Kramer, Theodor

geb. am 1.1.1897 in Niederhollabrunn – gest. am 3.4.1958 in Wien; Lyriker

Der Sohn eines aus Mähren stammenden jüd. Landarztes besuchte in Stockerau das Realgymnasium, übersiedelte 1908 nach Wien, wo sein Bruder Richard lebte, u. begann um 1910 zu schreiben. Mit 16 Jahren trat K. der vom späteren Psychoanalytiker Siegfried Bernfeld geleiteten Wiener Sektion der „Freideutschen Jugend“ bei, die sich als Protestbewegung verstand und über ihre „Sprechsaal“-Gruppen Fragen der Schulreform, der Sexualität sowie der Autoritäts- und Generationsthematik diskutierte. In ihrer polizeilich überwachten Monatsschrift  Der Anfang. Zeitschrift der Jugend versuchte K. seine ab dem 13. Lebensjahr entstandenen Gedichte unterzubringen, die jedoch von Bernfeld nicht publiziert, wohl aber in sein Archiv aufgenommen wurden.

Aus: Die Bühne (1926), H. 69, S. 18

Nach abgelegter Matura an der k.k. Staats-Realschule im 2. Bezirk und absolvierter Exportakademie wurde K. im Juli 1915 einberufen. Eine schwere Verletzung an der wolhynischen Front 1916 führte, nach einigen Monaten am Isonzo (1917-18), zu einer Beurlaubung K.‘s im April 1918. Nach Kriegsende inskribierte er an der Univ. Wien, hörte germanist. u. histor. Vorlesungen, u.a. bei Walther Brecht, Alfons Dopsch und Ludo Hartmann, wechselte dann auf die jurist. Fakultät, wo er  bei Hans Kelsen u. Othmar Spann 1919-21 Vorlesungen belegte, bevor er das Studium aufgab. Danach suchte K. im Buchhandel Anstellungen zu erlangen, was erst um 1925 zu stabileren, ihn nicht sonderlich befriedigenden Vertretertätigkeiten führte. 1926 erschien in der Zs. Die Bühne sein erstes Gedicht Anderes Licht; die Bekanntschaft mit Leo Perutz und Joseph Kalmer half ihm, den Weg in die literar. Öffentlichkeit zu finden. Unter Mitwirkung von Perutz ging K.‘s erster Gedichtbd. Die Gaunerzinke (1929; Rütten & Loening) aus einem Preisausschreiben des S. Fischer-Verlags im Jahr 1927 hervor, der ihn auch in Deutschland bekannt machte. Zugleich wurde ihm, geteilt mit Heinrich Suso Waldeck, der Lyrik-Preis der Stadt Wien für 1928 zugesprochen, für den sich vermutl. Ernst Lothar ausgesprochen hatte. 1929 folgte der Preis der Julius Reich-Stiftung und K.-Ged. erschienen fortan regelmäßig in der AZ und zahlreichen anderen Ztg. wie Der Abend, Berliner Tageblatt, Das Tage-Buch oder die Vossische Zeitung. Seine die Alltagsmühen herausstreichenden Kriegsgedichte Wir lagen in Wohlhynien im Morast (1931) führten zu teils heftigen Reaktionen sowie scharfer Ablehnung durch die nationale und NS-Presse. Die Kriegsverletzungen u. sein allgem. labiler Zustand mündeten 1931 in eine erste längere Erkrankung, die bald chronische Züge annehmen sollte. Seit der Gaunerzinke werden die Stimmen von Randexistenzen, von Außenseitern – „für die, die ohne Stimme sind“–, eingebettet in Landschaften der Peripherie, deutlich sichtbar. Stets begleitet von einem unverwechselbaren „Drehorgelklang“ und dem besonderen Kolorit der Provinz, die trotz mancher themat. Berührung mit der zeitgenöss. Heimat-Literatur sich ideologisch wie ästhetisch klar von ihr abhebt, lässt K., „die schlanke Feder wie ein Beil“ geführt, die Zeit durch sprachliche Präzision in greifbaren Bildern der Wirklichkeit auferstehen, deren Nüchternheit, aber auch Sinnlichkeit und Sympathie mit Außenseitern schon Zeitgenossen wie Hilde Spiel, Bruno Kreisky, Ernst Lissauer oder Otto Koenig beeindruckte. In der fehlenden belehrenden Moral glaubte Josef Luitpold Stern eine Schwäche K.s erkennen zu können, der ebenso wie Fritz Brügel, Hermynia zur Mühlen, Rudolf Brunngraber, seit 1933 Mitglied der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller war.

