Ernst Fischer: Wandlung des russischen Geistes

Russische Revolution! Ungeheures Gefühl, sagenhaftes Erlebnis über alle Kritik hinaus. Man kann das Resultat der großen Erschütterung prüfen, so weit uns das Resultat bekannt ist, man kann die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Ergebnisse des Bolschewismus, des Leninismus analysieren, man kann seine Zeitung bejahen oder verneinen, anerkennen oder verwerfen, man kann sich in tausendfältiger Form mit ihm auseinandersetzen – aber es bleibt ein Rest, der aller Vernunft entrückt scheint: die Intensität, die Größe dieser Revolution, die unvergleichlich und beispiellos ist. Und, je mehr die vulkanische Masse auskühlt, je deutlicher das Produkt, der Niederschlag der gigantischen Gärung mit all den Widersprüchen, die das Wesen der Wirklichkeit sind, statistisch erfaßbar, objektiver Betrachtung und subjektiver Wertung zugänglich wird, desto bezwingender wird die Erkenntnis, daß diese Revolution viel mehr als ein politisches Faktum, daß sie ein geistiges Ereignis von welthistorischer Bedeutung war. Und so selbstverständlich es ist, daß man an politischen Überzeugungen, taktischen Maßnahmen, wissenschaftlichen Theorien Kritik übt, daß man sie für gut oder schlecht, klarer gesagt, für nützlich oder für schädlich hält, so töricht wäre es, geistige Umgruppierungen, kulturelle Wandlungen zu kritisieren, an dem zu messen, was bisher war. Man kann ein Buch, ein Bild, ein Theaterstück technisch bewerten – obwohl auch das sehr schwierig und problematisch ist – man kann eine Kunstform für diletantisch, wirkungslos, unecht halten, aber man kann nicht die Lebensform, die geistige Haltung, deren Ausdruck sie ist, mit einer abfälligen, höhnischen oder entrüsteten Kritik aus der Welt schaffen. Ihre Bedingungen nachzuspüren, ihre Elemente zu untersuchen, ihr Lebendiges zu erfühlen, das ist Aufgabe dessen, der sie darzustellen versucht – ob er sie anerkennt oder ablehnt, ist seine Privatsache. Nur wenn er liebt oder haßt soll er zu seiner Liebe, zu seinem Haß sich bekennen – denn dann will er nicht sie, die fremde Lebensform, sondern seine an ihr sich entzündende Leidenschaft darstellen.

Solche Leidenschaftsausbrüche haben wir häufig erlebt – und es schien lange Zeit, als könne man über die geistige Bedeutung der russischen Revolution nur in Ekstasen der Liebe, in Krämpfen des Hasses sprechen: wurde von einer Seite alles, was diese Revolution gebar, bedingungslos wie Blendwerk der Hölle verdammt, so wurde es von der andern Seite wie Erfüllung tiefster Träume gefeiert. […]

Interessanter und wesentlich ergiebiger als die maßlosen Manifeste für und wider die geistige Schöpfung des Bolschewismus, als das unfruchtbare Geschwätz der bürgerlichen Ästheten war ein Buch des großzügigen Journalisten René Füllöp-Miller, „Geist und Gesicht des Bolschewismus“, das vor einigen Jahren erschien. Füllöp-Miller hatte begriffen, daß die russische Revolution mehr war als ein politisches und wirtschaftliches Ereignis, daß sich dort im Osten ein kultureller Umsturz vollzogen hatte, dessen Konsequenzen noch unabsehbar sind. Und er fürchtete, daß das, was in Rußland geschah, Europas Kultur gefährden, Europas Seele vergewaltigen könne. Daher wollte er warnen, wollte er zeigen, daß die neue Lebensform europäischem Wesen vollkommen fremd sei, daß der Bolschewismus als geistiges Erlebnis zwar asiatische Barbaren, nicht aber westliche Kulturmenschen befriedigen könne. Trotz dieser kaum verhüllten Tendenz und obwohl sehr viele Behauptungen des geistreichen Autors unbewiesen, sehr viele Kombinationen gewaltsam, sehr viele Erklärungen oberflächlich sind, ist das Buch wichtig, nicht nur, weil es ein großes kulturhistorisches Material enthält, sondern auch und vor allem, weil es einen ernsthaften Versuch darstellt, hinter der wirtschaftlichen und politischen Umgestaltung die geistige Wandlung zu sehen. Das Füllöp-Miller meint, die Mechanisierung des Lebens, die Entpersönlichung des Menschen, der Triumph der Maschine über die Seele sei der Sinn dieser Wandlung, daß er den Schatten Dostojewskys beschwört, der ihm wie den meisten Europäern als der Inbegriff des „Russentums“ (einer unveränderlichen und undefinierbaren Substanz) gilt, um über den Leninismus Gericht zu halten, daß er über Experimente sich lustig macht, ohne zu untersuchen, was sie bedeuten – das alles vermindert zwar das Gewicht seiner Leistung, entwertet sie aber nicht. […]

Die Revolution war die gewaltsame Lösung, der explosive Ausgleich. Der Feudalismus wurde zertrümmert, der Bauer bemächtigte sich des Bodens, das Mittelalter verbrannte und in den Flammen ahnte man eine neue Welt. Ungeheuerste Aktivität entfaltet sich; in Lenin, dem gewaltigsten Tatmenschen aller Zeiten, kündigte sich auf einmal der neue Typus an, in ihm verkörperte sich das Rußland des zwanzigsten Jahrhunderts. Probleme der Wirklichkeit waren zu lösen, wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische Probleme, Gestaltung des Staates war möglich, war brennend wichtig, Trägheit, Schwermut und Passivität mußten als ärgste Laster gelten – die historische Situation siegte über die „russische Seele“. Daß diese ungestüme und radikale Wandlung groteske Übertreibungen zeitigte, daß der fanatische Wille, die Entwicklung eines halben Jahrtausends in einige Jahre zusammenzupressen und nicht nur alles Versäumte nachzuholen, sondern plötzlich allen voran in die Zukunft zu stürmen, oft in phantastischen Experimenten zum Ausdruck kam, daß die Verneiner jeder Romantik aus der Sachlichkeit selber etwas Romantisches machten, war kein Wunder: und der scheinbare Widersinn, daß diese russischen Revolutionäre die sehr primitiven Wirtschaftsformen dem Sozialismus aufzwingen wollten, das kapitalistische, mechanistische Amerika vergöttern, ist nichts Ungewöhnliches, nichts dem „Russentum“ eigentümlich. Es gibt eine Reihe von deutschen Literaten, die ebenso verzückt von Amerika reden, für die Großstadt, Technik, Maschine, die in der Seele des Amerikaners keine besonderen Gefühle auslösen, weil er sie als selbstverständliche Elemente seiner Welt betrachtet, lyrische, mythische Angelegenheiten sind, ungefähr so, wie für den Emporkömmling die Manieren der guten Gesellschaft etwas Geheimnisvolles und Beunruhigendes sind; tausendmal mehr in dem wirtschaftlich unentwickelten Rußland, in dem „Elektrifizierung“ ein Zauberwort, das Taylor-System ein Kultus, die Technik ein Glaubensbekenntnis wurde. Wer in Rußland an den Erfolg der Revolution glaubte, mußte voll Inbrunst an neue technische und ökonomische Formen glauben, mußte sich mit Pathos und Leidenschaft zu ihnen bekennen, mußte sie fast ins Religiöse steigern, weil er sonst empfindungsgemäß die Zusammenhänge zwischen den Schwung des Geistes, dessen jede Revolution bedarf, und den realen Aufgaben der russischen Revolution verloren hätte. An Inbrunst, an Spannkraft, an Gläubigkeit fehlte es den Revolutionären nicht, aber an Maschinen, an Fabriken, an Elektrizitätswerken fehlte es und deshalb blickten sie voll Sehnsucht und Neid nach Amerika und deshalb mußte die mangelnde Realität durch den glühenden Willen, sie förmlich aus der Erde zu stampfen, ersetzt werden. Das Bekenntnis zu Amerika, es war das Bekenntnis zu den Voraussetzungen der Sozialisierung, die man in übermenschlicher Arbeit der Geschichte abtrotzen wollte.

Das formte die neue Geistigkeit: die Kunst, vor dem Zusammenbruch der alten Mächte psychologisch, fatalistisch, Sprengstoff der Seele, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in die Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse konzentrierend. Majakowsky, einer der Dichter, die im alten Rußland die Würdigkeit und den Überdruß des an allem verzweifelnden geistigen Menschen verkörperten, begeisterte sich an den Umsturz des Bestehenden, an der grellen Härte und Sachlichkeit der neuen Forderungen, er, der an den Sinn der Kunst nicht mehr glaubte, begriff angesichts der Revolution, daß man der Kunst neuerlich einen Sinn geben konnte: Aufruf zum Kampf, Ausdruck dessen, was nun wichtiger und bezwingender waren als alles, Ausdruck der politischen und sozialen Ereignisse. Die Sprache als Instrument der schönen Gefühle, der einsamen Seelenkomplikationen war abgebraucht, nun aber gab es Worte, die wie mit Ekrasit geladen waren, die man wie Bomben in die Masse schleudern konnte, die unmittelbar und berauschend wirkten: Elektrifizierung, Technik, Revolution, Internationale, Rote Garde – und diese Worte wie Blöcke aneinandergereiht, gegenständlich und dennoch durchfiebert von Fanatismus, waren die Elemente der Poesie, die nun begann. Einfacher und wuchtiger als die Gesänge des intellektuellen Majakowsky waren die plumpen Hymnen Budnji Demjans, poetische Tagesbefehle der Revolution, unverschnörkelte Manifeste des Klassenkampfes.

