht naiv ist, daß sie gar keinen Vergleich aushält mit hohen optischen oder akustischen Symbolismus einer Aufführung Stanislawskis; sie ist aber, insbesondere wenn an ein Massenpublikum gedacht wird, wirksam und theatralisch richtig. Auch die Symbolik des antiken Theaters war naiv, auch bei diesem der Wunsch, auf eine zu Tausenden zählende Zuhörerschaft zu wirken, für die jede andere als eine deutliche, gegenständliche Aktion unverstanden geblieben wäre. Naiv und motorisch ist ferner der Symbolismus der ganzen simultanen Spielweise des Mittelalters, wo an einer Spielstraße, an Häusern, denen bescheidener Raumsymbolismus anhaftet, – Haus des Kaiphas, Ort der Dornenkrönung usw. – in fortdauernder Bewegung gespielt worden ist.

Diese Bemerkung müssen leider genügen, um die fortschreitende Analyse erkennen zu lassen, die auch das Theater Mayerholds bietet. Mit dem Wegfall der Bühne ergab sich die Notwendigkeit des Aufsuchens anderer symbolischer Kategorien, die geschichtlich ganz folgerichtig in einer Zeit gefunden worden sind, die gleichfalls keinen dreiseitig begrenzten Bühnenraum kannte. Die Rückkehr Mayerholds zum Mimus, also einer Theaterform der hellenistischen Zeit, ist oft bemerkt worden, es führt jedoch nur ein Schritt zur Rückkehr zu den Tänzen und Bewegungen des Chors, also zu einem Element der klassischen Zeit selbst. Ebenso sind die Aufbauten der Bühne beweglich gestaltet – man vergleiche im Gegenteil die fixen Aufbauten Tairoffs, zum Beispiel des „Gewitter“ – um auch darin keinen „toten Punkt“ und die weitestgehende Möglichkeit der Raumausnützung zuzulassen. Auch werden diese Aufbauten technisch einfacher gehalten, Räder, Anläufe, Kreisel, Gitter, durchbrochene Treppen, um überall ihren symbolischen, flüchtigen Charakter zu betonen und nirgends eine die motorische Freiheit der Szene sperrende Verbauung zuzulassen. Das räumliche Symbol wird also als gefährlich befunden und in strenger Antithese zu Tairoff abgelehnt, die Bühnenumrahmung, der „Guckkasten“, nach mehr als vielhundertjähriger Geltung vom offenen Theaterraum wieder abgelöst.

Aus dem im Amalthea-Verlag erscheinenden Werk über die russische Theaterkunst von Joseph Gregor und Renée Fülöp-Miller.

In: Die Bühne (1927), H. 163, S. 24ff.

Karl Leuthner: Halbasien

Die emsige Forschung des wissenschaftlichen Spezialisten, die peinlich genaue Tätigkeit des an Hochschulen gebildeten Fachmannes, die sorgfältige und verständnisvolle Mühe des Arbeiters und des Bauern sind die Grundpfeiler der modernen Kultur. Man hat vor dem Kriege gern über die zeitausladende Rastlosigkeit neuzeitlicher Arbeit gemault; und lange bevor die Entente daraus ein politisches Schlagwort machte, die angebliche epische Ruhe großer Kulturzeitalter, des Zeitalters Goethes, zu dem betriebsamen, aber an Genieleistungen armen Tageslauf der Enkel ins Widerspiel gesetzt. Doch das war das Geschwätz der Kulturschmöcke, Weltanschauung aus dem Kaffeehauswinkel lungernder Bohème. Alle großen Künstler waren Schwerarbeiter in ihrer Kunst, und Goethe war es sogar außerhalb seiner Kunst, als Staatsbeamter, oft selbst zum Schaden seiner schöpferischen Muse, als Naturforscher, der das ganze Wissen seiner Zeit zu umspannen suchte. Den Dichter des Faust, den Propheten des Suezkanals, den freudigen Empfänger jeder naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaft zu dem planmäßigen Fortschritt wissenschaftlicher und technischer Naturbewältigung unserer Tage in Gegensatz zu bringen, heißt, weder von Goethes noch von unserer Kultur Wesensart mehr als leeren Wortschall vernommen haben. Die moderne Kultur, die sachlich auf genau arbeitenden Maschinen, auf wohlersonnenen Ersatz von Menschenkraft durch gebändigte Naturkraft und auf rationellster Ausnützung aller in der Erde und unter der Erde ruhenden Kräfte faßt, konnte nicht anders erbaut werden als durch Arbeit und wiederum durch Arbeit und noch einmal durch Arbeit. Die Kraft und Zeit auspressende Gewinngier des Kapitalismus hat bloß zu Sondervorteil mißbraucht und ins Gemeinhändlerische entstellt, was doch der Lebensatem unserer Zeit war: äußerste Kraft und Zeitökonomie und die ihr entsprechende Besinnung der Menschen, sorgfältigster, stets von Wissen, Ueberlegung und Pflichtgefühl geleisteter Fleiß.