Mit großen Fragen des Lebens im Blick auf das Kleine u. an den Leser gewandt, spricht K., der seit 1927 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war, aus der Mitte jener, denen er sich zugehörig fühlte, geprägt durch seine Kindheit am Rande einer Dorfgemeinschaft und einer besonderen Sensibilität für landschaftliche und soziale Begegnungsräume. Unterstützung erhielt K., der 1931 seine Arbeit im Buchhandel aufgab,  u.a. durch den 1934 gegründete Theodor-Kramer-Verein, für dessen Mitglieder er in privaten Lesungen, u.a. an der Volkshochschule Ottakring, zuweilen auch politische Gedichte vortrug – neben Th. Mann, Franz Werfel oder Stefan Zweig waren es jene Freunde wie Kurt Blaukopf, Fritz Hochwälder, Johann Muschik, Erika Mitterer, P.v. Preradovic oder Ernst Waldinger, durch deren Einsatz K. 1939 die Flucht nach England zu seiner bereits im Exil lebenden Frau Inge Halberstam gelang. Kurz nach der drei Jahre später erfolgten Trennung von ihr tritt er 1943 eine Stelle als Bibliothekar im County Technical College in Guildford an, vermittelt durch Eleanor Farjeon, deren Bekanntschaft er neben Erich Fried, Robert Neumann und Hilde Spiel gemacht hatte. Nach Lesungen in Sendungen der BBC und einigen Publikationen im Aufbau oder der Austro-American Tribune erschien 1943 der Gedichtband Verbannt aus Österreich/Wien 1938. 1946 folgten die Bände Die untere Schenke und Die grünen Kader) – darin auch das kontrovers aufgenommene, an Josef Weinheber gerichtete Requiem für einen Faschisten.

Unter K.s zahlreichen Korrespondenzen findet sich neben H. Spiel, H. Zohn, M. Guttenbrunner, u.a. auch E. Chvojka, den er kurz vor seinem Tod, nach Rückkehr in die fremdgewordene Heimat 1957, als Verwalter seines Werkes einsetzte. 


Weitere Werke (Auswahl)

Kalendarium (1930), Mit der Zieharmonika (1936), Wien 1938 (1938), Verbannt aus Österreich (1943), Die untere Schenke (1946), Lob der Verzweiflung (1947), Vom schwarzen Wein, Auswahl (1956), Lob der Verzweiflung (1972, entstanden 1944/45)

Quellen und Dokumente

Link zur Theodor Kramer Gesellschaft (Biographie, Archiv, usw.): http://theodorkramer.at/aktuell/

Lesung Th.K. 1957 (13:11): „Gaunerzinke“, „Wir lagen in Wolhynien im Morast“, „Ein Krampenschlag vor Tag“, „Kleines Café an der Lände“, „Wien Fronleichnam 1939“, „Requiem für einen Faschisten“, „Neustifter Nebel“ und „Lob der Verzweiflung“

Otto König: „Die Gaunerzinke“ (Rez.). In: Arbeiter-Zeitung, 1928, Grete Ujhely: Theodor Kramer: Die Gaunerzinke (Rez.). In: Wiener Allgemeine Zeitung, 23.10. 1928, S. 5;

