Erwin Rieger: Wie meine österreichische Anthologie entstand

Erwin Rieger: Wie meine österreichische Anthologie entstand. (1931)

             Kaum etwas mehr als ein halbes Jahr ist nun vergangen, da erhielt ich eines Tages von Josef Würth, dem Besitzer des Darmstädter Verlages, der mit seiner Handpresse schon eine Reihe schöner Bücher hergestellt hat, einen langen Schreibebrief, in dem er mir einen nicht von der Hand zu weisenden Vorschlag machte. „Schon seit langem beabsichtige ich, die Fülle junger, wertvoller Erzeugnisse Österreichs in einem Sammelwerke zu vereinigen,“ hieß es da, „doch scheiterte dieser Plan immer an der Kenntnis der Persönlichkeit, die diese Arbeit geschmackvoll und sachkundig auszuführen imstande wäre und zugleich das Vertrauen der Autoren besäße. Sehr oft liegen mir Manuskripte vor, die unbedingt festgehalten zu werden verdienen. Dies und die Tatsache, daß ich glaube, in Ihnen eine Persönlichkeit gefunden zu haben, um einem solchen Projekt gerecht zu werden, ist es, was mich veranläßt, an Sie die Anfrage zu richten, ob Sie bereit wären, die Herausgabe einer lyrischen Anthologie zu übernehmen.“ Dieser Antrag war schmeichelhaft. Er kam überdies, wie mir dünkte einem sehr lebhaften Bedürfnis unsrer jüngeren Autoren entgegen. Wie für kaum einen andern Künstler ist unsre harte Zeit so unerbittlich wie für den lyrischen Dichter. Schwerer wird es ihm als jedem andern, für das, was er zu sagen hat, den tauglichen Ort zu finden.

             Die Aufgabe schien somit recht verlockend, und in großen Umrissen stand denn auch bald der Plan fest. Vor allem galt es, den Dichtern meiner eigenen Generation zu helfen, jenen, welchen der Krieg das Dasein mittendurch auseinandergebrochen hatte und die heute an der Schwelle der Vierzig stehen. Dann aber schien die Gelegenheit höchst erfreulich, den Jüngeren, den nach uns Heraufkommenden, einen Dienst zu leisten. Mit einigen Freunden wurde in aller Eile eine Liste zusammengestellt und ein Rundbreif an die in Frage kommenden Dichter ausgesendet.

             Nicht ganz leichten Sinnes geschah das nun aber freilich, denn so gut wie nichts ließ sich den Aufgeforderten an materieller Gegenleistung bieten, und kaum jemals zuvor ist die Kunst nach Brot gegangen wie heutzutage. Dazu kam noch in diesem besonderen Falle, daß auch innerhalb der Dichtung heute vielfach die leidigsten, nämlich die politischen Gesichtspunkte gelten. Auch die Dichter tragen die verschiedenen politischen Modefarben, und so mancher Pegasus beugt sich, mehr der Not als dem eigenen Triebe gehorchend, unter das Joch dieser oder jener Partei.

             Die Antworten, die auf meinen Rundbrief einliefen, zerstreuten aber alsbald solche und andre Sorgen. Diese Antworten waren fast ausnahmslos positiv. Sie erfüllten mich mit Stolz und Freude. Bald war fast das ganze jüngere und junge Österreich da. Nun aber galt es, in diesen Kreis der Autoren auch jene einzubeziehen, deren Dichterruhm längst anerkannt und wohlbegründet ist. So wurden in allerletzter Stunde neben einigen andern noch Franz Karl Ginzkey, Max Mell, Richard v. Schaukal, Franz Werfel, Anton Wildgans und Stefan Zweig gebeten. Auch sie sagten sämtlich in selbstloser Weise zu.

             Als dann die Bücher, die Manuskripte kamen, mit der Erlaubnis, daraus zu wählen, da galt es freilich nicht, diese Anerkannten neu zu entdecken, Längst schon inst mir, wie vielen andern, der tiefe Herzenston eines Felix Braun so lieb wie vertraut. Längst schon schätzen wir an Kurt Frieberger, der sich’s, wenn er nur wollte, sehr leicht machen könnte, das ernste Ringen um eine strenge, sachliche Form. Längst wissen wir darum, daß sich hinter Alexander Lernet-Holenias virtuosen stilistischen Kapriolen ein großer lyrischer Gestalter lächelnd verbirgt. Längst steht fest, daß Friedrich Schreyvogl sich gerade im Gedicht von seiner reinsten künstlerischen Seite zeigt. Und wenn zu wenige bisher von dem hymnisch-dithyrambischen Impetus Joseph Gregors ergriffen wurden, so liegt das eben weit mehr an der Ungunst der Zeit, als an ihm und an ihnen.

