Veza Canetti

Zu Lebzeiten veröffentlichte Veza Canetti ihre Texte ausschließlich in Zeitungen und Zeitschriften, erst lange nach ihrem Tod wurden diese auch in Buchform einer breiteren Öffentlichkeit und der literaturwissenschaftlichen Aufmerksamkeit zugänglich gemacht. Im Fokus des folgenden Porträtmoduls steht neben der verschleppten Rezeptionsgeschichte von Canettis Werk auch ihr bedingungslos sozialistisch-humanistisches Engagement sowie dessen Kontextualisierung in zeitgenössischen literarischen Diskursen.

Von Veronika Hofeneder | Mai 2017

Inhaltsverzeichnis

  1. Wien
  2. London
  3. Vezas Werk und Elias’ Beitrag
  4. „Wenn wir Dichter nicht Haltung haben, wer sollte es sonst?“
  5. Erzählkunst der Moderne – Die Gelbe Straße
  6. Judentum und Exil – Die Schildkröten

1. Wien

Veza Magd, geboren 1897 in Wien als Tochter eines Kaufmanns. An einem Privatgymnasium fand ich Anstellung als Lehrerin. Immer, wenn ich zu spät kam, zog der Direktor bedeutungsvoll die Uhr, sagte aber nichts. In vier Jahren hatten wir die Schule heruntergewirtschaftet, seitdem Stundengeben und Übersetzungen. Mein erstes Buch war ein Kaspar Hauser-Roman, und ich schickte ihn begeistert einem großen Schriftsteller. Der war so klug, mich so lange auf die Antwort warten zu lassen, bis ich sie mir selber gab. Seither veröffentlichte ich Erzählungen und den Roman „Die Genießer“ in der deutschen und österreichischen Arbeiterpresse. (WH 761f.)

Abb. 1: Veza Canetti, © Johanna Canetti

Mit dieser Selbstbiographie präsentiert sich Veza Canetti in der 1932 von Wieland Herzfelde im Berliner Malik-Verlag herausgegebenen Anthologie Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland, in der ihre Erzählung Geduld bringt Rosen enthalten ist, – die einzige Veröffentlichung eines ihrer Texte in Buchform zu Lebzeiten. Neben ihrer Verwendung zahlreicher Pseudonyme und befördert durch die Vertreibung durch die Nationalsozialisten sowie eine zweifellos schwierige Existenz an der Seite des späteren Nobelpreisträgers Elias Canetti trug dieser Umstand maßgeblich zu einer verspäteten und schleppenden Rezeptionsgeschichte ihres literarischen Œuvres bei.

Geboren wird sie am 21.11.1897 als Venetiana Taubner-Calderon in Wien als Tochter einer jüdischen Spaniolin aus Belgrad und eines jüdisch-ungarischen Handlungsreisenden, der verstirbt als Veza sechs Jahre alt ist. Um die finanzielle Versorgung ihrer Tochter zu gewährleisten, heiratet ihre Mutter wieder; der despotische Patriarch misshandelt Mutter und Tochter jedoch und ist Veza später Vorbild für ihre literarischen Porträts tyrannischer Familienväter. Über ihre Kindheit und Jugend ist nur wenig bekannt: Veza beschließt ihre Schullaufbahn mit der Matura, danach bildet sie sich autodidaktisch weiter, vor allem in der englischen Sprache, die sie bei Auslandsaufenthalten bei Verwandten in England perfektioniert. Sie lebt von privaten Englischlektionen und hat ein ausgeprägtes Interesse für Literatur. Als regelmäßige, wenn auch kritische Besucherin von Karl Kraus’ Vorlesungen lernt sie am 27.4.1924 bei dessen 300. Vorlesung den um acht Jahre jüngeren Chemiestudenten Elias Canetti kennen. Ihre Einladung, sie zu besuchen, nimmt der schüchterne Elias erst ein Jahr später an.

Abb. 2: Veza Magd (= Veza Canetti): Ein Kind rollt Gold. In: Arbeiter-Zeitung, 5.3.1933, S. 17

Veza wohnt mit ihrer Mutter und dem Stiefvater in der Ferdinandstraße 29 im zweiten Wiener Gemeindebezirk (Leopoldstadt), in der Wohnung hat sie ein eigenes Zimmer, was den selbst unter seiner eigenen Mutter leidenden Elias stark beeindruckt. Hier beginnt sie auch zu schreiben, ihre erste Publikation ist die am 29.6.1932 in der Arbeiter-Zeitung gedruckte Erzählung Der Sieger. Weitere Erzählungen folgen, so auch jene Erzähltexte, die sie später zum Roman Die Gelbe Straße zusammenfügen wird. Die in der im selben Jahr in ihrer Kurzbiographie für die Malik-Anthologie erwähnten Romane über Kaspar Hauser und Die Genießer müssen hingegen als verschollen gelten. Im Dezember 1932 erhält sie für ihre Kurzgeschichte Ein Kind rollt Gold im Rahmen eines Preisausschreibens der Arbeiter-Zeitung unter 827 Einreichungen den zweiten Platz, ein erster Preis wird nicht vergeben, da keiner der eingereichten Texte den Kriterien für eine Kurzgeschichte entspricht. Canetti zeichnet diesen Text mit dem Pseudonym Veza Magd, weitere ihrer Pseudonyme sind Veronika Knecht sowie Martha, Martin oder Martina Murner. Als Grund für diese Verschlüsselungsmaßnahme nennt sie in einem Brief aus dem Jahr 1950 die politische Situation im Wien der Ersten Republik:

Ich selbst bin Sozialistin und schrieb in Wien für die „Arbeiter-Zeitung“ unter drei Pseudonymen, weil der sehr liebe Dr. König […] mir bärbeißig klarmachte, bei dem latenten Antisemitismus kann man von einer Jüdin nicht so viele Geschichten und Romane bringen, und Ihre sind leider die besten. (VC an Rudolf Hartung [Lektor des Münchner Willi-Weismann-Verlages], 5.3.1950, zitiert nach VC 1999, 284f.)

