N.N. [Red. Beitr.]: Studentenschaftsordnung und Antisemitismus. (1932)
Die Stellungnahme der Christlichsozialen. – Hochbedeutsame grundsätzliche Erklärungen des Abg. Schmitz
Im Nationalrat wurde heute die erste Lesung der Regierungsvorlage über eine Studentenschaftsordnung an den Hochschulen durchgeführt, die von allen vier nicht sozialdemokratischen Parteien grundsätzlich begrüßt, von den Sozialdemokraten jedoch in heftigster Form bekämpft wurde. Weit über das Niveau der übrigen Debatte ragte die Rede des Abg. Schmitz hinaus, der in seinen Ausführungen voll Tiefe und Schwung den christlichsozialen Anschauungen einen prächtigen Grundsatzrahmen gab.
Unterrichtsminister Dr. Czermak skizzierte in seiner Rede einleitend die Vorgeschichte der Frage der Studentenschaftsordnung und legte dann dar, daß die Notwendigkeiten der Einrichtung von Studentenschaften allgemein anerkannt werde und der Streit nur um ihre Gestaltung gehe, darum in welcher Weise das spontan Gewordene in geordnete Rechtsformen gegossen, dem gesetzlichen Aufbau der Hochschulen rechtlich eingegliedert und so dauernd legalisiert und so gesichert werden soll. Absichten und Ziele der Regierungsvorlage erläuternd, sagte der Minister:
Die Regierung hat sich für die Schaffung nationalhomogener Selbstverwaltungskörper entschieden, die auf dem gemeinsamen Boden der Hochschule mit voller Gleichberechtigung nebeneinander zu wirken berufen sind, für welche Gleichberechtigung alle Sicherungen geboten
wurden. Wir brauchen sachlicher Aufbauarbeit zugewendete nüchterne Selbstverwaltungskörper und wir wissen, daß solche nur auf unserem Wege der Auseinanderlegung des Unerträglichen zu erzielen sind. Wie soll über die Zugehörigkeit des einzelnen zu einem der organisierten Selbstverwaltungskörper entschieden werden? Ich habe mich gegen die Schaffung von Zwangsverbänden kraft Gesetzes entschieden.
Dieses Gesetz enthält
keine Zwangsverbände.
Vielfach glaubt man allerdings in der Öffentlichkeit, daß sie im Gesetze vorgesehen seien. Freie studentische Kräfte haben bisher die Arbeit geleistet, mögen sie sich in national einheitlicher
Gruppierung zu freiem, vereinsmäßigem Wirken zusammenfinden. Tun sie dies in einer Form, die dem Gesetze gemäß ist, so können ihnen die akademischen Behörden die Rechte eines Selbstverwaltungskörpers übertragen. Tun sie es nicht, dann können ihnen diese Rechte wieder entzogen werden. Auf diesem Wege findet auch die Zugehörigkeitsfrage eine organische Lösung. Ich
bemerke dazu, daß im Falle einer Abänderung des Vereinsgesetzes sehr unschwer auch eine Abänderung dieser Basis der Studentenschaftsordnung möglich wäre.
[…]
Abg. Leuthner vertrat die Stellungnahme der Sozialdemokraten gegen die Vorlage, die er als „die unterwürfigste Verbeugung der Christlichsozialen vor den Nationalsozialisten“ und als „die unerhörte Proskynese des katholischen Prinzips vor dem Blut- und Hakenkreuzmythos“ bezeichnete, gefiel sich in wenig geschmackvollen Witzeleien Über den Namen des Unterrichtsministers und ließ sich dann endlich im Sorgenstuhl der Sozialdemokraten nieder, von dem aus sie den Antisemitismus zu beseufzen und zu bekritteln pflegen: die Vorlage beruhe auf dem Rassenprinzip, sei antisemitisch und daher mit aller Kraft von den Sozialdemokraten zu bekämpfen.
Dies veranlaßte den gewesenen Vizekanzler Abgeordneten Schmitz, der namens der Christlichsozialen sprach, sich grundsätzlich mit der
Frage des Antisemitismus
zu beschäftigen. Abg. Schmitz bezog sich nach einer kräftigen Polemik gegen die Angriffe Leuthners gegen die christlichsoziale Partei auf die Versuche, die Regierungsvorlage über die Studentenschaftsordnung im Ausland als einen Exzeß des Rassenantisemitismus zu denunzieren und damit Widerstände wachzurufen, die das Inkrafttreten dieses Gesetzes verhindern sollen, und fuhr fort:
Ich halte es daher für notwendig, daß man über den Antisemitismus als Problem in aller Ruhe und Objektivität von dieser Stelle aus etwas sagt, bevor man auf den Gesetzentwurf selbst eingeht. Ich halte diese Auseinandersetzung auch deshalb noch für notwendig,
weil es eine Tatsache ist, daß die antisemitischen Stimmungen in der jungen Generation mit neuer und vergrößerter Kraft aufsteigen als es in den Jahren vorher der Fall gewesen ist.
Es wäre töricht, sich vor dieser Tatsache zu verschießen. Drei Schichten vor allem sind es, die von ihr besonders erfaßt sind. Es sind die jungen Akademiker, die jungen Privatangestellten und die jungen
Geschäftsleute und Gewerbetreibenden. Es ist natürlich nicht so, als ob eine solche Stimmung lediglich durch eine Agitation von außen her hineingetragen werden könnte.
Gründe für das Ansteigen der antimarxistischen Stimmungen.
Für diese Erscheinung gibt es zunächst einige allgemeine Gründe. Diese gelten nicht nur für das
Interesse an der Judenfrage, das sich in den antisemitischen Kreisen kundgibt, sondern auch für das Judentum selbst. Man erinnere sich doch nur an die Gründung des jüdischen Nationalstaates in Palästina, an die Vergrößerung der zionistischen Bewegung in der ganzen Welt, man erinnere sich
an die ostjüdischen Wanderungen, die nach Österreich und Deutschland während und nach dem Kriege sich vollzogen haben. Diese objektiven Tatsachen allein haben mit dazu beigetragen, die Judenfrage, die vor dem Kriege eine Zeitlang schon zurückgetreten war, wieder mehr in den Vordergrund des öffentlichen Interesses zu schieben, nicht nur in Österreich und Deutschland, sondern auch in den westlichen Staaten, in Staaten, die einen sehr geringen Prozentsatz jüdischer Bevölkerung haben, wie z. B. in Frankreich. Allerdings ist auch dort ihr Einfluß viel größer als der ziffernmäßige Anteil darstellt. In Frankreich konnte man in den letzten Jahren im steigenden Maße ernsthaften wissenschaftlichen und politischen Erörterungen der jüdischen Frage begegnen. Ja
sogar in Amerika ist dies der Fall.
Es handelt sich also hier nicht um eine Erscheinung, die lediglich auf eine böswillige Agitation zurückzuführen ist, sondern um eine Erscheinung, die aus allgemeinen Ursachen hervorgegangen ist.
Aber es gibt weitere Ursachen, die nicht in allen Staaten gleichmäßig sich geltend machen, bei uns vielleicht etwas mehr.
Das ist das Hervortreten jüdischer Führung bei fast allen Umsturzbewegungen der Nachkriegszeit.
Zuletzt in Spanien. In Österreich fällt uns bei den jüngsten Wahlen auf, wie sehr die jüdische Wählerschaft in die revolutionäre Partei, in die Sozialdemokratie, abwandert. Man muß heute leider schon sagen, daß die große Mehrzahl der jüdischen Wähler in der Sozialdemokratie zu finden ist. Selbstverständlich hat das auch Reaktionen zur Folge. Die führende Rolle, die das Judentum weithin in der Welt, auch bei uns in der Wirtschaft seit jeher hat, mußte selbstverständlich bei den Wirtschaftskrisen in der Nachkriegszeit, insbesondere auch bei Finanz- und Bankenkrisen, angefangen von der Kriegsgewinnerzeit über die Inflationsperiode bis in die Gegenwart, die Aufmerksamkeit der Völker erwecken. Auf alle diese Erscheinungen ist es zurückzuführen, daß nach dem Kriege die Judenfrage und damit der Antisemitismus wieder in den Vordergrund getreten ist. Dazu kommen //
gewisse besondere Ursachen in Österreich.
Es ist nun einmal nicht zu leugnen, daß hier ein kultureller Gegensatz zwischen dem christlichen Volk und den in der Mehrzahl des Judentums vorherrschenden Anschauungen besteht. Ich brauche nur an den gewissen Hang zum Antiklerikalismus, zur Vertretung freisinniger Anschauungen zu erinnern, an die Beobachtung, die wir bei dem Kampfe gegen den Schmutz und Schund machen mußten, wo sofort gewisse Blätter, siehe Neue Freie Presse, über uns hergefallen sind und uns der Reaktion und aller möglichen Dinge beschuldigten. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, es wäre töricht und ungerecht, das zu verschweigen. Ich anerkenne diese Ausnahmen sehr gerne. Es ist durchaus möglich, daß mit jenem Teil des jüdischen Volkes, der sich an die eigene Religions- und Sittenordnung hält, auch gläubige Christen in weitem Umfange auf kulturellem Gebiete zusammenstimmen können. Wo dieser Geist lebendig bleibt, wird Christen und Juden vieles trennen, aber es wird doch die Gemeinsamkeit dieser göttlichen Gesetzgebung aufrecht bleiben. Wir wissen daher schon, Juden und Juden zu unterscheiden. Man kann aber nicht verheimlichen, da die Mehrzahl der österreichischen Juden leider den Boden dieser Gemeinschaft verlassen hat, einem zersetzenden Freisinn, ob bürgerlicher oder sozialistischer Färbung, verfallen ist und den Bestrebungen der Kirche feindlich gegenübertritt. (Zustimmung bei den Christlichsozialen.) Der Einfluß des anderen, religiös und sittlich positiv eingestellten Teiles des österreichischen Judentums scheint dagegen leider nicht aufzukommen. Der Gegensatz ist also ein tiefer und beständiger, der auf kulturellem Gebiete das christliche Volk und die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung trennt, und es ist verständlich, wenn er in manchen Zeiten stärker ins Bewußtsein tritt als in anderen.
Aber dieser Gegensatz allein würde noch nicht erklären, daß der Antisemitismus in der jungen Generation die Radikalisierung erfahren hat. die wir in der Gegenwart beobachten. Die wirtschaftliche Not ist immer, zu allen Zeiten die Haupttriebkraft für die Radikalisierung des Antisemitismus gewesen. Sie war es in den siebziger und achtziger Jahren, als nach den großen Krisen der ersten Hälfte der siebziger Jahre in Deutschland wie in Österreich die antisemitische Welle hochstieg. Sie ist es heute genau so. Im Kampfe um die nackte Existenz kommt der Selbsterhaltungstrieb, der mächtigste, der im Menschen wirksam ist, natürlich ungehemmter und stärker zur Geltung als in anderen Zeiten, in denen solche Existenzkämpfe nicht mit der gleichen Schärfe und unbarmherzigen Härte sich abspielen.
Unsere Kinder finden heute fast keine Berufsmöglichkeit mehr. Der akademische Nachwuchs, der aus unseren Hochschulen hervorgeht, unsere Ärzte, Juristen, Philosophen usw. können nicht mehr unterkommen. Da sehen sie z. B. wie die sozialdemokratisch geleiteten Krankenkassen überwiegend jüdische Ärzte anstellen (Zustimmung bei den Christlichsozialen), wie die Zahl der jüdischen Rechtsanwälte und Mittelschullehrer in Wien
zunimmt.
Werden Sie es dann den jungen Ärzten, Philosophen und Juristen verargen, wenn sie nun sagen: Warum ist es bei denen möglich und warum bei uns nicht? Es ist doch wirklich verständlich, daß in der jungen Generation, die von der Angst heimgesucht ist, überhaupt nicht den Weg in einen Beruf zu finden, nicht nur die besten Jahre der jungen Manneszeit, sondern auch dann den Übergang für alle Zukunft zu verlieren, um im erlernten Beruf die eigenen Anlagen entfalten zu können, radikale Gefühle Platz greifen. Gilt nicht ähnliches für unsere Handelsangestellten und für den Nachwuchs bei unseren Gewerbetreibenden? Gehen Sie durch die Straßen von Wien und Sie werden sehen, wie sehr sich das Bild zuungunsten der Kinder unseres christlichen Volkes verändert. Der eine Teil wird proletarisiert, auch der andere Teil hat mit der Not zu kämpfen. Es wäre natürlich eine Übertreibung, zu sagen, daß die jüdische Jugend nicht auch unter der Wirtschaftskrise und unter den Erschwerungen, einen Beruf zu finden und auszuüben, leiden würde. Aber
die Verhältnisse scheinen zuungunsten der Kinder des christlichen Volkes verschoben. Das erklärt vor allem den radikalen Ton. den die antisemitische Gesinnung in der jungen Generation angenommen hat.
Daraus müssen sich nun Schlußfolgerungen ergeben, wir müssen wissen, was wir zu tun haben.