Es würde zu weit führen, alle Experimente zu schildern, in denen der Geist des Bolschewismus um Ausdruck rang: was diesen Experimenten gemeinsam war, ist die Erkenntnis von der sozialen, von der revolutionären Funktion der Kunst, die Erkenntnis, daß es im Sturme der Weltgeschichte nicht auf das Schicksal des einzelnen ankommt, nicht auf Seelenprobleme, nicht auf das, was die Menschen unterscheidet, sondern auf das, was sie zu kollektiver Aktion vereinigt, daß es sich, wenn Tausendjähriges stürzt und Niegewesenes aufsteigt, nicht um den „Ewigkeitswert“ einer Dichtung, eines Kunstwerkes, sondern um Aktualität und politische Wirkung handelt. Erst, wenn eine Klasse ihr Wesen gesellschaftlich verwirklicht, wenn sie das in ihr waltende revolutionäre Prinzip erfüllt hat, wenn nicht mehr die Macht zu erobern, sondern die Macht zu verwalten ist, kann sie versuchen, im Kunstwerk unpolitisch und weise zu sein! Solange sie kämpft, solange sie gegen alte Gesellschaftssysteme anrennt, ist Kunst ein Mittel, ist Kunst eine Waffe in diesem Kampf. Das haben die Künstler des Bolschewismus erkannt. Und mit unerhörter Entschlossenheit unterwarfen sie das Theater, das Kabarett, die Literatur, alle Kunstgattungen dieser Erkenntnis. Es gelang ihnen, das Theater, den Film, die kulturellen Gebilde, die am stärksten und unmittelbarsten soziologisch bedingt sind, von Grund aus zu wandeln, es gelang ihnen nicht oder nicht in diesem Maße bei allen übrigen Kunstgattungen.

[…]

Aber die freie, die auf sich selber angewiesene Kunst?

Sie ist lebendig wie nirgends in Europa. Und vor allem der russische Roman ist wieder bedeutungsvoll, fast so bedeutungsvoll wie der russische Film.

Um Romane zu schreiben, bedarf der Künstler einer gewissen Ruhe, einer gewissen Stabilität. In der ersten Revolutionszeit konnten keine Romane entstehen, in Gedichten und Theaterstücken entlud sich die geistige Spannung: als aber der Bolschewismus gesichert war, als Trotzky der Armee „das Knochengerüst eingerenkt“ und Lenin die Wirtschaft verhältnismäßig stabilisiert hatte, als man die Ereignisse einiger Jahre überblicken konnte ohne fühlen zu müssen, daß morgen schon alles anders sein könne als heute, war es wieder möglich, Romane zu schreiben. Und es zeigte sich, daß die junge Generation in Rußland, obwohl das Tempo der Entwicklung auf einmal stockte, obwohl die wirtschaftliche Reaktion die Seelen ernüchtert hatte, obwohl das Resultat der Ereignisse eine große Halbheit ist, die Zeit, in der wir leben, begreift, tausendmal besser begreift als die junge Generation in Deutschland, in Frankreich, in England. An der Idee des Bolschewismus gemessen enttäuscht seine Wirklichkeit: aber diese Enttäuschung verleitet die jungen Russen nicht dazu, aus der Wirklichkeit in die Romantik zu fliehen – im Gegenteil: stolz und tapfer bekennen sie sich zu dieser Wirklichkeit, schonungslos setzen sie sich mit den Problemen der Revolution, mit den Problemen des Sozialismus auseinander, unsentimental, in glühender Sachlichkeit schreiben sie die Geschichte der letzten Jahre. Immer ist es die Gesellschaft, die sie interessiert, immer ist es ein überpersönliches Schicksal, das sie schildern, immer stellen sie Menschen dar, in denen das welthistorische Ringen um die Neugestaltung aller Beziehungen zwischen den Menschen und Dingen sich spiegelt, nein, in denen es sich vollzieht. Sie wissen genau, daß es nichts Größeres gibt als die Revolution, deren erste Phasen wir erlebt haben, und weil sie das wissen, gibt es für sie nur einen Stoff: eben diese Revolution. In den westlichen Ländern knüpfen die meisten jungen Künstler dort an, wo man 1914 aufhörte, schwächlich und unfruchtbar: mag sein, daß die Revolution in Deutschland zu schnell vor sich selber erschrak, um künstlerisch so verpflichtend zu wirken wie die Revolution in Rußland, jedenfalls gibt es in Deutschland sehr, sehr wenige Bücher und Theaterstücke, die wichtig sind, wogegen in Rußland ein wichtiges Kunstwerk nach dem andern produziert wird.

Da ist vor allem Gladkows großer Roman „Zement“. Das Problem der Nepzeit, das Problem der siegreichen Revolution wird aufgerollt. Gljep, der Rotgardist, kehrt aus hundert Schlachten in sein Heimatsdorf zurück. Er träumte von einem romantischen Wiedersehen mit all den hübschen Dingen, die er verlassen hatte, von einer Familienidylle, von einem Leben wie eh und je.

Aber die Wirklichkeit ist anders als dieser Traum, die Straßen sind schmutzig und ungepflegt, die Häuser verwahrlost und halb verfallen, die Menschen hungrig und faul. Und die Frau, die kleine verliebte Frau, nach der er sich sehnte, ist anders geworden, hart, sicher und selbstbewußt, sie hat das Kind in ein Kinderheim gegeben, sie kümmert sich nicht um den Haushalt, sie sitzt nicht am Fenster und wartet auf ihren Gljep, sie spielt in der politischen Organisation eine Rolle, studiert marxistische Werke, sie nimmt an Sitzungen und Versammlungen teil, sie hat eine eigene Meinung und einen eigenen Willen. Ja, der Krieg hat alles umgestürzt, die Revolution hat alles verwandelt. Und wie ein Kleinbürger, wie einer der nichts von der neuen Zeit wissen will, bäumt sich Gljep gegen das veränderte Leben auf. Er war bereit, sein Blut und seine Gesundheit für die Revolution hinzugeben, aber sein Heim, seinen Traum von Familienglück und Ehebehaglichkeit, den will er nicht hingeben, den hält er für sein ewiges Recht. Das ist das eine – das andere ist nicht so persönlich, aber nicht weniger problematisch: die Fabrik, die große Zementfabrik, steht schon seit vielen Jahren, die Arbeiter, zermürbt und korrumpiert von dem dröhnenden Müßiggang des Krieges, der Revolution, wollen lieber in ihren Klubs debattieren, um jedes Stück Brot mit den Kommissären streiten, in Hunger und Elend verkommen als arbeiten. Nein, sie denken gar nicht daran, die verrosteten, von Spinnweb überwucherten Maschinen wieder in Gang zu setzen, sie lungern zerlumpt herum und warten auf irgendein Wunder. Nur der Maschinenmeister behütet seine eisernen Lieblinge, nur einer der alten Ingenieure hockt in seinem Arbeitszimmer über den Zeichnungen, gespenstischer Wächter einer zerborstenen Welt.

[…]

Arbeiten muß man, sagt Gljep, das ist die einzige Lösung. Und er reißt die Genossen mit, die Muskeln straffen sich wieder, das Blut pulsiert in den Adern. Arbeit, Arbeit, Flamme, die über alles Persönliche, alles Quälende und Verworrene triumphiert. Und die Maschinen erwachen aus ihrem Schlaf, die Kolben stampfen, die Transmissionen singen, die Förderkörbe klimmen den Berg hinan. Ungeheure Musik der Arbeit. – Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, hundert Schwierigkeiten müssen sie überwinden, hart und grausam müssen sie sein, um sich das Nötigste zu beschaffen, aber sie greifen zu, sie sind nicht sentimental, sie kennen keine Schonung. Kosaken, Weißgardisten überfallen das Werk, da legt man die Schaufel weg und nimmt das Gewehr, da kämpft man mit derselben unerbittlichen Kraft gegen Menschen, wie man gegen den Widerstand der Materie kämpfte – und kehrt wieder zurück zur Arbeit, die das Entscheidende ist. Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, sie müssen mit Dingen fertig werden, von denen sie früher nichts wußten, mit Problemen der Verwaltung, der Organisation, der Weltanschauung, mit Problemen der Erotik und des Gesellschaftslebens, der Freiheit und der Verantwortung. Alles müssen sie aus sich selber vollbringen, es gibt keine Traditionen, unbeholfen und schwerfällig, wie man ist, muß man die neue Welt gestalten, muß man sich in der neuen Welt zurechtfinden. Aber über alles hinaus donnert und singt das Werk, das sie, die Arbeiter, auf eigen Faust, aus freien Stücken, wieder in Gang gebracht haben, steigt der Hymnus der Arbeit, der Hymnus der Revolution empor.

