Leopold Wolfgang Rochowanski: Formwille der Zeit (1922)

Wien 1922 (Auszüge; S. 10-11, 32-33)

[…]

Es gibt keine Arbeit von Cizekschülern, in der nicht der Atem, der Gedanke, die Triebkräfte unserer Zeit zu spüren sind.

             Der Unterricht [o altes Wort!] beginnt mit der Aufforderung, sich hemmungslos, mit der zügellosen Wildheit vorhandener Energien zu geben. Es entsteht: das Chaos. Aber schon die nächste Stunde ruft: Besinnung. Und die nächste Steigerung heißt: Ordnung.

             Schon die einleitenden Aufgaben sind eine prüfende Probe für das vorhandene Kraftvermögen des Schülers.

             Die Expression ist eine Besitzentleerung zum Besitz für andere, sagt Rubiner. Was nun folgt, ist ein gewaltiges fortwährendes Sichentladen. Zuerst kommt das Projizieren bestimmter Gefühle: Freude, Trauer, Neid, Sehnsucht, Erhabenheit, Kälte, Wärme. Alle Superlative von Leidenschaften. Das Ausschöpfen von Bewegungsenergien: Sprießen, Drängen, Treiben, Sprengen, Emporstreben [wobei zugleich die Differenzierung des Sprachgefühls zum Ausdruck kommt und kontrollierbar wird]. Die Empfindungen durchs Auge: Licht, Finsternis. Durchs Ohr: Straßengeräusche, Donner, Musik. Eine Verbindung psychischer, auditiver und visueller Eindrücke: Donner und Blitz. Durch die Nase: Blumenduft, Brand. Aus dem Für und Wider der Kräfte springt: der Kampf. Kampf der Ordnung gegen die Unordnung [Aber beliebter ist: Kampf der Unordnung gegen die Ordnung und das ist begreiflich aus der Zeit, denn auch die Unordnung hat ihre Ordnung und die Ordnung der Ordnung ist uns verhaßt// seit langem! Bei manchen Schülern allerdings wird es – wie Professor Cizek lächelnd feststellt – ein Kampf der Unordnung gegen die Schlamperei]. Ewiges Kräftespiel, Auf und Ab, Überrennen, Überstürzen, Härte gegen Weichheit, Gut gegen Böse, Licht gegen Dunkelheit.

             Rhythmus. Neuer Rhythmus. Bei seiner rein gefühlsmäßigen Gewinnung kommt der Musik dienende Bedeutung zu. Darum fehlt die Musik in dieser Schule fast niemals. Nicht nur, daß Musikstücke gezeichnet und schöne kleine Kapellen aus Geigen, Flöten, Waldhorn und Cellis zusammengestellt wurden, – über jede Unterrichtsstunde fließen die Rhythmen der Töne. Entweder singt einer Volkslieder [oft sehr ernste, traurige, die tiefe Ergriffenheit und Sichbesinnung bringen], oder ein Mädchen zupft lustig die Laute oder einer unterbricht seine Arbeit, setzt sich an das stets bereite Klavier und paraphrasiert seine Arbeit in Tönen zu Ende. Musik. Rhythmus.

[…]

[…] Kinetismus von ϰίνειν = bewegen. Bisher war alles Stilleben, nicht bloß die Rüben, Krautköpfe, Äpfel, Schinken und Weinbecher, die uns noch immer serviert werden, sondern auch der Mensch. Nun soll das Leben, die Bewegung gewonnen werden. Die Bewegung der Objekte: Erdbeben, Sturm, das rollende // Rad. Dann unsere Bewegung durch die Objekte [die sich auch bewegen können] hindurch: die Fahrt durch die Straßen mit eilenden Menschen.

             Wir kommen also zuerst zur Wiedergabe des rhythmischen Ablaufes einer Bewegung. Weiters zur Häufung von Bewegungseindrücken. Schließlich zur Vereinigung beider.

             Hinter dem Kinetismus aber steht noch vielmehr, weit Größeres als das Ausdrücken der Bewegung. Es ist kein Zufall, daß seine Geburt gerade in diese Zeit fiel. Die Gedanken darüber kommen, wenn man sich in die eine Keramik von Georg Kolb oder in die Zeichnung „Erwachen“ von Erika Giovanna Klien vergräbt. Unsere egozentrischen Gedanken [ich spreche nur von Menschen] sind erschlagen, wir leben nicht mehr für uns, unsere Liebe ist ausgezogen, sucht stündlich die anderen da draußen, läuft hinauf nach Hammerfest und hinab nach Feuerland, überallhin, in die entlegensten Hütten und unsere zwei Hände sind zu wenig, sie hinzureichen, wir brauchen mehr, und unsere zwei Wangen sind zu wenig, sie hinzulegen auf die Wunden der andern, wir brauchen mehr, und unsere zwei Augen sind zu wenig, alles zu sehen und zu melden, wir brauchen mehr!

                                        Stehen nicht mehr in Scham

                                        vor Blume und Baum,

                                        vor schweigender Größe.

                                        Gelöst aus endlosem Ängstezaum

                                        geben wir uns,

                                        teilen wir uns

                                        überallhin.

Robert Musil: Intensismus (1926)

             Verschwenden Sie nicht viel Zeit an die Kunst! Setzen Sie sich kurzerhand an die Spitze der Kenner! Ich gebe Ihnen dafür zwei Regeln.

             Erklären Sie ein Bild, das Ihnen nicht gefällt oder das Sie nicht verstehen, unter allen Umständen für veraltet. Fügen Sie nichts hinzu, was daraus schließen läßt, ob Sie es für zweites oder zwanzigstes Jahrhundert, für ein Aquarell oder einen Holzschnitt gehalten haben. Denn darüber läßt sich streiten.

             Zweitens, behaupten Sie, wenn man Sie nach den Gründen dieses Urteils frägt, die Malerei der Zukunft sei der Intensismus. Und wenn man Sie frägt, was das sei, verweigern Sie die Antworte und sagen, das verstände sich von selbst.

             So macht man es nämlich immer. So hat es der Impressionismus gemacht und der Expressionismus. Ich sage Ihnen natürlich nicht, was diese beiden Worte bedeuten; das geht Sie glücklicherweise nichts mehr an. Und wenn ich Ihnen über den Intensismus etwas mehr andeute, so geschieht es nicht, um Ihnen eine Vorstellung von ihm zu geben – denn wenn die Anhänger einer Bewegung eine klare Vorstellung von ihr hätten, so würde das jeden Schwung lähmen –, sondern weil Sie das Gefühl empfangen sollen, daß diese kommende Kunst die Malerei Ihrer Nerven, Ihres Willens, Ihrer Vitalität sein wird: diesen Beschluß müssen Sie bewahren, alles übrige vergessen.

             Man hat früher größere Bilder gemalt als heute. Das kam davon, daß damals die Wohnungen größer waren. Sie sehen, wie einfach Kunstregeln sind.

             Als man in Burgen wohnte, bedeckte man ganze Wände mit einem Bild. Später, als man ein Haus bewohnte, hatten die Bilder nur noch die Größe von höchstens 1,50 mal zwei Metern. Heute können selbst schwere Leute nur Wohnungen von ein paar Zimmern kaufen, die halb so hoch sind, als sie früher waren, und die Bilder haben demgemäß ein Format von bloß 1:0,8 Metern; und wenn, was vorauszusehen ist, die Bautätigkeit in Europa noch lange stockt so werden die Bilder noch kleiner werden.

             Sie sind aber im Verhältnis nicht billiger geworden. Daraus folgt, daß der Grund und Boden des Bildes teurer, die Bodenrente per Quadratzentimeter Bildleinwand größer geworden ist und die gleiche geistige Rentabilität eine intensivere Bewirtschaftung der Leinwand verlangt. Dies ist die eine Wurzel des Intensismus.

             Als zweites verlangt ihn die psychische Energie. Betrachten Sie eine Landschaft, so finden Sie gewöhnlich ein Drittel, wenn nicht die Hälfte des Bildes von Luft oder Wasser bedeckt. Solche Bilder sind gewissermaßen Brachland. Überdies ist nicht zu bestreiten, daß schon ein Quadratzentimeter, blau bestrichen oder gar mit einer Anmerkung versehen, vollauf genügt, um uns wissen zu lassen, daß Himmel oder Wasser beabsichtig sei; jeder Mensch weiß, wie sie aussehen, etwas Neues ist daran nicht zu zeigen, es handelt sich einfach um eine Verschwendung durch gewohnheitsmäßigen Schlendrian. Das gleiche finden Sie natürlich auch, wenn Sie ein Porträt betrachten. Der Maler füllt nicht das ganze Bild mit Ihnen aus, sondern spart sich einen Hintergrund aus, der mindestens die Hälfte ausmacht. Er könnte ja beispielsweise Sie zweimal malen oder Sie und dahinter Ihren Konkurrenten malen, wie Sie ihm den Fuß auf den Nacken setzen, den großen Tag, wo alle Effekten in die Höhe sprangen, oder den schwarzen Tag, wo alles schief lag. Scheuen Sie sich nicht vor solchen Forderungen; allen wahrhaft ursprünglichen Epochen der Kunst waren sie ganz natürlich. Denken Sie daran, daß man mehrere Bilder ineinander malen kann; aber ich will nicht vorgreifen, diese Kunst entwickelt sich bereits von selbst. Halten Sie also bloß still an dem Wunsch fest, daß sich die Malerei bald wieder Rennpferden, Jagdbildern, Automobilen, Flugzeugen und allem, was Sie wirklich schön finden, zuwenden möge und verlangen Sie vorläufig, daß mit den unausgenützten Geistflächen Schluß gemacht werde.