Für uns Christlichsoziale
sind in dieser wie in allen Fragen die katholischen Grundsätze maßgebend. Als Katholiken kennen wir keinen Haß gegen das Judentum als religiöse Gemeinschaft oder als Volksgemeinschaft und auch nicht gegen das Judentum als eine „Rassengemeinschaft“. Wir dürfen nicht hassen, denn das Gebot der Nächstenliebe gilt für alle Menschen ohne Unterschied, welcher Rasse oder Nation sie angehören. Infolgedessen ist es töricht, uns zu unterschieben, als ob wir uns einem Rassenantisemitismus hingegeben hatten. Seit Luegers Zeit haben die Christlichsozialen immer den Rassenantisemitismus abgelehnt. Lueger ist deswegen mit Schönerer und mit allen kleineren Nachfahren Schönerers in Konflikt geraten. Dasselbe gilt selbstverständlich auch heute für uns. Wir Christlichsozialen sind auch keine Freunde von Ausnahmsgesetzen. Schon die Erfahrungen der Vergangenheit warnen uns davor, etwa zweierlei Kategorien von Staatsbürgern zu schaffen. Aber wir werden auf die junge Generation acht haben müssen und wir werden vielleicht in Zukunft mehr als bisher überall dort, wo ein gegnerischer Einfluß in unchristlichem und antichristlichem Sinne geltend wird, nicht nur in der Abwehr, sondern auch, soweit es notwendig ist, in der Offensive auftreten, um unserer eigenen Gesinnung und unseren eigenen Überzeugungen Raum und Bewegungsfreiheit zu schaffen.
Es ist nicht unsere Schuld, wenn aus dem kulturellen Gegensatze heraus der Antisemitismus neu belebt worden ist; es liegt beim Judentum selbst, diese Ursache zu beheben. Von dieser Stelle aus möchte ich an das Judentum appellieren. daß es nicht nur den Antisemiten das Studium der Judenfrage überläßt. sondern auch seinerseits mithilft dazu beizutragen, um zu einer Lösung dieser Frage zu kommen.
Das Vorbeigehen an diesem Problem hilft niemand. Wenn wir nicht rechtzeitig zu einer Lösung kommen, die wir vor unserem Gewissen verantworten können, dann werden sich Lösungen durchsetzen, die einen bedauerlichen Inhalt miteinschließen werden. Wir müssen, praktisch gesprochen, vor allem unserer jungen Generation helfen, in Berufe zu kommen. Man muß hier Mittel und Wege finden. Es ist ja, wenn auch der Vergleich nicht allzu wörtlich genommen werden darf, eine Analogie in unserem Inlandarbeiterschutzgesetz vorhanden.
Wir müssen Methoden finden, die, von jeder individuellen Willkür frei, objektive Merkmale aufstellen, um zu sichern, daß die vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten den Söhnen und Töchtern des christlichen Volkes unseres Landes in entsprechendem Ausmaße zur Verfügung stehen. Wir wollen niemandem das Recht zu leben und zu arbeiten verweigern. In Notzeit, in Arbeits- und Erwerbslosigkeit müssen aber auch die anderen verstehen, wenn das christliche Volk für seine leiblichen Kinder gesorgt wissen will. Geschieht hier rechtzeitig Hilfe und sieht die junge Generation den guten Willen, aus dieser Schwierigkeit Brücken in eine bessere Zukunft zu bauen, die doch einmal kommen muß und kommen wird, dann
find auch die Gefahren beschworen, die aus einem gewalttätigen Durchbruch dieses Zustandes für das allgemeine Wohl unseres Landes zu befürchten wären.
Ganz verfehlt ist jedoch der Versuch, das Gesetz über die Studentenschaftsordnung an den Hochschulen ausschließlich als den Ausfluss rassenantisemitischer Gesinnung zu betrachten. Gewiß besteht ein Zusammenhang zwischen der Judenfrage einerseits und der Studentenschaftsordnung anderseits, insofern die jüdische Frage in letzter Zeit in viel höherem Maße als früher eine nationale Frage geworden ist, als das nationale Bewußtsein im Judentum erwacht ist und in größerem Umfang als früher innerhalb des Judentums nach Geltung ringt, übrigens von der großen Welt durch die Balfour-Konvention ausdrücklich anerkannt worden ist.
Abg. Schmitz besprach nun eingehend die Grundsätze, von denen sich die Vorlage leiten läßt. Der Entwurf nehme als entscheidendes Merkmal
die Volkszugehörigkeit
an und gebe dabei von Abstammung und Sprache aus. Wenn Leuthner gemeint habe, dies widerspreche dem katholischen Prinzip, so möge auf das Buch des Weihbischofs Dr. Frint über Das sprachliche und sprachlich-nationale Recht, vom sittlichen Standpunkt aus beleuchtet und auf die noch vor dem Zusammenbruch des alten Österreich erschienene Schrift des Theologieprofessors Dr. Ignaz Seipel über Nation und Staat hingewiesen werden, auf die Lehrmeinungen maßgebender Geistesmänner der deutschen Katholiken zu dieser Frage, die uns Katholiken zweifellos bestimmender sind als die Meinungen der Sozialdemokraten. Abg. Schmitz fuhr fort:
Der Begriff Volkszugehörigkeit wird im Entwurf an die Abstammung und Sprache gebunden. Mit Recht, denn die Sprache allein genügt nicht. Es genügt nicht einmal das Bekenntnis zu der durch eine Sprache repräsentierten Kulturgemeinschaft. um zu sagen, man gehöre der betreffenden Nation an. Es genügt auch nicht die Abstammung allein. Das Wort Abstammung bedeutet nicht Rasse, und wenn in der Begründung zum Entwurf das Wort Rasse vermieden worden ist, so ist das gut. Die Rassentheorien von heute sind allzusehr noch dem Wandel der Lehrmeinungen unterworfen, als daß man sich darauf verlassen könnte.
Ich fürchte sehr, auch wenn nach Neuwahlen eine Anzahl Vertreter radialer Rassentheorien hier einziehen würde, müßte man doch bei einer Anzahl von ihnen die Aufnordung vornehmen (lebhafter Beifall bei den Christlichsozialen), weil sie vielleicht einen ostischen oder einen dinarischen Charakter in ihrem äußeren Habitus haben.
Wenn man nun einwendet, wie man Abstammung und Sprache erkenne, so will ich gerne zugeben, daß dieses Gesetz in gewissem Sinne noch ein Experiment ist. Dem Prinzip der Freiwilligkeit des Beitrittes, des Bekenntnisses zu einer nationalen Gemeinschaft entspricht aber selbstverständlich die Möglichkeit der Ablehnung durch die nationale Gemeinschaft, die sich gebildet hat. Es steckt darin eine Gefahrquelle, wir werden vielleicht, wenn vernünftige Vorschläge gemacht werden, um hier der Willkür vorzubeugen, dazu kommen, diese Gefahren zu beschwören. Auf dem begrenzten Gebiet dieser Vorlage ist es am leichtesten zu verantworten, wenn man einen solchen Versuch unternimmt. Deshalb soll man ihn unternehmen. Warum man dies tun soll, darüber kann man
in Seipels Buch „Staat und Nation“
ein sehr ernstes Wort nachlesen, wo Seipel nicht nur Staat und Kirche nebeneinandersetzt. sondern sogar Staat, Kirche und Nation. Seipel ist damals von den gemischtnationalen Verhältnissen im alten Österreich beeinflusst gewesen, wo die Nichtidentität von Nation und Staat sinnfällig war. Er hat eine Genugtuung erlebt. Auf den Nachkriegskongressen der Minderheitenvertreter wird diese Seipelsche Lehre als Hauptargument verwendet und als Auskunftsmittel, um dem MinderheitenprobIem näher zu kommen.
Wir Deutsche sind berufen, hier einen Schritt vorwärts zu tun. Das ist keine bloße Angelegenheit der Studentenschaft, das ist wirklich eine Angelegenheit der gesamten deutschen Nation, weil keine Nation so wie die deutsche durch die Friedensverträge zersplittert worden ist, weil keine Nation so wie die deutsche vom Schicksal zum Schützer und Helfer von Minderheiten ausersehen worden ist, daher auch vom Schicksal berufen ist, sich // um diese Minderheiten zu kümmern, die unter fremdnationaler Herrschaft stehen.
Man komme uns nicht mit dem Einwand, daß wir Katholiken, wenn wir grundsätzlich entschlossen sind, für dieses Gesetz einzutreten und alles aufzubieten, damit es auch Gesetzeskraft erlange, durch eine solche Haltung uns
gegenüber den jüdischen Konvertiten
versündigen würden.
[…]
Ich habe als christlichsozialer Sprecher ein Bekenntnis zum geläuterten Nationalbegriff abgelegt. Wir sind und bleiben Deutsche und haben es nicht notwendig, uns etwa von Internationalen über die Pflichten des Deutschtums belehren zu lassen. Wir österreichische Deutsche und unsere Vorfahren haben in Jahrhunderten härtester Kämpfe auf uns allein gestellt, bewiesen, daß sie nicht nur Kolonisten waren, die neues Land der deutschen Nation erobert haben, sondern daß sie dieses deutsch gewordene Land trotz aller Schicksalsschläge von Jahrhunderten
deutsch erhalten haben. (Lebhafter Beifall bei den Christlichsozialen.)
Wir österreichischen Deutschen haben nur ein mitleidiges Lächeln für die Leute, die
etwa jetzt aus nicht verdauten Rassentheorien heraus uns als minderwertige Deutsche hinstellen wollen. Vielleicht laden wir die Herren ein, unsere Stammbäume zu vergleichen (lebhafter Beifall bei den Christlichsozialen) um festzustellen, ob nicht das österreichische Deutschtum einen reineren Stammbaum auszuweisen hat, als manche von denen, die uns von draußen her jetzt belehren wollen, daß wir erst lernen müssen, Deutsche zu werden.
Wir sind und bleiben Katholiken, denen die katholischen Grundsätze maßgebend sind und die alle neuen Ideen zunächst vom weltanschaulichen Gesichtspunkte aus prüfen. Wir sind und bleiben auch stolze und selbstbewußte Österreicher. Wir fühlen uns als Teil der gesamten deutschen Nation. Die christlichsoziale Partei wird, geleitet von ihrer Überzeugung, unbeugsam an ihren Grundsätzen festhaltend, das ihrige tun, um dieses Gesetz in Kraft treten zu lassen. (Stürmischer, anhaltender Beifall bei den Christlichsozialen.)
In: Reichspost, 30. 4. 1932, S. 2-4.
Fritz Rosenfeld/Karl Leuthner: Neue russische Romane
Fritz Rosenfeld/Karl Leuthner: Neue russische Romane (1930)
Wohl selten war eine literarische Schaffensperiode in ihren Themen und in ihrer Form so einheitlich wie es die russische Dichtung der Nachkriegszeit ist. Der Stoff aller Romane ist die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart Sowjetrußlands; die Darstellungsform bleibt, mit Ausnahme ganz weniger Dichter, die zu einer neuen Romantik Hinstreben (Leonow), der breite Naturalismus alter Schule, in den sich impressionistische Elemente, lyrische Zwischenspiele, Stimmungsmalerei, mischen. Ihrem Inhalt nach sind die neuen russischen Romane leicht zu gliedern. Der Krieg, die Revolution und der Bürgerkrieg, die Aufbauarbeit im neuen Staate, sind die drei großen Themengruppen, in die sich die neue russische Epik einteilen läßt.
Der Krieg ist die Hauptmelodie des großen Romans
Der stille Don
von Michael Scholochow (Verlag für Literatur und PolitikDer Verlag für Literatur und Politik (VLP, teilweise auch abgekürzt Litpol) wurde am 6.8.1924 gleichzeitig mit dem Agi..., Wien-Berlin). Das Buch schildert erst das Leben der Kosaken, die an den Ufern des Don stille Bauernarbeit leisten, und zeigt dann, wie diese Kosaken, vom Zaren in das Blutbad des Weltkrieges gestürzt, zu neuen Menschen werden. Die Vollendung der Wandlung, die der Krieg an ihnen vollzieht, wird ein zweiter Teil des Romans darstellen. Wie die Kriegsbücher aller Völker, zerreißt auch dieses russische Kriegsbuch die Legende vom Heldentum. Friedliche Menschen werden zu Mördern, weil sie fürchten, gemordet zu werden.
Ein Zeitdokument aus der Revolution ist die Selbstbiographie Vera Inbers, die im Malik-VerlagDurch den Erwerb einer Schülerzeitschrift gelang Wieland Herzfelde und seinem Bruder John Heartfield (d.i. Helmut Herzf..., Berlin, deutsch unter dem Titel
Der Platz an der Sonne
erschienen ist. Das Buch ist kein Roman im gewöhnlichen Sinne, sondern eine breite, gestaltenreiche Zeitschilderung, die den Atem, die „Schwingungen“ einer großen Epoche wiederzugeben versucht.