Tapfer, ehrlich und strotzend von Lebenskraft ist dieses Buch, „unrussisch“, wenn man nur die Dichter des Zarenreiches als russisch gelten läßt, durchstürmt von ungestümer Aktivität. Gladkow macht sich und den Lesern nichts vor, er weiß, daß in Rußland nur ein Bruchstück dessen verwirklicht wurde, was man verwirklichen wollte, er kennt die Schwächen und Mängel der bolschewistischen Gesellschaft, er schildert sachlich und objektiv – aber durch all das braust und jubelt das leidenschaftliche Bekenntnis zu der Wandlung des Lebens, zu der Wandlung des Geistes in Rußland, seine Liebe zur Revolution und zur Arbeit. Und darum ist das Buch nicht „naturalistisch“ und nicht „romantisch“, nicht ein Stück Literatur, sondern ein Stück Leben.

[…]

Erkennt man in diesen drei Romanen, die aus einer Fülle von interessanten und bedeutenden Büchern herausgegriffen wurden, die Wandlung des russischen Geistes? Welch ein Bekenntnis zur Wirklichkeit, welch eine Härte und Präzision, welch ein unverschwommener, unromantischer Wille zur Lebensgestaltung! Das ist nicht mehr die „russische Seele“, die man wie eine rätselhafte Gottheit verehrte, das ist der Geist des Marxismus, der Geist der Revolution, der unsere Sprache spricht wie die Sprache des jungen Rußland. Die Probleme, die Tragödien, die Erkenntnisse jeder Revolution werden in diesen Büchern dargestellt, und während die deutsche, die westliche Literatur noch immer an der Vergangenheit schmarotzt, ist die russische Literatur heute der Ausdruck unserer Zeit, Flamme und Geist der Gegenwart. Darum lieben wir über alle Kritik und alle Gegensätze hinaus dieses bolschewistische Rußland.

In: Der Kampf, 1927, S. 499-507

N.N. (= Friedrich Austerlitz): Der Tag der Republik.

Sechshundertfünfzig Jahre lang hat das fluchbeladene Geschlecht der Habsburger Österreich beherrscht. Die Habsburger – das waren jene Ferdinande, die mit Schwert und Spieß, mit Rad und Galgen das lutherische deutsche Volk so gründlich katholisch gemacht, daß nach Jahrhunderten noch „Ich werde dich katholisch machen!“ als Drohung galt, die Zehntausende evangelischer Bürger um ihres Glaubens willen aus dem Lande gejagt, alle ständische Freiheit, alle städtische Selbstverwaltung, alles bäuerliche Recht in Strömen von Blut erstickt, die das einst blühende Österreich zur Wüste gemacht haben, um nur über die Wüste wenigstens schrankenlos herrschen zu können. Die Habsburger – das waren jene Leopold und Karl, die deutsches Gut und Blut hingeopfert, deutsches Land den Franzosen preisgegeben haben, um nur in Spanien, Italien, der Niederlande ihren Familienbeitz vergrößern zu können. Die Habsburger – das war jener Franz, der Österreich zum Schirmherrn der Reaktion in ganz Europa gemacht, der, wo immer ein Volk um seine Freiheit kämpfte, ob in Frankreich oder in Italien, in Spanien oder in Polen, in Deutschland oder in Ungarn, die junge Freiheit durch österreichische Bajonette morden hieß. Die Habsburger – das war endlich jener Franz Josef, der, ein Jüngling noch, mit Blutgerichten, mit Kerker und Galgen zehn freiheitshungrige Völker niederwarf und, ein fast sterbender Greis schon, die Welt in Flammen setzte, als er das fluchwürdige Ultimatum an Serbien unterschrieb.

Sechshundertfünfzig Jahre haben die Habsburger geherrscht. Ein gefügiges Riesenheer von Hunderttausenden Bajonetten hielt ihnen die Völker nieder. Und furchtbarer als alle äußeren Machtmittel hielt jahrhundertealter Gewohnheit furchtbare Macht zehn Nationen ihnen im Gehorsam. Aber wenn dieses Gebäude der Herrschaft und der Unterdrückung den Franz und den Metternich ausgehalten hat, den D a m p f hielt es nicht aus. Die Eisenbahnen, die Fabriken, die Druckerpresse trugen allmählich neues Denken in jedes Dorf. Die Völker begannen an dem Staatsungetüm zu rütteln, das keiner seiner Nationen die Verkörperung ihres Daseins, jeder nur ein Gefängnis war. Prag und Budapest, Krakau und Lemberg, Trient und Triest, Agram und Sarajevo lehnten sich immer leidenschaftlicher auf. Habsburg zitterte vor dem Freiheitsdrang der Völker. Verzweiflung trieb es zur letzten teuflischen Tat. Um seinen durch den Freiheitsdrang eines geknechteten, zerstückelten Volkes bedrohten südslavischen Besitz zu retten, warf Habsburg die Brandfackel ins europäische Pulverfaß. Um Habsburg willen verbluteten Millionen auf zahllosen Schlachtfeldern. Um Habsburgs willen ward der mit dem Schweiß von Jahrhunderten aufgebaute Wohlstand der Völker zerstört. Aber vergebens suchte Habsburg noch einmal seine Herrschaft zu retten. Der Krieg ward verloren. Ehrlos, wie es gelebt, starb der Habsburger Geschlecht: es war „nibelungentreu“, der Spießgeselle des ruchlosen deutschen Imperialismus geblieben, solange er die Freiheit der Völker mit Füßen trat; aber als Deutschland den Wahnwitz, des deutschen Volkes Schicksal an Habsburgs Sache zu ketten, mit furchtbarer Niederlage büßte, als Deutschland selbst in Not geriet, machte der letzte Habsburger noch einmal das Dichterwort: „Dank vom Hause Österreich!“ wahr. Vergebens! Tschechen, Polen, Südslaven jagten Habsburgs Büttel davon und begründeten ihre eigenen Staaten. In Deutschland rollten zweiundzwanzig Kronen in den Sand. Da stand auch Deutschösterreich auf. Habsburgs Reich ist zu Ende. Am 12. November 1918 wurde Deutschösterreich Republik.

Es waren furchtbare Tage, in denen aus der Niederlage, in Not und Elend und furchtbarster Wehrlosigkeit die junge Republik Habsburgs entsetzliches Erbe antrat. Uns, die wir, den geschichtlichen Augenblick nützend, die Republik der Bourgeoisie aufgezwungen haben, doppelt schwere Tage. Am Tage vor der Verkündigung der Republik starb Viktor Adler. Der große Führer, der in den Achtzigerjahren die Arbeiterbewegung in unserem Lande recht eigentlich erst begründet, die kleinen, miteinander hadernden Arbeitergruppen in mühseliger Arbeit zusammengeführt, ans ihnen erst die Partei zusammengeschweißt hat, […]

Am 12. November ward nicht nur die Republik, ward zugleich auch Deutschösterreichs Heimkehr zum großen deutschen Mutterland verkündet. Der Kampf Habsburgs mit Hohenzollern um die Vorherrschaft in Deutschland hatte 1866 mit der Ausschließung Österreichs aus dem Deutschen Bunde geendet; nun, da Habsburg und Hohenzollern gefallen war, sollte die tausendjährige Gemeinschaft, die vor einem halben Jahrhundert zerrissen worden ist, wiederhergestellt werden. So verknüpfen sich am 12. November 1918 wieder die beiden Gedanken; die 1848 die Schergen Franz Josef Habsburgs im Blute der Wiener Oktoberkämpfe erstickt hatten: der Gedanke der deutschen Republik mit dem Gedanken der deutschen Einheit. Und wenn auch vorerst der Anschluß scheiterte am französischen Widerstand, der in heimischer schwarzgelber Verräterei ein willig Werkzeug fand, so hat doch die Erfahrung der zwei Jahre seither die unlösbare Verbindung der beiden Ideen des 12. November auch dem Blindesten offenbart. Denn auf sich selbst gestellt, bleibt Deutschösterreich in Not und Elend, die keine Staatskunst bannen kann; uns bleibt nur die Wahl: entweder die „Donauföderation“, die Wiedervereinigung mit Ungarn, Tschechen, Südslaven, die unser aller Unterwerfung unter Habsburgs Schwert voraussetzt, oder, wenn wir nicht wieder Habsburgs Knechte werden wollen, der Anschluß an Deutschland!

