Canetti, Veza

eig. Venetiana Taubner-Calderon, geb. am 21.11.1897 in Wien – gest. am 1.5.1963 in London; Schriftstellerin, Übersetzerin.

Ps.: Veronika Knecht, Veza Magd, Martha/Martin/ Martina Murner

Das Porträtmodul von Veronika Hofeneder finden Sie hier.

Über C.s Kindheit und Jugend ist nur wenig bekannt: Ihr leiblicher Vater stirbt früh, der Stiefvater, den ihre Mutter heiratet, um die finanzielle Versorgung ihrer Tochter zu gewährleisten, ist ein despotischer Patriarch und misshandelt Mutter und Tochter. Nach der Matura bildet sich C. autodidaktisch weiter, vor allem in der englischen Sprache, die sie bei Auslandsaufenthalten bei Verwandten in England perfektioniert. Sie arbeitet als private Englischlehrerin (kurzfristig auch angestellt an einem Privatgymnasium) und Übersetzerin. Bei einer Vorlesung von K. Kraus lernt sie 1924 den um acht Jahre jüngeren Chemiestudenten Elias Canetti kennen, den sie 1934 heiratet. C.s erste Publikation ist die am 29.6.1932 in der Arbeiter-Zeitung gedruckte Erzählung Der Sieger; weitere Erzählungen folgen, so auch jene Texte, die sie später zum Roman Die Gelbe Straße zusammenfügen wird. Alle diese Texte erscheinen unter verschiedenen Pseudonymen, was C. in einem späteren Brief mit der politischen Situation im Wien der Ersten Republik und den schwierigen Publikationsbedingungen für jüdische SchriftstellerInnen begründet.

In der 1932 von Wieland Herzfelde im Berliner Malik-Verlag herausgegebenen Anthologie Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland ist C. mit ihrer Erzählung Geduld bringt Rosen vertreten – die einzige Veröffentlichung eines ihrer Texte in Buchform zu Lebzeiten. Sie erwähnt in ihrer für die Malik-Anthologie verfassten Kurzbiographie noch zwei weitere Romane aus dieser Zeit, einen über Kaspar Hauser und einen mit dem Titel Die Genießer, die jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach verschollen sind. Im Dezember 1932 wird C. für ihre Kurzgeschichte Ein Kind rollt Gold im Rahmen eines Preisausschreibens der Arbeiter-Zeitung ausgezeichnet.

C.s Publikationsmöglichkeiten schwinden unter der Dollfuss-Diktatur zusehends, da viele links orientierte Zeitungen der Zensur unterliegen oder gänzlich verboten werden. Einige Kurzgeschichten kann sie 1933/34 noch in der elsässischen sozialistischen Zeitung Der Republikaner und in der Deutschen Freiheit, der letzten unabhängigen Tageszeitung Deutschlands, sowie in Herzfeldes Prager Exilzeitschrift Neue Deutsche Blätter unterbringen. C.s letzte Veröffentlichungen sind – nach heutigem Kenntnisstand – die Erzählung Hellseher in der Sonntagsbeilage des liberalen Wiener Tag sowie die Kurzgeschichten Das Schweigegeld und Geld, Geld, Geld in der Stunde, die sich bis zu ihrer Einstellung 1938 vehement gegen den Nationalsozialismus wendete. In dieser Zeit entstehen vermutlich auch die erst postum im Band Der Fund (2001) publizierten Texte Drei Viertel, Die Flucht vor der Erde und Der Seher, die zugunsten der Schilderung von Psychogrammen des Leidens an der Liebe auf zeit- und ortsgebundene sozialkritische Stoffe verzichten, sowie die längere Erzählung Pastora.

Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich 1938 wird das Ehepaar C. zuerst delogiert und muss in einer Pension unterkommen, bevor ihm im November desselben Jahres die Flucht über Paris nach London gelingt. Hier schreibt C. 1939 innerhalb weniger Monate ihren Roman Die Schildkröten, dessen bereits zugesagte Veröffentlichung in einem englischen Verlag durch den Kriegsausbruch verhindert wird. Unter schwierigsten Bedingungen versucht C., die sich im Gegensatz zu ihrem Ehemann für eine (gemeinsame) Existenzgrundlage verantwortlich fühlt, auch mit anderen Tätigkeiten als schriftstellerischer Arbeit Geld zu verdienen. Erst nach Kriegsende sieht sie wieder die Möglichkeit, mit Literatur Geld zu verdienen; die Projekte mit ihren eigenen Texten scheitern aber alle. C. verlegt ihre Tätigkeiten daher zunehmend auf Rezensionen und Übersetzungen: 1947 erscheint gemeinsam mit Walther Puchwein ihre deutsche Übersetzung von Graham Greenes Erfolgsroman The Power and the Glory (dt. Die Kraft und die Herrlichkeit), und auch ihre eigenen Erzählungen überträgt sie ins Englische.