Farbiger, lebendiger sind die beiden Erzählungen, die der Neue Deutsche Verlag, Berlin, in dem Band
Taschkent, die brotreiche Stadt
vereinigt hat. Die Titelerzählung des Buches stammt von Alexander Newerow. Sie spielt in den trübsten Hungerzeiten nach der Revolution und hat einen kleinen Jungen zum Helden, der für seine Familie die abenteuerliche Fahrt nach Taschkent wagt, um Brot und Saatkorn heimzubringen. Er schlägt sich mit Soldaten, mit Wegelagerern, mit dem großen Heer der Hungerndenherum, aber er erreicht sein Ziel. Großartiger als diese Geschichte ist A. Sferafimowitsch‚ gewaltiges episches Fresko Der eiserne Strom, das den zweiten Teil des Buches bildet. Hier gibt es keinen „Helden“, kein Einzelschicksal. Ein von den Horden der Reaktion aus der Heimat vertriebener Trupp kaukasischer Bauern bahnt sich mit der nackten Faust durch die ehernen Reihen der Feinde einen Weg und entrinnt den weißgardistischen Kadetten, von denen er verfolgt wird. Ein schauriges Gemälde aus dem Bürgerkrieg, unbarmherzig in der Darstellung der Kriegsgreuel, überhöht und überglänzt von dem Gedanken, daß an der geeinten Kraft der Revolutionäre alle Mordbanden der Reaktion zuschanden werden müssen.
Eine Episode aus dem Bürgerkrieg erzählt A. Fadejew in seinem im Verlag für Literatur und Politik erschienenen Buch
Die Neunzehn.
Kommunistische Freischärler kämpfen gegen die Truppen Koltschaks. Typen treten aus der Masse heraus, das Gesicht des russischen Freiheitskämpfers wird in vielen Abwandlungen gezeigt. Die Hauptfigur ist ein junger Mensch, der nicht weiß, wofür er kämpft, der in seinem innersten Wesen ein Feigling ist: er schlägt sich in der Stundeder Gefahr seitwärts in die Büsche, wahrend die Kameraden, zielbewußte Soldaten der Revolution, den Kampf weiterführen.
Der wertvollste Roman des neuen Rußland nach Fedor Gladkows „Zement“ ist der ebenfalls im Verlag für Literatur und Politik erschienene Bauernroman
Die Genossenschaft der Habenichtse
von F. Panferow. Er ist das Gegenstück zu „Zement“: dem Roman vom Wiederaufbau der Industrie wird hier der Roman vom Neuaufbau der russischen Landwirtschaft gegenübergestellt. An den Ufern der Wolga gründen ein paar arme Bauern auf ungerodetem Regierungsgrund einen gemeinwirtschaftlichen Betrieb, eine landwirtschaftliche Genossenschaft. Sie verteidigen ihre Idee und ihr langsam wachsendes Werk gegen die Sabotierungsversuche der wieder frech gewordenen Großbauern, sie führen Werk und Idee zum Sieg, obgleich die Kulaken mit den niederträchtigsten Mitteln die Genossenschaft umzubringen versuchen. An dem Problem: Einzelwirtschaft oder Gemeinwirtschaft, entzünden sich andre Probleme; der Konflikt der Generationen, der Konflikt der Geschlechter. Große, schicksalsträchtige Spannungen erfüllen den Roman, treiben seine Handlung an. Die Kernfragen der neuen russischen Bauernpolitik werden aber nicht trocken abgehandelt, der neue Geist des Kollektivismus wird nicht pathetisch gepredigt, sondern lebendig und dichterisch gestaltet. In machtvoller Steigerung spitzt Panferow das Buch auf eine Auseinandersetzung zwischen Großbauern und Habenichtsen zu, die zugunsten der Habenichtse ausfällt: die Arbeitsgenossenschaft der Besitz losen räumt mit dem alten Elend der kleinen Einzelwirtschaft auf und bannt die politische Gefahr der allzu mächtigen großen Einzelwirtschaft. Was Eisenstein in dem Film „Die Generallinie“ in großartigen beredten Bildern geformt hat, formt Panferow mit den Mitteln des Romans. Sein Werk ist oft von wuchtigster dramatischer Größe, oft wieder von verträumter lyrischer Zartheit. Ein großer Gestalter hat einen großen Stoff meisterhaft bezwungen.
[F. Rosenfeld]
Romantischer Roman
Leonid Leonov: „Der Dieb“
Leonow, der vor acht Jahren— damals zweiundzwanzig Jahre alt — mit den „Aufzeichnungen Kowiakins“, einer kurzen, meisterhaften Erzählung aus dem Leben der Provinz, hervortrat, gilt für eine der stärksten Begabungen des jungen Rußland. Dem Erstlingswerk folgten mehrere Erzählungen, der Roman Barsuki (Die Dachse) und 1928 der große Roman Wor (Der Dieb), der in deutscher Übertragung im Paul-Zsolnay-Verlag, Wien, erschien. Der Dieb hat in der russischen Kritik ein zwiespältiges Urteil erfahren. Nennen die einen den Roman ein herrliches, vollwichtiges Werk (so Pilski) und entdecken darin Züge des großen Seelenergründers und Seelenkünders Dostojewskis, so bezeichnet ihn Arseniew in seiner Russischen Literatur der Neuzeit als „psychologisch recht interessant, aber schwerfällig und langatmig“. Doch an diesem Urteil kann nur so viel als richtig zugegeben werden, daß kein rascher Drang und Zug die Handlung einem Konflikt und seiner Lösung zutreibt. Diese Eigenschaft teilt der „Dieb“ mit einigen der berühmtesten russischen Romane. Das Gefüge ist lose. Der Verfasser selbst tritt mit seinen Figuren auf die BühneGegründet 1924 durch den umstrittenen Zeitungsunternehmer Emmerich Bekessy, erschien die Zs. ab 6.11.1924 als Wochenzei... und schreibt im Roman den Roman, wie unsere Romantiker im Theater das Theater aufführten. Ja, es ist ein sehr abenteuerliches Geschehen, das hier zum größten Teil in der Verbrecherwelt des sowjetistischen Moskau spielt. Indes man fragt im Lesen gar nicht danach, ob nun jede wundersame Wendung der Geschicke genau den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit entspricht, ob nicht eine oder die andre der Gestalten vom Abenteuerlich-Romantischen ins Romanhafte hinüberspielt. Um all die Gestalten, um all die Dinge, um all die Ereignisse fließt der Geist der Ironie, einer Ironie, die manchmal scharf ätzend, noch häufiger jedoch mit leisem Lächeln deutend, Andeutung an Andeutung reiht, bis sich uns das ganze Geschehen des Romans zur schärfsten Kritik der Sowjetwelt wandelt. In dem Tschinownik, der, in einen Sowjetbeamten und Hausvertrauensmann umgeschaffen, doch nur der alte Tschinownik ist, bekommt die Ironie ihr kraftvollstes Symbol. Wie von Gogol her kommt diese Gestalt und scheint zu sagen: sie ist wiederum da die Zeit, welche Menschen gebiert, über die wir weinen müssen, während uns zugleich der Ekel würgt.
[K. Leuthner]
In: Arbeiter-Zeitung, 19.8.1930, S. 5.
Fritz Rosenfeld: Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert
Fritz Rosenfeld: Rudolf Brunngraber: Karl und das 20. Jahrhundert (1933)
Die Lebensgeschichte Karl Lackners. Eines Wiener Arbeiterkindes, eines Menschen dieser Zeit, der im Krieg dem Vaterland diente, in der Inflation die verschiedensten Berufe hatte, abgebaut wurde, hungerte, einer Dirne Zuhälterdienste leistete und schließlich aus dem Gefühl der tiefsten Trostlosigkeit seinem Leben selbst ein Ende machte, beginnt nicht mit der Geburt, auch nicht mit der Schilderung des Elternhauses des Helden, sondern mit einer Darstellung der wirtschaftsumwälzenden Theorie Taylors und mit einer Beschreibung des Hauses Rockefeller. In Form einer romanhaften Chronik wird die wirtschaftliche und politische Geschichte der Welt erzählt, solange Karl Lackner in ihr lebt. Die mit Zahlenmaterial belegte, manchmal bis zur nüchternen Statistik erhärtete Schilderung der weltpolitilchen Ereignisse ist nicht etwa Hintergrund eines Einzelschicksals, sondern das Schicksal selbst.
Brunngraber, ein junger Wiener Dichter, versucht, geschult an den Romanen Jlja Ehrenburgs, die schicksalhafte Macht wirtschaftlicher Ereignisse über den einzelnen Menschen in Romanform zu gestalten. Als Motto steht vor dem Buch das Napoleon-Wort: „Die Politik ist das Schicksal“ und das Rathenau-Wort: „Die Wirtschaft ist das Schicksal“. Nicht erbliche Veranlagung, nicht eigner Trieb bestimmen das Leben Karl Lackners. sondern die Ausfuhr und Produktion von Waren in Ländern, die er nie gesehen hat, die wirtschaftlichen Kämpfe von Staaten, die scheinbar weit ab liegen und mit dem Land, in dem er geboren wurde, gar nichts zu schaffen haben. Das Leben wird als ein ungeheurer wirtschaftlicher Organismus aufgefaßt, in dem jeder Staat nur ein kleines Rädchen ist.
Der Gefahr, daß die romanhafte Gestaltung zur trockenen wirtschaftspolitischen Abhandlung verblaßt, ist Rudolf Brunngrabergeb. am 20.9.1901 in Wien – gest. am 5.4.1960 in Wien; Schriftsteller, Maler, Grafiker Ps.: Sverker Brunngraber (... nicht entronnen. Lange Abschnitte seines Buches haben mit dem Roman nicht einmal mehr die äußere Form epischer Erzählung gemein, sie sind Essays oder gar nur Zusammenstellung von Tatsachen und Zahlen. Hier wird das Prinzip, nicht zu fabulieren, sondern typisches Schicksal auf Grund von unanfechtbaren Tatsachen zu erzählen, doch ein wenig übertrieben. Die Aufgabe des Dichters ist es nicht, den Wirtschaftsteil einer Tageszeitung abzuschreiben oder nachzuahmen, sondern Ereignisse, ob sie nun erfunden oder der Wirklichkeit entnommen sind, plastisch, lebendig zu gestalten. Die plastische, lebendige Gestaltungskraft vermißt man an vielen Stellen dieses Werkes; sie macht erst in den letzten Kapiteln, in der erlebten Schilderung des Arbeitslosenschicksals, die „sachliche“ politische und wirtschaftliche „Reportage“ zum Roman.
Ein Einzelschicksal wird analysiert, wie die Weltwirtschaft analysiert wird. Ein Mensch geht zugrunde, weil die Rüstungsindustrie dunkle Geschäfte abschließt, weil Geld für den Krieg verpulvert, statt zum Aufbau neuer Städte verwendet wird, weil Absicht und Unfähigkeit, Habgier und Gewissenlosigkeit der regierenden Mächte, der Bankdirektoren, Stahlmagnaten und Konservenfabrikanten der ganzen Welt die Menschheit in die große Krise dieser Zeit stürzen. Das Leben Karl Lackners wird eingeteilt in die verschiedenen Epochen wirtschaftlicher Konjunktur oder Depression, mit der Technik filmischer Montage wird das große Schicksal der Welt und das kleine Schicksal eines einzelnen Menschen in Zusammenhang gebracht. Man muß nicht der Meinung sein, daß die Zukunft des Romans auf diesem Gebiet liegt, man kann das neue epische Prinzip, das Brunngraber experimentell anwendet, aus grundsätzlichen Erwägungen ablehnen oder man kann seinen Versuch im einezlnen als mißglückt betrachten – aber man muß sich mit dem Buch befassen, weil es aus dem ehrlichen Bemühen eines begabten jungen Dichters erwachsen ist, der sich auf neue Art mit der Welt auseinandersetzen, der eine neue Form des gesellschaftskritischen Romans schaffen will. Vielleicht wird gerade dieses Buch die Situation des Romans der Gegenwart klären, der zwischen Dichtung und Reportage, Gestaltung und Bericht, Phantastik und Sachlichkeit ratlos hin- und herschwankt.
In: Salzburger Wacht, 10.1.1933, S. 6.
Fritz Rosenfeld: Die Abenteuer einer Banknote
Fritz Rosenfeld: Die Abenteuer einer Banknote (1926)
Auf verschiedenen Wegen suchte das ausgehende neunzehnte und das junge zwanzigste Jahrhundert den Individualismus in der Kunst zu überwinden. Man machte die Masse selbst zum Helden oder ließ jedes Einzelwesen zum charakteristischen Vertreter, zum Musterbeispiel einer Gattung werden. Aber das Kollektivkunstwerk, Sehnsucht unserer Zeit. erreichte man nicht. Auf dem Theater besonders konnte man mit der Masse als Träger des Konflikts nicht gut operieren. Da traten doch wieder Einzelpersonen als Stimmführer hervor und die Masse selbst sank zur Statisterie herab. Bei der Typisierung der Menschen aber verbrauchte sich das Gestaltenmaterial allzu rasch. Es standen da immer wieder dieselben zehn Musterexemplare der Menschheitskategorien und fochten in einer wirklichkeitsfernen, kalten, abstrakten Welt ihre abstrakten Probleme aus. Das Verlangen, das Dasein mit seinen Kämpfen und Konflikten nicht nur im Aufriß, im beispielhaften Einzelfall, sondern im Durchschnitt, in seiner ganzen Ausdehnung und Problemfülle zu zeigen, es aufzurollen wie ein endloses breites Bilderband, konnte die BühneGegründet 1924 durch den umstrittenen Zeitungsunternehmer Emmerich Bekessy, erschien die Zs. ab 6.11.1924 als Wochenzei... nicht erfüllen und auch der Roman nicht. Der Roman brachte wieder eine Reihe von symbolischen Einzelschicksalen, malte das Leben nicht mit großen Pinselstrichen, sondern setzte es mosaikartig aus winzigen Steinchen zusammen. Auch fehlte ihm die erhöhte Lebendigkeit gegenwärtiger Darstellung auf den Theatern. Nun hoffte man auf den Film. Er sollte den Ausgleich schaffen zwischen der Lebendigkeit dramatischer Gestaltung und der Ausführlichkeit epischer Schilderung. Er sollte das Leben so festhalten, wie es sich bietet: ohne jedem Ereignis symbolische Bedeutung zu unterschieben, ohne das eine über das andre emporzuheben. Sollte den Weg zeigen, der von der individuellen Kunst zu einer neuen führt.