Der 12. November war das Werk der Arbeiterklasse. Die Furcht vor dem Proletariat allein hat den zitternden Lakaien Habsburgs die Republik, dem bebenden Schwarzgelben den Anschluß aufgezwungen. Aber so groß die Umwälzung des 12. November war: die Republik, vom Proletariat geschaffen, konnte noch nicht zur proletarischen Republik werden. Denn noch behauptet sich in ganz West- und Mitteleuropa der Kapitalismus gegen den Ansturm des Proletariats; mitten in dieser bürgerlichen Welt, von ihr abhängig, ihren Gesetzen untertan, mußte auch unsere Republik zur bürgerlichen Republik werden. So sitzt heute, zwei Jahre nach dem unvergeßlichen Tage, die Bourgeoisie auf dem Throne, von dem das Proletariat die Habsburger verjagt hat. Aber die Bourgeois-Republik ist hierzulande ein innerer Widerspruch. Denn unsere Bourgeoisie ist nicht republikanisch. In schwarzgelber Knechtschaft erzogen, davor zitternd, ihre Herrschaft über das Proletariat nicht mehr hinter Purpurmänteln und glänzenden Uniformen verbergen zu können, sehnt sie den Gebieter zurück, der ihre die Proletarier wieder unterwirft! Wie kühl, wie fremd, wie feindlich sie der Republik gegenübersteht, zeigt sie nie deutlicher als am gesetzlichen Staatsfeiertag der Republik; sie feiert keine republikanischen Feste, ihr ist der republikanische 12. November nicht minder fremd als der proletarische erste Mai. Der immanente Widerspruch der Bourgeois-Republik weist über sie hinaus: entweder zurück unter Habsburgs Joch oder vorwärts zur proletarischen, zur sozialistischen Republik!

In: Arbeiter-Zeitung, 12. November 1920, S.1.

Emo Descovich: Die Technik als Kulturproblem

Kürzlich wurde an dieser Stelle eine Reihe von Schriften besprochen, die über die Beziehungen der Technik zu den anderen Wissenschaften, zum Staat und zu einem großen, augenblicklich in einer welthistorischen Krise befindlichen Volke handeln. („Wege der Technik“, Neue Freie Presse, Nr. 23432). Jede einzelne dieser bemerkenswerten Veröffentlichungen befaßt sich mit einem anderen Thema. Sie alle aber beleuchten wie mit dem Lichtkegel eines Scheinwerfers die Tatsache, daß die Menschheit es noch nicht  verstanden hat, die moderne Technik in den Bau ihrer Gesamtkultur organisch einzufügen, so daß mir „Die Technik als Kulturproblem“ als geeigneter Sammeltitel erschien, weil er das all diesen Broschüren Gemeinsame am besten charakterisiert. Diese Aufschrift prangt nun auf dem Umschlagblatt des tiefdurchdachten Buches von Dr. Josef Popp, das in einem anderen Verlag (Georg D. W. Callwey, München) und zeitlich vor den erwähnten Schriften erschienen ist. Hier wird das Problemhafte der Stellung der Technik in unserer Kultur, dessen der Leser dort erst allmählich inne wird, in den Brennpunkt der Abhandlung gestellt und von den verschiedensten Seiten beleuchtet. Als Lehrer geisteswissenschaftlicher Fächer an der Technischen Hochschule in München, der er seit zwanzig Jahren als ordentlicher Professor angehört, ist der Verfasser nicht selbst Techniker, doch so innig mit der Technik verbunden, daß er einen vorzüglichen Überblick über ihr Wesen besitzt. Er nimmt ihr gegenüber gewissermaßen eine Doppelstellung ein, die ihn befähigt, das Problem von einer hohen Warte aus zu betrachten. Er vermag sich in die Gedankengänge sowohl des Technikers wie des Nichttechnikers einzuleben und infolgedessen eine für beide gleichermaßen verständliche Sprache zu sprechen. Und das ist notwendig. Denn Techniker und Nichttechniker stehen einander in vieler Beziehung völlig verständnislos gegenüber. Das ist wohl auch eine der wichtigsten Ursachen, weshalb die Technik eben noch ein Kulturproblem ist. Der Nichttechniker ist leicht geneigt, technisch Unmögliches für selbstverständlich, technisch Selbstverständliches für unmöglich zu halten. Ihm fehlt das Maß für den Umfang der technischen Wissenschaft, und er ist sich erst recht in unklaren über die verschiedenen Zusammenhänge zwischen Technik und den sonstigen Erscheinungen des Lebens. In diesem letzten Punkte ähnelt er aber dem Techniker selbst. Dieser geht meist so ganz in seinem Sonderfach auf, daß ihm nicht Zeit bleibt oder er sich wenigstens nicht die Muße nimmt, über jene Zusammenhänge ernstlich nachzudenken. So ist für beide die Technik ein Etwas, dessen Platz in der Gesamtkultur nicht feststeht. Soll aber jener Zustand nicht eintreten, der in der Versklavung der Menschheit durch die Technik bestehen würde, müssen alle Menschen zur Technik eine andere Stellung einnehmen als bisher. Die einen müssen wenigstens ihr Wesen kennenzulernen trachten, die anderen sich nicht ausschließlich mit ihr befassen, sondern Fühlung nehmen mit den Gedankengängen der Nichttechniker. Hier dem studierenden Techniker und Nichttechniker, aber auch dem Lehrer und jedem Gebildeten ein Führer zu sein, ist der Zweck des Buches, den es in hohem Maße zu erfüllen scheint. Mit unerbittlicher Klarheit wird das Für und Wider verschiedener mit der Technik im Zusammenhang stehender Erscheinungen erörtert. Die Art, in der es geschieht, hält den Leser in ununterbrochener Spannung wie ein guter Roman. Geradezu dramatisch wirken einzelne Stellen und es ist ja auch ein dramatischer Stoff, der hier behandelt wird. Betrifft er doch das größte Kulturproblem der Gegenwart und nahen Zukunft, dessen baldige Lösung im höchsten Interesse der Gesamtmenschheit gelegen ist.

In: Neue Freie Presse, 1.2.1930, S. 10

Nationalrätin Therese Schlesinger: Die Frauen in der Republik

Wer seit Jahrzehnten Arbeiterinnenversammlungen zu besuchen pflegt, dem muß es auffallen, wie verschieden die heutigen Arbeiterfrauen von denen sind, die wir vor zwanzig und dreißig Jahren in den Versammlungen zusehen bekamen. Bleiche, abgeplagte und vergrämte Frauen gab es ehemals und gibt es heute vielleicht sogar in noch größerer Zahl. Nicht umsonst hat der Krieg Hundertrausenden die Männer und Söhne geraubt und ebenso vielen den Boden ihrer früheren Existenz entzogen. Trotz alledem aber bemerkt man jetzt kaum jemals mehr, an den Frauen das furchtsame und demütige Gehaben, den dumpfen und stumpfen Gesichtsausdruck und den fast erloschenen, hoffnungslosen Blick, die ehemals für die Arbeiterfrauen so charakteristisch waren.

Das Frauengeschlecht von heute ist ein anderes geworden, ein mutigeres, selbstbewußteres und zuversichtlicheres. Dazu hat vieles beigetragen, das sich in den letzten Jahrzehnten ereignet hat. Die sozialdemokratische Aufklärungsarbeit ist bis in die entferntesten Gegenden gedrungen und hat das Denken und Fühlen der proletarischen Männer und Frauen mächtig beeinflußt. Wenn einerseits die Frau gelernt hat, ihre dreifache Belastung als Haushälterin, Mutter, und Arbeiterin nicht mehr als etwas von Gott Gewolltes und Unabänderliches demütig hinzunehmen, sondern als ein Unrecht zu begreifen, gegen das anzukämpfen heilige Pflicht ist, so hat anderseits auch der Arbeiter nach und nach begriffen, daß die Versklavung der Proletarierfrau ein Hemmnis für seine eigene Befreiung bedeutet und daß er gegen sein eigenes Klasseninteresse handelt, wenn er, statt sein Weib zu ermutigen und zu unterstützen, sie als seine Untergebene ansieht und zu der Knechtung, der sie im Betrieb unterworfen ist, auch noch die Knechtung im eigenen Heim hinzufügt.

Die furchtbaren Kriegsjahre, besonders furchtbar für die Frauen und Mütter, haben ohne Zweifel auch sehr viel dazu beigetragen, um die Proletarierinnen der Bevormundung durch ihre Männer und der Unselbstständigkeit den Unternehmern und den Behörden gegenüber zu entziehen. Hunderttausende von Mädchen, Frauen und Mütter mußten damals lernen, eigene Entschlüsse zu fassen und selbstständig zu handeln, mußten ihre eigenen Interessen und die ihrer Kinder wahrnehmen, ohne sich dabei durch Ratschläge oder Gebote ihrer Väter, Männer und Brüder leiten zu lassen. Und dabei hat es sich gezeigt, daß die Frauen nicht nur sehr wohl imstande sind, ihre eigenen Angelegenheiten zu ordnen, sondern daß sie auch im Wirtschaftsleben die Männer bis zu einem hohen Grade ersetzen, daß sie verantwortungsvolle Posten bekleiden und Aufgaben erfüllen können, zu deren Lösung man sie vorher niemals als befähigt angesehen hat – und wenn das Eindringen der Frauen in alle Berufe, in denen es während des Krieges an Männern gefehlt hat, für die Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten auch nicht gerade Segen bedeutete, sondern die Gesundheit vieler Frauen empfindlich schädigte, so haben doch die Erfahrungen jener harten Zeit mit dem Vorurteil von der Minderwertigkeit der Frauenleistungen wesentlich aufgeräumt.