© Johanna Canetti

Als 1956 erneut einer ihrer Romane abgelehnt wird, vernichtet C. in einem Anfall von Verzweiflung den Großteil ihrer Manuskripte und stellt ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit völlig ein. Sie widmet sich nun gänzlich der Betreuung der literarischen Werke ihres Mannes und fungiert für ihn als Managerin, Lektorin und intellektuelle Beraterin – was dieser jedoch lange Zeit gut zu verschweigen wusste.

Am 1.5.1963 stirbt C. nach einer Krankheit in London. Offizielle Todesursache  war gemäß Totenschein „Lungenembolie“, Mutmaßungen über einen möglichen Suizid reißen allerdings bis heute nicht ab.


Weitere Werke (Auswahl)

Der Oger (1991); Geduld bringt Rosen (1992); gem. mit Elias Canetti: Briefe an Georges (2006).

Quellen und Dokumente

Nachlass als Teil des Nachlasses von Elias Canetti an der Zentralbibliothek Zürich

Bestand V.C. im Tagblattarchiv der Wienbibliothek

Ein Kind rollt Gold. In: Arbeiter-Zeitung, 5.3.1933, S. 17, Der Fund. In: Arbeiter-Zeitung, 28.4.1933, S. 6, Der Zwinger. In: Arbeiter-Zeitung, 27.5.1933, S. 6, Die Große. In: Arbeiter-Zeitung, 25.6.1933, S. 16, Der Dichter. In: Arbeiter-Zeitung, 3.8.1933, S. 6, Der Verbrecher. In: Arbeiter-Zeitung, 31.8.1933, S. 6, Der Neue. In: Arbeiter-Zeitung, 23.11.1933, S. 6.

Literatur

Gregor Ackermann/Walter Delabar: Veza Canetti und Veza Magd. Eine bibliografische Grille. In: Juni 45/46. Magazin für Kultur und Politik. Thema: Schreibende Frauen. Ein Schaubild im frühen 20. Jahrhundert. Bielefeld 2011, 223–226; Vreni Amsler: Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus. Würzburg 2017; Karin Ballauff (Hg.): Veza Canetti lebt. Sozialkritische Literatur zeitgenössischer Autorinnen. Wien 2013; Helmut Göbel (Gastredaktion): Veza Canetti. München 2002; Christa Gürtler und Sigrid Schmid-Bortenschlager: Veza Canetti. In: dies.: Erfolg und Verfolgung. Österreichische Schriftstellerinnen 1918–1945. Fünfzehn Porträts und Texte. Salzburg u. a. 2002, 229–238; Natalie Lorenz: „Wenn wir Künstler nicht Haltung haben, wer sollte es sonst?“ Eine Annäherung an das Werk von Veza Canetti. In: Margrid Bircken u. a. (Hg.): Brüche und Umbrüche. Frauen, Literatur und soziale Bewegungen. Potsdam 2010, 233–250; Eva M. Meidl: Veza Canettis Sozialkritik in der revolutionären Nachkriegszeit. Sozialkritische, feministische und postkoloniale Aspekte in ihrem Werk. Frankfurt am Main u. a. 1998; Gerhild Rochus: Veza Canetti: Die Schildkröten (1999). In: Bettina Bannasch und Gerhild Rochus (Hgg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin u. a. 2013, 270–277; Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Rochester, NY 2007; Angelika Schedel: Sozialismus und Psychoanalyse. Quellen von Veza Canettis literarischen Utopien. Im Anhang: Versuch einer biografischen Rekonstruktion. Würzburg 2002; Ingrid Spörk und Alexandra Strohmaier (Hgg.): Veza Canetti. Graz und Wien 2005.

(VH)