Nachdem aber einmal diese gegenständlichen Voraussetzungen und sittlich-geistlichen Kräfte die neue Kulturwelt emporgehoben, die ihr entsprechende Lebensform gestaltet hatten, war in unserem Europa, der menschenwimmelnden Städte, des überbesiedelten Landes bis mehrere Arbeitsgesinnung aus einer Bedingung höherer Gesittung zu einer bloßen und baren Notdurft geworden. Der deutsche Adler des achtzehnten Jahrhunderts, nach Urväterart bestellt, vermochte kaum von den 30 Millionen, die Deutschland damals bewohnten, den Mangel fernzuhalten; die rationelle Landwirtschaft des neuen Deutschlands ernährte fünf Sechstel der 67 Millionen Einwohner, die knapp vor dem Kriege das Reich bevölkerten. Mit dem Kohlenertrag aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wären die Städte des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts dem elendsten Erfrieren ausgeliefert gewesen. Es führt zu der schleudernd bedächtigen Lebensweise der Väter kein Weg zurück, außer dem, der in den Friedhof mündet. Das Nebeneinander altväterlicher Schlamperei und Bummelei und der Vorteile moderner Kultur ist nur denkbar in jenen halbeuropäischen Ländern, in denen die moderne Kultur eben nicht Ergebnis und Ertrag eigener Geistesanstrengung und eigener Mühe, sondern Einfuhr aus Freude ist.

Hier in Rußland und in den Balkanländern, mit grellstem Widerspruch in der Türkei, hatten oder haben noch gleichzeitig ihren Platz die Riesenfabrik mit den neuesten aus England oder Deutschland hergeholten Rohstoffen, das Prunkhotel mit allen Wundern neuzeitlicher Bequemlichkeit und neuzeitlicher Hygiene, und das Dorf mit seinen verlausten Insassen, die mit dem Holzpflug der Vorzeit den Ackerboden mehr ritzten als aufwühlten. Doch in den Städten selbst bilden die meist aus der Fremde eingewanderten oder in der Fremde geschulten Ingenieure und die Schar von Arbeitern, die sie sich abgerichtet, nur Inseln des neuen Arbeiterbodens mitten im Schlammmeer mittelalterlicher Trägheit, mittelalterlichen Schmutzes. Den Grundstock der Bevölkerung der halbasiatischen Bevölkerung stellt eine wirre Menge von Lumpenproletariern und Händlern dar, von denen niemand genau sagen kann, wovon sie eigentlich ihr Leben fristen. Sie erzeugen allzumal nichts, sie schaffen keine Werte, sie bilden nur eine unendliche Kette von Krämern, Schleichhändlern und Wucherern, die sich zwischen den Verbraucher und Erzeuger drängt. Und diese lange Kette des Handels ist eine ebensolange Kette des Betruges, denn wie der Weltverkehr zu seiner technischen Kreditvoraussetzung die Zuverlässigkeit hat, so sind hier, wo hunderte Händler, gleich dem Ungeziefer, auf derselben Ware sitzen und sie benagen, Uebervorteilung und List Daseinsbedingungen. Doch mag sich einer aus dieser Reihe zu Millionenreichtum emporschwingen, mag er sich in Schmutz und Not weiterschleppen, alle erfüllt die gleiche Gesinnung: sie wollen feilschen und mogeln, hökern und wuchern, um nur den Schweiß ehrlicher Arbeit fliehen zu können. Und dieser Geist der Korruption durchzieht die ganze Gesellschaft. Das Händlervolk kauft sich von Gesetzen los, das der schlechtentlohnte, aber zahllos die Kanzleien bevölkernde und faulenzende Beamte verkauft, um besser leben, um vielleicht überhaupt leben zu können. Das gibt der oberflächlichen Beobachtung den angenehmen Eindruck völliger Freiheit von Pedanterie, von der Pflicht- und Paragraphenstrenge; und dient keinem besser als dem Reichtum, der hier am vollsten prassen darf, weil das Aufeinanderstoßen moderner Fabriken und alter Wirtschaftsformen und die erste, märchenhafte Ergiebigkeit unausgeschöpfter Bodenschätze unendliche Gewinne abwirft.