             Intensivstes Leben im kleinsten Bildteil, nervöse Fläche, Einleitung der siegreichen Energie des modernen Lebens in den Bildrahmen: das ist der Intensismus! Wenn Sie irgendetwas sehen, das schon dahin weist, dann sagen Sie nichts als: Aber das ist ja intens! Wenn Ihnen das schwer fällt, so nehmen Sie immer Ihre Frau Gemahlin mit, die wird es treffen.

In: Prager Tagblatt, 17.12.1926, S. 3, Rubrik: Kunst und Leben

N.N. [ -s]: Junge Kunst (1920)

             Unter dem vielen Neuen und Ungewohnten, das der gründliche Umsturz nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch auf allen Gebieten des Geistes- und Kulturlebens mit sich gebracht hat, stoßen auch die neuen Erscheinungs- und Ausdrucksformen des modernen Kunstwillens vielfach auf starken Widerspruch, der wenigstens im Kreise der Gebildeten durchaus nicht immer einer philiströsen grundsätzlichen Ablehnung alles Neuen entspringt, sondern dem mehr oder weniger deutlichen Gefühle, daß sich unter den neuen Kunstpropheten noch zu viele falsche und solche, die selbst noch nicht wissen, was sie wollen, befinden. Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, daß die Gesetze der fortschreitenden Entwicklung alles Seienden auch die Kunst Geltung haben und daß also auch hier ein Wandel möglich, ja notwendig und der neue Geist über den alten zu siegen berufen ist. In diesem Sinn begegnet der Wille zu einer neuen Kunst sicherlich auch im gebildeten Publikum sogar einem latenten Bedürfnis oder mindestens einem mehr oder minder bereitwilligen Verständnis, das viel weiter verbreitet ist, als man gemeiniglich zu glauben scheint. Was trotzdem zu Widerspruch und Ablehnung reizt ist also nicht der in der neuen Kunstrichtung sich offenbarende revolutionäre Geist an sich, sondern vielmehr die oft recht willkürlich scheinende Gewaltsamkeit seiner Ausdrucksmittel, deren Berechtigung oder Richtigkeit von den Künstlern ebenso wenig begründet wie vom Publikum erkannt werden kann. Vorläufig wenigstens. Beide Teile fühlen sich im Rechte und sind es jeder von seinem Standpunkte aus, vielleicht auch. Vom Künstler wie vom Laien verlangt diese neue Richtung ein so radikales Umlernen, daß man sich nicht wundern darf, wenn jener im Ausdruck dessen, was er fühlt und was er uns mitteilen will, selbst noch unsicher und unklar ist, und dieser gar oft das, was ihm als die neue Kunst vorgesetzt wird, noch nicht ohneweiters bejaht, weil er „lange zur stärkster Kultur kondensierte Entwicklungen mit einem Male negiert“ sieht, als wäre sie nie dagewesen.

             Es geschähe aber den ehrlichen Vorkämpfern dieser neuen expressionistischen Kunst ein großes Unrecht, wollte man verkennen, „daß diese Kunst, die so vieles nicht sagt, nicht zu sagen vermag und nicht sagen will, was eben noch hochgehaltenes Gemeingut der künstlerischen Sprache war, daß sie ihrerseits viel Neues, Bedeutsames, in die Tiefe Greifendes zu sagen weiß, das eben diese alte Sprache gar nicht sagen konnte, das gar nicht im Bereich dieser alten Sprache lag.“

             Wir zitieren hier aus einer kleinen Monographie Lothar Briegers über einen der extremsten Expressionisten: Ludwig Meidner, der sich als Maler wie als Schriftsteller in bewußten krassen Gegensatz zur Tradition und Konvention stellt. Das genannte Buch gehört einer Serie von ähnlichen Monographien an, die im Verlag von Klinkhardt & Biermann unter dem Sammeltitel „Junge Kunst“ erschienen ist und noch fortgesetzt werden soll. Diese Bücher stellen einen ebenso interessanten wie dankenswerten Versucht dar, in das Wesen der neuen Kunst, das im Willen zur reinen Geistigkeit und zum freien Schöpfertum beruht, einzuführen, es zu erklären und an der Hand verschiedener Beispiele, die von den verschiedenen Trägern der neuen Ideen gegeben sind, alle seine Ausdrucks- und Deutungsmöglichkeiten darzutun und objektiv zu werten, kurz: sie wollen, wie der Verlag selbst sagt, „dem ungeheuren Bildungsbedürfnisse auch der breiten Massen entgegenkommen und die Werke einer expressionistischen Kunstrichtung, die ihrerseits Niederschlag und Ausdruck einer neuen Weltanschauung sind, dem Bewußtsein der Gegenwart nahebringen.“ Bisher sind außer dem schon genannten noch folgende Bände erschienen: Max Pechstein (von Georg Biermann), Paula Becker-Modersohn (von C. E. Uphoff), Bernhard Hoetger (vom vorgenannten), Cesar Klein (von Theodor Däubler), Franz Heckendorf (von Joachim Kirchner), Rudolf Großmann (von W. Hausenstein), Hugo Krayn (von Karl Schwarz).

[…]

             Als sehr wertvollen einführenden Beitrag hat der Verlag in gleicher Ausstattung eine sehr klug und verständig geschriebene Abhandlung von Prof. Dr. Franz Landsberger über „Impressionismus und Expressionismus“ erscheinen lassen, die sich mit den modernen künstlerischen Fragen, mit den Stärken und Schwächen der jungen Kunst mit vorurteilsloser Sachlichkeit und kritischem Scharfblick auseinandersetzt. Wie viele andere ehrliche Freunde jeder fortschreitenden künstlerischen Entwicklung warnt auch Prof. Landsberger bei aller Anerkennung größter Freiheit vor allzu einseitiger Betonung des Ausdrucks auf Kosten der rein formalen Gestaltung. Er weist darauf hin, daß (wofür die die hier erwähnten Bücher Beispiele geben) die rein formalen Prinzipien, deren sich kein Kunstwerk entheben darf und die näher zu bestimmen Sache der Aesthetik ist, in bedeutenden Werken des Expressionismus ebenso befolgt werden wie in den Kunstwerken aller Zeiten. Aber es besteht, sagt Prof. Landsberger, die Gefahr, „daß ein gar zu ungestümes Ausdrucksverlangen sich nicht mehr die Ruhe zu klarer Gestaltung nimmt, und solcher chaotischer Gesinnung gegenüber ist daran festzuhalten, daß, wenn im Kunstwerk schon der Schrei des Ursprünglichen gehört werden soll, er in unseren Ohren doch wie Musik ertönen muß.“

             Wie überall, so macht sich auch in der neuen Kunst ein unberufenes Mitläuferstum breit, das von einem ernsten Wollen, der Kunst zu dienen, weit entfernt, nur die Modekonjunktur auszunützen und seine Unfähigkeit hinter extremem Bluff zu verbergen sucht. Es mag eine weitere dankbare Aufgabe der genannten Publikationen des Verlages Klinkhardt  & Biermann sein, dem verwirrten Publikum eine Unterscheidung zwischen den wahren und falschen Propheten des Expressionismus, zwischen seinen berechtigten Entwicklungsformen und seinen Auswüchsen zu erleichtern.

In: Innsbrucker Nachrichten, 30.4. 1920, S. 7.

Ernst Fischer: Neue Kunst (1920)

             Bis zum Ekel haben Dichter, Maler, Musiker, Schauspieler, Künstler und Intellektuelle jedes Grades und jeder Schattierung versucht, immer wieder versucht, Kunst an sich, ohne jede Relation, als etwas Wertvolles, für sich Bestehendes, als rein formale Gestaltung, ohne weiteren Zweck, hinzustellen. Diese Tendenzen finden wir bezeichnenderweise immer in Zeiten, die zermürbt, aufgelockert, müde und verfallend sind, fröstelnde Abendröte morschender Kulturen vergehender Gesellschaften. Die Kunst starker latenter Zeitalter, scharfumrissener Gesellschaftsbildung, selbstbewußter Klassen ist nichts anderes als geschlossener, konzentriert geballter Ausdruck der Zeit, ist im Spiegel das Erlebnis der Zeit (denn jede Zeit hat ihr eigentümliches Erlebnis) und, in ihrer höchsten Form, Deutung, Verklärung der Zeit, Ausblick und Überschwang. Dies ist eine historische Tatsache; starke Zeitalter (Griechentum, Gotik, Renaissance in Italien, England, Spanien, Frankreich) haben starken, eigenwilligen Stil, haben eine Kunst, die in ihren Ideen, ihrer Logik, ihrem inneren Aufbau, ihren formalen Ausdrucksmöglichkeiten nichts ist als Information des Zeitalters, eines bestimmten Grundwillens, der sich gleicherweise ausspricht, in Staat, Gesellschaft, Religion, Philosophie, in allem Größten und Kleinsten.