So lautet die Hypothese. Blieb noch das Exempel zu liefern. Drama. Roman, Idylle, lyrisches Gedicht, alles ist der Film, Raum und Zeit überspringt er, überfliegt er.
Menschenmassen agieren vor dem Objekt ebenso natürlich wie der einzelne Schauspieler im Licht der Jupiterlampe. Die Mittel sind also da, die Möglichkeiten sind gegeben. Blieb noch das Exempel zu liefern.
Bela Balazs hat es in seinem Film von den Abenteuern einer Banknote zu liefern versucht. Da ist kein Ereignis, kein Problem, kein Konflikt, der gestaltet wird. Da tritt der Zuschauer die Reise quer durch die Wirklichkeit, quer durch das Leben der modernen Großstadt an. Auf dieser Reise braucht man einen Führer, ein Leitseil. Das ist die Banknote. Sie bindet die Schicksale der verschiedensten Menschen, führt durch alle Schichten der menschlichen Gesellschaft, dringt in alle Poren des Lebens. Sie ist, sie spielt Schicksal. Hier wird der Stoff sozial: das Leben wird unter dem Gesichtswinkel des rollenden Geldes betrachtet, das Zentrum und Triebkraft unserer Gesellschaft ist.
In bunter Folge knüpfen sich die mannigfaltigsten Schicksale an einen Zehnmarkschein. Als neue Note bekommt ihn eine junge Arbeiterin, gibt ihn der Mutter: der Sohn stiehlt ihn, kauft ein Messer für die Note, mit dem er, derselben Note wegen, einen Mord begeht. Verfolgt flieht er außer Landes. Der Zehnmarkschein wandert indes durch viele Hände. Trinkgeld ist er. Lohn, Geschenk. Einem Kinde bringt er Glück, dem andern Unglück. Er wird verloren. Frei flattert er in der Lust. Ein Krüppel will ihn erhaschen. An den Sohlen einer Bettlerin klebt er, die mit aufgespannter Hand bittend durch die Straßen jagt. Im Tresor eines großen Geschäftes findet er Ruhe: ein Einbruch fördert ihn wieder ans Licht. Katzen spielen mit ihm, Menschen jagen nach ihm. Die Kehrmaschine erfaßt ihn, fegt ihn auf den Müllhaufen. Von einem armen Teufel aufgestöbert, muß er wieder unter die Menschen. Kommt in die Hand des Pfandleihers und geht wieder für ein Pfand hinaus ins Leben. Schließlich landet er bei dem Liebsten jenes Mädchens, das ihn als erste erhalten: die jungen Menschen vergessen ihn über dem Glücke ihres Sichwiederfindens, ein Hund schnappt ihn, zerfetzt ihn, zerbeißt ihn, verschluckt ihn. Der Zehnmarkschein hat endlich Ruhe.
Der Grundgedanke dieses Films ist sicher dichterisch und ist filmisch ausgezeichnet. Aber die Durchführung ist leider nicht konsequent, und selbst wenn sie es wäre, müßte man die Durchschlagskraft eines Durchschnittsfilms dieser Art bezweifeln.
Die Inkonsequenz des Films ist wohl nicht Schuld des Autors. Er mußte Konzessionen an den Filmgebrauch machen, an den amerikanischen besonders, denn eine amerikanische Gesellschaft (F o x) ließ den Film in Deutschland herstellen. Da kam der süßliche Kanarienvogel herein, die kitschige Liebesgeschichte, die doch wieder zwei Menschen über den Durchschnitt, der gegeben werden soll, emporhebt, also der Absicht des Werkes widerspricht, und manche Unwahrscheinlichkeit, die den Lauf des Banknotenschicksals
Liebespaar der Held werden und die Banknote nur das Band, das dieses Liebespaar mit der übrigen, Welt verknüpft. So blieb es versagt, der Banknote eine Seele zu geben — was allein diesen Film aus einer Darstellung verschiedener Einzelschicksale zu einer unheimlich-wirklichkeitsnahen, realistischen und gespenstigen Lebenswiedergabe hätte steigern können. Hat die Banknote keine Seele, dann treten nur Menschen auf den Spielplan, die zu dem gewünschten Gesamtbild ihren Beitrag liefern und wieder verschwinden. ohne eine Spur ihres Geschicks zu hinterlassen; es müßten aber rund im Kreise um diese Note die unerhörtesten Schicksale aufbrennen, beklemmende Schicksale, in harter Reihe eines hinter dem andern, und ohne daß ein einzelnes zuviel Licht auf sich zöge, müßte es sich unauslöschlich in die Erinnerung prägen: wie das die zahllosen winzigen Episoden tun auf der großen Treppe des Potemkin: dort huscht eine jede vorüber und ist doch eine gewaltige Tragödie, jede ein Augenblick und ein Menschenleben, jede eine Sekunde und eine Ewigkeit.
Das kann der Film geben, das muß er geben. Hier gibt er es nicht. Hier huschen Schatten vorüber, nicht Menschen. Hier wird aus Angst, der einzelne könnte zuviel Raum beanspruchen, nichts menschlich ergreifend packend, einprägsam geformt. Eine Reihe von Nullen soll denn die unendliche Zahl ergeben. Das ist der eine künstlerische Widerspruch des Films.
Im Wesen muß dieser Versuch eines Kollektivismus impressionistisch sein. Es werden Eindrücke erweckt, gesammelt. Diese Sammlung aber widerstrebt der dramatischen Konzentration, die doch wiederum gewollt und auch notwendig war. Das ist der zweite Widerspruch in diesem Film. Und hier muß die Frage aufgeworfen werden, ob selbst der Film in seiner heutigen Gestalt den Durchschnitt durchs Leben bieten kann. Nach diesem Exempel möchte man die Frage verneinen. Neben den Versuch des epischen Nebeneinander muß, will der Film wirken, heute noch das dramatische Ineinander treten. Wir haben diese Form noch nicht überwunden und kennen noch keinen Weg, sie zu überwinden. Das bloße Nebeneinander ohne innere konkrete Bindung der Personen läßt den Film und mit ihm das Interesse des Zuschauers zerfließen. Wir brauchen in der unendlichen Flucht der Erscheinungen Einzelwesen, auf die sich unser Interesse konzentrieren kann. Die Mittel des Films reichen noch nicht aus, diese Flucht der Erscheinungen selber dramatisch fesselnd zu gestalten. Sie müßte durch eine Idee zusammengehalten werden. Nicht etwa nur um der äußeren Spannung willen, noch weniger der läppischen amerikanischen Forderung nach dem selig vereinigten Liebespaar wegen. Der Lebensdurchschnitt als Ziel ist noch nicht möglich. Wohl der Lebensdurchschnitt als Mittel zum Zweck, wie er es im Potemkin gewesen. Dort
stand über der Schilderung der Wirklichkeit in den tausend winzigen Teilchen die große Gesamtidee des revolutionären Filmkunstwerks. Sie gab die fehlende Bindung, sie verschmolz die Bildchen zu dem großen Bild, das allein vorläufig unser Interesse wachzuhalten vermag.
Was dieser Versuch also erweist, ist vor allem: daß der Film in seinen künstlerischen Möglichkeiten überschätzt wird. Man wähnt ihn ohne Grenzen. Er ist es nicht. Das Exempel zeigt, daß er Grenzen hat. Diese Grenzen finden, ist die wichtigste Aufgabe des Kunstfilms von heute. Denn wenn wir die Grenzen des Films kennen, dann kennen wir auch endlich den Film.
Die Ausführung dieses außerordentlich interessanten filmischen Versuchs war Bertold Viertel übertragen, der vom Theater her kommt. Das merkt man seiner Regie deutlich an. Sie ist in der Leitung der Darsteller etwas zu steif, so könnte der Schauspieler agieren, wenn er zur Ergänzung der Wirkung das Wort zur Verfügung hätte. Der spezifischen filmischen Ausdrucksmittel bedient sich Viertel immer nur, wenn er auf das Wesentliche des Vorganges hinweisen will. Darum arbeitet er mit einer Unzahl von Großaufnahmen. Sein Bemühen um neue Bildwirkungen erweisen die verschiedenen Einstellungen des Apparats zum Objekt. Unter den Darstellern ist nur Imogen Robertson wirklich gut, und auch sie nicht ganz der Typus einer Arbeiterin. In den unzähligen kleinen Rollen treten nur noch Oskar Homolka und Wladimir Sokolow hervor.
Alles in allem: ein verdienstvoller, aufschlußreicher, interessanter Versuch, die Filmkunst auf neue Wege zu führen, das Wesen des Films von einer andern Seite her zu ergründen. Er mußte ohne Erfüllung bleiben, weil die Probleme schwieriger sind, als sie scheinen, ohne Vollendung, weil das Filmgeschäft Zugeständnisse verlangte. Aber es wurde ein eigenartiger und sehenswerter Film. Und das ist der dem heutigen Stande der Filmproduktion schon sehr viel.
In: Arbeiter-Zeitung, 31.10.1926, S. 20.
Alfred Polgar: Landstraße bei Wien
Alfred Polgar: Landstraße bei Wien (1919)
Häuserzeilen, dem Rand der Großstadt entwachsen, gespenstisch lang und fahl hingewunden, wie Triebe der Kellerkartoffel. Gewimmel von Menschen, die gehen, als hetzte sie Angst und hemmte sie Furcht noch Ärgerem. Vorfrühlings-Spätnachmittag. Eine kühle Sonne leuchtet den Häusern in das welke, rissige Gesicht. Sie werden je weiter ihre Reihe sich streckt, niedriger und kleiner. Die Straße duckt sich immer tiefer, kriecht in den Erdboden, verschwindet endlich ganz in Sand und zertretenem, entfärbten Gras.
Hier entspringt die Landstraße. Das weißbestaubte, kilometerstein-gefaßte, Feld und Dorf und Städtchen und Länder aneinanderknüpfende Meßband, einst Reichsstraße geheißen. Der Krieg und seine letzte Schärfe, der FriedeWochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur. (1918-19; Reprintausg. 1975) Die im Januar 1918 begründete,..., haben auch dieses „Band“ gekürzt, zerrissen.
Die Berglehne mit den zahllosen Baumstumpfen gehört noch zur Stadt. Sie sieht aus wie ein heidnischer Friedhof: hier liegt der Wald begraben. Es ist Sonntag. Menschen mit Säge, Axt und Sack ziehen hinaus, Bäume schlachten.
Die Landstraße schüttelt sie ab, läuft ihnen davon, strömt hin, weiß und einsam, endlich befreit von den trüben Abwässern des großen Menschenpferchs. Pappeln unbelaubt und winterdürr, bilden Spalier. Ein Stamm abseits. Wind streift seine Wipfel, macht ihnen schwanken. Es ist, als ob ein eben in den Boden gelandeter Riesenpfeil verzitterte.
Schwarz-weiß-Flächen dehnen sich: aufgeworfene Ackerschollen, Schnee in den Furchen. Drüberhin Nebel, materialisierte Schwermut. Zwei Weiber, Tuchbündel auf dem Kopf, inmitten der Straße, eifrig Worte kauend. Ihre Unterhaltung ist am Ende so wichtig und wesentlich wie tiefsinnigste Debatte zwischen erleuchteten Gehirnen.
Dorf. Die Landstraße schneidet mitten durch. Die Häuschen, zu beiden Seiten Platz machend, weichen ihr aus. Ein paar ganz ängstliche sind den Hügel hinaufgeklettert.
Männer in bäuerischer Tracht, Gerätschaften huckepack, trotten daher, den Mund schief gezogen von der Pfeife. Sie blicken auf den Wanderer im städtischen Anzug, als ob sie ihn ganz gern totschlügen, wäre nicht fatalerweise gerade Schonzeit.
Ein Auto mit dick Bepelzten knattert sie auseinander. Die Pfeife wechselt in den linken Mundwinkel hinüber, die Augen folgen dem Pferdekräftigen böse, gefährlich. Wie die Mündung einer zielenden Waffe.
Der Autolärm hat Kinder herangelockt. Sie drohen mit der Faust, heben Steine, suchen angestrengt zumindest ein steinschweres Schimpfwort, das nachgeschleudert werden könnte. Früher haben die Landkinder einem so beweglichen, amüsanten, fremdartigen, Monotonie zerschneidenden Ding wie einem Auto zugejauchzt, ihm mit Händen und Mützen gewinkt. Heute reizt und ärgert es sie. Daß Menschen drin sitzen, verkleidet ihnen den Spaß an der lustigen, aufregenden Maschine. Kraft welcher Sendung oder Bestimmung sitzen diese Menschen drin?