Nach ihrem Austritt aus der Israelitischen Kultusgemeinde im Jahr 1931 tritt Canetti 1934 wieder ein, vermutlich als Zugeständnis an ihre zu diesem Zeitpunkt bereits kranke Mutter, der zuliebe sie die Hochzeit mit Elias in der Synagoge feiert. Nach dem Tod der Mutter zieht das Ehepaar 1935 in drei Zimmer einer Villa in der Himmelstraße 30/8 in Grinzing; diese Wohnung wird sowohl Elias Canetti im ersten Teil seiner Autobiographie Das Augenspiel als auch Veza in ihrem Exilroman Die Schildkröten (VC 1999) als literarische Kulisse dienen. Canettis Publikationsmöglichkeiten schwinden indes zusehends, in der Dollfuss-Diktatur unterliegen viele links orientierte Zeitungen der Zensur oder werden gänzlich verboten, auch die Arbeiter-Zeitung muss ihr Erscheinen vorübergehend einstellen. Einige Kurzgeschichten kann sie 1933/34 noch in der Deutschen Freiheit (die im bis 1935 unter französischer Verwaltung stehenden Saarbrücken erschien und damit die letzte unabhängige Tageszeitung Deutschlands war) sowie in Wieland Herzfeldes Prager Exilzeitschrift Neue Deutsche Blätter unterbringen. Hier wird ihre Erzählung Drei Helden und eine Frau publiziert, in der vor dem Hintergrund des Februaraufstandes drei aufständische junge Männer durch die tatkräftige Hilfe einer Hausmeisterin in einer Arbeiterwohnung versteckt und damit vor dem sicheren Tod bewahrt werden. Ihre letzten Veröffentlichungen sind – nach heutigem Kenntnisstand – die Erzählung Hellseher in der Sonntagsbeilage des liberalen Wiener Tag sowie die Kurzgeschichten Das Schweigegeld und Geld, Geld, Geld in der zwar den Boulevard bedienenden, dabei jedoch auch kritische und vornehmlich bürgerlich-demokratische Positionen vertretenden Stunde, die sich bis zu ihrer Einstellung am 13.3.1938 vehement gegen den Nationalsozialismus wendete. In dieser Zeit entstanden vermutlich auch die erst posthum im Band Der Fund (VC 2001) publizierten Texte Drei Viertel, Die Flucht vor der Erde und Der Seher, die zugunsten der Schilderung von Psychogrammen des Leidens an der Liebe auf zeit- und ortsgebundene sozialkritische Stoffe verzichten, sowie die längere Erzählung Pastora, die von einem Mädchen handelt, das vom Land in die Stadt zieht, um dort sein Glück zu machen. Die Stadt ist hier jedoch nicht Wien, sondern Sevilla, vielleicht der Ort von Canettis innerer Emigration (AS 2001, 323f.).

2. London

Mit dem Einmarsch und der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich 1938 verlieren die Canettis ihre Wohnung und müssen in einer Pension in Döbling unterkommen, bevor ihnen im November desselben Jahres die Flucht über Paris nach London gelingt. Hier schreibt Veza 1939 innerhalb weniger Monate ihren Roman Die Schildkröten, dessen bereits zugesagte Veröffentlichung in einem englischen Verlag durch den Kriegsausbruch verhindert wird. Unter schwierigsten Bedingungen versucht Canetti, die sich im Gegensatz zu ihrem Ehemann für eine (gemeinsame) Existenzgrundlage verantwortlich fühlt, auch mit anderen Tätigkeiten als schriftstellerischer Arbeit Geld zu verdienen. Im April 1941 schreibt sie an ihren Freund Franz Baermann Steiner, er solle ihr Listen besorgen mit „alle[n] Beschäftigungen und Arbeiten, die refugees annehmen können.“ (VC an Franz Baermann Steiner, 30.4.1941, zitiert nach AS 2001, 314). Während des London blitz, d. h. der deutschen Luftangriffe auf London, sind die Canettis auf dem Land einquartiert, in Chesham Bois beim Ehepaar Mary und Robert Gordon Milburn. Diese Erfahrung literarisiert sie in ihrer Erzählung Toogoods oder das Licht (VC 2001, 197-204) auf höchst sarkastische Weise, indem sie das Bild des von Geiz und Knauserei besessenen Pfarrerehepaares dekonstruiert (AK 2009, RMGP). Das Machtgefälle zwischen den Hausleuten und den abhängigen – gleichwohl zahlenden – Flüchtlingen äußert sich in massiven Restriktionen:

Die Bedingungen waren durchwegs Verbote, verboten war der Fleischgenuss, der Alkohol, das Rauchen, der Theaterbesuch und der Verkehr mit den Nachbarn. Das Prinzip des pensionierten Geistlichen lautete: wenn das Empire die von Gott Gezeichneten einlässt, und ich sie gar ins Haus nehme, so haben sich mir diese Flüchtlinge für die Großmut Englands dankbar zu erweisen, und sie haben mir möglichst viel Nutzen zu bringen. Denn sie wetzen die Teppiche ab, ziehen den Zug im Abtritt und schauen durchs Fenster. Sie zahlen, das ist richtig, aber was ist Geld, wie eitel ist es, welcher Schein in den Augen eines Dieners Gottes. (VC 2001, 197)

Abb. 3: Plakat Der Oger, Schauspielhaus Zürich
1992

Erst nach Kriegsende sieht Canetti wieder die Möglichkeit, mit Literatur Geld zu verdienen, die Projekte mit ihren eigenen Texten scheitern aber alle. Ihr Theaterstück Der Oger, das sie nach Aussage ihres Ehemanns „für das Beste [hielt], was sie geschrieben hatte“ (EC 1991, 99), wird sowohl vom Schauspielhaus Zürich als auch diversen Wiener Bühnen abgelehnt; die Uraufführung erfolgt erst 1992 in Zürich unter der Regie von Werner Düggelin. [Abb. 3: Plakat Der Oger, Schauspielhaus Zürich 1992, Schweizerische Theatersammlung Bern.] Auch Anfragen bei Verlagen bleiben erfolglos, an einer politisch engagierten Prosa, die Reflexionen über die faschistische Vergangenheit – zumal in deutscher Sprache – anstellt, ist man zu dieser Zeit nicht interessiert. Canetti verlegt ihre Tätigkeiten daher zunehmend auf Rezensionen und Übersetzungen: 1947 erscheint gemeinsam mit Walther Puchwein ihre deutsche Übersetzung von Graham Greenes Erfolgsroman The Power and the Glory (dt. Die Kraft und die Herrlichkeit), sie versuchte auch ihre eigenen Erzählungen ins Englische zu übertragen, was der Fund einer englischsprachigen Fassung von Air raid, der Geschichte um eine exzentrische Aristokratin, die sich vom deutschen Bombardement auf London nicht bei ihrer Krimilektüre stören lassen möchte, in ihrem Nachlass belegt (dt. in VC 2001, 190-193). Vermutlich 1952 verfasst sie das Lustspiel Der Palankin (VC 2001, 205-306), in dem sie Motivstränge des Exils, Heimat und Migration im unterhaltend leichten Stil der englischen comedy of manners verknüpft und das Zeugnis von ihrem unbedingten Integrationswillen ablegt (CM 874-876). Die spanische Fabrikantenwitwe Donna Consuelo Gonsalez y Soto (die dem Personal der Erzählung Pastora entlehnt ist) kann mit ihrem nostalgischen Blick auf die verlorene Heimat und ihrer gleichzeitig scharfsichtigen Einschätzung der neuen Heimat als Selbstporträt der Autorin gelten, die auf die Frage, wie es um die „Freiheit“ im Exilland England bestellt sei, antwortet: „Sehr frei. Wenn man die ganze Zeit lobt.“ (VC 2001, 264).