Aus dieser historischen Tatsache erhellen unmittelbar Wesen und Zweck der Kunst. Ein Volk, eine Gesellschaft – oder, noch richtiger: die herrschende Klasse eines Volkes, einer Gesellschaft, die kräftigste, geschlossenste, bewußteste, die der ganzen Zeit ihr Gepräge gibt, will sich selber, ihr Wesen, ihr Wollen, ihren historischen Sinn im vereinfachten Bilde erkennen, aus diesem Erkennen sich selber steigern, sich selber bereichern, sich stärken an ihrem eigenen Wesen, sich entflammen zu dem, was ihre historische Sendung ist.

Wir nehmen ein typisches Beispiel. Die französische Tragödie um die Zeit Ludwigs XIV. Herrschende Klasse war der kriegerische Adel des Landes, der, erst kürzlich seiner unbändigen politischen Macht beraubt, sich allmählich umbildet in einen höflichen Adel. Der Dichter dieser Zeit ist Corneille. In seinen Dramen verherrlicht er alle starken, umgebrochenen Instinkte des Edelmannes, diese Instinkte zu Tugenden verklärend. Das Ideal der Zeit wird uns die Verbindung von Held und Hofmann. Mut, Entschlossenheit, Königstreue, Ritterlichkeit, eine gewisse Erhabenheit der Gesinnung – aus diesen formt sich das typische Erlebnis der Zeit. Man verstehe nun ferner, daß im Künstler stoffliches und formales Erleben untrennbar verbunden sind. An einem Hofe, der um ein Zentrum, den absoluten Monarchen, erst kürzlich gebeugte Fürsten, Grafen und Ritter vereinigt, ihre stolzen und störrischen Instinkte durch ein strenges Zeremoniell bändigend, konnte nur die Tragödie, das Drama herrschende Kunstform werben. Und zwar das klassisch geschlossene, starren Regeln unterworfene Drama, dessen strenge Form die starken Leidenschaften der Handlung bändigt. So fand das Publikum, bestehend aus den Herren des Hofes, sein Schicksal gespiegelt in den Dramen, die vor ihm aufgeführt wurden. Dieses formale Gestalten der Zeit erstreckt sich natürlich bis auf die Sprache, deren ursprünglich saftige Kraft in dem strengen und feierlichen Prunk des alexandrinischen Versmaßes erstarrt. So ergreift uns Ahnung der Lust, die jener Hofstaat angesichts jener Kunstwerke empfand.

Dies Beispiel ist eines von Tausenden. Ich möchte noch, zum besseren Verständnis, auf Zola verweisen, dessen Romane ich als bekannt voraussetze. Dieser gewaltige Künstler steht am Tor einer neuen Zeit, in ungeheuren Visionen ihr tiefstes Wesen erkennend. Das Erlebnis dieser Zeit ist das Eintreten der Urbereitschaft in die Geschichte, die, als innerlich stärkste Klasse, ihre historische Sendung beginnt. Das künstlerische Erlebnis dieser Zeit ist das Erlebnis der Masse, die sinonyme Kunstform der Romane. Nur im Roman ist es möglich, die Masse künstlerisch widerzuspiegeln, formal auszudrücken.

Diese beiden Beispiele mögen genügen, das Wesen einer starken Kunst zu erläutern. Alles andere, das diesen großen, historischen Gesetzen nicht entspricht, ist nur Literatur. Neben den wenigen Künstlern läuft immer das Pack unzähliger Literaten, die dann gefährlich werden, wenn sie Talent besitzen. Sie betrachten ihr Talent nicht als eine Verpflichtung, es der Gesellschaft nutzbar zu machen, sondern als einen Freibrief, ihr auch lästig zu fallen.

Und nun die Frage: Wie stellt sich unsere Zeit bar im Spiegel der Kunst?

Es ist wesentlich leichter, diese Frage für vergangene Epochen der Geschichte zu beantworten. Die Distanz ermöglicht es, zwingt uns sogar, nur das Große, Bedeutsame, Wesentliche zu betrachten, das Überflüssige zu vermeiden. In der Gegenwart kann es uns leicht geschehen, die Kunst über dem Wucherwerk der Literatur zu übersehen. Immerhin sind starke Stimmen vernehmbar, selbst durch das Gebrodel der hundert schwachen hindurch, wenn auch das Katzenkonzert der Literaten uns jedes Zuhören verekeln könnte. Eine weitere Schwierigkeit, ein klares Bild zu gewinnen, liegt darin, daß unsere Zeit überhaupt keine Zeit klarer Bilder ist.

Immerhin: wer sich etwas mit Kunst beschäftigt hat, erkennt zwei wesentliche Faktoren: Masse und Rhythmus. Und ich glaube, wir haben es hier tatsächlich mit den beiden Faktoren zu tun, die das typische Erlebnis unserer Zeit bedingen. Auf einer Seite das rasende Tempo der Schnellzüge, Automobile Aeroplane, der Maschinen und technischen Ungeheuer – der stählerne Pulsschlag fiebernden Blutes – auf der anderen Seite die Tatsache, daß sich die große Masse als Masse fühlt, daß jenes viel mißbrauchte Wort vom „sozialen Gewissen“ Wirklichkeit wird.

Die Arbeiterschaft, das Proletariat, ist die Waffe, die der Zeit ihr Gepräge gibt, die Revolution in jedem Sinne ist das entscheidende Ereignis.

In diesem Zusammenhange muß die moderne Kunst gewertet werden. Ihr Inhalt ist die Revolution, ihre Form ist ebenfalls – die Revolution. Und wenn wir, mit einer gewissen Skepsis vielleicht, das Aufschießen unzähliger neuer Kunstrichtungen beobachten, erkennen wir doch das eine: die Künstler fühlen, es hat eine neue Zeit begonnen. Diese neue Zeit verlangt gebieterisch neuen Ausdruck. Man mag über Expressionismus, Futurismus und wie diese -ismen alle heißen, denken, wie man will – eines darf man nicht unterschätzen: Es ist ein ehrlicher Wille, der hier, oft unter Krämpfen, oft unter Fieberzuckungen, um das Neue kämpft. Es sind die Geburtswehen einer neuen Kunst. Diese Kunst wird und muß, wenn sie erst klar in Erscheinung tritt, Spiegel der Revolution, Ausdruck des Proletariats, Information einer neuen Gesellschaftsordnung sein.

Dies wird geschehen, trotz aller Salonexpressionisten und Kaffeehausmystikern, trotz aller hysterischen Ästheten und Konjunktursozialisten trotz aller Literaten, die sich um neue „Kunstrichtungen“ raufen und sich redlich bemühen, die Kunst in Tinte zu ersäufen – dies wird geschehen, weil es geschehen muß.

Das Proletariat wird seine Kunst haben, wie es seinen Staat, seine Gesellschaftsordnung, seine Welt erkämpfen wird, weil es heute die einzige Klasse ist, die um Gestaltung einer neuen Idee ringt.

In: Arbeiterwille, 9.11.1920, S. 9.