Daß die Frauen imstande waren, auf wichtigen Arbeitsgebieten die Männer zu ersetzen und zugleich Hausfrauen- und Mutterpflichten zu erfüllen, die ihnen durch die Kriegsnot auch noch sehr erschwert waren, das mußte auch den verstocktesten Frauenverächter bekehren und was noch viel, viel wichtiger ist, es mußte auch die allerbescheidenste Frau endlich zu dem Bewußtsein bringen, daß sie es nicht nötig habe, fürderhin sich bevormunden und geringschätzen zu lassen.

Die lange Dauer und das schmähliche Ende des Krieges haben die Unvernunft der alten Herrschaftsordnung nur allzu klar erwiesen, einer Ordnung, in der die bürgerlichen Klassen und innerhalb dieser wieder nur die Männer ausschlaggebend waren. Darum verlieh der Umsturz den Proletariat und den Frauen einen gewaltigen Machtzuwachs. Diese beiden Faktoren hatten sich als Kriegsgegner bewährt und hatten als Kriegsopfer gelitten. Die Bedeutung, die sie dadurch errangen, kommt in der Verfassung unserer Republik zum Ausdruck und ganz besonders in dem uneingeschränkten Wahlrecht für beide Geschlechter und der Aufhebung aller Gesetze, durch welche die Frauen wirtschaftlich und rechtlich benachteiligt wurden.

[…]

Noch wissen freilich nicht alle arbeitenden Frauen von ihrer neu errungenen Machtstellung und von den ihnen zuerkannten Rechten, den richtigen Gebrauch zu machen, aber jede fühlt doch instinktiv, daß sie aufgehört hat, ein wesenloses Objekt der Ausbeutung und Knechtung zu sein. Mit diesem neu erwachten Selbstbewußtsein der Frauen müssen auch die bürgerlichen Parteien zählen, sie, die bis zum Umsturz die wütendsten Bekämpfer aller Frauenrechte waren. Das Frauenwahlrecht mußte dem Bürgertum von der Sozialdemokratie gewaltsam aufgezwungen werden, heute aber hoffen gerade die bürgerlichen Parteien mit Hilfe der Frauenstimmen im Wahlkampf zu siegen. Diese Rechnung der Arbeiterfeinde kann und darf nicht stimmen. Die große Masse der arbeitenden Frauen muß und wird sich am Wahltag erinnern, wem sie die Hebung ihrer rechtlichen und sozialen Stellung einzig zu verdanken hat.

In: Arbeiterinnen-Zeitung, 1923, Nr. 10, S. 2/3.

Oberspielleiter Dr. Fritz Peter Buch: Ein Drama der Revolution. Zur Aufführung des Dramas „Brülle China!“ von Tretjakow im Neuen Wiener Schauspielhaus.

             Als ich im Sommer vorigen Jahres die Rohübersetzung von „Brülle, China!“ in die Hand bekam, war ich einigermaßen erstaunt über die scheinbare Dürftigkeit dieses Szenengerüstes, das kaum die Hälfte von dem normalen Umfang eines Theaterstückes betrug. Neun kleine Szenen, oft nicht länger als drei bis vier Seiten, in einer kargen, sehr knappen Sprache, ganz wenigen, nicht sehr aufschlußreichen Regieanweisungen, vielen Personen, von denen jede ganz wenig zu reden hatte. Ich las zwei-, dreimal und war doppelt erstaunt, als ich allmählich fühlte, was für ein Reichtum an Phantasie, an szenischer Vorstellungskraft in diesem skizzenhaften Gebilde steckte. Als ich daranging, das Regiebuch für die deutsche Uraufführung in Frankfurt herzustellen, wurde mir klar, daß hier nicht ein Dichtwerk geschaffen werden sollte, dessen Schwerpunkt in der formalen Vollendung liegt, sondern daß ein ergriffener Mensch einem Erlebnis seiner unmittelbarsten Gegenwart, das ihn tief erschüttert hatte, den einfachsten und stärksten dramatischen Ausdruck gab. Es lag also für den Regisseur, der dieses Szenarium für das Theater lebendig zu machen hatte, nahe, vor allem auf den Tatsachenbestand selbst, den das Stück zu gestalten versucht, zurückzugehen.

             Im Sommer 1925, als die fortschreitende nationale Erhebung Chinas zu einer Verschärfung des alten Konflikts zwischen China und den fremden imperialistischen Mächten führte, die sich aus Handelsinteressen im Laufe der letzten Jahrzehnte immer mehr in die innerchinesischen Verhältnisse eingemengte hatten, kam ein amerikanischer Kaufmann in Wanxian, das ist eine Stadt am Oberlauf des Jangtsekiang, bei einem Streite mit einem chinesischen Bootsführer ums Leben. Der Kapitän eines englischen Flußkanonenbootes erzwang, als man den angeblich Schuldigen nicht ermitteln konnte, unter dem Drucke seiner Geschütze gegen jedes Völkerrecht die Hinrichtung von zwei an dem Vorfall ganz unbeteiligten Schiffern. Die Empörung der Volksmassen wurde in diesem Falle mit Mühe zurückgehalten. Als aber ein Jahr später der Kapitän desselben Kanonenbootes wegen eines ähnlichen Zwischenfalls – er hatte zwei chinesische Dschunken gerammt und weigerte sich, Ersatz zu leisten – mit den Behörden der Stadt Wanxian abermals in Konflikt geriet, kam es zu Zusammenstößen der Schiffsmannschaft und einigen Kulis; im Verlauf dieser Zusammenstöße legte der englische Kapitän eigenmächtig die Stadt Wanxian durch die englischen Schiffsgeschütze in Trümmer, wobei nach englischen Meldungen dreitausend, nach amerikanischen sogar fünftausend an den Vorfällen unbeteiligte Chinesen ums Leben kamen. Tretjakow hat diese zeitlich auseinanderliegenden Ereignisse zusammengezogen und daraus ein Stück voll leidenschaftlicher Anklage gegen die Uebergriffe imperialistischer Kolonialmächte in wehrlos gemachten und wirtschaftlich unterworfenen Gebieten geformt. Dem Ursprung und der Absicht des Stückes entspricht es, daß die Handlung nicht von einer individualistischen Heldengestalt getragen wird, sondern von einer Gruppe chinesischer Kulitypen, hinter denen das ganze, seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit beraubte chinesische Volk steht. Die Typisierung der Gestalten und des Konflikts erweitert den sozial-kritischen Horizont des Stückes; sein Schauplatz könnte auch Indien oder Südafrika sein, wo ja aus ähnlichen Ursachen stammende Reibungen auf der Tagesordnung sind. Der Dichter hat diese historischen Tatsachen nicht mit kalter Nüchternheit aufgezeichnet, sondern mit menschlicher Wärme durchglüht.

             Um auf der Bühne die unmittelbar lebendige Wirkung zu erzielen, die dem Dichter vorgeschwebt hat, muß auch die Inszenierung den Wirklichkeitsgehalt der dramatischen Fabel betonen. Ich bringe im Lichtbild eine Reihe von dokumentarischen Belegen, die die tatsachenmäßige Grundlage der Handlung dem Zuschauer nahebringen sollen. In der schauspielerischen und szenischen Gestaltung des Stückes wird versucht, einen sozusagen photographischen Realismus zu geben und die Grenzen des Sprechtheaters durch die Einbeziehung des Films und dem Film entlehnter mimischer Ausdrucksmittel zu erweitern. Auch die Verwendung einer Vorderbühne, die die Geschehnisse näher an das Publikum heranträgt, liegt in der Absicht des Dichters nach einer möglichst unmittelbaren und eindringlichen Wirkung. Aus diesem Bemühen um einen dokumentarischen szenischen Stil ergab sich bei der Frankfurter Aufführung die Beziehung eines chinesischen Assistenten, dessen Mitarbeit sich auch in der Wiener Inszenierung auswirkt.

In: Arbeiter-Zeitung, 26. April 1930, S. 9. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

B.: Theater, Kunst und Musik. „Brülle, China!“. Schauspiel von S. Tretiakow

(Neues Wiener Schauspielhaus.).

             Ein reichlich großmauliger Titel. Aehnlich jenem Plakat eines Kleiderhauses, auf dem ein Mann den Mund sperrangelweit aufreißt. Und gleichwie die Worte, die dieser Mann hervorstößt, mit ihren ersten Buchstaben ganz klein zwischen seinen Lippen stehen und mit ihren letzten riesengroß draußen in der Luft schwimmen (eine höchst unlogische Vorstellung, weil ganz im Gegenteile die erstgesprochenen Buchstaben gewissermaßen schon groß draußen im Raume schweben müßten, während die letzten eben neugeboren dem Gehege der Zähne entspringen), so plakatiert auch das Schauspielhaus auf dem Theaterzettel und auf den Wandtafeln sein „Brülle, China!“ in schiefer, rapid anschwellender Schrift, mit einem winzigen B beginnend, mit einem großmächtigen A schließend. Höchst apart, in der Tat! Jetzt wissen wir, wie chinesisches Gebrüll graphisch darzustellen ist. Phonetisch macht uns die Regie des Herrn Fritz Peter Buch mit ihm bekannt: Es erweist sich als widerlicher, mißtönender, demagogischer Lärm.