Abb. 4: Veza Canetti, © Johanna Canetti

Als 1956 erneut einer ihrer Romane abgelehnt wird, vernichtet Canetti in einem Anfall von Verzweiflung den Großteil ihrer Manuskripte und stellt ihre eigene schriftstellerische Tätigkeit völlig ein. Sie widmet sich nun gänzlich der Betreuung der literarischen Werke ihres Mannes und fungiert für ihn als Managerin: Sie lektoriert und tippt (trotz ihrer Behinderung: ihr fehlt seit der Geburt der linke Unterarm) seine Manuskripte, führt seine Korrespondenz und pflegt – mit Erfolg – Kontakte nach Österreich, um sein dort verschollenes Werk wieder publik zu machen. Darüber hinaus steht sie ihm nach wie vor als intellektuelle Beraterin zur Seite. Über Masse und Macht schreibt Elias Canetti in einem Brief an Hermann Kesten kurz nach Vezas Tod: „Ihr geistiger Anteil daran ist so groß wie meiner. Es gibt keine Silbe darin, die wir nicht zusammen bedacht und besprochen haben“ (EC an Hermann Kesten, 4.12.1963, zitiert nach AS 2001, 317). Gleichwohl hat er es verabsäumt, ihren Namen zumindest im Vorwort zu erwähnen, wie er auch über ihre schriftstellerische Tätigkeit in seiner Autobiographie den Mantel des Schweigens breitet. Außereheliche Affären von Elias belasten die ohnehin schwierige Schriftstellerehe zusätzlich, Veza nimmt diese genauso stillschweigend hin wie die getrennten Wohnverhältnisse: Während sie in London wohnt, zieht er es vor, bei einer seiner Geliebten im 40 km entfernten Amersham zu leben.

Am 1.5.1963 stirbt sie nach einer Krankheit in London, als offizielle Todesursache vermerkt der Totenschein „Lungenembolie“. Angesichts des Todesdatums (dem Internationalen Tag der Arbeit) und ihrer in den letzten Jahren ihres Lebens zunehmenden Todessehnsucht, von der auch ihr Ehemann berichtet, reißen die – der Literaturwissenschaft im Übrigen kaum Gewinn bringenden – Mutmaßungen über einen möglichen Suizid nicht ab (z. B. SM; AS 2002, 201; AS 2005, 203; JP 2007a, 12f.; zuletzt eine wenig überzeugende Gegendarstellung bei AW).

3. Vezas Werk und Elias’ Beitrag

Um sich nicht aufzugeben, begann sie selber zu schreiben, und um die Geste des großen Vorhabens, die ich brauchte, nicht zu gefährden, behandelte sie ihr Eigenes, als wäre es nichts. (EC 1990, 5)

Das schreibt Elias Canetti in seinem Vorwort zur Erstedition von Veza Canettis Roman Die Gelbe Straße (VC 1990) im Jahr 1990, für das er nicht nur von feministischer Seite und zu Recht vielfach gescholten wurde (z. B. GF; CG/SSB 230f.; AK 2005, 52f.; DW 227-229). Das wohlbehütete Geheimnis seiner ebenfalls schreibenden ersten Ehefrau, die er in seiner Lebensgeschichte lediglich als schwermütige Rabenfrau, orientalische Märchenprinzessin oder eifersüchtige Partnerin imaginiert, lüftet der Nobelpreisträger erst nach erfolgter literaturhistorischer Spurensuche des Göttinger Germanisten Helmut Göbel und des Literaturhistorikers Eckhart Früh, der das Tagblatt-Archiv der Wiener Arbeiterkammer betreute, die Vezas zahlreiche Pseudonyme entschlüsselt hatten. Nur unter dem ansteigenden Druck der aufmerksam gewordenen Öffentlichkeit ließ er auf die Edition der Gelben Straße jene des Dramas Der Oger (VC 1991) sowie den Prosaband Geduld bringt Rosen (VC 1992) folgen, der Roman Die Schildkröten (VC 1999) sowie der Nachlassband Der Fund (VC 2001) erschienen erst nach seinem Tod. Im Nachlass von Elias’ Bruder Georg(es) fand sich schließlich noch deren Briefwechsel, der auch viele Briefe von Veza enthält und Einblick in eine schwierige Dreiecksbeziehung sowie die prekären Lebensverhältnisse während des Austrofaschismus und des Exils in England gibt (VC/EC 2006).

Abb. 5: Veza und Elias Canetti,
© Johanna Canetti

Vezas angebliche Zurücknahme zugunsten von Elias’ Romanprojekt Die Blendung (sowie späteren Werken) mag aus dem soziohistorischen Kontext und dem Psychogramm einer egozentrischen Künstlerpersönlichkeit erklärbar sein – diesbezüglich versuchte, aber wenig überzeugende „Ehrenrettungen“ bleiben auch von literaturwissenschaftlicher Seite nicht aus (JP 1995, JP 2007a+b) –, den unbestreitbaren Tatsachen entspricht sie allerdings nicht. Denn Veza hat bereits vor dem Erscheinen der Blendung im Jahr 1936 selbstständig publiziert und setzte auch danach ihre eigenständige literarische Arbeit fort. Ihr bereits zur Publikation angenommener Roman Die Schildkröten konnte nur kriegsbedingt nicht erscheinen, und die zahlreichen in ihrem Nachlass gefundenen Texte sind ebenfalls nachdrückliche Belege für ihre unausgesetzten eigenen schriftstellerischen Ambitionen. In der Wahrnehmung Anfang der 1930er-Jahre in Wien, berichtet von Hilde Spiel, firmierte Elias jedenfalls lediglich als „Mann der Schriftstellerin Veza Magd, ein merkwürdiger, interessanter Chemiker, der auch starke intellektuelle Interessen hatte“ (zitiert nach GF 262f.).

Die Fokussierung auf Vezas tragisches Leben in Verbindung mit der schwierigen Ehe und der künstlerischen Konkurrenzsituation des Schriftstellerpaares ist (vor allem aus feministischer Perspektive) natürlich interessant, läuft jedoch zuweilen Gefahr, das eigentliche Œuvre zu verdecken, wiewohl poetische Gemeinsamkeiten auf wechselseitige Inspiration verweisen. Die Angst des Ehemannes, dass sich in der Nachwelt das Bild einer gescheiterten Schriftstellerin festsetzen könne (vgl. DW 228), ist jedenfalls unbegründet gewesen, die so rege wie umfangreiche Forschungsliteratur hat Veza Canetti und ihr Werk eindrücklich und eigenständig im Literaturschaffen der Moderne verankert (s. exemplarisch EM, AS 2002, HG 2002, IS/AS, JP 2007a, SP 2007, NL 2008, VA). Der wissenschaftliche Diskurs beschäftigt sich dabei bisher insbesondere mit ihrer Thematisierung von sozialen Ungleichheiten und Geschlechterverhältnissen, ihrer Darstellung charakterlicher Extreme und grotesker Physiognomien, ihrem reduziert-präzisen sprachlichen Stil sowie ihrer Auseinandersetzung mit Judentum und Exilerfahrung. Darüber hinaus ist Veza Canetti auch öffentlich präsent; wiederholt ist sie Gegenstand von Projekten in Kunst und Literatur (http://www.taste.at/vezalebt/, KB), seit 2003 ist eine Parkanlage in der Ferdinandstraße nach ihr benannt und die Stadt Wien stiftet Autorinnen seit 2014 alljährlich den Veza-Canetti-Preis.