V. Eggeling, R. Hausmann: Zweite präsentistische Deklaration (1923)

Gerichtet an die internationalen Konstruktivisten

             Im ersten präsentistischen Manifest erklärten wir den Aspekt einer Welt, die real ist, eine Synthese des Geistes und der Materie. Wir streben wieder nach der Konformität mit dem mechanischen Arbeitsprozeß. Wir fordern die Erweiterung und Eroberung aller unserer Sinne; wir werden in der Optik weiterschreiten bis zu den Grundphänomenen des Lichtes. Wir sprachen es unzweideutig aus: Unserer Aufgabe ist es, gegen die Allerweltsromantik in ihrer letzten und feinsten Form noch zu kämpfen wir fordern ein Ende des kleinen Individualistischen und wir erklären, daß wir die Forderung nach einer Erweiterung und Erneuerung der menschlichen Sinnessemanationen nur erheben, weil ihr die Geburt eines unerschrockenen und unhistorischen Menschen in der Klasse der Werktätigen vorangegangen ist! Und nun wenden wir uns gegen die Deklaration der ungarischen Konstruktivisten im „Egység“ und rufen ihnen und den internationalen Konstruktivisten überhaupt zu: Unser Arbeitsgebiet ist weder der Proletkult der kommunistischen Partei noch das Gebiet des l’art pour l‘art! Der Konstruktivismus ist eine Angelegenheit der russischen Malerei und Plastik, die die ideoplastische (gehirnlich-nützliche) Einstellung des Ingenieurs als Spiel mit beliebigem Material nachahmt und damit weit unter der Ingenieursarbeit rangiert, die funktionell und erzieherisch ist. Versuchen wir auch keine intellektuelle Einwirkung auf das Proletariat, bevor wir uns über unsere Rolle als Deklassierte klar geworden sind. Unsere Aufgabe ist es, im Sinne einer universalen Verbindlichkeit an den physikalischen und physiologischen Problemen der Natur und des Menschen zu arbeiten und wir werden unsere Arbeit dort beginnen müssen, wo die moderne Wissenschaft aufhört, weil sie inobjektiv ist, weil sie nur das System der Ausbeutungsfähigkeit verfolgt und fortwährend Standpunkte einnimmt, die einer erledigten Zivilisationsform angehören. Wir haben voraussetzungslos und unvoreingenommen die ersten Schritte einer Naturbetrachtung zu unternehmen, die die Physik und Physiologie auf ihre eigentliche Wirkungsebene bringt, im Sinne einer kommenden klassenlosen Gesellschaft, ohne dabei in Utopismus zu verfallen, und völliger Klarhiet über die noch innerhalb der bestehenden Gesellschaftswissenschaft und ihrer Methoden zu leistende Destruktionsarbeit. Wir haben die Zeit eines objektiven und positiven Aufbaues nur vorzubereiten, weil wir aus der Bedingtheit unserer Welt nicht hinaustreten können und wollen.

             Unsere sinnesphysiologische und formfunktionell-physikalische Orientierung stellt uns im Gegensatz zu den bisherigen Techniken und Künsten vor die Einsicht, daß kein menschliches Erfahrungs- und Arbeitsgebiet um seiner selbst willen da ist, es ist in jedem ein analytisches Vorgehen im Unterbewußtsein über die Organmängel und Funktionshemmungen der menschlichen Psychophysis gebunden; dieses Tasten muß, in die Bewußtheit gerückt, eine unterste Annäherungs- und Ausgleichsgrenze zur Steigerung der somatischen Funktionalität ergeben. Von hier aus gesehen, ist die Maschine kein Apparat zur bloßen Ökonomisierung der Arbeitsleistung und die Kunst als einziges Produktionsgebiet, auf das das Kausalitätsprinzip keine Anwendung finden kann, trotzdem das Gesetz der Erhaltung der Energie auch dafür gilt, verliert ihren Charakter des Nutzlosen und Abstrakten. Die universale Funktionalität des Menschen verändert die Gesamteinstellung aller Arbeitsgebiete im Sinne erdatmosphärischer Bedingtheit und Notwendigkeit. Hieraus ergibt sich die dynamische Naturanschauung und die allgemeine Erweiterung aller menschlichen Funktionen, eine Anschauungsform wird geschaffen, die sich von der Dreidimensionalität als allzumenschlicher Hilfskonstruktion loslöst, ebenso wie sie die Vorstellung von der Trägheit aller Materie ablehnt. Der Generalnenner aller unserer Sinne ist der Zeit-Raum-Sinn. Die Sprache, der Tanz und die Musik waren Höchstleistungen der intuitiven Zeit-Raum-Funktionalität, und die Optik, Haptik etc. müssen auf einem neuen Wege nachfolgen, für den Ernst Marcus im Problem der exzentrischen Empfindung wichtige Vorarbeit geleistet hat. Das Zentralorgan Gehirn ergänzt gewissermaßen einen Sinn durch den andern, es vervollkommnet jeden durch gegenseitige Schwingungssteigerung unter Zeitübereinstimmung der Größe von Frequenz und Amplitude. Die dynamische Naturanschauung kennt hierfür nur ein Funktionalitätsprinzip der Zeit, die als kinetische Energie Raum und Materie bildet.

In: MA 8 (1923) H. 5, S. 6.

Ludwig Kassák: Bildarchitektur (1922)

             Bewegung ist Leben. Die ewige Bewegung des Lebens ist mit der ewigen Neuerzeugung und Erhaltung des Gleichgewichtes gleichbedeutend. Denn das ewig bewegliche Leben bedeutet letzten Endes nicht die Mannigfaltigkeit der Bewegung, sondern den Zustand einer aus der konstruktiven Bewegung der Weltkräfte sich ergebenden, immer neuen, mithin unendlichen Stabilität. Jede lebendige Konstruktion oder Organisation, deren innere Kraftbewegungen aus welchen Gründen auch immer stillstehen, fällt tot zusammen, verliert ihre dominante Gegenwart, ihr Symbolsein. Wir sehen also, daß der Exponent des Lebens die Bewegung, die Gesamtheit der Bewegung aber die Stabilität, das universale Leben ist. Auch der Mensch verdankt sein Dasein der Kraft der Bewegung: er wurde lebensfähig, mit beweglichen Kräften erfüllt, mitten unter die sich außer ihm bewegenden Kräfte als ebenfalls bewegliche Kraft versetzt. Und wir sehen im Organismus des Menschen den unaufhörlichen Kampf der physischen und psychischen Kräfte um den „normalen Zustand“, um das das Leben bedeutende Gleichgewicht, wie wir auch den Kampf der Revolutionen und Konterrevolutionen um das soziale Gleichgewicht sehen. Unser Zeitalter ist eine Periode der losgelösten und irren Bewegungen. Der Mensch unseres Zeitalters ist der verzweifelte Mensch. Die Kunst des heutigen Menschen ist die dynamische Kunst. Sie ist eine Bewegung, die zuweilen als Reaktion der Gegenbewegung, zuweilen als Bewegung um sich selbst willen auftritt. Diese Phase der Kunst wurde als Erfühlen des Lebens durch den Futurismus eingeleitet, fand ihre Fortsetzung mit gesteigerten ästhetischen Ansprüchen im Suprematismus und lebte zuletzt als aggressiv angreifende, ja eroberungslüsterne Kraft im Proun fort. In all diesen künstlerischen Bestrebungen ist noch alles um der Bewegung willen da, ihre Farben- und Formgesetze bedeuten die Gesetze der Bewegung, die Bewegung als Element des Schaffens und nicht das Schaffen selbst. Statt Synthese Analyse. Aber Kunst ist Schaffen, sie ist Synthese der konstruktiven Bewegungen, ein neues Gleichgewicht in der großen Lebensdynamik als Dokument dessen, daß wir mit unserem Willen und Sicherheitsgefühl zur Erzeugung eines neuen stabilen Punktes da sind. Auf die Suche nach diesem stabilen Punkte zog der Kubismus aus. Er verlor sich in seinen kompositionellen Doktrinen, schuf aber die Grundlage des plastischen Bewußtseins und des architektonischen Gefühls des neuen Menschen. Während also der Futurismus die Bewegung als ernährendes Element des Lebens entdeckte und das Proun die Konstruktivität der Bewegung fand, deutete der Kubismus auf die Möglichkeit der Stabilität, auf die neue Architektur hin. Auf die auf konstruktiver Basis beruhende Architektur, als synthetische Möglichkeit des künstlerischen Suchens unserer Tage. Der Kampf um die neue konstruktive Architektur schlug zwei Wege ein: im Raume und auf der Fläche. Erstere ist Baukunst, das zweite Bildarchitektur. Der Suprematismus setzte in der Malerei „den letzten Punkt über dem Buchstaben l“. Und die Bildarchitektur versucht, mit der Schwungkraft des Proun ihre ersten Schritte nach der Architektur als der einzigen, stofflich und geistig konstruktiv-kollektiven Kunst. Die Kraft der Bildarchitektur, sowie des Lebens selbst wird durch die Bewegung gegeben, sie selbst aber stellt bereits das Ergebnis der Bewegung, die Stabilität, dar. Und deshalb sehe ich in der Bildarchitektur fortan nicht die in den suchenden Künsten vorherrschenden Stoff-, Form- und Farbenprobleme, sondern den Anfang einer neuen synthetischen Kunst. Die Bildarchitektur gehört zu den ersten Dokumenten dessen, daß der sich in Kämpfen aufreibende Mensch von heute sein Sicherheitsgefühl wiedererlangte und seiner in Farben und Formen objektivierten Weltanschauung im Wege der primitiven Kunst zum erstenmal auf die Beine helfen will.

In: MA, H.1/1922, S. 6.

Otto Groß: Orientierung der Geistigen (1919)

             Unmeßbar allgemein ist das dunkle und drängende Ahnen, erstickend beschränkt das klare Begreifen der Urgründe und Erfüllung des großen Geschehens, das kommen soll. Die schönste neue Erscheinung, die im Bereich extremst gerichteter revolutionärer Gruppierung erblüht, das fortan unverlierbare Erleben tiefsten Einssein und nicht mehr lösbare Waffenbrüderschaft der Proletarier und der Geistigen, ist auch das erste Zeichen bewußtseinsnäheren Erkennens der ewig menschlichen Motive der Revolution. Wo immer geistige Menschen heute noch abseits geblieben sind, wird man sich überzeugen können, daß ihnen jede Kenntnis von anderen Bestrebungen fehlt. Fast jeder Hinweis auf den Welt und Leben umfassenden Horizont der wirklichen Perspektive des Kommunismus – von deren Reichtum zu erfahren ihnen in der Tat nur in geringem Maße Gelegenheit geboten wird – vermag hier Wandlung zu schaffen.