Nur scheinbar steht die Intelligenz zu diesem Sein und Treiben in einem Widerspruch, den man gern bei ungenügender Prüfung der ursächlichen Zusammenhänge sogar zu einem idealen Gegensatz aufgehöht hat. Im Grunde sind diese Intellektuellen des Ostens nicht anders wie die Fabriken des Ostens vollgepfropft mit den fertigen Erzeugnissen des Auslands. Sie handhaben die abgeschlossenen Ergebnisse eines fremden Denkens, das in ihrem Lande keine Entwicklung hatte oder nur in einer Aufeinanderfolge von Gedankenreflexen aus dem Ausland sich entfaltete. Sie handhaben aber dieses überkommene Geistesgut desto kühner, schreiten um so leichter zu den radikalsten Schlußfolgerungen fort, als ihnen eben die Mühe des Erwerbens nie recht anschaulich geworden ist. Sie bilden die unabhängige Jugend, denn sie hemmt nicht der ehrfurchtgebietende Anblick fruchtbarer Arbeit der Väter. Und sie erscheinen ideal allein auf das Gedankliche gerichtete, von der Enge des Brotstudiums weniger begrenzt weil ringsum nirgends das Beispiel strenger Berufsarbeit den Beruf, die gesellschaftlich notwenige Teiltätigkeit als Lebensaufgabe erscheinen läßt. Und wovon leben sie am Ende? Nicht anders als die Fürsten-, Beamten- und Lakaienstädte des achtzehnten Jahrhunderts von dem Ueberschuß des Ackerertrages im dünn besiedelten Lande, einem Ueberschuß, den der Staat für die handeltreibende und in Kanzleien faulenzende Stadtbevölkerung mit allen seinen Steuerschrauben herauspreßt.

So durften wir einst über den Osten reden. Dürfen wir es noch? Ist der Osten nicht unter uns selbst leibhaftig aufgestanden, seitdem der Krieg die Werke unserer westlichen Gesittung verwüstet und den Menschen dieser Gesittung das Herz versehrt hat? „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüsten birgt.“ Um uns herum ist es russische Steppe geworden, Steppe eingeebneter Kultur, in unseren ehrwürdigen Kultur- und Arbeitsstädten wimmelt und wuselt die untätige Geschäftigkeit von Warschau und Berdiczew. Und es sind nicht nur Städte aus dem Osten, die ihr altehrwürdiges Handwerk in modernen Schleichhandel umgemodelt haben. Zu ihnen gesellen sich gelehrige Schüler, alles, was im Hungerleben des Krieges die Arbeit hat meiden lernen. Ein neues Lebensideal steigt auf, nicht öffentlich anerkannt, desto eifriger befolgt: zu leben ohne produktiv tätig zu sein, zu leben, indem man eine Ware, wo immer erzeugt, zinsnehmend von Hand zu Hand schiebt. Und diesem Grund- und Haupttypus des östlichen Lebens schließen sich notwendig die abgeleisteten Typen und Gestalten an. Wo der Gewinn aus dem Nichts das Ziel bildet, dort muß wildes Spiel und roh wüstes Genießen unmittelbar daneben erwachsen. Doch wenn nun Habenichtse, denen der Schleichhandel Haufen von Banknoten zugeschoben, an eine Karte, an ein Weib, an eine Flasche Sekt Summen wagen, die einst selbst die goldene Jugend auszugeben sich scheute, so gebührt es sich, daß wir zugleich in Eisenbahnzügen fahren, die von Ungeziefer fast so dicht wie von Fahrgästen überfüllt sind, und der Schmutz überall frech am hellen Tage wächst. Die gute alte Zeit kehrt wieder, wo jeder eine Nase voll nahm und sich weiter an den Stank nicht sonderlich kehrte, die gute alte Zeit zu der unsere täglich sinkende Arbeitsleistung herabzugleiten beginnt, die gute alte Zeit der Dreifelderwirtschaft, zu deren Ertraglosigkeit unsere Äcker fast schon herabgestürzt sind, Wir haben Beamte und Studierende, mit denen wir einen Großstaat ausrüsten könnten, aber bloß für vier Monate Brot und kaum für anderthalb Monate Kohle.