4. „Wenn wir Dichter nicht Haltung haben, wer sollte es sonst?“

Diesen bedeutungsvollen Satz legt Canetti dem Dichter Knut Tell in ihrem Theaterstück Der Tiger in den Mund (VC 2001, 72-149, hier 124). Diese in drei ihrer Texte (außerdem noch im Roman Die Gelbe Straße sowie in der Kurzgeschichte Der Fund) auftretende Figur darf zum einen als Porträt ihres Ehemannes gelten (JP 2007b, 57), zum anderen lässt sich an ihr die Frage nach der gesellschaftlichen Aufgabe des Schriftstellers erörtern (vgl. NL 2010, 247-250). In der Gelben Straße und der Erzählung Der Fund agiert Tell noch außerordentlich weltfremd und dermaßen in seiner Bücherwelt gefangen, dass er das Elend auf den Straßen nur über die Vermittlung des Schreibens wahrzunehmen vermag. Im Roman lebt er mit so vielen Büchern in seiner Wohnung, dass im übertragenen Sinn kein Platz mehr für zwischenmenschliche Kontakte bleibt, und auf der Straße trägt er seinen Kopf „so hoch, als pflegte er über die Dächer der Häuser zu schaun.“ (VC 1990, 31) In der Erzählung nimmt er aus Geldmangel eine Stelle in einem Fundbüro an, da er hier auf dichterische Inspirationen hofft, mehr als die Literarisierung des realen Schicksals einer unglücklichen Proletarierin gelingt ihm hier aber nicht. Erst im Drama lernt er die Bildhauerin Diana kennen, die ihn schließlich dazu bringt, gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen.

Bei Canetti ist diese ethische Aufgabe des Schriftstellers evident, das zeigen nicht nur die Wahl ihrer Themen und ihre programmatischen Publikationsadressen, sondern auch die Auswahl ihrer durchaus sprechenden Pseudonyme. Die ihnen eingeschriebene Geste des Dienens ist jedoch nicht im Sinne der „Unterwerfung“ zu lesen, sondern als „Widerstand“ (EM 1998, 35) gegen Herrschaftsstrukturen sowie als Solidaritätskundgebung für Verfolgte autoritärer Regime. So können Bezüge zum Reformationsautor Thomas Murner hergestellt werden (AS 2002, 11), und auch der von den Nationalsozialisten verhaftete Publizist Carl von Ossietzky schrieb unter diesem Pseudonym (EE 28). Das Konzept des Dichters als Knecht beschreibt Elias auch in seinem Vorwort zur Gelben Straße:

„Eine Dienerin, die es aus Liebe für die war, denen sie diente, stellte sie so hoch, daß sie für ihre Schriften als Pseudonym Veza Magd wählte. Es stand für Hingabe in jeder Form; für den Geliebten, für Schutzbefohlene, aber auch für solche, die durch ihre Geburt oder durch die Niedertracht anderer benachteiligt waren.“ (EC 1990, 6f.; vgl. MK; NL 2010, 239f.; MB 279)

Abb. 6: Martina Murner (= Veza Canetti): Der Zwinger. In: Arbeiter-Zeitung, 27.5.1933, S. 6

Veza Canetti erweist sich in ihren Texten als Anwältin der Armen und Schwachen, der Diskriminierten und Rechtlosen, der Erniedrigten und am Rande stehenden. In ihrer Erzählung Geduld bringt Rosen (VC 1992, 5-44) führt sie anhand des Kontrasts zweier Familien, der Mäusles zu ebener Erde und der Prokops in der Beletage, die Unüberwindbarkeit sozialer Determiniertheit vor. Während die Prokops ein glanzvolles Luxusleben führen und ihre Tochter gewinnbringend verheiraten können, quälen sich die Mäusles schlecht bezahlt und krank durch die Schattenseiten des Lebens. Die Schuld an seinen miserablen Lebensumständen wird dem – auch intellektuell benachteiligten – Ehepaar Mäusle allerdings selbst zugeschrieben, denn

[e]s begnügte sich, weil niemand sich fand, um sie aufzuklären: daß das Schicksal es nicht leiden kann, wenn man sich begnügt. Es nimmt und nimmt bis zum letzten Faden des Begnügsamen, bis nichts mehr zu nehmen ist. Dann gibt es Ruh. Die Anspruchsvollen aber beginnen den Kampf, und je skrupelloser ihre Mittel, um so stärker sind sie. (VC 1992, 15f.)

Als grausame Schlusspointe landet der Brautstrauß von Tamara Prokop auf dem Kindersarg der eben verstorbenen Mäusle-Tochter: „so ließen sich Spesen vermeiden. Blumen welkten ohnehin und waren zu nichts zu gebrauchen.“ (VC 1992, 44)

Die unweigerlichen Konsequenzen, die das Verharren in den unabänderlich scheinenden sozialen Machtstrukturen mit sich bringt, zeigt Canetti schonungslos in ihren Texten, sie scheut dabei auch keine Brutalität. Die weibliche Macht- und Rechtlosigkeit in der Ehe muss in der Gelben Straße die Familie des geldgierigen „Ogers“, hier Iger genannt, schmerzvoll an Leib und Seele erfahren. Von seinem verbrieften Züchtigungsrecht gegen Frau und Kind macht Herr Iger ausführlich Gebrauch:

Du hast kein Essen bereitet!“ Jede Silbe war ein Stockhieb. Er schlug sie, bis sie zusammenstürzte. Dann schlug er sie erst recht. Die Bonne öffnete die Tür und sah neugierig zu. Draußen schellte es. Herrn Igers Arm versagte. Das Kind saß auf dem Boden und schrie. Herr Iger holte noch einmal aus. […] Auf dem Boden lag wie hingeschleudert die junge Frau, den Kopf an die Wand geschlagen. Sie war heiß und geschwollen. […] Sie konnte nicht liegen, die Beulen brannten sie wie Feuer. Da merkte sie, wie er zu ihr heranrückte. Sie wollte aufspringen, er faßte ihre zerbeulten Arme. Sie rang mit ihm, sie stieß um sich und biß ihn.
So empfing sie ihr zweites Kind. (VC 1990, 61-63)

Die erzwungenen „Intimitäten“ (VC 1990, 64) nach der Prügelattacke vereiteln die Aussicht auf eine Scheidung. Um in den Besitz der Erbschaft seiner Ehefrau zu kommen, schreckt Herr Iger auch nicht davor zurück, seinen Sohn vor den Augen von dessen Mutter zu quälen:

,,Ich geb das Geld nicht her.“
Herr Iger zog den Knaben mit dem Sessel zu sich heran. Er füllte den Teller des Kindes mit Reis. Dann nahm er die Gabel und stopfte dem Kind Reis in den Mund. Der Knabe schluckte es freundlich. Eine zweite Gabel. Der Knabe schluckte gutmütig. Noch eine Gabel. Der Knabe schluckte. Er sah dabei zur Mutter hinüber. Das Weiße in seinen Augen glänzte hilflos.
,,Friß!“ sagte Herr Iger und stopfte ihm die fünfte Gabel in den Mund.
Das Kind bekam Tränen, schluckte gehorsam und erbrach sich.
Die junge Frau preßte die Hände zusammen.
,,Friß! Friß!“
Das Kind schluckte und erbrach.
Sie warf sich dazwischen. (VC 1990, 76)