Auch die Kinder haben schon gelernt, die Erscheinungen als Symbole der Macht oder der Ohnmacht zu deuten.
Vor dem letzten Haus der Ortschaft hocken zwei Alte, regungslos, Hände im Schoß gefaltet. Sie warten, daß es Abend wird. Das Beste vielleicht, was Menschen tun können. Weisheit und Stumpfsinn schließen hier die mystische Kette, darin alles Wollen eingeschaltet.
Die Landstraße läuft weiter, hinein in Nebel, Finsternis, Ferne. Zwischen Pappeln und Häusern, städtisch verkleidet durch Städte, über Brücken- und Bahngleise, bergauf- und -abwärts, rund um Berge, an Fabrikschloten vorbei, die Kohlenruß in den weißen Staub mengen, an Villen, Schlößchen, Gärten, ganz durchgesickert von gereinigter, destillierter, filtrierter „Natur“, an waldumrauschten Friedhöfen, wo das Totsein gar so viel Charme hat. Abendsonne färbt die dünn beschneiten Nadelwälder mit einem unwahrscheinlich süßen Rosa, an kolorierte Ansichtskarten erinnernd.
Einmal war Landstraßenwanderung Glück und Frohsinn, Phantasie dehnte den Weg ins Unendliche, nirgends stieß Flug der Seele auf sperrende Mauern, mit jedem Atemzuge reiner Luft zog in die Brust Gefühl grenzenloser Freiheit, die mit Sinnen zu schmecken ja nur ein geringes technisches Problem wäre.
Jetzt ist solch bescheidene Freude mit dickem Grau überpinselt. Die Landstraße hat etwas Gehässiges, Krankes, Verdrossenes. Frohsinn ist Verbrechen. Phantasie Verrat an den traurigen, armen Tatsachen. Freiheitssehnsucht egoistische Regung.
Und wenn der Spazierer, heimkehrend, auf die Schar der Kobolde stößt, die, von Stücken geschlachteten Waldes den Sklavenrücken krumm, daherstapfen, schämt er sich auch der melancholischen „Stimmung“, ja selbst des Mitleids.
Liegt solches Mitleid nicht wie Watte um sein Herz, abdämpfend den Schrei der gefolterten Welt?
Und ist Schwermut nicht ein Schlupfwinkel, sichernd vor den Hetzhunden der eigenen Seele?
In: Das Tage-Buch, H. 14/1919, S. 488-489.
Max Pirker: Wiener Theater und expressionistische Vorlesungen
Max Pirker: Wiener Theater und expressionistische Vorlesungen. (1922)
Gerhart-Hauptmann-Feier: Rose Bernd im BurgtheaterMaterialien und Quellen: Johannes Sachslehner: Ein Mythos wird angeschlossen. Zur Machtübernahme der Nazis im Burgtheat....— Die Weber im RaimundtheaterDie Gründung des Raimundtheaters ging auf eine Initative von rund 500 Wiener Bürgern zurück, die sich 1890 zum „Wie....— Kulturbundabend mit Karlheinz Martin und Roma Bahn.
Es war eine Sturzflut von Theaterfesten. Gerhart Hauptmann zu Ehren: in allen deutschen Städten bis ins kleinste Provinztheater wurde das Lebenswerk des Dichters aufgeführt.
Wien ist mit Hauptmann durch viele Beziehungen verknüpft: man sah ihn oft bei Premièren seiner Werke im Burgtheater, er sprach in der Aula der Universität ergreifende Worte von Deutschlands Wiedergeburt, er las im großen Musikvereinssaal aus unveröffentlichten Dichtungen. Ein trüber Schatten wich in diesen Tagen: Rose Bernd, einst vom Hofburgtheater auf Wunsch einer Erzherzogin verbannt, wurde zur Festvorstellung: das ist Freiheit, die auch wir meinen, denn die Dinge des Geistes und der Kunst stehen über dem Wechsel der Tagesmeinungen und die dichterische Kraft, die sich in den erschütternden Szenen der Rose Bernd, von Frau Medelsky ergreifend gestaltet, vor uns aus lebte, ist eine Naturgewalt. Weniger angebracht schien uns eine kommunistische Demonstration, die sich an die Festausführung der Weber im Raimundtheater anschloß, indem von der Galerie aus die „Internationale“ gesungen wurde. Man versteht zwar gerade aus der genialen Inszenierung Karlheinz Martins heraus die zündende, mitreißende Kraft, die dieses Stück im
Berlin W. des wilhelminischen Deutschland ausüben mußte. Heinrich Mann hat in seinem Roman Schlaraffenland den sozialistisch gefärbten Snobismus dieser Kreise satirisch gestaltet. Aus Hauptmanns Werk redet aber das tiefe Mitleid mit den Enterbten, eine fast religiöse Inbrunst, die elementar aus dem Naturalismus hervorbricht: der uralte, bartumwucherte Weber Ansorge ist schon ein Vorläufer des rätselhaften Glasbläsers Huhn aus der Pippa. Und welche fast raffinierte, an den besten Franzosen geschulte Technik: wie ist alles um das revolutionäre Dreißigerlied herum aufgebaut, wie sind die alten Weber von der jüngeren Generation differenziert! Die Regie Martins hebt alle diese Nuancen auf das feinste hervor, der Einbruch der hungernden Weber in den Salon Dreißigers war ein Elementarereignis von ungeheurer Wucht. Die einzelnen Darsteller traten weniger hervor, die anonyme Masse ist ja der eigentliche Held. Immerhin sind der Fabrikant Dreißiger (Willy Schmieder), der soldatische Revolutionär Moritz Jäger Gustav Keunes, der alte Baumert Eduard Loibners, die Luise Hilfe der Lilly Karoly und die Frau Heinrich Maria Guttmanns als gute Einzelleistungen hervorzuheben. Der Jubel des Publikums galt neben dem Dichter vor allem seinem Regisseur, der schon im Vorjahre den Florian Geyer so prachtvoll als großes historisches Drama und menschliches Schicksal gestaltet hatte.
Karlheinz Martin gehört ohne Zweifel heute nicht nur zu den führenden deutschen Bühnengestaltern. Er hängt weniger als Reinhardt mit dem Naturalismus zusammen, ist wohl auch als jüngerer weiter von diesem entfernt als Reinhardt, der ja aus Otto Brahms Theater hervorging. Er hat für das Phantastisch-Irrationelle die stärkere Witterung, er ist tatsächlich den Weg der alten Barockregisseure: von der Kirche zum Theater gegangen; er kam aus dem Kloster Bouron, wo er erzogen wurde und beim Meßopfer „ministrierte“, wie er mir auf dem „Kulturbundabend“ im Salon Gräfin Alice Hoyos erzählte.
Der vom Prinzen Aston Maria Rohan, einem Freunde des Darmstädter Philosophen Grafen Hermann Keyserling angeregte KulturbundDer Kulturbund wurde im Mai 1922 in Wien auf Initiative v. Karl Anton Rohan mit Unterstützung der Schriftsteller Friedr... umfaßt Mitglieder der alten Gesellschaft und Künstler durchaus nicht konservativer Prägung: wie die Salons der Romantik und des vormärzlichen Wien die heterogensten Geistesrichtungen für die Dauer eines Abends vereinigten. Nur ein gemeinsamer Kulturwille ist vorhanden, das Streben, aus dem Chaos der Gegenwart Richtlinien zu gewinnen, das Wertvolle der Vergangenheit nicht völlig untergehen zu lassen. Eine unpolitische, internationale geistige Bewegung, die in drei wichtigen, europäischen Zentren: in Wien, München und Paris führende geistige Persönlichkeiten umfaßt: Deutschland ist durch den Grafen Keyserling und durch Thomas Mann würdig vertreten, von Österreichern sind Oskar A. H. Schmitz, Stephan Zweig, Felix Braun, Erwin Rieger, E.W. Korngold zu nennen. Im Salon Hoyos las nun Roma Bahn, Karlheinz Martins Gattin, die Darstellerin // von Indras Tochter in Strindbergs Traumspiel, die Lyrik der jüngsten Generation, wie sie Kurt Pinthus in seiner schönen Anthologie Menschheitsdämmerung (Ernst Rowohlt) vereinigt hat: diese repräsentative Sammlung von Erschütterungen und Leidenschaften, von Sehnsucht, Qual und Glück unserer Epoche, Klage um die Menschheit, Sehnsucht nach Menschheit, die aus dem Chaos zum Licht einer besseren Weltordnung strebt. „Niemals in der Weltdichtung scholl so laut, zerreißend und aufrüttelnd Schrei, Sturz und Sehnsucht einer Zeit, wie aus dem wilden Zuge dieser Vorläufer und Märtyrer, deren Herzen nicht von den romantischen Pfeilen des Amor oder Eros, sondern Peinigungen verdammter Jugend, verhaßter Gesellschaft, aufgezwungener Mordjahre durchbohrt wurden.“ (Kurt Pinthus.) In diesem Sinne, nur etwas verbindlicher, sprach auch Franz Theodor Csokor, der Frau Roma Bahns Vortrag einleitete, und die Hohenlohe und Liechtenstein lauschten der Botschaft, die aus einer anderen Welt in Form und Gesinnung kam. Aber heute ist der revolutionäre Expressionismus schon beinahe ebenso historisch wie die alte Gesellschaft selbst, es ist erstarrte Lava, die „Aktion“ wie bekannt, einst ein führendes Organ des radikalen Expressionismus, ist heute ein uninteressantes kommunistisches Parteiblatt — der begabteste Lyriker der jüngsten Generation- Johannes R. Becher, ist heute ein Klassiker des Inselverlages. Dem Kulturbund aber und seinen Gästen, Karlheinz Martinauch Karl Heinz Martin, geb. am 6.5.1886 in Freiburg/Br. - gest. am 13.1.1948 in Berlin; Schauspieler, Theater- und Film... und Roma Bahn, darf man für den interessanten Abend, der von dem üblichen Vorlesungstypus wohltuend abwich, dankbar sein.
In: Grazer Tagespost, 29.11.1922, S. 2-3.
N.N.: Studentenschaftsordnung und Antisemitismus
N.N. [Red. Beitr.]: Studentenschaftsordnung und Antisemitismus. (1932)
Die Stellungnahme der Christlichsozialen. – Hochbedeutsame grundsätzliche Erklärungen des Abg. Schmitz
Im Nationalrat wurde heute die erste Lesung der Regierungsvorlage über eine Studentenschaftsordnung an den Hochschulen durchgeführt, die von allen vier nicht sozialdemokratischen Parteien grundsätzlich begrüßt, von den Sozialdemokraten jedoch in heftigster Form bekämpft wurde. Weit über das Niveau der übrigen Debatte ragte die Rede des Abg. Schmitz hinaus, der in seinen Ausführungen voll Tiefe und Schwung den christlichsozialen Anschauungen einen prächtigen Grundsatzrahmen gab.
Unterrichtsminister Dr. Czermak skizzierte in seiner Rede einleitend die Vorgeschichte der Frage der Studentenschaftsordnung und legte dann dar, daß die Notwendigkeiten der Einrichtung von Studentenschaften allgemein anerkannt werde und der Streit nur um ihre Gestaltung gehe, darum in welcher Weise das spontan Gewordene in geordnete Rechtsformen gegossen, dem gesetzlichen Aufbau der Hochschulen rechtlich eingegliedert und so dauernd legalisiert und so gesichert werden soll. Absichten und Ziele der Regierungsvorlage erläuternd, sagte der Minister:
Die Regierung hat sich für die Schaffung nationalhomogener Selbstverwaltungskörper entschieden, die auf dem gemeinsamen Boden der Hochschule mit voller Gleichberechtigung nebeneinander zu wirken berufen sind, für welche Gleichberechtigung alle Sicherungen geboten
wurden. Wir brauchen sachlicher Aufbauarbeit zugewendete nüchterne Selbstverwaltungskörper und wir wissen, daß solche nur auf unserem Wege der Auseinanderlegung des Unerträglichen zu erzielen sind. Wie soll über die Zugehörigkeit des einzelnen zu einem der organisierten Selbstverwaltungskörper entschieden werden? Ich habe mich gegen die Schaffung von Zwangsverbänden kraft Gesetzes entschieden.
Dieses Gesetz enthält
keine Zwangsverbände.
Vielfach glaubt man allerdings in der Öffentlichkeit, daß sie im Gesetze vorgesehen seien. Freie studentische Kräfte haben bisher die Arbeit geleistet, mögen sie sich in national einheitlicher
Gruppierung zu freiem, vereinsmäßigem Wirken zusammenfinden. Tun sie dies in einer Form, die dem Gesetze gemäß ist, so können ihnen die akademischen Behörden die Rechte eines Selbstverwaltungskörpers übertragen. Tun sie es nicht, dann können ihnen diese Rechte wieder entzogen werden. Auf diesem Wege findet auch die Zugehörigkeitsfrage eine organische Lösung. Ich
bemerke dazu, daß im Falle einer Abänderung des Vereinsgesetzes sehr unschwer auch eine Abänderung dieser Basis der Studentenschaftsordnung möglich wäre.