             Verbindender und trennender als Rasse, Geschlecht, Kultur und Klasse ist der typische Gegensatz zwischen dem revolutionären und dem konservativen Menschen, sagt Grete Fantl.[1]

             Das elementare Prinzip in der menschlichen Seele, dessen quantitative individuelle Verschiedenheit, dessen // Ausreichen und Versagen also die Menschen in diese beiden Kategorien trennt und einteilt, dieses im höchsten Sinne Wert und Wesen bestimmende Prinzip ist die Widerstandskraft des einzelnen Menschen, besonders des Menschen im Zustande der Entwicklung, gegen die Suggestionen von außen her, gegen die aufgedrängten Gefühle, Werturteile und Normen: die Selbsterhaltungskraft des angeborenen Menschentums, das an der eigenen Individualität wie an der Freude und dem impulsiven Ja zu allem Individuellen in allen anderen ringsum, am unbeschränkten eigenen Sein wie an der unbeschränkten Liebe festhält und seinen Widerstand der Vergewaltigung entgegensetzt wie der Verführung, dem ewigen und ringsgeschlossenen Druck zur Anpassung an die Anderen…

[…]

             Die freie grenzenlose Entwicklung des Menschentums, der Liebe und des Geistes setzt eine Ordnung der Welt voraus, welche in Allem und Jedem tödlich ist für die Angepaßten an jene andere Ordnung, // welche bis jetzt die herrschende ist und immer und überall tödlich war für Menschentum, Liebe und Geist… Es ist darum stets und ausnahmslos Lüge von vornherein, was immer gesprochen wird von allmählichem Übergang und Ausgleichung der Interessen, von Mäßigung und Vergleich – Lüge ist Alles und Jedes, in dem ein einziges gemeinsames Interesse des Revolutionären und des Angepaßten als existierend oder auch nur möglich vorausgesetzt wird.

             Was jeweils die Vermittlungspolitik erreichen kann, das ist allein ein Kompromiß von Interessen von absolut nur wirtschaftlicher Narur – mit ewiger Erhaltung des Unzuänglichen sogar auf diesem Gebiete selbst, mit definitivem Verzicht auf alle Werte des Lebens außer dem abgrenzbaren der reinen Zahl… Hier ist der Boden, auf welchem die Revolutionen sich auflösen, in Verhandlungen zwischen den Parteien, hinter welchen kein Unterschied steht von Mensch und Mensch: Verhandlungen zwischen verschieden Situierten, ohne Voraussetzung überhaupt mehr von verschiedenen seelischen Typen und deren verschiedenen Ansprüchen auf das Sein. –

             Noch nie hat eine kämpfende Partei sich einen Namen gegeben, so sehr als Ausdruck eines seelischen Typus geprägt und das gemeinsam psychologische Moment in allen ihren schöpferischen Charakteren bezeichnend, als der der »Höchstes fordenden« – das ist Derer ohne Kompromiß.

             In Jedem, dem der Kommunismus innere Berufung ist, wirkt ein lebendiger, ursprungnaher, von einer Jugendzeit der Menschheit her im besten Blut noch fortgeerbter Urgeist: ein unmittelbares Wissen vom Unterschied zwischen Mensch und Mensch: ein selbstverständliches dort ewig heimatlos und hier zu Hause Sein, dort losgelöst und hier ins Leben eingegliedert vom dominierenden Element im eigenen Innersten, der revolutionären Menschheitseele, die jedem Menschen solcher Art den Dienst des unbe-//schränkten großen Lebens zur Schicksalsbestimmung macht: ein reflektorisches Sich-Distanzieren von Allem Angepaßten, der Anpassung and das Inferiore, an Macht und Unterwerfung, Besitz, Gewohnheit, Tradition und Sittefähigen.

             Deswegen ist uns nichts so wesensinnerlich cerhaßt, erscheint uns keine je noch aufgestellte Politik so furchtbar korrumpierend und gefährlich als diese heutige des Kompromißes, dieser realpolitische Sozialismus der Vielzuvielen, der für das Proletariat und die Bourgeoisie mit einander den Boden gemeinsamer Anpassung herzustellen erraten hat – gemeinsamer Anpassung an den Geist des Bisherigen, um den Preis materieller Auskommensmöglichkeiten ein Mithinüberschleppen alles Wesentlichen aus der alten Ordnung: mit reduziertem Flügelschlag nun auch der kapitalistischen Ideen ein Realisieren von Durchschnittsmassen in Allem und Jedem, aber basiert wie früher auf die Selbstverständlichkeit von Macht und Vormacht zwischen Allen, um jeden Einzelnen herum die endlose Einsamkeit.

             Es ist diese Demokratie des »letzten Menschen«, die Nietzsche prophetisch vorhergesagt hat und vor welcher die Diktatur des Proletariats  die Zukunft des Menschengeschlechtes erretten soll.

             Das Endziel alles Kommunismus ist ein Zustand, in welchem Niemand irgend eine Vormacht politischer, ökonomischer, autoritativer Natur über Irgendeinen erhalten kann. Wir wissen, daß es niemals eine Ordnung geben kann, die etwa garantierte, daß nur der seelisch Höhere über den niedriger Organisierten Macht bekäme; und würde eine solche Ordnung je gefunden, so brächte sie die Korruption der hohen Seelen… Allein die völlige Unmöglichkeit jedweder Vormacht Irgendeines über Irgendeinen gewährt die Sicherheit, daß nie ein Mensch, in dem der freie schöpferische Urgeist lebt, sich Elementen zweiten Ranges beugen muß. //

             Wir wollen die Macht den Machtlosen geben, den Räten der Armen, damit die Macht wieder ohne Sünde werde, ein Kollektivgefühl der Menschen miteinander und unpersönlicher Besitz des unpersönlichen Gesellschaftskörpers.

             Bis einst die Menschen noch einmal beginnen, als Ausdruck eines schrankenlosen Einander-Verstehens und ihrer Freude aneinander einen Turm in den Himmel hinauf zu bauen.

             Erst dieser Bau wird dann den Namen tragen dürfen: Kultur

In: Sowjet. Kommunistische Monatsschrift, Nr. 5, Nov. 1919, S. 1-5.


[1] Neue Rundschau, Berlin, 1919/3.

Friedrich Lorenz: Gibt es revolutionäre Kunst? (1932)

             Seit jeher ist es der größte Kummer der Sozialisten in allen Ländern, daß der revolutionäre Elan des Jahres 1918 zwar Throne stürzen, Wirtschaftsgebiete zerreißen und uralte Kulturtraditionen vernichten konnte, aber nicht imstande war, Kunst zu schaffen, Künstler zu inspirieren.

             Es gibt natürlich Künstler, die eingeschriebene Mitglieder revolutionärer Parteien sind. Aber diese Männer sind darum noch keine revolutionären Künstler. Sie schaffen trotzdem, nicht weil sie Marxisten sind, ihr Werk hat mit ihrer politischen Überzeugung im wesentlichen nichts zu tun, es wird aus dem unerschöpflichen Born der Menschheitsprobleme gespeist, nicht aus dem Parteistatut. Ich kenne einen sehr begabten marxistischen Schriftsteller, der bisher noch mit keinem größeren Werk vor die Öffentlichkeit getreten ist; darum nicht, weil die Partei, der er politisch angehört, es ihm niemals verzeihen würde, daß sein Talent universell und daher unmarxistisch geblieben ist, Sein Talent streikt, wenn es in den Dienst revolutionärer Propaganda gestellt werden soll, die Partei aber würde streiken, wollte der Dichter schreiben, wie ihm ums Herz ist. Also ist er zum Schweigen verurteilt. Denn ein[en] Kompromiß gibt es zwar in der Parteipolitik, nicht aber in der Kunst.