Wir haben alles in Ueberfluß, bloß das nicht, was wir brauchen, was zum Leben unabweislich notwendig ist. Wir stehen auf kargem Boden, in der Steinwüste einer Riesenstadt und haben keine Schätze als welche die Hand und der Geist hervorzaubern. Mit unserem Arbeitsrhythmus schwingt gleichmäßig der Rhythmus unseres Lebens. Wir können nicht feilschen, nicht hazardieren, auch nicht beim Samowar endlose kluge Gespräche führen, wir müssen erfinden und schaffen. Erfinden und Schaffen, das ist die Religion der neuen Zeit. Forschen und erfinden, schaffen und wirken, daraus erfließt auch ihr dreifacher Segen: Freiheit, Demokratie und Sozialismus.

In: Arbeiter-Zeitung, 13.8.1919, S. 1-2.

Hans Liebstoeckl: Das Theater in der Republik

Für das Theater ist die Festlegung der republikanischen Staatsform von einiger Bedeutung gewesen. Ohne politische Dinge erörtern zu wollen, kann man hier wohl davon sprechen, denn der republikanische Gedanke einhält ja gleichsam den Begriff der Meinungsfreiheit in sich, und es ist gewiß, daß Presse und Bühne ohne ein weitgehendes Maß von Freiheit nicht existieren können. Auch die Monarchie hat eine bestimmte Dosis von Freiheit besessen, sie ging manchmal weiter, als man erwarten durfte, aber sie blieb natürlich schwerhörig in allen Dingen, die den Hof und die zum Hofe gehörige Gesellschaft betraten. Ich selbst konnte ein Lied davon singen.

            Als Maria Jeritza seinerzeit ihren Übergang von der Volksoper n die Wiener Hofoper vollzog, schrieb ich eigens eine Oper für sie, zu der Max Oberleitner die Musik gemacht hat. In dieser Oper, „Aphrodite“ (mit Benützung des Romanes von Pierre Louys), gab die Jeritza die Chrysis (Aphrodite). Das Buch, im Laufe von 14 Tagen in Stockholm von mir niedergeschrieben, ward an der Hofoper sofort angenommen und die Musik, gleichfalls rasch entstanden, wurde kurz darauf geprobt. Die maßgebenden Faktoren der Hofoper verhehlten sich nicht, daß der Stoff für die damaligen Verhältnisse ein bißchen kitzlig war. Meine Oper schilderte Aufstieg und Fall einer Buhlerin, aber man hoffte, die unglückliche Chrysis ungefährdet in die Oper bringen zu können, denn damals war ja die Glanzzeit der „Salome“ und der „Elektra“ von Strauß, zweier Opern, die sicherlich das Normalmaß der Keuschheit, das sich die Monarchie setzte, überschritten. Die berühmte Affäre der „Salome“ mit ihren sieben Schleiern kam glatt unter Dach. Bei meiner „Aphrodite“ konnte es insofern Bedenken geben, als der Höhepunkt der Handlung darin bestand, daß die Buhlerin ein Standbild der Aphrodite zertrümmert und sich selbst in ihrer strahlenden Schönheit n deren Stelle setzt. Da das Bild der Aphrodite gänzlich unbekleidet war, sollte für die Inszenierung in der Hofoper eine Art durchsichtigen Schleiergewandes gewählt werden, das die schöne Gestalt der Jeritza ziemlich aufrichtig erraten ließ. Die Proben waren schon im Gange, aber es sprach sich herum, daß Mitzi Jeritza in dieser Partie nahezu unbekleidet vor den Augen des Publikums erscheine. Nun bekam der Hof Wind davon, und insbesondere eine der Erzherzoginnen nahm Anstoß an dieser Szene. Man debattierte hin und her, doch kam schließlich ein Kompromiß zustande: der Schleier blieb, aber er mußte durch dickere Gewänder ersetzt werden! …