[…]
Abg. Leuthner vertrat die Stellungnahme der Sozialdemokraten gegen die Vorlage, die er als „die unterwürfigste Verbeugung der Christlichsozialen vor den Nationalsozialisten“ und als „die unerhörte Proskynese des katholischen Prinzips vor dem Blut- und Hakenkreuzmythos“ bezeichnete, gefiel sich in wenig geschmackvollen Witzeleien Über den Namen des Unterrichtsministers und ließ sich dann endlich im Sorgenstuhl der Sozialdemokraten nieder, von dem aus sie den Antisemitismus zu beseufzen und zu bekritteln pflegen: die Vorlage beruhe auf dem Rassenprinzip, sei antisemitisch und daher mit aller Kraft von den Sozialdemokraten zu bekämpfen.
Dies veranlaßte den gewesenen Vizekanzler Abgeordneten Schmitz, der namens der Christlichsozialen sprach, sich grundsätzlich mit der
Frage des Antisemitismus
zu beschäftigen. Abg. Schmitz bezog sich nach einer kräftigen Polemik gegen die Angriffe Leuthners gegen die christlichsoziale Partei auf die Versuche, die Regierungsvorlage über die Studentenschaftsordnung im Ausland als einen Exzeß des Rassenantisemitismus zu denunzieren und damit Widerstände wachzurufen, die das Inkrafttreten dieses Gesetzes verhindern sollen, und fuhr fort:
Ich halte es daher für notwendig, daß man über den Antisemitismus als Problem in aller Ruhe und Objektivität von dieser Stelle aus etwas sagt, bevor man auf den Gesetzentwurf selbst eingeht. Ich halte diese Auseinandersetzung auch deshalb noch für notwendig,
weil es eine Tatsache ist, daß die antisemitischen Stimmungen in der jungen Generation mit neuer und vergrößerter Kraft aufsteigen als es in den Jahren vorher der Fall gewesen ist.
Es wäre töricht, sich vor dieser Tatsache zu verschießen. Drei Schichten vor allem sind es, die von ihr besonders erfaßt sind. Es sind die jungen Akademiker, die jungen Privatangestellten und die jungen
Geschäftsleute und Gewerbetreibenden. Es ist natürlich nicht so, als ob eine solche Stimmung lediglich durch eine Agitation von außen her hineingetragen werden könnte.
Gründe für das Ansteigen der antimarxistischen Stimmungen.
Für diese Erscheinung gibt es zunächst einige allgemeine Gründe. Diese gelten nicht nur für das
Interesse an der Judenfrage, das sich in den antisemitischen Kreisen kundgibt, sondern auch für das Judentum selbst. Man erinnere sich doch nur an die Gründung des jüdischen Nationalstaates in Palästina, an die Vergrößerung der zionistischen Bewegung in der ganzen Welt, man erinnere sich
an die ostjüdischen Wanderungen, die nach Österreich und Deutschland während und nach dem Kriege sich vollzogen haben. Diese objektiven Tatsachen allein haben mit dazu beigetragen, die Judenfrage, die vor dem Kriege eine Zeitlang schon zurückgetreten war, wieder mehr in den Vordergrund des öffentlichen Interesses zu schieben, nicht nur in Österreich und Deutschland, sondern auch in den westlichen Staaten, in Staaten, die einen sehr geringen Prozentsatz jüdischer Bevölkerung haben, wie z. B. in Frankreich. Allerdings ist auch dort ihr Einfluß viel größer als der ziffernmäßige Anteil darstellt. In Frankreich konnte man in den letzten Jahren im steigenden Maße ernsthaften wissenschaftlichen und politischen Erörterungen der jüdischen Frage begegnen. Ja
sogar in Amerika ist dies der Fall.
Es handelt sich also hier nicht um eine Erscheinung, die lediglich auf eine böswillige Agitation zurückzuführen ist, sondern um eine Erscheinung, die aus allgemeinen Ursachen hervorgegangen ist.
Aber es gibt weitere Ursachen, die nicht in allen Staaten gleichmäßig sich geltend machen, bei uns vielleicht etwas mehr.
Das ist das Hervortreten jüdischer Führung bei fast allen Umsturzbewegungen der Nachkriegszeit.
Zuletzt in Spanien. In Österreich fällt uns bei den jüngsten Wahlen auf, wie sehr die jüdische Wählerschaft in die revolutionäre Partei, in die Sozialdemokratie, abwandert. Man muß heute leider schon sagen, daß die große Mehrzahl der jüdischen Wähler in der Sozialdemokratie zu finden ist. Selbstverständlich hat das auch Reaktionen zur Folge. Die führende Rolle, die das Judentum weithin in der Welt, auch bei uns in der Wirtschaft seit jeher hat, mußte selbstverständlich bei den Wirtschaftskrisen in der Nachkriegszeit, insbesondere auch bei Finanz- und Bankenkrisen, angefangen von der Kriegsgewinnerzeit über die Inflationsperiode bis in die Gegenwart, die Aufmerksamkeit der Völker erwecken. Auf alle diese Erscheinungen ist es zurückzuführen, daß nach dem Kriege die Judenfrage und damit der Antisemitismus wieder in den Vordergrund getreten ist. Dazu kommen //
gewisse besondere Ursachen in Österreich.
Es ist nun einmal nicht zu leugnen, daß hier ein kultureller Gegensatz zwischen dem christlichen Volk und den in der Mehrzahl des Judentums vorherrschenden Anschauungen besteht. Ich brauche nur an den gewissen Hang zum Antiklerikalismus, zur Vertretung freisinniger Anschauungen zu erinnern, an die Beobachtung, die wir bei dem Kampfe gegen den Schmutz und Schund machen mußten, wo sofort gewisse Blätter, siehe Neue Freie Presse, über uns hergefallen sind und uns der Reaktion und aller möglichen Dinge beschuldigten. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, es wäre töricht und ungerecht, das zu verschweigen. Ich anerkenne diese Ausnahmen sehr gerne. Es ist durchaus möglich, daß mit jenem Teil des jüdischen Volkes, der sich an die eigene Religions- und Sittenordnung hält, auch gläubige Christen in weitem Umfange auf kulturellem Gebiete zusammenstimmen können. Wo dieser Geist lebendig bleibt, wird Christen und Juden vieles trennen, aber es wird doch die Gemeinsamkeit dieser göttlichen Gesetzgebung aufrecht bleiben. Wir wissen daher schon, Juden und Juden zu unterscheiden. Man kann aber nicht verheimlichen, da die Mehrzahl der österreichischen Juden leider den Boden dieser Gemeinschaft verlassen hat, einem zersetzenden Freisinn, ob bürgerlicher oder sozialistischer Färbung, verfallen ist und den Bestrebungen der Kirche feindlich gegenübertritt. (Zustimmung bei den Christlichsozialen.) Der Einfluß des anderen, religiös und sittlich positiv eingestellten Teiles des österreichischen Judentums scheint dagegen leider nicht aufzukommen. Der Gegensatz ist also ein tiefer und beständiger, der auf kulturellem Gebiete das christliche Volk und die Mehrzahl der jüdischen Bevölkerung trennt, und es ist verständlich, wenn er in manchen Zeiten stärker ins Bewußtsein tritt als in anderen.
Aber dieser Gegensatz allein würde noch nicht erklären, daß der Antisemitismus in der jungen Generation die Radikalisierung erfahren hat. die wir in der Gegenwart beobachten. Die wirtschaftliche Not ist immer, zu allen Zeiten die Haupttriebkraft für die Radikalisierung des Antisemitismus gewesen. Sie war es in den siebziger und achtziger Jahren, als nach den großen Krisen der ersten Hälfte der siebziger Jahre in Deutschland wie in Österreich die antisemitische Welle hochstieg. Sie ist es heute genau so. Im Kampfe um die nackte Existenz kommt der Selbsterhaltungstrieb, der mächtigste, der im Menschen wirksam ist, natürlich ungehemmter und stärker zur Geltung als in anderen Zeiten, in denen solche Existenzkämpfe nicht mit der gleichen Schärfe und unbarmherzigen Härte sich abspielen.
Unsere Kinder finden heute fast keine Berufsmöglichkeit mehr. Der akademische Nachwuchs, der aus unseren Hochschulen hervorgeht, unsere Ärzte, Juristen, Philosophen usw. können nicht mehr unterkommen. Da sehen sie z. B. wie die sozialdemokratisch geleiteten Krankenkassen überwiegend jüdische Ärzte anstellen (Zustimmung bei den Christlichsozialen), wie die Zahl der jüdischen Rechtsanwälte und Mittelschullehrer in Wien
zunimmt.
Werden Sie es dann den jungen Ärzten, Philosophen und Juristen verargen, wenn sie nun sagen: Warum ist es bei denen möglich und warum bei uns nicht? Es ist doch wirklich verständlich, daß in der jungen Generation, die von der Angst heimgesucht ist, überhaupt nicht den Weg in einen Beruf zu finden, nicht nur die besten Jahre der jungen Manneszeit, sondern auch dann den Übergang für alle Zukunft zu verlieren, um im erlernten Beruf die eigenen Anlagen entfalten zu können, radikale Gefühle Platz greifen. Gilt nicht ähnliches für unsere Handelsangestellten und für den Nachwuchs bei unseren Gewerbetreibenden? Gehen Sie durch die Straßen von Wien und Sie werden sehen, wie sehr sich das Bild zuungunsten der Kinder unseres christlichen Volkes verändert. Der eine Teil wird proletarisiert, auch der andere Teil hat mit der Not zu kämpfen. Es wäre natürlich eine Übertreibung, zu sagen, daß die jüdische Jugend nicht auch unter der Wirtschaftskrise und unter den Erschwerungen, einen Beruf zu finden und auszuüben, leiden würde. Aber
die Verhältnisse scheinen zuungunsten der Kinder des christlichen Volkes verschoben. Das erklärt vor allem den radikalen Ton. den die antisemitische Gesinnung in der jungen Generation angenommen hat.
Daraus müssen sich nun Schlußfolgerungen ergeben, wir müssen wissen, was wir zu tun haben.
Für uns Christlichsoziale
sind in dieser wie in allen Fragen die katholischen Grundsätze maßgebend. Als Katholiken kennen wir keinen Haß gegen das Judentum als religiöse Gemeinschaft oder als Volksgemeinschaft und auch nicht gegen das Judentum als eine „Rassengemeinschaft“. Wir dürfen nicht hassen, denn das Gebot der Nächstenliebe gilt für alle Menschen ohne Unterschied, welcher Rasse oder Nation sie angehören. Infolgedessen ist es töricht, uns zu unterschieben, als ob wir uns einem Rassenantisemitismus hingegeben hatten. Seit Luegers Zeit haben die Christlichsozialen immer den Rassenantisemitismus abgelehnt. Lueger ist deswegen mit Schönerer und mit allen kleineren Nachfahren Schönerers in Konflikt geraten. Dasselbe gilt selbstverständlich auch heute für uns. Wir Christlichsozialen sind auch keine Freunde von Ausnahmsgesetzen. Schon die Erfahrungen der Vergangenheit warnen uns davor, etwa zweierlei Kategorien von Staatsbürgern zu schaffen. Aber wir werden auf die junge Generation acht haben müssen und wir werden vielleicht in Zukunft mehr als bisher überall dort, wo ein gegnerischer Einfluß in unchristlichem und antichristlichem Sinne geltend wird, nicht nur in der Abwehr, sondern auch, soweit es notwendig ist, in der Offensive auftreten, um unserer eigenen Gesinnung und unseren eigenen Überzeugungen Raum und Bewegungsfreiheit zu schaffen.
Es ist nicht unsere Schuld, wenn aus dem kulturellen Gegensatze heraus der Antisemitismus neu belebt worden ist; es liegt beim Judentum selbst, diese Ursache zu beheben. Von dieser Stelle aus möchte ich an das Judentum appellieren. daß es nicht nur den Antisemiten das Studium der Judenfrage überläßt. sondern auch seinerseits mithilft dazu beizutragen, um zu einer Lösung dieser Frage zu kommen.
Das Vorbeigehen an diesem Problem hilft niemand. Wenn wir nicht rechtzeitig zu einer Lösung kommen, die wir vor unserem Gewissen verantworten können, dann werden sich Lösungen durchsetzen, die einen bedauerlichen Inhalt miteinschließen werden. Wir müssen, praktisch gesprochen, vor allem unserer jungen Generation helfen, in Berufe zu kommen. Man muß hier Mittel und Wege finden. Es ist ja, wenn auch der Vergleich nicht allzu wörtlich genommen werden darf, eine Analogie in unserem Inlandarbeiterschutzgesetz vorhanden.
Wir müssen Methoden finden, die, von jeder individuellen Willkür frei, objektive Merkmale aufstellen, um zu sichern, daß die vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten den Söhnen und Töchtern des christlichen Volkes unseres Landes in entsprechendem Ausmaße zur Verfügung stehen. Wir wollen niemandem das Recht zu leben und zu arbeiten verweigern. In Notzeit, in Arbeits- und Erwerbslosigkeit müssen aber auch die anderen verstehen, wenn das christliche Volk für seine leiblichen Kinder gesorgt wissen will. Geschieht hier rechtzeitig Hilfe und sieht die junge Generation den guten Willen, aus dieser Schwierigkeit Brücken in eine bessere Zukunft zu bauen, die doch einmal kommen muß und kommen wird, dann
find auch die Gefahren beschworen, die aus einem gewalttätigen Durchbruch dieses Zustandes für das allgemeine Wohl unseres Landes zu befürchten wären.