So treibt der „Rohling“ (VC 1990, 81) seine Frau in den Wahnsinn, an die Erbschaft kommt er jedoch nicht, am Ende hat die Frau nämlich das Losungswort für das Erbschaftskonto vergessen. Canettis so schonungslose wie prägnante Darstellungen häuslicher Gewalt, der ausweglosen Situation der Schwächsten der Gesellschaft, des sozialen Elends von Frauen, Kindern und Dienstboten, aber auch von Wohnungsnot und Zinswucher, waren im Wien der Zwischenkriegszeit außerliterarische Realität. Deren Publikation in den frühen 1930er-Jahren in der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung überrascht dahernicht sonderlich, da diese Zeitung mit ihrem aufklärerischen und didaktischen Anspruch auch in ihrem innenpolitischem Teil lokalen Berichten zu Rechts- und Lohnfragen sowie Nachrichten über Lebenshaltungskosten und über die prekäre Wohnsituation in Wien viel Platz einräumte. Insofern bot sie den Texten der bedingungslos sozial eingestellten Veza Canetti das ideale Forum (vgl. EM 2005, 61f.).

5. Erzählkunst der Moderne – Die Gelbe Straße

Auch Textteile der später zu einem Roman umgearbeiteten bzw. ausgebauten Gelben Straße erschienen zunächst als in sich geschlossene Erzählungen in der Arbeiter-Zeitung (Der Zwinger, Der Kanal; Ein Kind rollt Gold wird in das Schlusskapitel integriert). Die Selbstständigkeit der einzelnen Romankapitel ist zum einen auf deren besondere Produktionsbedingungen zurückzuführen, zum anderen aufgrund ihrer Beibehaltung in der Komposition aber auch als bewusst eingesetztes ästhetisches Prinzip zu verstehen. Der Verzicht auf eine lineare Narration, die Privilegierung der Kategorie des Raumes zugunsten der Temporalität, die ausschnitthafte Darstellung simultaner Handlungsabläufe, Montagetechnik und ein reduzierter Sprachstil stellen den Text als modernen Großstadtroman in den Kontext der Neuen Sachlichkeit (BS, DW 237f.). Canetti zeigt keine/-n singuläre/-n Heldin/-en, sondern eine Vielzahl von Figuren, die der sozialen Wirklichkeit entlehnt sind und an deren Rändern leben. Sie erzählt vom Schicksal kleiner Angestellter und der trostlosen Situation von Dienstmädchen, von misshandelten Ehefrauen und geizigen Haustyrannen, verarmten Fabrikantenwitwen und schmierigen Kaffeehausbesitzern sowie eiskalten Geschäftsfrauen und gewitzten Kindern. Die fünf Kapitel – Der Unhold, Der Oger, Der Kanal, Der Tiger, Der Zwinger – sind auf Figuren- und Handlungsebene mehrfach miteinander verwoben; verbindende Themen sind Geld und Macht, Abhängigkeit und Hilflosigkeit, Gier und List: „Es ist eine merkwürdige Straße, die Gelbe Straße. Es wohnen da Krüppel, Mondsüchtige, Verrückte, Verzweifelte und Satte. Dem gewöhnlichen Spaziergänger fallen sie nicht auf.“ (VC 1990, 71)

Die Gelbe Straße führt durch die Wiener Leopoldstadt, als Vorbild diente zweifellos die Ferdinandstraße, in der Canetti bis 1934 lebte. Die Farbe Gelb deutet auf die hier ansässigen Lederhändler und avanciert im Roman im Kontext von Religion und Wahn zur Chiffre für den sämtliche Figuren bestimmenden Machtdiskurs (HG 1997). So wird der „Unhold“ Pilatus Vlk (sein sprechender Name bedeutet in mehreren slawischen Sprachen „Wolf“) im letzten Kapitel in die Wiener Nervenheilanstalt Steinhof eingeliefert, wo er seine Obsession für die Farbe Gelb auslebt, die ihn wegen des vielen Hundekots auf der Gelben Straße überfallen hat. Dieser neurotische Charakter (er folgt einem minutiös durchkalkulierten Tagesablauf und leidet unter Waschzwang) ist von Anfang an eng mit der Runkel verknüpft, der zweiten machtbesessenen Außenseiterin im Roman.

Die verkrüppelte Inhaberin von Trafik und Seifengeschäft in der Gelben Straße in einem „Kinderkörper mit einem Buckel und einem Greisenkopf“ (GS 1990, 71) wird von ihrer Umgebung gleichermaßen gefürchtet wie verachtet, ihre hervorstechendste Eigenschaft ist ihr grenzenloser „Geiz“ (VC 1990, 156). Exemplarisch trägt die Runkel einen Namen, der im Österreichischen eine zur Schweinefütterung bestimmte Rübensorte benennt und dementsprechende Assoziationen weckt. An dieser Figur erweist sich auch Veza Canettis typische „Charakterisierungskunst“ (z. B. AK 2005, AK 2007, AK 2009), die bereits ihr Ehemann als ihr narratives Spezifikum ausmachte und in seinem Vorwort als die „seitliche Methode“ bezeichnet, „die das Wichtige in scheinbarer Eile streift, ohne es ganz auszusprechen. Sie streift es aber so geschickt, daß man’s ohne es zu merken, mitnimmt.“ (EC 1990, 9) Canetti konstruiert ihre Figuren über Farben und Worte mit großer Assoziationskraft sowie über den mimisch-gestischen Entwurf und gelangt durch die Darstellung der physischen Verfasstheit ihrer Figuren zur Beschreibung von deren Psyche. Dieses Verfahren ist auch aus der darstellenden Kunst der Zeit bekannt, ist vom Behaviorismus beeinflusst und gilt als Charakteristikum der Neuen Sachlichkeit (GF 270, AS, SP 2008). Neben der physiognomischen Darstellung schreibt Canetti ihren Figuren auch eine spezifische Sprache zu, ihre Gesellschaftskritik manifestiert sich auch immer als Sprachkritik, „die sie nicht auf einer reflektierenden Metaebene betreibt, sondern ästhetisch als Kritik am Gebrauch der Straße realisiert.“ (BS 26) Elias Canetti bezeichnet diese Technik als „akustische Maske“ und beansprucht sie auch für seine Texte,- in der Gelben Straße seiner Ehefrau ist sie jedoch schon längst präsent (vgl. AK 2005, 56). Direkte Rede, wiedergegeben in mündlicher, österreichischer Umgangssprache, dominiert den Roman über weite Strecken und fungiert als Ort der Repräsentation, wie im Gespräch zwischen der Hofopernsängerin Pasta Pudika und der Dienstmädchenvermittlerin Hatvany:

Die Sängerin lächelte, wie eben eine Diva lächelt. Sie setzte sich und dabei ging ihr Mantel auf. Ein purpurfarbenes Atlaskleid kam zum Vorschein, aus der Zeit der Raubritter. Es zeigte Spuren einiger Mahlzeiten.
„lch brauche ein idiales Mädchen, liebe Frau, ich bin selbst idial und mein Mädchen muß auch idial sein. Sage mir, mit wem du gehst, und ich werde dir sagen, wer du bist. Bei mir hört ein Mädchen nie ein unfeines Wort, das ist noch nie über meine Lippen gekommen, ich ermahne sie, aber damit meine ich es ihr nur gut, denn wer dich liebt, der züchtet dich.“ (VC 1990, 91)

Der Roman endet nach einer Szene auf einer grotesken Wohltätigkeitsveranstaltung mit dem Zitat einer Grundmaxime des christlich-humanistischen Weltbildes: „Denn der Mensch schreitet aufrecht, die erhabenen Zeichen der Seele ins Gesicht gebrannt.“ (VC 1990, 168) Menschlich ist in diesem Abschnitt aber beinahe ausschließlich der „mächtige[] Hund“ Grimm (VC 1990, 143), womit Canetti das im Humanismus verankerte anthropozentrische Weltbild, das den Mensch als die Krone der Schöpfung über alle anderen Lebewesen stellt, dekonstruiert (vgl. BS 25). Massive Kritik an diesem menschlichen Überlegenheitsanspruch formuliert sie auch in ihrem Roman Die Schildkröten, in dem sie die NS-Haltung gegenüber Tieren, die sich nach deren Nutzwert bemisst, demaskiert. Neben der zeitgeschichtlichen Dimension vermittelt Canetti dabei auch ihre humanistische Grundeinstellung dem Leben gegenüber, die auf Achtung vor dem radikal Anderen und Mitgefühl mit allen Lebewesen beruht (DL 2005, DL 2012).

6. Judentum und Exil – Die Schildkröten

Die Schildkröten sind im gleichnamigen Roman nicht das Thema, sehr wohl aber dessen Leitmotiv. Der Roman handelt von der Entrechtung, Enteignung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Wien nach dem „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938 und spiegelt autobiographische Erfahrungen der Canettis wider. Der jüdische Dichter Andreas Kain und seine Frau Eva müssen ihre Villa verlassen, weil diese für den SA-Offizier Baldur Pilz „requiriert“ worden ist. Der Plan der jungen Freundin Hilde, das Land mit einem Aeroplan zu verlassen, geht schief, weswegen Eva und Andreas Kain zu seinem Bruder, dem Geologen Werner, und dessen jüdischem (Zwangs-)Untermieter Felberbaum ziehen müssen. Während Andreas sich in die Welt der Literatur zurückzieht, sieht sich Eva den täglich zunehmenden antisemitischen Diskriminierungen ausgesetzt. Nach den November-Progromen wird durch eine Verwechslung Werner an Stelle seines Bruders verhaftet und stirbt im Konzentrationslager. Andreas und Eva gelingt letztendlich die Flucht nach England, allerdings mit der Last der Schuld, „daß man auf Borg lebt“ (VC 1999, 268), und der „Asche unseres Bruders“ (VC 1999, 274).

Canetti zeigt mittels einer Vielzahl von Episoden im Roman durchgängig Parallelen zwischen Schildkröten und Juden, die nach der Annexion Österreichs durch das NS-Regime schlagartig gefährdet sind (DL 36-51). So verknüpft sie das tragische Schicksal von Werner Kain mit dem Leiden von Tieren, die trotz ihrer Langlebigkeit und ihres Schutzpanzers verwundbar und den Menschen ausgeliefert sind:

,,Er ist wie eine Schildkröte“, erklärt Kain. ,,Sie klammert sich an Felsen und gleicht sich dem Felsen an. […] Ihr Haus ist zugleich ihr Tod. Werners Haus ist seine Heimat.“ ,,Und diese Schildkröte ist Ihr Bruder?“ Kain erschrak selbst über seinen Vergleich. (VC 1999, 25)

Abb. 9: Veza und Elias Canetti © Johanna Canetti

Als Allegorie stellen die Schildkröten den Bezug zu jüdischen Exil- und Heimatvorstellungen und zur jüdischen Geschichte her (GR 272f.): Auf der Handlungsebene verweisen die Schildkröten, die der Protagonist Andreas Kain davor bewahrt, dass ihnen ein Hakenkreuz „für alle Zeiten ins Gehäuse gebrannt“ (VC 1999, 14) wird, auf das Schicksal der verfolgten Juden; durch ihren Panzer fungieren sie außerdem als Allegorie der Heimat in der Heimatlosigkeit als Ausdruck der jüdischen Diaspora (AK 2003, 82). Zudem stehen sie als Symbol für die Geschichte des Judentums als eine Geschichte von Leid und Verfolgung sowie unzerstörbarer Humanität: „Denn die Schildkröte stirbt nicht so bald. Sie hat auch einen inneren Panzer und darum stirbt sie nicht.“ (VC 1999, 146).

Der Roman zeichnet ein durchwegs heterogenes Bild der jüdischen Gemeinschaft, in der sich unterschiedliche Interpretationen jüdischer Identität manifestieren: So steht dem säkular lebenden Ehepaar Kain der gläubige Jude Felberbaum gegenüber, der aufgrund seiner „Auserwähltheit“ dem Nationalsozialisten Baldur Pilz als Alteritätsentwurf dient. Er ist noch im Angesicht des Terrors zur Selbstaufgabe fähig, im Notlager teilt er seinen Mantel mit einem noch ärmeren Juden. Zugleich deckt Canetti aber auch das Selbstzerstörerische der assimilierten großstädtischen Juden auf, die dem nationalsozialistischen Terror hilf- und tatenlos gegenüber stehen (DL 2012, 125; EM 2003). Die Übernahme der pseudowissenschaftlichen NS-Rassenkunde auf die eigene Denkweise (so wähnt sich Werner Kain als „Gelehrter“ vor den Nazis sicher, Hilde weil sie „blond“ ist) oder ihr Rückzug ins Private (wie Andreas Kains Flucht in die Welt der Bücher) dient den jüdischen Intellektuellen nicht als Schutz, ihnen bleibt nur noch die Emigration und Flucht. Diese beinhaltet für den Dichter, der sein Heimatkonzept an die literarische Imagination und den Schreibprozess gebunden sieht, eine existentielle Dimension:

Am schwersten überfällt es den Dichter. Die Sprache ist seine Seele, die Figuren, die er gestaltet, sind sein Körper. Er kann Atem schöpfen, wo seine Sprache lebendig ist, und sein Leben erlischt, wo er nicht mehr versteht und verstanden wird. (VC 1999, 27)

Canetti fängt die Entortungserfahrungen im eigenen Land sowie die damit einhergehenden Grenzziehungen und Ausgrenzungen multiperspektivisch ein und entwirft anhand der Figuren divergierende Heimat- und Exilvorstellungen. Mit der Figur der Eva Kain erweitert Canetti diese noch um die weibliche Perspektive, die sich in der Beziehung zu anderen Menschen äußert, und überführt damit die oppositionelle Vorstellung von Heimat und Exil in Zwischenräume, die als Räume der Begegnung lesbar werden (GR 271f.). Mit der Re-Lektüre biblischer Geschichten und Motive jüdischer Tradition, insbesondere der Opferung, des Leids und des Exils, reflektiert der Roman auch das Selbstverständnis jüdischen Daseins, das sich oszillierend zwischen dem Bewusstsein der Einzigartigkeit und der Differenzerfahrung einem geschlossenen Identitätsentwurf verweigert (GR 276).