            In diesem Punkt hat die Republik volle Freiheit geübt. Obschon die lokale Zensur in Wien mancherlei Schwierigkeiten machte, blieb die Tendenz doch sichtbar: die Schaustellung des menschlichen Körpers nicht als Ärgernis zu betrachten. Eine Zeitlang überwogen die erotischen Stücke und die Nacktheit auf der Bühne. Ich erinnere bloß an die „Lysistrata“, an manche Novität der Kammerspiele, an Wedekind und Kaisers „Sorina“ und Sternheims „Kasette“, die, obgleich ein außerordentlich schlüpfriges Stück, sogar im Burgtheater Aufnahme fand, von den Freudkomplexen, wie Unruhs „Geschlecht“ und manchen Anstößigkeiten in Wildgans „Kain und Abel“, gar nicht zu sprechen. In den heikelsten Fällen half sich die Wiener Zensur mit Aufführungen vor einem geladenen Publikum, die dann en suite weitergespielt wurden. Der Kampf um Schnitzlers „Reigen“ ist wohl noch in Erinnerung. Noch liberaler verhielt sich die republikanische Regierung zu Stücken mit politischem Hintergrunde. Man spielte Toller und machte in dem einen wie in dem anderen Fall die Erfahrung, daß die „Gefährlichkeit“ aller dieser Dinge von selbst abstumpft. Es gab sogar einen Augenblick, da sich die Abneigung des Publikums gegen reine Schaustellungen und allzu frivole Bühnenkunst darin kundgab, daß die Leute anfingen, aufzuhören; sie hatten die Nacktheit satt. und das kann man verstehen.

            Heute liegen die Dinge so, daß ein Stück mehrere Zensurstellen passiert. Die erste natürliche Zensurstelle sind der Lektor und der Dramaturg, die zweite der Direktor. Dann erst kommt die Behörde, und die Fälle, in denen sie einschreitet, sind immer seltener geworden. Hie und da wird ein allzu gewagtes Wort gestrichen, eine allzu verfängliche Situation gemildert, und es geschieht bisweilen, daß sie auch, bei Schlüsselstücken und Schlüsselfilmen, Rücksicht auf jene Kreise nimmt, die davon betroffen werden. Jedenfalls haben die Zeiten aufgehört, da die Theaterdirektoren wünschen, daß ein eingereichtes Stück verboten werde. Das war ein beliebter Trick, ein solches Verbot wirkte wie Reklame und die Direktion kam mitunter auf ihre Rechnung, mitunter auch nicht.

            Der heutige Zustand lebt also von einem Minimum an Zensur, und es zeigt sich, das möglichst weitgehende Freiheit zur Läuterung des Geschmackes beiträgt, daß sich also gleichsam von selbst ein Regulativ gegen allzu große Üppigkeit einstellt. Das Publikum hat eine viel feinere Nase, als man glaubt, und nichts wäre verkehrter, als die Annahme, die Leute kämen nur deshalb ins Theater, um ihre Sinne und ihre Schaulust zu befriedigen. Die reine Pornographie auf der Bühne hat sichtlich abgewirtschaftet, man läßt sich sie von keinem anderen als von einem wirklichen Dichter gefallen. Nur so scheint es wieder möglich geworden zu sein, daß Dichter wieder zu Worte kommen, die man für erledigt hielt. Die „Wallenstein-Trilogie“ mit Bassermann ist jedesmal bis auf das letzte Plätzchen besetzt. Das ist wahrhaftig kein schlimmes Zeichen, und es macht der Republik alle Ehre. Nach wie vor kann man nur wünschen, daß es so bleibe und daß der Staat seine Oberaufsicht über die von Steuern schier erdrückten Bürger so zahm und linde als möglich ausübe. Er soll da sein, aber je weniger man von ihm weiß, desto besser. Sonst kommen wir eines Tages in die schrecklichen Verkehrtheiten, unter denen heute die russische Kunst leidet, und deren Widersinn nicht nur außerhalb Rußlands, sondern auch in Rußland selbst als lächerlich empfunden wird.