„Der Einstieg“ von Th.K. In: Arbeiter-Zeitung, 1928, „Der Köhler“ von Th.K. In: Arbeiter-Zeitung, 1928, „Die Gaunerzinke“ (Rez.). In: Österreichische Buchhändler-Correspondenz, 1929, „Beerenlese“ von Th.K. In: Arbeiter-Zeitung, 1929, Josef Luitpold Stern: „Morast der Gleichgültigkeit.“ In: Der Kampf 24, 1931, Alfred Aspler: „Theodor Kramer-Abend.“ In: Arbeiter-Zeitung, 1931, Otto König: „Wir lagen in Wolhynien im Morast.“ In: Arbeiter-Zeitung, 1931, Dr. R.Ki.:“Wir lagen in Wolhynien im Morast…“ (Rez.). In: Wiener Zeitung, 1931, „18,30: Der reiche Sommer“. In: Radio Wien, 1932, „Kalte Schlote“ von Th.K. In: Tagblatt, 1933, „Brief aus der Schutzhaft“ von Th.K. In: Tagblatt, 1933, „Im Arbeitslager“ von Th.K. In: Tagblatt, 1933, „Am Rand“ von Th.K. In: Tagblatt, 1933, „Vagabundenlied“ von Th.K. In: Tagblatt, 1933,  „Theodor Kramer“. In: Radio Wien, 1934, „Arbeiterdichtung in Österreich“. In: Radio Wien, 1934, „Lass mir ein wenig noch die Hand…“ von Th.K. In: Prager Tagblatt, 1934, „Theodor Kramer“. In: Das interessante Blatt, 1936, „Anders“ von Th.K. In: Prager Tagblatt, 1936.

Nachlass: Österreichische Nationalbibliothek / Klagenfurt: Kryptobestand Theodor Kramer (im Nachlass Michael Guttenbrunner)

Literatur (Auswahl)

Siglinde Bolbecher/Konstantin Kaiser: Lexikon der österr. Exilliteratur (1999), Erwin Chvojka: u.a. Kramer, Mitterer, Guttenbrunner – Ein Rückblick. In: Der literarische Zaunkönig 2 (2005). (Online verfügbar); Vorwort. In: Gesammelte Gedichte 1 (1984). (Online verfügbar), Erwin Chvojka/Konstantin Kaiser: Vielleicht hab ich es leicht, weil schwer, gehabt. Th.K. 1897-1958. Eine Lebenschronik (1997), Konstantin Kaiser: Vorlesung Th.K. (Online verfügbar), Kurt Klinger: Lebenslängliche Isolation: Theodor Kramer. In: Hilde Spiel: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart – Die zeitgenössische Literatur Österreichs (1980), P.-H. Kucher: Kramer, Theodor. In: Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur (2000); Ders.: Drehorgelblues, Peripherie. Gestrandete und ein wenig Liebe. In: Ide (2004), Johann Muschik: In einer alten Mappe blätternd. Erinnerungen an Th.K. In: Ver sacrum (1970), Daniela Strigl: u.a. „Wo niemand zuhaus ist, dort bin ich zuhaus“ – Th.K.: Heimatdichter und Sozialdemokrat zwischen den Fronten (=Literatur in der Geschichte, Geschichte in der Literatur; 25, 1993), Friedemann Spicker: Deutsche Wanderer-, Vagabunden und Vagantenlyrik in den Jahren 1910-1933 (1976). (Online verfügbar), Zs „Zwischenwelt“ (vormals „Mit der Zieharmonika“), hg. von Theodor Kramer Gesellschaft, darin u.a.: Silvia Schlenstedt: „So gibt es eine Anzahl ganz kleiner Chancen.“ Material zu Th.K. in den dreißiger Jahren (=Zwischenwelt 4, 1995), Daniela Strigl: Peripherie – Provinz – Politik. Phänomene des Nichtmehr und Nochnicht bei Th. Kramer (=Zwischenwelt 3, 1992), Diess.: Die Würze des Lorbeers. Theodor Kramer 2022. In: Literatur und Kritik, H. 569/570, 31-35, Anna Krommer: Th. K. in Guildford. Aus dem unveröffentlichten autobiographischen Text „Refugium“ (=Zwischenwelt 1, 1990); Vom Nicht-Beigeben. Theodor Kramer 1897-1958. Einführung in Leben und Werk. Mit Beiträgen von S. Bolbecher, E. Chvojka, A. Emanuely, K.-M. Gauß, R. Klüger u.a.. (= Th. Kramer Gesellschaft, 2018)

(SK)