Nun taucht die Frage auf, ob es ein Zufall ist, daß gerade der letzte und folgenschwerste revolutionäre Stoß gegen die Weltordnung, der des Jahres 1918, kraftlos erlahmte, als er auf das Gebiet des künstlerischen Lebens übergreifen sollte. Es taucht die Frage auf, ob nicht zwischen Kunst und Revolution vielleicht eine prinzipielle Unvereinbarkeit besteht, die im Wesen der Kunst begründet wäre, da die Erfahrung zeigt, daß die größte aller Revolutionen nicht einmal ein anständiges Gedicht inspirieren konnte, das Gebiet des Künstlerischen vollkommen unberührt ließ. (Außer man wollte die Zweckbauart der Breitnerschen Wohnkasernen als einen neuen architektonischen Kunststil, die marxistischen Wahlplakate als revolutionäre Malerei und ein paar Versammlungsreden und Tendenzartikel als sozialistische Dichtung bezeichnen!) Heute schreiben wir 1932. Und 1918 schrieben wir, als die umwälzendste aller Revolutionen die mitteleuropäische Welt über den Haufen warf. Längst hat dieser revolutionäre Stoß sich stabilisiert, längst sind aus den revolutionären Führern der Umsturzzeit bourgeoise Nutznießer und Verteidiger ihrer Pfründen geworden. Mit allen Segnungen der Revolution sind wir ausgiebig bedacht worden; von der Tragödie der Massenarbeitslosigkeit bis zur Aufreibung des Mittelstandes ist uns nichts erspart geblieben; das revolutionäre Programm wurde also politisch und wirtschaftlich Punkt für Punkt durchgeführt. Nur die revolutionäre Kunst ist man uns schuldig geblieben, den Dramatiker der Revolution, den Epiker des Umsturzes, den Lyriker des Klassenkampfes, den Maler des Weltbrandes hat man uns vorenthalten. „Weil die Revolution noch zu jung ist“, sagen die Marxisten. Ist sie aber wirklich so jung? Wenn aus einem revolutionärem Stürmer in der Zwischenzeit ein arrivierter Parteibureaukrat werden konnte, dann hätte dieser Zeitablauf doch auch die Entwicklung eines revolutionären Dichters ermöglichen müssen. Damit ist es also nichts. Warum aber gibt es heutzutage zwar marxistische Plakatzeichner, marxistische Tendenzjournalisten und Volksredner, aber keinen einzigen revolutionären Maler oder Dichter? Warum gibt es zwar eine sozialdemokratische Kunststelle, aber keine sozialdemokratische Kunst?

Bevor wir darauf antworten, eine Feststellung: Es gibt eine revolutionäre Kunst, ja mehr noch, jede Kunst ist notwendig revolutionär. Aber diese Freiheit, die der Geist meint, ist nur in den seltensten Fällen identisch mit dem Freiheitsbegriff der politischen Parteien. Solange gab es revolutionäre Kunst, als Revolutionen noch vom Geiste diktiert waren, als der Geist den Revolutionen den Weg wies, als die Revolution noch nicht bureaukratisiert, noch nicht parteihörig war und darum hellhörig für die Winke des fortschrittlichen Prinzips. Die Revolution des Jahres 1918 aber konnte für die Kunst schon darum nicht produktiv werden, weil das wenige Positive, was sie brachte, von der Geistesgeschichte, dem Kunstleben schon seit Jahrzehnten im voraus eskomptiert worden war, weil ihr das geistige Überraschungsmoment fehlte. Was uns ein Parteiapparat schließlich bescheren kann, das ist nicht geistige Revolution, überhaupt nicht Revolution im fortschrittlichen Sinne des Wortes, sondern bloß der widerlich-dilettantische Versuch, ideelle Forderungen durch Maschinengewehre und Massenaufmärsche zu kompromittieren. Jede geistige Revolution beginnt in der Kunst. Jede Kunst ist Revolution, jedes neue Kunstwerk ein Schritt vorwärts auf dem geistigrevolutionären Wege in die zukünftige Welt. Aber nicht jeder Sturm im Wasserglas der Parteipolitik ist eine Revolution, nicht jedes Knallen von Parteiflinten bedeutet schon Fortschritt.

Wenn also die Frage, ob die revolutionären Ereignisse der letzten Zeit das Kunstleben zu beeindrucken vermochten, verneint werden muß, so spricht das nicht gegen die Kunst, sondern gegen die Revolution. Denn es beweist, daß diese Revolution ein rein parteimaschineller Vorgang war, ohne mehr Ideen hinter sich zu haben. Ganz anders die französische Revolution, ganz anders etwa die Epoche der Freiheitskriege. Diese Revolutionen waren noch Revolutionen des Geistes, nicht aber, wie die heutigen, Revolutionen politischer Parteien. Ihnen konnte die Kunst darum auch auf gefährlichem Wege folgen, mit ihnen konnte die Kunstübung in ständigem, fruchtbarem Kontakt bleiben. Die Frage also, ob eine Revolution Ausfluß einer geistigen Notwendigkeit ist, ob ihr eine Idee, ein Fortschrittsideal zugrunde liegt, läßt sich leicht beantworten, wenn man untersucht, ob diese Revolution für die Kunst produktiv werden konnte, ob sie den Künstler inspirierte oder abschreckte. So wird die Kunst zu einer unerbittlichen Richterin jeder revolutionären Strömung. Und solcherart dient der Umstand, daß der Sozialismus nach 1918 nirgends in der Welt Kunst zu schaffen vermochte, zum Beweis dafür, daß der Sozialismus längst zu einer hohlen bureaukratischen Form erstarrt ist, in der es keinerlei Ideeninhalt mehr gibt, daß der Sozialismus vergreist ist und der künstlerische Instinkt über seine Leiche hinweg in die Welt zukünftiger Entwicklungen schweift.

Kunst ist revolutionär. Darum hat sie nur mit wirklich revolutionären Handlungen geistig zu tun, nicht aber mit Palastrevolutionen ungeistiger Parteiorganisationen. Kunst ist Politik, weil Weltanschauung. Darum hat sie nur mit wirklich politischen Tendenzen und Strömungen zu tun, aber nicht mit Parteipolitik, dem bureaukratischen Tod jedes gesunden politischen Strebens.

In: Neues Wiener Journal, 27.3.1932, S. 19.

Max Adler: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung (1924)

[…]

             Und nun begreifen wir es und erkennen aus tiefstem Grunde, warum Erziehung und Bildung nicht neutral sein können. Alle Erziehung und Bildung, welcher Art und welchen Inhalts immer sie sein mögen, will jedenfalls für das Leben tüchtig machen, ja dieses vollkommener gestalten. Aber dieses // Leben ist, wie persönlich es auch immer gestaltet und empfunden werden mag, durchaus vergesellschaftetes Leben steht unentrinnbar unter der Gesetzlichkeit desselben. Eine Erziehung, die hier neutral absehen wollte von den in dieser Gesetzlichkeit auftretenden Gegensätzen, um sich an deren Stelle eine „allgemeine Menschheitssphäre“ zu konstruieren, wäre eine Erziehung im luftleeren Raume, d.h. eine Erziehung außerhalb jener Atmosphäre, in der nun einmal ihr Gegenstand, das Leben ihres Zöglings, gegeben ist. Es wäre eine Erziehung, die aus Angst, parteiisch zu sein, gerade dort nicht Partei nehmen würde, wo es sich um ihre eigene Sache handelte, um die Entwicklung der Menschheit. Will sie diesem Zweck wirklich dienen, so kann sie unmöglich die notwendigen Entwicklungsrichtungen, wie sie aus der jedesmaligen gesellschaftlichen Situation hervorgehen, ignorieren. Sie muß der Gegensätzlichkeit sozialer Strebungen, die in ihrem Komplexe die konkrete geschichtliche Entwicklung ausmachen, sehenden Auges gegenübertreten, muß unter ihnen eine Wahl treffen, d.h. sie muß sich auf die eine oder andere Seite stellen, also Partei ergreifen. Denn die schier unausrottbare Vorstellung aller Verfechter einer neutralen Erziehung, daß es genüge, anständige Charaktere erzogen zu haben, welche Partei sie auch immer ergreifen mögen, sollte endlich als das erkannt sein, was sie ist, eine gedankenlose Sentimentalität, die noch dazu durchaus nicht ungefährlich ist. Mit solchem Raisonnement muß man es zulassen, daß zuletzt aus dieser neutralen Erziehung ebenso sehr kosmopolitische Menschheitsschwärmer wie nationalistische Hetzapostel hervorgehen, wenn nur jeder persönlich überzeugt von seiner Anschauung ist, und diese ganze vielgerühmte Neutralität der Erziehung endet in ödestem Relativismus und absoluten Kulturdefaitismus. Und dies ist noch das minder schädliche Resultat: viel //ärger, weil nicht zuletzt den unglaublich tiefen Stand der heutigen politischen Bildung und Moral weiter Kreise der Intelligenz ermöglichend, ist eben jene aus der „Neutralität“ entstandene fast gemeinplätzliche Ansicht, daß man ein „ganz anständiger“ Mensch und trotzdem z.B. Rassenantisemit oder Hakenkreuzler sein kann, wenn es nur „mit Überzeugung“ geschieht, daß man also sich noch immer auf Bildung und Erziehung berufen darf, wenn man „aus Überzeugung“ Juden nicht als Menschen betrachtet oder politische Gegner „erledigt“. Eine sonderbarere Anschauung von „Anständigkeit“ und „Charakterbildung“ dürfte es kaum geben, und sie genügt, um uns zu erkennen lassen, welch ungeheurer moralischer Widersinn sich hinter der „neutralen Erziehung“ verbirgt. Nein – ist einmal die notwendige Klassengegensätzlichkeit des heutigen gesellschaftlichen Lebens erkannt und sind die aus ihr sich ergebenden gesellschaftlichen Strebungen in ihrer Auswirkung auf die Ermöglichung einer Sicherung, ja Vervollkommnung des Lebens für alle erforscht – und beides vermittelt die Sozialwissenschaft, der Marxismus – dann muß jede Erziehung, die über ihr Ziel klar ist, Partei nehmen, und es kann gar nicht zweifelhaft sein, wie sie das tun wird. Ist ihr Ziel Lebensentfaltung und Lebenssteigerung eines jeden, dann muß sie sich in den Zug der Entwicklung des sozialen Lebens überhaupt einfügen, d.h. sie muß deren Partei ergreifen und zur Klassenerziehung der revolutionären Klasse werden, kurz, sie muß heute sozialistische Erziehung werden.[1]