Literaturverzeichnis

Zu Lebzeiten veröffentlichte Texte Veza Canettis in chronologischer Reihenfolge

  • Magd, Veza (= Veza Canetti): Der Sieger. In: Arbeiter-Zeitung, 29.6.1932.
  • Magd, Veza (= Veza Canetti): Geduld bringt Rosen. In: Arbeiter-Zeitung, 14.-22.8.1932, wieder in WH 93-126.
  • Murner, Martin (= Veza Canetti): Die Große. In: Deutsche Freiheit, 19.1.1933, wieder in: Arbeiter-Zeitung, 25.6.1933.
  • Magd, Veza (= Veza Canetti): Ein Kind rollt Gold. In: Arbeiter-Zeitung, 5.3.1933.
  • Magd, Veza (= Veza Canetti): Der Fund. In: Arbeiter-Zeitung, 28.4.1933.
  • Murner, Martina (= Veza Canetti): Der Zwinger. In: Arbeiter-Zeitung, 27.5.1933.
  • Murner, Martina (= Veza Canetti): Der Dichter. In: Arbeiter-Zeitung, 3.8.1933, wieder in: Deutsche Freiheit, 12.7.1934.
  • Magd, Veza (= Veza Canetti): Der Verbrecher. In: Arbeiter-Zeitung, 31.8.1933, wieder in: Deutsche Freiheit, 7.9.1933.
  • Murner, Martha (= Veza Canetti): Der Kanal. In: Arbeiter-Zeitung, 15.-18.11.1933.
  • Murner, Martha (= Veza Canetti): Der Neue. In: Arbeiter-Zeitung, 23.11.1933.
  • Knecht, Veronika (= Veza Canetti): Drei Helden und eine Frau. In: Neue Deutsche Blätter. Monatsschrift für Literatur und Kritik 10, März–September 1934, S. 607ff.
  • Magd, Veza (= Veza Canetti): Hellseher. In: Der Wiener Tag, 14.3.1937, Beilage: Der Sonntag.
  • Magd, Veza (= Veza Canetti): Das Schweigegeld. Eine Geschichte aus einem Luxussanatorium. In: Die Stunde, 11.4.1937, Sonntagsbeilage.
  • Magd, Veza (= Veza Canetti): Geld, Geld, Geld. Das Leben eines reichen Mannes. In: Die Stunde, 1.5.1937, Sonntagsbeilage.

Primärliteratur

  • VC 1990 = Veza Canetti: Die Gelbe Straße. Mit einem Vorwort von Elias Canetti und einem Nachwort von Helmut Göbel. München und Wien: Carl Hanser 1990.
  • VC 1991 = Veza Canetti: Der Oger. München und Wien: Carl Hanser 1991.
  • VC 1992 = Veza Canetti: Geduld bringt Rosen. München und Wien: Carl Hanser 1992.
  • VC 1999 = Veza Canetti: Die Schildkröten. München und Wien: Carl Hanser 1999.
  • VC 2001 = Veza Canetti: Der Fund. München und Wien: Carl Hanser 2001.
  • VC/EC 2006 = Veza und Elias Canetti: Briefe an Georges. Hg. v. Karen Lauer und Kristian Walchinger. München und Wien: Carl Hanser 2006.