            Es zeigt sich, daß in der Freiheit allein die Kunst gedeiht und daß die Willkür und Ausschweifung sich selbst ein Ende setzen. Das ist menschlicher Gewinn genug, und indem wir davon sprechen, bringen auch wir der jungen Republik Österreich unseren Glückwunsch dar.

In: Die Bühne, H. 53, 12.11.1925, S. 4.

Leo Lania: Der Feldherr als Aesthet

In einem kleinen Hotel im Berliner Westen machte ich seine Bekanntschaft. Ganz zufällig. Der Mann fiel mir auf: Ein Hüne. Scharf geschnitztes Gesicht, vorspringende Backenknochen, breiter Mund mit vollen Lippen – der Typus eines slawischen Bauern. Doch der runde, kahlgeschorene Schädel, ein gewisser lauernder Ausdruck in den harten Augen, die sich plötzlich verschleiern und dann so rührend träumerisch ins Leere blicken, unbeherrschte, hastige Bewegungen, vor allem dies eigentümlich Gespannte in seinem Wesen – er sieht wie ein entlaufener Sträfling aus, dachte ich unwillkürlich. Das ist Majakowski, der bedeutendste Vertreter des russischen Futurismus, einer der Großen der jüngsten russischen Dichtkunst, „das gewaltige Talent“, wie ihn Alexander Block genannt hat. Wir kommen ins Gespräch. Und dann sitzen wir oben in seinem Hotelzimmer und debattieren über die neue Kunst, über Rußland und die Revolution.

„Haben Sie Trotzkis letztes Werk über die russische Literatur gelesen?“ Majakowski weist auf ein dickes, zerlesenes Buch, das auf dem Tische liegt.

„Ich habe es gelesen. Allerdings nur einen Auszug, der vor kurzem in deutscher Uebersetzung erschienen ist. (Trotzki: Literatur und Revolution. Verlag für Literatur und Politik, Wien.) Ein ganz eigenartiges, ein erstaunliches Buch. Erstaunlich in doppelter Hinsicht: Wegen der Person des Verfassers und wegen des Stoffes, der hier in einer neuen Art behandelt wird.

                                               *

Trotzki, der Schöpfer der Roten Armee, als Aesthet? Manch einer wird wohl mit gemischten Gefühlen dies Büchlein in die Hand nehmen. Und wird nach wenigen Seiten völlig im Banne dieser einzigartigen Persönlichkeit stehen. Denn in keiner seiner zahlreichen historischen und nationalökonomischen, seiner militärischen und marxistisch theoretischen Schriften tritt uns das innerste Wesen Trotzkis so klar entgegen. Welche Energie, welche Arbeitskraft muß diesen Menschen auszeichnen, der auf einem der exponiertesten Posten der russischen Revolution, im Drang der Politik und der auftreibenden Tagesarbeit, die schon an die physischen Kräfte der Führer übermenschliche Anforderungen gestellt hat, noch Zeit und die innere Bereitschaft findet, um sich so völlig in kulturelle und literarische Probleme zu vertiefen. Trotzkis Buch räumt mit den Thesen und Edikten der zünftlerischen revolutionären Literaturhistoriker auf. „Das Proletariat wird die Schaffung einer neuen, das heißt sozialistischen Kultur und Literatur in Angriff nehmen können, nicht mit Laboratoriumsmethoden auf der Grundlage unserer jetzigen Armut, Knappheit und Unwissenheit, sondern durch weit ausholende, gesellschaftlich wirtschaftliche und kulturfördernde Methoden. Die Kunst braucht Wohlleben, bedarf des Ueberflusses. Dazu gehört, daß die Hochöfen heißer glühen, die Räder rascher surren, die Schiffchen flinker tanzen, die Schulen besser arbeiten… Es ist grundfalsch, der bürgerlichen Kultur und der bürgerlichen Kunst die proletarische Kultur und die proletarische Kunst entgegenzustellen…