[…]

Neue Menschen! – Das also ist das eigentliche Ziel einer revolutionären Erziehung, einer Erziehung, die jene neue Gesell-//schaft auch in den Seelen der Menschen vorbereitet, die sonst in ihrer Vorbereitung durch den ökonomischen Prozeß bloß eine objektive Möglichkeit bleibt. Es kann in der Welt nicht anders und besser werden, wenn jede neue Generation immer wieder in Gedanken und Empfindungen der vergangenen Geschlechter aufwächst, mögen dies auch ihre vernünftigsten und besten sein, mögen es selbst nicht so sehr ihre Laster als ihre Tugenden sein, die der Jugend übermittelt werden. Denn nirgends gilt das Dichterwort „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“ in tieferem Sinne als von einer Erziehung, die inmitten der ungeheuren Umwandlung in den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen immer wieder die neuen Inhalte in die unzugänglich gewordenen alten Geistes- und Willensformungen hineinpreßt. Man kann zwar eine Zeit-//lang den jungen Wein in alte Schläuche fassen, aber sind die Schläuche selbst einmal muffig geworden, dann verderben sie nur noch ihren feurigsten Inhalt. Darum haben auch die großen revolutionären Pädagogen seit Rousseau, Kant und Fichte es als den Krebsschaden aller den Menschen fortbildenden Erziehungsarbeit angesehen, daß die Kinder nur immer wieder recht und schlecht gelebt hatten. Besonders eindringlich hat diesen Gedanken Kant in seiner „Pädagogik“ ausgesprochen, wo es heißt: „Ein Prinzip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer, die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustand des Menschengeschlechtes, das ist der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden. Dieses Prinzip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger, besserer Zustand hiedurch hervorgebracht würde.

Diese Worte sollten in goldenen Lettern über allen proletarischen Kinderfreundeanstalten stehen. Sie bedeuten den grundsätzlichen Bruch mit der bürgerlichen Erziehung, der es nur darauf ankommt, „daß die Kinder“, wie abermals Kant rügt, „gut in der Welt fortkommen“; sie bedeuten das Ende jener echt bürgerlichen Auffassungm die nach der Anklage Fichtes nur den armseligen Wunsch kennt, mit der Erziehung rasch zu Ende zu kommen, um das Kind recht bald hinter die Maschine zu stellen. Das Ideal der bürgerlichen Erziehung, wie es so oft in offiziellen Kundgebungen sowohl von Staats- wie von Schulmännern verkündet wird, ist, aus den Kindern „nützlcihe Glieder der menschlichen Gesellschaft zu machen“, wobei freilich die eigentliche Meinung ist, nützlich für die Nutznießer dieser Gesellschaft, nützlich, das heißt, tauglich für die Ziele und Zwecke der herrschenden Klasse. Treffend hat bereits Georg Büchner, dieser geniale Jüngling, in dessen Seele schon so viel von proletarischem Empörergeist in ersten Regungen wach wurde, diese heuchlerische Phrase verspottet, indem er seinem nach einem wirklichen Lebensinhalt ringenden jugendlichen Prinzen Leonce auf die Worte: „So wollen wir nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft werden“, sagen läßt: „Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben.“ (Leonce und Lena, I. Akt, 5. Szene)

(Berlin 1924, Auszüge aus Klassenkampf und Erziehung bzw. Sozialismus und Erziehung, S. 42-44 bzw. 66-68)


[1] *(orig. Fußnote in der Publ. 1924): Alle große Pädagogik der Vergangenheit von Plato bis Pestalozzi war stets revolutionär. Sie variiert nur auf verschiedene Weise das Grundthema der Erziehung, das Kant einmal als „Prinzip der Erziehungskunst“ bezeichnet hatte: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftigen möglich besseren Zustande des menschlichen Geschlechtes angemessen erzogen werden.“ [Immanuel Kant: Über Pädagogik. Königsberg 1803, S. 17; vgl. dazu die entsprechende Seite in der Erstausgabe gem. DTA: https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/kant_paedagogik_1803?p=17; Zugriff 24.10. 2022, PHK] Daher kommt es, daß die Ideen aller der großen Pädägogen auch heute noch modern sind, und dies hat wieder andrerseits den Wahn einer neutralen Erziehung unterstützt, indem doch Kant oder Rousseau oder Pestalozzi sicher keine Sozialisten waren. Allein sie haben, wie überhaupt die großen Denker des Bürgertums in seiner vorrevolutionären Epoche infolge des soziologischen Gesetzes, daß die Ideologie jeder aufsteigenden Klasse universalistisch oder Menschheitsumfang haben muß, in ihrem Denken den späteren Klassenstandpunkt des herrschend gewordenen Bürgertums noch nicht gekannt. […]

Robert Müller: Die neue Erregung. (Aktivismus) (1918)

Im Wesen der zeitläufigen Erregung liegt der unduldsame Trieb nach Vereinfachung. Man sucht nach klassischer Lebensführung. Der Mensch schüttelt wieder einmal alles ab, um sein Lebenshaus von Grund auf neu zu bauen, sich in die Mitte zu stellen und die Dinge nach dem Mittelpunkt seiner – Sternbewußtheit zu ordnen, ohne dem Dingzwang zu dienen. Was wir wollen ist die Schlichtheit, die Logik, die fühlbare Verbindlichkeit, die vom Leben selbst ausgeht. Diese Schlichtheit ist aber nicht Gemeinplätzigkeit, sondern sie ist das Schwerste für den ungeübten und vertrakten Bürger. Ob der Kunstausdruck solcher Schlichtheit ein Buch von Paul Adler oder ein Bild von Campendonck ist, wagt der Expressionistischste unter uns Allen am wenigsten zu entscheiden. Er bekennt sein Schlichtheits-Erlebnis und sich selbst in den ihm innensichtig dafür gewordenen Formen. Um einem Mißverständnis vorzubeugen, sei gleich erklärt, daß diese Schlichtheit als Formforderung nicht identisch ist mit Klischee oder Stereotyp, sondern das neue Formgebären aus der seherischen Einfalt herausgefordert.

             Die sichtbarste Form solcher Schlichtheit und Umweltbefreiung des neu gewonnenen Menschen ist der Wille, die Gesellschaft auf menschlichste Verkehrsimpulse zu zerlegen und neuerlich, nun nach dem Schlüssel: Mensch, zu gruppieren. Und damit sind wir bei den Aktivisten angelangt.

             Sie verwandeln die Erregung, indem sie auf die Straße, in das Kaffeehaus, auf den geistigen Markt eilen, in ein Pathos. […] Ihre Manifeste, Bücher, Essays sind lang, das ist noch ein Fehler, weil sie das Schlichte, es Unschlichten zu beweisen, oft verwickelt vertreten. In ihrer Absicht liegt die Komplikation nicht. Daß ihr Pathos ihre direkt eingreifenden Akte überwiegt, liegt an der Schärfe und Jugend des ganzen Ereignisses. Sie sind so vielversprechend exakt, gebildet und praktisch, daß sie in kurzer Zeit die prägsamsten Vertreter in die Legislaturen des Planeten gesendet haben werden. Die Tatsache ihres Pathos gibt ihnen Affinität zur politischen Einstellung des Romanen. Dessen gleichlaufende Erscheinung an ihnen abzumessen, wird eine unten folgende Konfrontation mit dem Futurismus ermöglichen.