             Dieses angebliche Schauspiel des Russen S. Tretiakow dürfte dem Programm jener revolutionären Machwerke angehören, mit denen Sowjetrußland die übrige Welt belästigt. Der Tretiakow mischt sich da frech in eine Sache hinein, die ihn einen großen Schmarren angeht, nämlich in einen chinesisch-englischen „Zwischenfall“, der Jahre zurückliegt und, wenn er sich überhaupt so zugetragen hat, wie er hier geschildert wird, längst abgetan ist. Damals nämlich soll der Kapitän eines englischen Kriegsschiffes zur Sühne dafür, daß ein Amerikaner im Streit mit einem Chinesen ertrank, von den Einwohnern der Stadt Wansien unmenschliche Sühne verlangt und, da der wirkliche Täter nicht aufzutreiben war, zwei Geisel aufgeknüpft haben. Solche Grausamkeiten, wo und wann immer sie sich ereignen mögen, kann niemand schärfer verurteilen, als wir Christen, für ihre Opfer kann niemand aufrichtigeres Mitleid empfinden, als wir. Mit welchem Rechte aber heuchelt der Vertreter einer Weltanschauung Entrüstung und Mitleid, die den Martertod ungezählter Christen in Rußland, in Mexiko auf dem Gewissen hat, die das Blutregiment eines Bela Kun, den Geiselmord der Münchner Räteregierung zu ihren Ruhmesblättern zählt, die allerorten Mord und Greuel zum Parteidogma erhoben hat? So unerfindlich es ist, mit welchem Rechte er dies tut, so durchsichtig ist es, zu welchem Zwecke: Aus dem Einzelvorfall, der freilich jedem fühlenden Menschen ans Herz greifen muß, formt er revolutionäre Haßpropaganda. Eine Art von „Haßgesang wider England“. Dabei kommt es ihm nicht darauf an, die ganze weiße Rasse maßlos zu beschimpfen und zu verunglimpfen: Sie alle, die da, von geschäfts- oder berufswegen nach China kommen, Amerikaner und Engländer, sind wahre Bestien, beuten die armen Chinesen aus, mästen sich an ihren Hunger, mißbrauchen ihre Töchter, demütigen und kujonieren sie auf jede nur mögliche Art. Während die zum Tode geängstigten Gelben zitternd die beiden Opfer auslosen, tanzen die Europäer auf dem Kriegsschiff, spielen Tennis, flirten und singen zur Feier des blutigen Ereignisses das „God save the king“. Der katholische Missionär, die fromme Engländerin, auch sie, herzlose Scheinschriften, höhnen mitleidslos die gepeinigten Chinesen. Keine einzige fühlende Brust unter diesen Larven. Seht ihr, sagt Tretiakow triumphierend, so schaut die sogenannte Kultur aus! Die Wilden sind doch bessere Menschen! Da gibt es nur ein einziges Mittel: Revolution! Haut sie nieder, diese fremden Eindringlinge, murkst sie ab, erhebe dich, brülle China! Früher wird keine Ruhe sein. Ueberhaupt – so erzählt ein Kuli, der Herr Jakob Feldhammer – haben sie es drüben in Europa schon längst so gemacht, die Mächtigen, die Bedrücker gestürzt, davongejagt, sich ihre Menschenrechte erkämpft. Na also . . .

             Dieser Jakob Feldhammer, Direktor des Neuen Wiener Schauspielhauses, hat sich eine recht bequeme Rolle ausgesucht: Der Kuli hetzt nämlich fortgesetzt aus sicherem Hinterhalte, erzählt den armen Schiffern, jeder müsse die revolutionäre Kunst erlernen, für den anderen zu sterben, dabei fällt es ihm nicht entfernt ein, sich freiwillig für den alten Todeskandidaten oder für den gleichfalls zum Strick verurteilten Familienvater zum Sterben zu melden. Daran erkennen wir dich, du tapferer Revolutionär! Nur immer die anderen in den Tod geschickt, mein mutiger Phrasendrescher!

             Ein starkes Theaterstück? Mag sein. Gepeinigte Menschen in ihrem Leid zu sehen, ist immer „starkes“ Theater. Aber sicherer noch ist diese Aufführung in Wien ein starkes Stück. Es wird an einem Theater gewagt, das brave Währinger Bürger aus ihren mühsamen Ersparnissen zum Regierungsjubiläum des Kaisers Franz Josef bauten. Es wird mit all seiner maßlosen Verunglimpfung der englischen Nation in einer Zeit gewagt, da der österreichische Bundeskanzler in London herzliche und wertvolle Freundschaftsbeweise empfängt.

             Die Leistungen der einzelnen Darsteller zu würdigen müssen wir uns versagen. Die Regie des Fritz Peter Buch klappte ausgezeichnet. Gut gebrüllt China! Ein offenkundig parteimäßig eingestelltes Publikum raste vor Entzücken. Gut gebrüllt, Wien!

In: Reichspost, 4.5.1930, S. 13. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

N.N.: „Brülle China“. Neues Wiener Schauspielhaus.

             In der dumpfen schwülen Wüste des völlig geistlosen, bürgerlichen Wiener Theaters eine kleine Oase. Sie sticht umsomehr von der Umgebung ab. Sie kommt für die Arbeiterschaft gerade dieser Stadt umso überraschender und kann deshalb mit umso größerer Freude begrüßt werden, weil das Theater in Wien überhaupt aufgehört hat, auf die Arbeiterschaft, die zu neunzig Prozent die Bevölkerung Wiens bildet, irgendwie Rücksicht zu nehmen. In keiner anderen Stadt z. B. Deutschlands wäre es möglich, daß ein solcher Kurs in den Theatern eingeschlagen wird wie in Wien, wo nahezu sämtliche Theater völlig abhängig sind von der Sozialdemokratischen Kunststelle und der sozialdemokratischen Gemeindeverwaltung. Darüber wird noch zu sprechen sein.

             Aktuelles Theater. Ein Ausschnitt aus den Kämpfen, den brennendsten Kämpfen der Gegenwart. Das bedeutendste Ereignis des gegenwärtigen Weltgeschehens: der Befreiungskampf der unterdrückten Kolonialsklaven, die Flammenzeichen gegen die imperialistischen Unterdrücker. Ein Russe, Genosse Tretjakow, hat ein bewußtes Tendenzstück geschrieben, das von Meyerhold in einer Weise inszeniert wurde, die in der ganzen Welt Beifall und Aufsehen erregte. Beide, Tretjakow und Meyerhold, haben damit neuerlich den Beweis geliefert, daß ein wirkliches Kunstwerk, das imstande ist, die Massen zu erfassen und mitzureißen, nur entstehen kann aus dem kämpfenden Leben bei eindeutiger und klarer Stellungnahme. Das ist verpönte „Tendenz“, die das Bürgertum und mit ihm auch die Sozialdemokratie aufs tiefste haßt und ablehnt.

             Die Handlung, die der Wirklichkeit entnommen wurde: Ein amerikanischer Kaufmann kürzt den Kulis, die ihn Lasten schleppen, den kärglichen Hungerlohn. Er beginnt auch mit dem Schiffer, der ihn auf einem kleinen Boot vom englischen Kriegsschiff an Land bringt, Streit wegen des Fuhrlohns, versucht dem Chinesen das Ruder zu entreißen, um ihn damit zu schlagen. Er kommt aber dabei selbst zu Fall, stürzt, fällt über Bord und ertrinkt. Viele Zeugen haben vom Ufer aus den Vorfall beobachtet, auch die Offiziere. Dennoch verlangt der Kommandant des „Kanonenboots Seiner Majestät des Königs von England“ von der Stadt Wanshien Sühne für den „Mord“. Entweder sofortige Hinrichtung des Schiffers, in dessen Kahn der Kaufmann fuhr oder – da dieser von den Schiffern versteckt wird – Hinrichtung von zwei Mitgliedern der Schiffergilde. Falls diese Forderung bis zum nächsten Tag nicht erfüllt ist, wird die Stadt bombardiert. Der englische Journalist drahtet an die Weltpresse: „Schamlose Ueberfälle von Chinesen auf Europäer, drei Kaufleute ermordet, als Auftakt zu weiteren Morden.“ Ein Telegramm der chinesischen Behörden wird nicht befördert. Die Chinesen sagen: „Auch ein englischer Kapitän muß sich in seinen Forderungen mäßigen, wir werden uns beim sozialistischen Ministerpräsidenten von England beschweren“. „Ich kenne keinen solchen“, antwortet der Kapitän, „ich kenne nur einen Ministerpräsidenten Seiner Majestät, des Königs von England.“