Ganz verfehlt ist jedoch der Versuch, das Gesetz über die Studentenschaftsordnung an den Hochschulen ausschließlich als den Ausfluss rassenantisemitischer Gesinnung zu betrachten. Gewiß besteht ein Zusammenhang zwischen der Judenfrage einerseits und der Studentenschaftsordnung anderseits, insofern die jüdische Frage in letzter Zeit in viel höherem Maße als früher eine nationale Frage geworden ist, als das nationale Bewußtsein im Judentum erwacht ist und in größerem Umfang als früher innerhalb des Judentums nach Geltung ringt, übrigens von der großen Welt durch die Balfour-Konvention ausdrücklich anerkannt worden ist.
Abg. Schmitz besprach nun eingehend die Grundsätze, von denen sich die Vorlage leiten läßt. Der Entwurf nehme als entscheidendes Merkmal
die Volkszugehörigkeit
an und gebe dabei von Abstammung und Sprache aus. Wenn Leuthner gemeint habe, dies widerspreche dem katholischen Prinzip, so möge auf das Buch des Weihbischofs Dr. Frint über Das sprachliche und sprachlich-nationale Recht, vom sittlichen Standpunkt aus beleuchtet und auf die noch vor dem Zusammenbruch des alten Österreich erschienene Schrift des Theologieprofessors Dr. Ignaz Seipel über Nation und Staat hingewiesen werden, auf die Lehrmeinungen maßgebender Geistesmänner der deutschen Katholiken zu dieser Frage, die uns Katholiken zweifellos bestimmender sind als die Meinungen der Sozialdemokraten. Abg. Schmitz fuhr fort:
Der Begriff Volkszugehörigkeit wird im Entwurf an die Abstammung und Sprache gebunden. Mit Recht, denn die Sprache allein genügt nicht. Es genügt nicht einmal das Bekenntnis zu der durch eine Sprache repräsentierten Kulturgemeinschaft. um zu sagen, man gehöre der betreffenden Nation an. Es genügt auch nicht die Abstammung allein. Das Wort Abstammung bedeutet nicht Rasse, und wenn in der Begründung zum Entwurf das Wort Rasse vermieden worden ist, so ist das gut. Die Rassentheorien von heute sind allzusehr noch dem Wandel der Lehrmeinungen unterworfen, als daß man sich darauf verlassen könnte.
Ich fürchte sehr, auch wenn nach Neuwahlen eine Anzahl Vertreter radialer Rassentheorien hier einziehen würde, müßte man doch bei einer Anzahl von ihnen die Aufnordung vornehmen (lebhafter Beifall bei den Christlichsozialen), weil sie vielleicht einen ostischen oder einen dinarischen Charakter in ihrem äußeren Habitus haben.
Wenn man nun einwendet, wie man Abstammung und Sprache erkenne, so will ich gerne zugeben, daß dieses Gesetz in gewissem Sinne noch ein Experiment ist. Dem Prinzip der Freiwilligkeit des Beitrittes, des Bekenntnisses zu einer nationalen Gemeinschaft entspricht aber selbstverständlich die Möglichkeit der Ablehnung durch die nationale Gemeinschaft, die sich gebildet hat. Es steckt darin eine Gefahrquelle, wir werden vielleicht, wenn vernünftige Vorschläge gemacht werden, um hier der Willkür vorzubeugen, dazu kommen, diese Gefahren zu beschwören. Auf dem begrenzten Gebiet dieser Vorlage ist es am leichtesten zu verantworten, wenn man einen solchen Versuch unternimmt. Deshalb soll man ihn unternehmen. Warum man dies tun soll, darüber kann man
in Seipels Buch „Staat und Nation“
ein sehr ernstes Wort nachlesen, wo Seipel nicht nur Staat und Kirche nebeneinandersetzt. sondern sogar Staat, Kirche und Nation. Seipel ist damals von den gemischtnationalen Verhältnissen im alten Österreich beeinflusst gewesen, wo die Nichtidentität von Nation und Staat sinnfällig war. Er hat eine Genugtuung erlebt. Auf den Nachkriegskongressen der Minderheitenvertreter wird diese Seipelsche Lehre als Hauptargument verwendet und als Auskunftsmittel, um dem MinderheitenprobIem näher zu kommen.
Wir Deutsche sind berufen, hier einen Schritt vorwärts zu tun. Das ist keine bloße Angelegenheit der Studentenschaft, das ist wirklich eine Angelegenheit der gesamten deutschen Nation, weil keine Nation so wie die deutsche durch die Friedensverträge zersplittert worden ist, weil keine Nation so wie die deutsche vom Schicksal zum Schützer und Helfer von Minderheiten ausersehen worden ist, daher auch vom Schicksal berufen ist, sich // um diese Minderheiten zu kümmern, die unter fremdnationaler Herrschaft stehen.
Man komme uns nicht mit dem Einwand, daß wir Katholiken, wenn wir grundsätzlich entschlossen sind, für dieses Gesetz einzutreten und alles aufzubieten, damit es auch Gesetzeskraft erlange, durch eine solche Haltung uns
gegenüber den jüdischen Konvertiten
versündigen würden.
[…]
Ich habe als christlichsozialer Sprecher ein Bekenntnis zum geläuterten Nationalbegriff abgelegt. Wir sind und bleiben Deutsche und haben es nicht notwendig, uns etwa von Internationalen über die Pflichten des Deutschtums belehren zu lassen. Wir österreichische Deutsche und unsere Vorfahren haben in Jahrhunderten härtester Kämpfe auf uns allein gestellt, bewiesen, daß sie nicht nur Kolonisten waren, die neues Land der deutschen Nation erobert haben, sondern daß sie dieses deutsch gewordene Land trotz aller Schicksalsschläge von Jahrhunderten
deutsch erhalten haben. (Lebhafter Beifall bei den Christlichsozialen.)
Wir österreichischen Deutschen haben nur ein mitleidiges Lächeln für die Leute, die
etwa jetzt aus nicht verdauten Rassentheorien heraus uns als minderwertige Deutsche hinstellen wollen. Vielleicht laden wir die Herren ein, unsere Stammbäume zu vergleichen (lebhafter Beifall bei den Christlichsozialen) um festzustellen, ob nicht das österreichische Deutschtum einen reineren Stammbaum auszuweisen hat, als manche von denen, die uns von draußen her jetzt belehren wollen, daß wir erst lernen müssen, Deutsche zu werden.
Wir sind und bleiben Katholiken, denen die katholischen Grundsätze maßgebend sind und die alle neuen Ideen zunächst vom weltanschaulichen Gesichtspunkte aus prüfen. Wir sind und bleiben auch stolze und selbstbewußte Österreicher. Wir fühlen uns als Teil der gesamten deutschen Nation. Die christlichsoziale Partei wird, geleitet von ihrer Überzeugung, unbeugsam an ihren Grundsätzen festhaltend, das ihrige tun, um dieses Gesetz in Kraft treten zu lassen. (Stürmischer, anhaltender Beifall bei den Christlichsozialen.)
In: Reichspost, 30. 4. 1932, S. 2-4.
N.N.: Vorschläge für eine Theaterreform
N.N.: Vorschläge für eine Theaterreform (1919)
Im Rahmen einer Broschüre, die soeben unter dem Titel Richtlinien für ein Kunstamt im Verlag von Richard Lanyi erschien und als deren Herausgeber der bekannte Wiener Architekt Adolf Loos zeichnet, werden sehr beachtenswerte Anregungen über die Aufgaben des zu errichtenden Kunstamtes erteilt. In das Tätigkeitsgebiet des Kunstamtes wird ebenso die Erziehung des Volkes und jene der Künstler, wie die Denkmalpflege, und zwar die Pflege der Kunst- und Kulturdenkmale, aber auch der Schutz der Naturdenkmale und der Landschaftsbilder einbezogen. Ganz besondere Beachtung verdienen die Ausführungen über die notwendige Theaterreform, in denen eine Reihe von konkreten Vorschlägen zu finden ist, deren praktische Durchführbarkeit wenigstens teilweise Gegenstand ernsthafter Erwägungen bilden sollte. Wir geben den Plan dieser Theaterreform im Wortlaut wieder:
Im Theaterwesen hat das Staatsamt die Grundlagen für eine Entwicklung der Theaterkultur festzusetzen, um der Kunst volle Freiheit zu sichern gegen Unternehmertum und Bevormundung jeder Art. Daß die Zensur verschwindet, ist selbstverständlich. An Stelle des Theateragenten tritt als Vermittler natürlich die Schauspielerorganisation.
Bei freiwerdenden Theatern großer Städte wird dem Staat ein Vorkaufsrecht zugesichert. Die vom Staat erhaltenen Theater teilen sich in zwei Gruppen: ständige Theater in Wien und Wandertheater für die Provinz.
Ständige Theater.
Das Hofburgtheater und die Hofoper sind vom Staat zu übernehmen und nach Bedarf, wobei die Gemeinde Wien sich mit einem Drittel zu beteiligen hat, zu subventionieren. Weder Staatsamt nach Gemeinde haben irgendeinen Einfluß auf die künstlerische Leitung der Theater.
Diese Theater dienen dazu, Werke der Bühnenkunst in größter Vollendung zur Aufführung zu bringen.
Jedes Schauspiel hat mit solcher Mühe und Sorgfalt, einem solchen Kostenaufwand in der Inszenierung und Besetzung zur Darstellung zu gelangen, daß dreißig Aufführungen innerhalb einer Saison die angewendete Arbeit und Kosten rechtfertigen. Dreißig Aufführungen eines Dramas entsprechen aber auch in sozialer Hinsicht dem geistigen Bedürfnis einer Zweimillionenstadt. Denn die Staatstheater müssen aufhören, die Privattheater des immer gleichen Publikums zu sein, das immer derselben Klasse angehört.
Wenn in Linz ein Drama zweimal gegeben wird, hat in Wien dasselbe Drama sovielmal mehr aufgeführt zu werden, als die Einwohnerzahl Wiens beträgt, soll die Aufführung für beide Städte die gleiche geistige Bedeutung haben.
Auf diese Weise kämen im BurgtheaterMaterialien und Quellen: Johannes Sachslehner: Ein Mythos wird angeschlossen. Zur Machtübernahme der Nazis im Burgtheat... jährlich zehn Stücke zur Aufführung. Diese Stücke sollen teils der leichteren Aufführbarkeit wegen (Dekorationswechsel), teils der Überanstrengung des Personals wegen (Rollenwechsel) wöchentlich abwechseln.
Die Preise der besseren Sitze sind wesentlich zu erhöhen, die rückwärtigen Parterresitze, die oberen Logen- und Galeriesitze wesentlich zu verbilligen.
Die Karten gelten auf Namen, sind unübertragbar und können im Verhinderungsfalle nur an der Kasse ausgetauscht oder zurückgegeben werden. Bei Beginn der Saison können für alle zehn Theaterabende die Karten gekauft werden, wobei Wünsche bezüglich des Termins angegeben werden. Man wird brieflich verständigt, in welchem Monat und an welchem Tage man die Vorstellung besuchen kann.
Durch diesen Modus soll nicht nur der Agiotage gesteuert werden, sondern auch die Festlichkeit des Staatstheaterbesuches erhöht, die Zusammengehörigkeit des Bürgers mit seinem Staatstheater gehoben und die geistige soziale Sorge des Staates für alle zum Bewußtsein gebracht werden.
Eine Eitelkeitssteuer für die, die immer dabei sein müssen, soll eine wesentliche Einnahmsquelle für die Staatstheater bilden. Für die Erstaufführungen der zehn Stücke möge jeder so viel zahlen als er will, so viel es ihm wert ist, dabei gewesen zu sein. Daher sind sämtliche Logen und Plätze zu verauktionieren, wobei der dreifache Preis als Aufrufpreis zu gelten hat. Für diese Aufführungen sei meinetwegen Ballkleidunq vorgeschrieben.
Das Repertoire einer Saison, die Auswahl dieser zehn Stücke ist Jahre vorher auszuarbeiten, damit sowohl die technischen Vorbereitungen mit aller Gründlichkeit durchgeführt werden können als auch Gastspielengagements für Rollen, die aus eigenen Mitteln nicht in der besten Besetzung erfolgen könnten, für eine Saison abgeschlossen werden können.
Als Beispiel für ein solches Jahresrepertoire diene folgende Erwägung: Ein Goethe, ein Schiller, ein Shakespeare, ein Franzose oder Spanier, ein Grillparzer, Hebbel. Kleist oder Lessing, ein Ibsen, ein Strindberg, ein Volksstück, zwei Lustspiele. Summe zehn Stücke.
Diese Stücke verschwinden nach Ablauf des Jahres für eine geraume Zeit vom Spielplan, um neuen Aufführungen Platz zu machen.
Auf diese Weise entfallen für die Staatstheater alle literarischen Experimente (Uraufführungen). Die Pflege des literarischen Nachwuchses sei den Privattheatern überlassen.