             Alle radikalen »Strömungen« beunruhigen ihr Blut, dessen Erregung durch keine dieser allein genügend befriedigt ist. Sozialismus, Mutterschutz, Eugenik, Schulreform, Körperkultur, Kapitalsabbau, Legierung der Nationen, Abrüstung, Friedensorganisierung, Weltrasse-Schöpfung, Neureligiosität, Kunstmehrung und Genußsteigerung, Verbesserung der für den Erdstern noch viel zu provinziellen Technik, Beseelung der Politik zugleich mit der Entsumpfung der materiellen Ordnung von Gefühlsmiasmen, all das ist Punkt in ihrem großen Programm. Sie sind nicht Bolschewisten, sie gehen darüber hinaus. Ist es ein fünfter Stand nach den Arbeitern: der der Geistigen? Kündet sich einfach eine neue Schichtbildung an? Dieser Schluß ist eine historische Unart, ein Gewohnheitsdenkerschwips. Die »Geistigen« sind kein neuer Stand. Sie setzen nicht die in der französischen Revolution begonnene lineare Entwicklungsgeschichte der Revolutionen fort. Sie sind keine arithmetische Errechenbarkeit, die einmal auch »Faktor« sein wird. Sie sind Dimension. Aus der Fläche des Bürgertums, die sich in dem Sozialismus fortgesetzt hat, knicken sie förmlich als ein Raum hervor. Die Geistigen sind Bürger, darüber laßt uns, so ohrfeigenhaft das klingt, hinwegkommen. Die Geistigen sind nicht Ultraproletarier. Sie sind nicht noch um ein Stückchen revolutionärer, Pünktchen oder zwei programmatischer. Die Arithmetik der französischen Revolution kann, wie Rußland beweist, fortgeführt werden. Dort taucht hinter einer Schicht immer eine andere auf. Die Geistigen sind nicht eine Originalrevolution. Sie führen durchaus den bürgerlichen Gedanken fort, sie sind sein Ausreifen. Das zu leugnen, sich dessen schämen zu wollen, wäre sentimental. Gerade weil sie die bürgerliche Epoche durch diesen Seitensprung viel gründlicher negieren als der Sozialismus, sei der der Trotzkys oder der englischen Gewerkschaften oder der anorganischen Massenerhebung des amerikanischen Proletariats unter Gompers zugunsten des Wilsonschen Staatswolkenkratzers, gerade draum haben sie ihren Ursprung im Bürgerlichen nötig. Mit dessen Produktivität, dem Individualismus, sind sei näher verwandt als mit dem kommunistischen Binnenstaat. Der Sozialist liegt in der Fläche des Bürgerlichen mehr als er denkt, siehe einmal den deutschen Staatssozialismus. In die Raummöglichkeit des Bürgers entsprang der Geistige. Taktisch hat der Geistige mit dem Proletarier viel gemeinsam, prinzipiell nur den Menschen.

             Der Aktivismus ist eine Partei, die noch keine Partei hat und nur eine nimmt; eine Partei, die noch keine gewählten, bloß geborene Vertreter und keine Körperschaften hat, in denen diese sprechen könnten. Um also von der Literatur in die forensische oder administrative Tat zu gelangen, wird der Aktivismus so ziemlich die gesamte bestehende Ordnung im Kern treffen müssen. Ob er es vermag, wird sich zeigen. Die Unsicherheit des Erfolgs ist für den Aktivisten keine Entschuldigung, den Versuch zu unterlassen.

             Der Aktivismus ist vorerst das Pathos zu einer Politik: er ist vorerst das Romanische zu etwas, das deutsch ausfallen soll.

             […]

             Die Aktivisten stellen sich der aktuellen Situation. Sie sind Journalisten mit Jahrhundert Wirksamkeit, nennen wir sie Säkularisten. Was am Tag Jahrhundert ist, bringt ihre Federn in Gang.

             Die Gegner des Aktivisten sind der Politiker und der Dichter. Der Dichter will das Subjekt ändern; er verzichtet auf die sofortige Änderung des Objektes. Der Politiker, der Sozialist oder Revolutionär etwa ändert nur das Objekt. Der Aktivist ändert das Objekt an Ort und Stelle, um die Änderung des Subjektes zu ermöglichen, zu beschleunigen. Der Zweifrontenkrieg reibt ihn auf. Viele geben ihm darum keine Chance. So muß er sie ergreifen. Wird er sich zum politischen Akt im gegebenen Momente bekennen?

             Verwandte Bewegungen laufen in Frankreich und Italien. Es hat keine die Höhe des Notwendigen erfaßt, wie der deutsche Aktivismus, sie sind alle politischer, aber sie sind ebenso menschlich stark. Das Futuristenorgan in Mailand „Italia Nuova“ stellt folgendes Programm auf:

             „Die politische Partei der Futuristen, die wir heute gründen, will ein freies starkes Italien, auf dem nicht mehr der Druck seiner großen Vergangenheit, des allzu sehr geliebten Fremden und der allzu sehr geduldeten Priester lastet: ein Italien, ohne Vormundschaft, in jeder Hinsicht eigener Herr seiner Kräfte, ein Italien, das stets den Blick auf seine große Zukunft gerichtet hat.“

             In den Einzelheiten des futuristischen Programmes steht an der Spitze das Problem der Erziehung. Sie soll vor allem patriotisch sein. Abgeschafft wird ein großer Teil der vielen unnötigen Universitäten sowie der klassische Unterricht. An seine Stelle tritt ein Obligatorium in technischen Fächern, Freilichterziehung, Sport ec. Der bisherige rhetorische Antiklerikalismus soll ersetzt werden durch einen Antiklerikalismus der Tat. Das Parlament soll umgewandelt werden im Sinne einer gleichmäßigen Anteilnahme der Industrie und der Handelswelt an der Regierung des Landes. Wählbar ist jeder Italiener, der das 22. Jahr erreicht hat, Möglichster Ausschluß der Advokaten (stets Opportunisten) und Professoren (stets „Rückblickler), Aufhebung des Senates. Wenn dieses vernunftgemäße und praktische Parlament sich nicht bewähren sollte, so ist eine technische Regierung ohne Parlament zu schaffen. Sie wird aus zwanzig, nach allgemeinem Stimmrecht gewählten Technikern bestehen. […]

             Dieses Programm nimmt hauptsächlich auf die bestehenden Verhältnisse Italiens Rücksicht, es will „Welt“ nach Italien bringen und die Fremden, auch die Bewohner früherer Jahrhunderte und ihre Wahrzeichen ausmerzen. Im Verhältnis dazu ist das aktivistische Programm elastischer und geistiger, es steht ohne Zweifel höher, aber es ist auch nicht so unmittelbar.

             Die Forderungen, die der Aktivist an Staat und Gesellschaft stellt, quellen aus den natürlichen menschlichen Bedürfnissen und haben keine Nation zur Voraussetzung, legen überhaupt kein Gewicht auf äußere Kraftentfaltung seiner Wunschgesellschaft, sondern allein auf deren Intensität. Sie verlangen persönliche Freiheit, eine Art Habeas-corpus-Akte für seiner Sinne Fähigen; freie Liebe und Ehereform; Rückführung der Erziehung auf die natürlichen Instinkte des Menschen; also kalokagathistische Ausbildung an Körper und Seele, das klassische Ideal; Abschaffung aller politischen Formalitäten, Weltstaatlichkeit, komplexe Menschheitspolitik, durch Bundesformen erreichbar; der politische Apparat müsse (ohne näher zu sagen, wie das geschehen kann) in die Hände der Auslese aus den Besten übergehen; also ein geistiger Aristokratismus. Verpönt sind Krieg, Wirtschaft um ihrer selbst willen, andererseits auch Ästhetizismus von nur Verfeinerten; die Gesellschaft soll möglichst so gebildet sein, daß sie ein Leben in geistigen Erregungen gestattet und fördert, weil nur auf diesem Wege der Mensch sich wesentlich ändern und hinaufbilden kann. […]

             Wir mußten historisch und genetisch vom Expressionismus ausgehen, um den Aktivismus erfassen zu können. Der Expressionismus ist eine Erregung; Aktivismus der letzte Effekt dieses endemischen Willens unter Geistigen, die Welt nicht mehr beschaulich zu zerlegen und zu bewissenschaften, sondern sie geistig zu bewirtschaften. Der Aktivismus ist Geistwirtschaft am Erdball. Die Parteinahme des postanalytischen schöpferischen Menschen gegenüber dem Gegenstande, dessen Ordnung nach einem Ausdrucksprinzip, das im Künstler liegt, hat notgedrungen zur Parteinahme gegenüber dem sinnfälligsten Totalgegenstand, unserer sozialen Umwelt, führen müssen.

Die Aktivisten haben eine Zeitschrift in Zürich, „Das Zeitecho“, herausgegeben von Ludwig Rubiner. In Leipzig steht ihnen der Verlag „Tätiger Geist“ zur Verfügung, in dem soeben das zweite der „Ziel“-Jahrbücher erschienen ist. Wenn ein gebildeter und objektiver Ausländer, sagen wir ein Engländer oder ein Amerikaner aus dem Wilsonkreis, sich über die Entwicklung der deutschen Mentalität unter dem jungen Geschlecht unterrichten wollte, müßte man ihm dieses Buch, das von den ersten Schriftstellern geschrieben ist, darunter auch Heinrich Mann, in die Hände spielen. Und man würde dort draußen sehen, daß man mit Deutschland noch immer als dem Mittelpunkt der geistigen Welt rechnen kann.

 In: Die Wage, 30.9.1918, S. 615-619;(KS, II, 214-218)