             Die Masse der verhungernden Kulis, die um sich vor dem Hungertod zu retten, ihre Kinder und Frauen für ein paar armselige Münzen an Europäer verkaufen, beginnt zu rebellieren. Noch kennen sie nicht den Grund ihrer Unterdrückung, noch haben sie kein Klassenbewußtsein. Allmählich – und das bringen Autor und Regisseur meisterhaft zum Ausdruck – dringt die Erkenntnis durch, daß die Kulis ganz Chinas zusammenstehen und kämpfen müssen gegen die Unterdrücker. Die Kulis fragen nach Recht. „Für euch gibt es keins“, antwortet einer aus ihrer Mitte, „ihr werdet getreten, geschunden, geköpft, euch nimmt man euer Land, weil ihr arm seid.“ Die Chinesen gehen nochmals aufs Kanonenboot, um den Kapitän zu bitten, von dem Mord an den Schiffern abzulassen. Der chinesische Bürgermeister erniedrigt sich vor dem englischen Offizier, kniet vor ihm nieder. Aber je mehr sich die Chinesen erniedrigen, desto frecher werden die Bedrücker. (So ist es nicht nur in China!) Zwei Schiffer werden ausgelost, um dem imperialistischen Blutsauger als Opfer vorgeworfen zu werden. Die ganze Stadt würde sonst in wenigen Stunden in Flammen stehen. Ein Kuli stirbt für den andern! Das Klassenbewußtsein beginnt, feste Formen anzunehmen. „Sag mir einen von jenen, die sich gegen die Ausbeuter auflehnen und sie zusammenschlagen, sag mir einen, ich will mittun.“ Der andere Kuli, ein Wissenderer, antwortet: „Du, ich, er, wir alle!“

             Die beiden Schiffer werden zur Richtbank geschleppt, der Kapitän ist unerbittlich. „Hier stehe ich und keine Macht der Welt kann mich zwingen, diesen Platz zu verlassen.“ Es fehlt nicht der Millionär, der den Mord mitvorbereitet hat und nun Krokodilstränen vergißt, von den Chinesen aber schroff abgewiesen wird, es fehlt nicht die Wohltätigkeitsdame, die verspricht, den kleinen Sohn des ermordeten Schiffers in ein Waisenhaus zu bringen.

             Das Programm des Kapitäns ist erfüllt. Stolz und auf die Chinesen zynisch herabblickend, will er sich entfernen. Aber da geht auch die Geduld der Kulis zu Ende, der Sturm bricht los und unter den derben Fäusten der Proleten bricht der „Offizier Seiner Majestät, des Königs von England“ und Seiner Exzellenz, des sozialistischen Ministerpräsidenten Macdonald tot zusammen. Schon krachen auch die Salven vom Kanonenboot gegen die Stadt Wanshien, aber die Kulis sind zu einer eisernen Masse zusammengeschweißt, vorwärts, aufwärts geht es unter der Fahne Sunyaisens. Aufschreien die Kulis: „Brülle, China!“

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             Der Originaltext wurde an einigen Stellen geändert. So wurden alle Hinweise auf die Sowjetunion, die die Kulis im Kampfe gegen die imperialistischen Unterdrücker unterstützt und wegweisend voranschreitet, gestrichen. Der revolutionären Kraft des Stückes konnte aber dadurch nicht Abbruch getan werden.

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             So wirksam wie das Stück selbst ist die Regie Fritz Peter Buchs, die für Wien eine wahre Revolution bedeuten könnte, wenn wir nicht wüßten, daß nach dieser kleinen Oase wieder endlose schwüle geisttötende Wüste kommt. Auch die Darstellung steht durchaus auf dem gleichen künstlerischen Niveau.

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             Die Wiener Arbeiter haben es sich im Lauf der Jahre abgewöhnt, ins Theater zu gehen und so ist es nicht weiter verwunderlich, daß die proletarischen Massen dieser Stadt nur sehr spärlich ins Schauspielhaus strömen. Bezeichnend für die sozialdemokratische Kunststelle ist es, daß sie wohl Operettentheater und Bühnen, die allen erdenklichen Mist und Schund aufführen, füllt, bisher aber nicht die Massen auf das wirklich revolutionär-proletarische Stück „Brülle, China!“ aufmerksam machte.

             Es ist zu hoffen, daß die Direktion des Schauspielhauses, die in Tretjakows Stück nichts als ein Kunstwerk sieht und glaubte, damit gute Geschäfte zu machen, auch den revolutionären Arbeiterorganisationen den Besuch von „Brülle, China!“ durch Abgabe von ermäßigten Karten ermöglicht. Kein Arbeiter soll die Möglichkeit, einmal in einem Wiener Theater ein aktuelles revolutionäres Stück, geschrieben von einem russischen Genossen, zu sehen, ungenützt vorübergehen lassen.

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             Die gesamte bürgerliche Presse brüllt auf. Skandal! Bolschewisierung des Theaters! Verbieten! – Wir erwähnen das als Bestätigung der Richtigkeit des von uns vorher Gesagten.

In: Die Rote Fahne, 7. Mai 1930, S. 5. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Bidens: Theater und Kunst. Revolutionstheater im Neuen Wiener Schauspielhaus. Die Erstaufführung von „Brülle, China!“

             Es ist ein müßiges Beginnen, dem Publikum einreden zu wollen, daß Tretiakows „Brülle, China!“ kein bolschewistisches Propagandastück ist. Man abstrahiere einmal vom chinesischen Milieu, setze statt der Werte „Engländer“ und „Kuli“ die Begriffe „Unternehmer“ und „Angestellter“ und das schönste kommunistische Hetzdrama ist fertig. Man führe nicht an, daß Gerhart Hauptmann in seinen „Webern“ gleichfalls den Konflikt zwischen Lohnherren und Lohnsklaven dramatisch verwertet hat. Zunächst ist Gerhart Hauptmann ein Dichter, der Licht und Schatten gleichmäßig verteilt, dem brutalen Geldmenschen Dreißiger den skrupellosen politischen Abenteurer Moritz Jäger gegenübergestellt hat. Und dann sind die „Weber“ aus der Zeit geschöpft. Wo gibt es aber heute noch einen Befreiungskampf der Unterdrückten? Die Gesellschaft ist vielmehr gezwungen, gegen die Ueberhebung, gegen den Terrorismus der arbeitenden Klassen Gesetze zu erlassen oder wie in Rußland in Knechtschaft zu versinken, die schlimmer ist als die vielverlästerte Gewaltherrschaft eines auf dem Altar einer Schlagwortfreiheit geopferten absolutistischen Regimes. Erst künftige Geschlechter werden den Fluch einer Neuordnung büßen, die allen physikalischen und logischen Gesetzen zum Trotz die Rädchen einer Maschine über den Motor stellt.

             Wem außer Herrn David Bach und seiner Kunststelle will Direktor Feldhammer zu Gefallen sein, wenn er diese dramatische Hetzrede, in der noch der heiße Atem fanatischer Moskauschergen glüht, nach Wien verpflanzt? Wer an der Währingerlinie, deren Anrainer doch für das Neue Wiener Schauspielhaus in erster Linie als Publikum in Betracht kommen, hat Interesse dafür, was am Rande der Wüste Gobi vorgeht? Gut, die mit allem Haß des enragierten Kommunisten gezeichneten kapitalistischen Gewalthaber sind gegen die einheimische Schifferbevölkerung schonungslos und ungerecht vorgegangen. Hat man aber die Greueltaten eines Bela Kun, eines Tibor Samuely ganz vergessen, die, bedeutend näher einem Kulturzentrum, sich gegen wehrlose Bürger ausgetobt haben?  Wem stehen also die Herren zu Diensten? Grausamen Terror hat es überall und jederzeit gegeben, wenn eine Partei oder eine Volksschichte in Gefahr war, die Herrschaft zu verlieren. Merkwürdig war nur, daß die durch einen Umsturz in die Höhe gekommenen „Befreiten“ immer viel bestialischer und hemmungsloser gehaßt haben als die besiegten „Unterdrücker“.

             So werden denn auch in „Brülle, China!“ Wort und Handlung nicht vom Schwung des dichterischen Genius, sondern von der Zentrifugalkraft entfesselter Tendenz getrieben und es ist schade um die Regiekünste des Herrn Peter Fritz Buch aus Frankfurt, der sicher der Bühne viel Interessantes geben könnte, wenn er nicht den Ehrgeiz hätte, Piskator [sic!] II. zu werden. Er hat jedenfalls aus dem Schauspielermaterial des Neuen Wiener Schauspielhauses das Größtmögliche herausgeholt, so daß vieles, was Dressur war, wie Natur erschien. Man muß aus der Menge der Mitwirkenden die Damen Horeschofsky, Rambausek und Eschbaum sowie die Herren Rothauser, Koch, Kniedinger, Varndal, Iwald, Lipschütz und Grassow besonders hervorheben und feststellen, daß Frau Feldhammer in einer kleinen Rolle viel dramatischen Impetus zeigt. Herr Feldhammer aber, der mit sichtlicher Hingabe den Räsoneur des Stückes, einen Anführer der Kulis, spielte, möge bedenken, daß nur ein superkluger Unternehmer beide Geschäfte zu machen versucht. Er wird das Stück vielleicht der sozialdemokratischen Kunststelle zu Dank spielen, das Stammpublikum an der Währingerlinie aber wird sich bestimmt aus dem maskierten Klassenkampf nach der gesunden Hausmannskost des „Roten Tuches“ zurücksehnen.