Sekundärliteratur

  • AK 2003 = Alexander Košenina: „Wir erheben uns über das Land und verlassen es mit Verachtung“. Veza Canettis Exilroman Die Schildkröten. In: Reiner Wild (Hg.): Dennoch leben sie. Verfemte Bücher, verfolgte Autorinnen und Autoren. Zu den Auswirkungen nationalsozialistischer Literaturpolitik. München: Edition Text + Kritik 2003, S. 77-86.
  • AK 2005 = Alexander Košenina: Veza Canetti. Die Gelbe Straße (1932–1933/1990). In: Claudia Benthien und Inge Stephan (Hgg.): Meisterwerke. Deutschsprachige Autorinnen im 20. Jahrhundert. Köln u. a.: Böhlau 2005, S. 52-71.
  • AK 2007 = Alexander Košenina: Die Kunst der Charakterisierung bei Elias und Veza Canetti. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 57, 2007, S. 241-249.
  • AK 2009 = Alexander Košenina: Veza Canetti – Fundstücke aus dem literarischen Nachlass. In: Andrea Hammel und Godela Weiss-Sussex (Hgg.): ‘Not an essence but a positioning’. German-Jewish Women Writers (1900–1938). München: Meidenbauer 2009, S. 181-195.
  • AS = Alexandra Strohmaier: Groteske Physiognomien. Zum semiotischen Konzept des Körpers in den Texten Veza Canettis. In: IS/AS, S. 121-147.
  • AS 2001 = Angelika Schedel: Nachwort. In: VC 2001, S. 309-326.
  • AS 2002 = Angelika Schedel: Sozialismus und Psychoanalyse. Quellen von Veza Canettis literarischen Utopien. Im Anhang: Versuch einer biografischen Rekonstruktion. Würzburg: Königshausen & Neumann 2002.
  • AS 2005 = Angelika Schedel: „Buch ist von mir keines erschienen …“. Veza Canetti verliert ihr Werk und hilft einem Dichter zu überleben. In: IS/AS, S. 191-210.
  • AW = Annika Wilkening: Ein bislang unzugänglicher Brief Elias Canettis an H. G. Adler widerlegt die These von einem Suizid Veza Canettis. In: Zeitschrift für Germanistik 23, 3, 2013, S. 659-663.
  • BS = Brigitte Spreitzer: Veza Canettis Roman Die Gelbe Straße im Kontext der literarischen Moderne. In: IS/AS, S. 11-31.
  • CG/SSB = Christa Gürtler/Sigrid Schmid-Bortenschlager: Veza Canetti. In: dies.: Erfolg und Verfolgung. Österreichische Schriftstellerinnen 1918–1945. Fünfzehn Porträts und Texte. Salzburg u. a.: Residenz 2002, S. 229-238.
  • CM = Christine Meyer: Écritures de l’exil chez Elias et Veza Canetti. In: Études Germaniques 4, 252, 2008, S. 855-876.
  • DW = Dieter Wrobel: Veza Canetti: Die gelbe Straße. Ein Schatten-Roman über Schatten-Existenzen. Vergessene Texte der Moderne. Wiederentdeckungen für den Literaturunterricht. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2010, S. 225-239.
  • DL 2005 = Veza Canettis Roman Die Schildkröten als Beitrag zur Kritik des anthropozentrischen Weltbildes im Nationalsozialismus. In: IS/AS, S. 32-56.
  • DL 2012 = Dagmar C. G. Lorenz: Flucht- und Endpunkt Avantgarde. Zwei Städte, zwei Traditionen, zwei Autorinnen: Veza Taubner-Calderon (Canetti) und Gertrud Chodziesner (Kolmar). In: Dolors Sabaté Planes und Jaime Feijóo (Hgg.): Apropos Avantgarde. Neue Einblicke nach einhundert Jahren. Berlin: Frank & Timme 2012, S. 117-133.EC 1990 = Elias Canetti: Veza. In: VC 1990, S. 5-9.
  • EC 1991 = Elias Canetti: Nachwort. In: VC 1991, S. 99f.EE = Elfriede Engelmayer: „Denn der Mensch schreitet aufrecht, die erhabenen Zeichen der Seele ins Gesicht gebrannt“. Zu Veza Canettis „Die Gelbe Straße“. In: Mit der Ziehharmonika 11, 2, 1994, S. 25-33.
  • EM 1998 = Eva M. Meidl: Veza Canettis Sozialkritik in der revolutionären Nachkriegszeit. Sozialkritische, feministische und postkoloniale Aspekte in ihrem Werk. Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 1998.
  • EM 2005 = Eva Meidl: Veza Canettis Manifest. Die Kurzgeschichte Geld, Geld, Geld. In: IS/AS, S. 57-73.GF = Gaby Frank: Veza Canetti (1897–1963). In: Britta Jürgs (Hg.): Leider hab ich’s Fliegen ganz verlernt. Portraits von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen der Neuen Sachlichkeit. Berlin: AvivA 2000, S. 262-279.
  • GR = Gerhild Rochus: Veza Canetti: Die Schildkröten (1999). In: Bettina Bannasch und Gerhild Rochus (Hgg.): Handbuch der deutschsprachigen Exilliteratur. Von Heinrich Heine bis Herta Müller. Berlin u. a.: de Gruyter 2013, S. 270-277.
  • HG 1997 = Helmut Göbel: Gelb. Bemerkungen zum verdeckten Judentum in Veza Canettis „Die Gelbe Straße“. In: Gerald Stieg und Jean-Marie Valentin (Hgg.): „Ein Dichter braucht Ahnen.“ Elias Canetti und die europäische Tradition. Bern u. a.: Peter Lang 1997, S. 283-295.
  • HG 2002 = Helmut Göbel (Gastredaktion): Veza Canetti. München: Text + Kritik 2002.
  • IS/AS = Ingrid Spörk und Alexandra Strohmaier (Hgg.): Veza Canetti. Graz und Wien: Droschl 2005.
  • JP 1995 = Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Magd-Canetti: On the Psychology of Subservience. In: Modern Austrian Literature 28, 2, Juni 1995, S. 53-70.
  • JP 2007a = Julian Preece: The Rediscovered Writings of Veza Canetti. Out of the Shadows of a Husband. Rochester, NY: Camden House 2007.
  • JP 2007b = Julian Preece: Die Magd als literarische Figur in den Wiener Werken von Veza und Elias Canetti. In: Jean-Marie Valentin (Hg.): Geschlechterdifferenzen als Kulturkonflike. Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005: „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Bern: Peter Lang 2007, S. 57-64.
  • KB = Karin Ballauff (Hg.): Veza Canetti lebt. Sozialkritische Literatur zeitgenössischer Autorinnen. Wien: Promedia 2013.
  • MB = Miriam Bertocchi: Veza Canetti: uno sguardo al femminile sulla Vienna degli anni Venti. In: Altre Modernità: Rivista di studi letterari e culturali, 2014, 1, S. 270-280, DOI: http://dx.doi.org/10.13130/2035-7680/3989
  • MK = Marianne Kröger: Themenaffinitäten zwischen Veza und Elias Canetti in den 30er Jahren und im Exil – Eine Spurensuche in den Romanen Die Schildkröten von Veza Canetti und Die Blendung von Elias Canetti. In: Gislinde Seybert (Hg.): Das literarische Paar. Intertextualität der Geschlechterdiskurse. Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 279-308.
  • NL 2008 = Natalie Lorenz: Texte im Dialog. Die frühen Theaterstücke von Marieluise Fleißer und Veza Canetti. Frankfurt/Main u. a.: Peter Lang 2008.
  • NL 2010 = Natalie Lorenz: „Wenn wir Künstler nicht Haltung haben, wer sollte es sonst?“ Eine Annäherung an das Werk von Veza Canetti. In: Margrid Bircken u. a. (Hg.): Brüche und Umbrüche. Frauen, Literatur und soziale Bewegungen. Potsdam: Univ.-Verl. 2010, S. 233-250.
  • RMGP = Rosa Marta Gómez Pato: Die Suche nach dem Ort: Veza Canettis Exil-Erzählung „Toogoods oder das Licht“. In: Charmian Brinson und Andrea Hammel (Hgg.): Exile and gender I. Literature and the Press. Leiden und Boston: Brill Rodopi 2016, S. 76-87.
  • SM = Sibylle Mulot: Leben mit dem Monster. In: Facts 5, 1999, S. 122-125.
  • SP 2007 = Sarah Sabine Painitz: An Austria apart: Society and Subversion in the Work of Mela Hartwig, Marta Karlweis, and Veza Canetti. Charlottesville, Va., Univ. of Virginia, Diss. 2007.
  • SP 2008 = Sarah S. Painitz: Political Bodies: Physiognomy in Veza Canetti’s Fiction. In: Modern Austrian Literature 41, 3, 2008, S. 37-53.
  • VA = Vreni Amsler: Veza Canetti im Kontext des Austromarxismus. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017.
  • WH = Wieland Herzfelde (Hg.): Dreißig neue Erzähler des neuen Deutschland. Berlin: Malik 1932.

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Veza Canetti, © Johanna Canetti
  • Abb. 2: Veza Magd (= Veza Canetti): Ein Kind rollt Gold. In: Arbeiter-Zeitung, 5.3.1933, S. 17, ANNO, Österreichische Nationalbibliothek, Wien
  • Abb. 3: Plakat Der Oger, Schauspielhaus Zürich 1992, Schweizerische Theatersammlung Bern
  • Abb. 4: Veza Canetti, © Johanna Canetti.
  • Abb. 5: Veza und Elias Canetti, © Johanna Canetti.
  • Abb. 6: Martina Murner (= Veza Canetti): Der Zwinger. In: Arbeiter-Zeitung, 27.5.1933, S. 6, ANNO, Österreichische Nationalbibliothek, Wien.
  • Abb. 7: Herr Tiger in Die Gelbe Straße, Kabinetttheater Wien 2014, © Armin Bardel.
  • Abb. 8: Herr Vlk und die Runkel in Die Gelbe Straße, Kabinetttheater Wien 2014, © Armin Bardel.
  • Abb. 9: Veza und Elias Canetti © Johanna Canetti.