             Dann aber kamen die Überraschungen, und sie bewiesen mir, daß ich im Grunde, gegen die Annahme des Verlegers, wohl doch nicht ganz der Richtige war, um gerade diese Arbeit zu leisten. Denn ich hatte mich – ich bekenne es – in den letzten Jahren vielleicht allzusehr in fremden Literaturen umgetan und wie einer, der das Gute mit Vorliebe in der Ferne sucht, die Heimat und ihre Kunst über Gebühr beiseite gelassen. Freilich, dieses plötzliche, freudige Gewahrwerden des Vielen, das immer noch vorhanden ist und nachkommt, hatte persönlich etwas geradezu Beglückendes für mich. Da waren Fritz Brügels höchst melodische Verse, aus denen ich unter anderm das betörende „Regenlied“ wählen durfte. Da war Oskar Jellinek, der sehr stark sozial fühlt, ohne sich jedoch dabei zu überschreien, und auch als Lyriker die hohe, lautere Form findet, die an seinen Meistenovellen entzückt. Da war Theodor Kramer, in dessen Gedichten ein so herber wie süßer Saft des Lebens pulst, und, in Kramers geistiger Nachfolge, Edmund Finke. Da war Konrad Paulis – den Lesern dieses Blattes seit langem wohlbekannt –, Vertreter des Bürgerlichen in einer edlen Art und mit einem Humor begabt, der auch in dem talentierten Ernst Scheibelreiter auf einer ganz anderen Ebene wiederkehrt und hier zuweilen einen Zug aus dem scheinbar Alltäglichen in das Dämonische aufweist. Da war Ernst Waldinger, noch fast gänzlich übersehen und in seinen Zeitgedichten vielleicht unbewußt an keinen Geringeren als an Verhaeren anknüpfend; und da war sein Gegenspiel, Josef Weinheber, wohl der größte Künstler unter ihnen allen, in seinem unbedingten Streben nach dem absoluten lyrischen Thema und dessen klassischem Ausdruck. Da waren Johannes Lindner und Guido Zernatto, ganz erdnah, wie Bäume emporgewachsen aus der bäuerischen Scholle. Und da war schließlich eine Frau, die geniale Lene // Lahr, die so tief weiblich empfindet, dabei jedoch ungemein klar zu analysieren vermag.

             Die Monate sind vergangen, und nun ist das Buch vollendet. Schön gedruckt und geschmackvoll gebunden liegt es in meiner Hand, und ich gedenke lächelnd aller kleinen und größeren Plänkeleien, die es auszufechten galt, um dieses Schock Lyriker gleichsam unter einen Hut zu bringen. Denn kaum ahnst du wohl, geneigter Leser, daß sich mit gar manchem unter ihnen nicht ganz so leicht Kirschen essen ließ, wie auf den ersten Blick in diese Seiten nun wohl scheinen mag. Denn gar manche unter ihnen sind nicht nur, wie sich’s für Lyriker nun einmal ziemt, recht sensitive, sondern ein wenig allzu nervöse Leute. Ja, man macht sich mit einem solchen Experiment nur Feinde, und nicht zuletzt unter jenen, die aus aus irgendeinem Grund nicht aufgefordert oder nicht gebracht werden konnten… Auch diese „Selbstanzeige“ – ich weiß es – ist eine schwere, eine gefährliche Unvorsichtigkeit. Habe ich denn in diesen Zeilen jeden meiner Mitarbeiter nach Gebühr herausgestrichen oder auch nur genannt? Schaudernd überfliege ich nochmals die Namenliste. O Gott! Viele fehlen immer noch von meinen Sechzig (und es sind auch sehr nahe Freunde darunter): Erhard Buschbeck, Csokor, Max Fleischer, Siegfried Freiberg, Rudolf Henz, Rudolf Jeremias Kreuz, Hans Nüchtern, Sonka, Heinrich Suso Waldeck, Paul Wertheimer und Alma Johanna Koenig… Etliche andre noch!

             Aber nun kommt es ja gar nicht mehr auf diese kleinen Dinge zwischen mir und ihnen an. Nun hat nur noch der Leser das Wort, und es gilt nur der eine Wunsch: daß es ihm bei der Lektüre ähnlich ergehen möge wie mir, als das Buch entstand, daß er ein ähnliches Staunen erleben möge vor der herrlichen Fülle dessen, was uns in diesen Tagen der Not im Bereiche des Geistes immer noch verbleibt.

             Möge denn diese „Anthologie österreichischer Lyrik“ den Beweis dafür erbringen, daß auch in dem neuen kleinen Vaterlande die überkommene Gabe immer noch sich entfaltet, blüht und fruchtet!

In: Neues Wiener Tagblatt, 16.12.1931, S. 2-3.