Denen, die das Ultraradikale, den Appell zum Bruch mit der Vergangenheit und zur Liquidation der Tradition erschallen lassen, antwortet Trotzki sehr fein: „Die Arbeiterklasse hat es nicht nötig und kann mit der literarischen Tradition brechen, denn sie schmachtet nicht in den Fesseln der Tradition. Sie kennt die alte Literatur nicht, die muß sie erst kennen lernen, sie muß erst Puschkin noch erfassen, ihn aufsaugen und ihn dann auch überwinden. In der übertriebenen futuristischen Ablehnung der Vergangenheit steckt ein Nihilismus der Boheme, aber kein proletarischer Revolutionalismus.“

Aus dieser Einstellung der wahren Achtung vor jeder schöpferischen Kulturleistung kommt dann Trotzki zu seiner Forderung der Duldsamkeit: „Das Gebiet der Kunst ist nicht das Feld, wo die Partei zu kommandieren berufen ist.“ Das soll nun nicht heißen, daß Trotzki der Ansicht ist, die Regierung, bzw. die regierende Partei der Bolschewiki habe sich jeder Einmischung und jeder kritischen Stellungnahme in Fragen der Kunst zu enthalten und dürfe keine Kulturpolitik treiben: „Es ist vollkommen klar, daß auch auf dem Gebiete der Kunst die Partei nicht einen einzigen Tag dem liberalen Prinzip: laisser faire – laisser passer, frönen darf. Die ganze Frage besteht nur darin, in welchem Punkte die Einmischung beginnen soll und wo ihre Grenzen sind. Trotzki sieht viel klarer und schärfer als so manche ‚Berufenen’ die Schwierigkeiten, die Kompliziertheit der Probleme. Dieser Dogmatiker verleugnet nie, daß er ein Realpolitiker ist. Er ist nicht nur ein Meister im dialektischen Denken, sondern auch ein Beobachter von verblüffender Schärfe […] Mit leichter Ironie, mit einer milden Skepsis lächelt er über jene, die da glauben, die neue kommunistische Kunst gebrauchsfertig in einer Retorte erzeugen zu können. Er blickt um sich und sieht Ansätze, tastende Versuche, mehr oder weniger gelungene Experimente – keine Erfüllung. Und was den ‚Proletkult’ betrifft, so sind solche Ausdrücke wie ‚proletarische Kultur’ und ‚proletarische Literatur’ gefährlich, weil sie die Zukunft der Kultur fiktiv in den engen Rahmen des Heute hineinzwängen, die Perspektiven verfälschen, – den sehr gefährlichen Dünkel kleiner Kreise kultivieren. Wir wollen vereinbaren, daß ‚Proletkult’ soviel bedeutet wie ‚proletarischer Kulturismus’, das heißt, den zähen Kampf um die Hebung des kulturellen Niveaus der Arbeiterklasse.

[…]

            Was aber diese proletarische Literatur betrifft – so sind das literarische Werke begabter oder talentierter Proletarier, aber keineswegs proletarische Literatur. Und Trotzki warnt davor, „mit großen Worten zu spielen. Es ist nicht wahr, daß es einen proletarischen Stil gibt. Wo ist er? Zweifellos, selbst farblose und schwache, sprachlich unbeholfene Gedichte können den Weg des politischen Wachstums eines Dichters und einer Klasse markieren und dadurch eine unermeßliche kultursymptomatische Bedeutung haben. Aber schwache Gedichte – bilden noch keine proletarische Dichtung, denn sie sind überhaupt noch keine Dichtkunst. Auf dem Gebiete der Kunst hat eben das Proletariat noch kein Kulturmilieu geschaffen, während die bürgerliche Intelligenz ein solches Milieu – ein gutes oder schlechtes – besitzt. Also? Lernen! Man muß lernen, wenn auch die Lehrzeit – notgedrungen beim Feind – nicht ganz ungefährlich ist. Man muß lernen!“

                                                           *

Und Majakowski? Er lächelt: „O, er hat mit vielem recht, der gute Trotzki. Obwohl er ein gefährlicher ‚Rechtler’ ist.“

In: Prager Tagblatt, 9.7.1924, S. 3.