Hat ein Wiener Privattheater ein Stück erworben, es aufgeführt und eine Saison verstreichen lassen, ohne dieses Drama mindestens dreimal aufzuführen, so kann es vom Staatstheater zur Aufführung gebracht werden.
In Wien wird eine Versuchsbühne geschaffen, in der ohne jeden Zwang von Zeit zu Zeit Experimente der Dramatik und der Besetzung gewagt werden.
Wandertheater.
Es sind so viele Wandertheater zu errichten als notwendig ist. Der Zweck ist, in der Provinz solche Theaterabende zu veranstalten. wie sie sonst nur die Großstadt bieten kann. Bei jeder Provinztheaterverpachtung sind die erforderlichen Wandertheateraufführungen
vorzusehen. Der Direktor hat das Theater für diese Vorstellung kostenlos zu überlassen. Die Wandertheater haben nicht nur die Schauspieler, Komparserie und Mimiker, sondern auch alle Kostüme und Dekorationen m eigenen Wandertheaterzügen mitzuführen.
Die Wandertheater teilen sich in solche, die das große Ausstattungsdrama und in solche, die das intime Stück zu spielen haben. Eine weitere Teilung erfolgt durch den Stil des dramatischen Werkes, so daß Wandertheater für das klassische, das moderne Drama, das Volksstück, das Lustspiel aufzustellen sind.
Dilettantenvorstellungen.
Sie können, richtig unternommen, eines der wirksamsten Mittel einer wahren Volksbildung werden. Wie derjenige, der bei einer Orchesteraufführung mitwirkt, das Werk durch die vielen Proben gründlich kennenlernt und eine dauernde Erinnerung daran bewahrt, so geht es auch jedem, der bei einer Schauspielaufführung mitwirkt, statt sie nur zu sehen. Von Staats wegen muß einem geeigneten Schauspieler oder Regisseur der Auftrag erteilt werden, einen praktischen Kurs für Dilettantenregisseure zu eröffnen. der in erster
Linie für Universitätshörige gedacht ist, die dafür Interesse haben und sich an ihrem späteren Berufsort auch in dieser Weise bestätigen wollen.
In: Die Zeit, 13.4.1919, S. 9.
Richard Harlfinger: Ein Staatsamt für schöne Künste
N.N./[Richard Harlfinger]: Ein Staatsamt für schöne Künste (1919)
Im Namen der Vereinigung bildender Künstler Oesterreichs (Sezession) ersucht uns deren Präsident Herr Richard Harlfinger um die Aufnahme. nachstehender Zuschrift:
„Die wiederholten Äußerungen Ihres geschätzten Blattes betreffend die geplante Errichtung eines Staatsamtes für schöne Künste bildeten in einer Vollversammlung der Sezession den Gegenstand lebhafter Erörterungen, die mit dem einmütigen Beschluß endeten, die nach unsrer Ansicht irrigen Voraussetzungen, die jenen Äußerungen zugrunde lagen, öffentlich zu berichtigen. Die Hauptgründe, die gegen die Schaffung eines Kunstamtes geltend gemacht wurden, waren die gebotene Rücksicht auf die Staatsfinanzen und anderseits der Hinweis auf die bisher geübte Behandlung der künstlerischen Angelegenheiten durch den Staat, die in einem großen Staatswesen vollkommen, genügt habe und daher in unserem bescheidenen Lande um so mehr genügen werde.
Was die dringend nötige Sparsamkeit betrifft, so verschließt sich die Künstlerschaft keineswegs den dazu zwingenden Gründen. Wir find indes der Ansicht, daß ein solches Amt durchaus keines kostspieligen Verwaltungsapparats bedürfe. Die Hauptforderungen, die wir an dieses Amt stellen, sind vielmehr Selbständigkeit und Einflußnahme der Künstler selbst durch eine aus ihrer Mitte frei gewählte Vertretung auf alle seine Entscheidungen. Insoweit nun gerade diese grundsätzlichen Forderungen durch die bisherige Praxis nicht erfüllt wurden, erscheint uns zugleich deren Unzulänglichkeit und Unzweckmäßigkeit erwiesen. Die bisherige Kunstaktion befand sich in steter Abhängigkeit vom Unterrichtsministerium, dessen jeweiliger Leiter ganz andern politischen Rücksichten seine Stellung verdankte. An der Spitze des neuen Amtes dagegen müßte eine Persönlichkeit stehen, die, vollkommen dem politischen Treiben entrückt, mit dem Amte zugleich eine Lebensaufgabe übernimmt. Diese Stellung wäre denn doch zu wichtig, um sie lediglich einem kunstfreundlichen Beamten anzuvertrauen. Die Bedeutung der Kunst als eines unsrer wenigen Exportartikel ist ja auch in Ihrem geschätzten Blatte anerkannt worden. Wir zweifeln jedoch, daß dieser Artikel bisher stets so gefördert worden sei, wie es seiner Wichtigkeit entsprochen hätte. Warum stand Österreich immer so abseits vom großen Strom des künstlerischen Lebens? Warum wurden so viele Talente ins Ausland gezogen, wo sie der Heimat fast völlig entfremdet wurden? Künstlerschaft, insbesondere auch die Sezession, hat diese Verhältnisse wohl erkannt und ihnen nach Kräften zu steuern versucht. Aber wirksam und großzügig vermag dies nur der Staat durch eine Kunstpolitik. Und eben dazu brauchen wie ein selbständiges Kunstamt. Die Kosten dafür wären ganz keine übermäßigen und würden sich reichlich verzinsen. Denken wir nur an München, das seine Bedeutung zum größten Teil der systematisch betriebenen Kunstförderung verdankt und aus ihr nicht allein kulturellen, sondern auch einen kaum abschätzbaren materiellen Gewinn gezogen hat. Wir sprachen naturgemäß vorwiegend von der bildenden Kunst, aber auch auf dem Gebiete der Schwesterkünste würde ein derartiges selbständiges Amt am besten befähigt sein, die bisherige Bedeutung Wiens zu erhalten und damit seine Weltgeltung als Kulturzentrum zu schützen.“
In: Neues Wiener Tagblatt, 28.1.1919, S. 7.
D. Nebenzahl: Die neuen Staaten und die Judenfrage
N.N. [D. Nebenzahl]: Die neuen Staaten und die Judenfrage (1918)
Der Zerfall Österreichs schreitet immer weiter vor. Die meisten der auf österreichischem Boden gebildeten Nationalstaaten haben sich bereits konstituiert und die Nationalversammlungen haben die Regierung und Verwaltung ihres Gebiets übernommen. Wenn so in allen Nationen an Stelle der gänzlich versagenden Staatsgewalt eine neue Instanz tritt, so sind die Juden bisher ohne jede Interessensvertretung. Es ist daher notwendig, daß der jüdische Nationalrat so schnell als möglich seine Tätigkeit aufnimmt. Sowie für alle Völker muß auch für das jüdische Volk eine Volksregierung geschaffen werden, welche die oberste Gewalt in allen jüdischen Angelegenheiten für sich in Anspruch nimmt und ihre Legitimation in dem Vertrauen der breiten jüdischen Massen hat. Allerdings ist bei uns gegenüber den anderen Völkern der Unterschied, daß es sich nicht um die Verwaltung eines Territoriums handelt und daß das jüdische Volk in allen Gebieten vertreten ist und überall nur eine Minderheit bildet.
In: Jüdische Zeitung. 1.11.1918, S. 2.
N.N.: Die Hetze gegen den Film
N.N.: Die Hetze gegen den Film. (1923)
In dem in Bregenz erscheinenden Vorarlberger Volksblatt wurde in zwei Leitartikeln zur „Kinoreform“ Stellung genommen und wir müssen uns nur aus dem Grunde mit diesen Artikeln befassen, weil dieselben aus der Feder des Landesreferenten für das Volksbildungswesen stammen und daher erhöhte Aufmerksamkeit verdienen.
Wir waren bisher der Meinung, daß die Zeiten der lex Heinze endgültig vorbei seien, der geistliche Artikelschreiber belehrt uns eines besseren, denn in diesen Artikeln wird verlangt, daß so ziemlich alles verboten werden soll, was heute im Kino zu sehen ist. Im wesentlichen beschäftigt sich der Verfasser mit dem Lichtbilde, dessen Farblosigkeit er nebst dem Fehlen des Wortes bedauert und kommt zu einem Schlusse, der heute mehr denn je als komisch empfunden werden muß, wenn er sagt, daß die ernsten Kinoreformer jede Verfilmung eines guten Romanes oder Dramas grundsätzlich ablehnen. Daß dem nicht so ist, weiß jeder Laie im Kinofache – es braucht nicht separat auf die Verfilmung Nathan der Weise, oder Hanneles Himmelfahrt und Phantoms hingewiesen zu werden – zu genau.
Und die literarischen und ethischen Qualitäten Lessings und Hauptmanns wird dieser Landesreferent auch nicht anzutasten wagen. Und nach diesem Fehlschlusse, der schon die Kritikberechtigung des Artikelschreibers in Frage zu stellen geeignet erscheint, bezeichnet er das Kinodrama in seiner bisher üblichen Form als verwerflich, kritisiert mehrere Filmtitel, während jährlich hunderte von Films über die zappelnde Leinwand flimmern, versteckt sich aber dann sofort wieder hinter die „ernsten Kinoreformer“, mit der Forderung, daß alle Dramen kriminellen und sexuellen Inhaltes gesetzlich verboten werden sollen. Sein Filmparadies ist Pennsylvania in Nordamerika, denn da sind verboten: alle Darstellungen, die in irgendeiner Form den Mädchenhandel, die Verführung, Prostitution, geschlechtliche Dinge oder Geschlechtskrankheiten zum Gegenstand haben, alles, was sich auf Opium, Morphium und ähnliche berauschende Gifte bezieht, die Kunstgriffe, deren sich die Verbrecher gegen Leben und Eigentum bedienen, die Darstellung von Schlägereien, Hinrichtungen, Folterungen und chirurgischen Operationen, die Vorführung von Irrsinnigen und Fieberkranken, auch Darstellungen von Personen, die nicht geziemend bekleidet sind oder eine unanständige Haltung einnehmen; Darstellungen, die eine Rasse, einen Beruf oder eine Religionsgemeinschaft in verletzender Weise lächerlich machen, Darstellungen von Paaren, die in außerehelichem Verhältnis leben, Darstellungen, in denen Tiere gequält werden, in denen Schwerbetrunkene auftreten, in denen ungeziemende Zärtlichkeiten erfolgen oder irgendwelche Ausgelassenheit in Bädern und auf Bällen.
Man sieht, auch der Wahnsinn der »Kinoreformer« hat Methode. Es ist selbstredend lächerlich, so weitgehende Forderungen aufzustellen. Dieser Kinoreformer schlägt mit seinen Forderungen schon sehr gewaltig über die Schnur und seiner Weisheit letzter Schluß ist der Ruf nach der Zensur. Rotstift walte deines Amtes, damit – die Jugend nicht verdorben werde. Wir sind überzeugt davon, daß die Jugend nicht durch das Kino verdorben wird, denn jeder Film wird in Wien unter Berücksichtigung seiner Eignung für Jugendliche zensuriert. Der Zensurbeirat ist in einer Form zusammengesetzt, daß es außer allem Zweifel ist, daß die in demselben befindlichen Männer die Frage der Eignung eines Films für Jugendliche nicht in allererster Linie berücksichtigen würden und jede Zensurkarte trägt den Vermerk, ob der Film für Jugendliche geeignet ist, oder nicht.
Wenn der Verfasser des Artikels eine weitergehende Zensur fordert, so ist dies ein Übergriff, der lediglich auf hyperreligiöse Gründe zurückzuführen ist und kennt der Verfasser auch nicht die Psychologie des Kinopublikums. ln Wien wurde zu wiederholtenmalen der Versuch gemacht, Kinos für Jugendliche zu bestreiten; solche wurden einfach von der Jugend nicht besucht. Der Idealismus dieser Kinobesitzer kostete denselben viel Geld. Die Jugend hat für diese Films kein Interesse und will auch das Kino nicht als Fortsetzung der Schulbank gelten lassen.
Es gilt ja vom Kino dasselbe, wie von vielem anderen. Wer nicht Ins Wirtshaus oder ins Kaffeehaus gehen will, kann ebensowenig gezwungen werden, dort hin zu gehen, wie man einem Menschen zumuten kann, // ein Kino zu besuchen. Eines steht unbedingt fest. Die Filmzensur ist in Österreich so strenge, wie in keinem anderen Lande der Welt und entspricht selbst den puritanischesten Anforderungen. Aber eines kann sie ebenso wenig, wie die Zensur des Vormärz: das wirkliche Leben verbieten und Darstellungen des wirklichen Lebens in künstlerischer Form bringt das Kino. Die Hintertreppen- und Schundromanfilms werden sowieso nicht gekauft und nicht gespielt. Denn den Kinobesitzern bereitet die Vorführung eines gediegenen Films größere Freude als die eines Schauderfilms und sie selbst wirken durch ihre gediegene Auswahl selbst darauf hin, den Geschmack des Publikums zu verbessern und zu verfeinern.
In: Das Kino-Journal, 13.1.1923, S. 1-2.