             Die grau in grau gezeichneten Szenen fanden bei einem Auditorium, das zum großen Teil aus marxistischen Parteigängern bestand und in dem bezeichnenderweise auch Bürgermeister Seitz nicht fehlte, eine Aufnahme demonstrativen Charakters. Die zum Teil von der „nichtbolschewistischen“ Regie eigens eingelegten, im Original nicht enthaltenen Hetzschlagworte (zum Beispiel „Kulis wie wir haben anderswo die Unterdrücker davongejagt!“) wurden mit donnerndem Applaus der „Gesinnungstüchtigen“ aufgenommen und als der zu einem Tyrannenmord umgedichtete Schluß vorbei war, erhob sich ein ohrenbetäubendes Zustimmungsgeheul. Ueber diesen Beifall mag sich aber Direktor Feldhammer keinen Illusionen hingeben. Auch Direktor Berisch haben die Gefolgsleute der sozialdemokratischen Kunststelle zugejubelt. Als er aber Pleite machte, waren sie die ersten, die ihn verleugnet und fallen gelassen haben.

In: Neues Wiener Journal, 3.5.1930, S. 10-11. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Oskar Maurus Fontana: Brülle China! Neues Wiener Schauspielhaus

             Unterdrückung und Befreiung sind die zwei starken Akzente dieses Schauspiels von S. Tretjakow (deutsch von Leo Lania). China ist unterdrückt, ist ausgebeutet von den weißen Männern, die die großen Schiffe und das viele Geld haben. Ein Beispiel dafür erzählt in neun Szenen Tretjakow. Ein englisches Kanonenboot und ein amerikanischer Händler liegen vor der Stadt Wanshien. Geschäfte werden gemacht, Löhne gedrückt. Die Kanonen schauen wie unbeteiligt zu. Wie sehr sie aber beteiligt sind, zeigt sich sofort, als der Amerikaner bei einer Rauferei mit einem Chinesen zugrunde geht. Nun drohen die Kanonen offenen Mord, nun sprechen sie die Sprache der Unterdrückung. Die Stadt und China mit ihr werden rücksichtslos gedemütigt. Der Schuldige ist nicht gefunden worden, also müssen zwei Unschuldige als Sühne sterben.  Alles Flehen hilft nichts, die Kanonen sind aus Erz, sie hören nichts. Die zwei Unschuldigen werden angesichts der ganzen Stadt gehängt. Stumm und leidend hat sie es geduldet. Bis plötzlich die Not der Unterdrückung die Dämme der Angst bricht, bis das Volk der Stadt Wanshien aufsteht, den englischen Kapitän niedermacht und auch dem Bombardement des Kanonenbootes mit der aufgerollten, flatternden Fahne der Kuomintang den unbrechbaren Trotz der Befreiten gegenübersetzt: Brülle China, brülle gegen die Knechtschaft, brülle gegen die Kanonen, die den Nutzen des Händlers sichern!

             Das Stoffliche des Stückes ist seine Stärke. Das Panorama einer Kolonialwelt, das da entrollt wird, regt auf, so sehr seine Zeichnung im einzelnen primitiv und grob sein mag. Menschliche Not und Überwindung menschlicher Not (und geschehe sie auch nur auf dem Theater) rufen seit je am stärksten die Herzen und Geister der Menschen an und damit die Dichter und ihre Gefolgschaft. Denn, darüber darf man sich trotz der alarmierenden Wirkung dieser Szenen keiner Täuschung hingeben, Tretjakow gehört nur zur Gefolgschaft der Dichter, nicht zu ihnen selbst. Sein Schauspielverhält sich zu einer Dichtung wie ein Plakat zu einem Ölgemälde. Tretjakows Schwarzweißtechnik – tieferes Schwarz für die Herren, strahlendes Weiß für die Unterdrückten – genügt für ein wirksames Gegeneinanderausspielen wirkender irdischer Kräfte, aber nicht für die Gestaltung von Menschen, für die innere Erhellung von Situationen. Tretjakows Schauspiel, in einer bereiten Welt entstanden, lebt dennoch, wie die unendlich gültigeren, unendlich reicheren „Weber“ nur von der Trotzmelodie einer unterdrückten Welt: „Ihr fesselt der Armen Hab und Gut und Fluch wird euch zum Lohne!“ Tretjakows Schauspiel kommt darum als künstlerisches und auch revolutionäres Dokument nicht über die Wiederholung hinaus. Das Neue, das es gibt, ist das Stoffliche, ist eine Ahnung der Welt Chinas, ist ein fernes Grollen der Tragödie des chinesischen Volkes.

             Aus diesen Möglichkeiten schlägt die Regie Fritz Peter Buchs Funken. Er gibt ein leidenschaftlich bewegtes Theater im Anschwellen, Abbeben und Wieder-Hochfluten der Massen. Er findet für die Feierstimmung im Schatten der Kanonen auf dem Kriegsschiff spitze Töne der Satire wie er der Verzweiflung der Chinesen den leisen Schmerz und den brüllenden Ausbruch zu geben weiß. Eine starke Regieleistung. Auch dort, wo sie Elemente der Inszenierungen Piscators und Eisensteins (Potiomkin) übernimmt, tritt sie nicht auf dem gleichen Fleck, sucht sie Anregungen weiter zu entwickeln. Daß Buch kein Nachahmer des Szenenaufbaus ist, merkt man an seiner Arbeit – am Schauspieler besonders deutlich. Hier ist nichts verwischt oder beiläufig, hier ist jede Type zu einem lebendigen Ausdruck gebracht.

             Wie ausgezeichnet Josef Zechell als chinesischer Student, geduckt aufbegehrend, wie voll fremder Würde der Dauyin des Herrn Rothauser, welche dunkle Klage ist in Anna Feldhammers Worte gebannt, was für leidende Menschen sind die alten Schiffer der Herren Weiß, Kalwoda, Lipschütz, welche Weißglut der Empörung in Jakob Feldhammers Kuli, welcher Trotz in Kurt Liecks Aufschrei gegen die Kanonen, wie stark und gar nicht theatralisch der Kapitän des Herrn Koch, wie gut ist die exakte, militärisch sachliche Besatzung des Kriegsschiffs von den plaudernden ahnungslosen weißen Zivilisten unterschieden, wie ergreifend mit ein paar Sätzen und Bewegungen der arme Chinesenboy der Elisabeth Eschbaum. Das alles ist starkes Theater und eine Bereicherung des Wiener Theaters.

             Ist es Bolschewistentheater – wie die Hetze höhnt? Nun, dann auch „Die Räuber“ mit ihrem Ruf „In Tyrannos“ als Bolschewikentheater ausgegeben werden. Daß es Revolutionen gegeben hat und geben wird, soll das auf dem Theater verschwiegen werden? Nicht Blindheit und die Torheit der sich Blindstellenden arbeiten den Revolutionen entgegen, sondern nur Erkenntnis und der Mut zur Erkenntnis.

In: Der Tag, 4.5.1930, S. 18. Weitere Aufführungsdebatten finden Sie hier.

Béla Balazs: Das entfesselte Theater

             Gelt, das klingt gefährlich? Das klingt nach Unbändigkeit und Wahnwitz, nach Revolte gegen alle Gesetze und Regeln, nach formlosem Sturm und Drang. Ein entfesseltes Theater! Was stellt man sich dabei vor? Die Phantasie bricht aus seinem Kulissenkäfig und rast durch die Straßen der Nüchternheit? Das Spiel schwillt an, steigt über die Dämme der isolierten Kunststätte und überschwemmt den Ernst des Lebens. Eine brausende Sturzflut von Masken und Kostümen ergießt sich mit Harfenklang und Schellengeläute – entfesselt – über die philiströse Ordnung des Alltags.

             Es klingt nur so, es scheint nur so, Tairoff, der Direktor der Moskauer Künstlerspiele, der seinen Reformversuchen diesen populär gewordenen ausdrucksvollen Namen gab, ist kein zügelloser Stürmer und Dränger, der alle Gesetze verachtet. Im Gegenteil. Er ist ein streng-dogmatischer Ästhet. Wenn er ein Revolutionär ist, so ist er ein doktrinärer wie die Kommunisten, denen er angehört, die nach den Vorschriften eines gelehrten Buches die Welt neuschaffen wollen. Er könnte auch ruhig sagen: ich bin nicht gekommen, das Gesetz zu zerstören, sondern um es durchzuführen. Tairoff, der prominenteste Vertreter der neuesten Bühnenreformbewegung, der Schöpfer des „entfesselten Theaters“, ist ein fanatischer Pedant.

             Denn was meint er eigentlich mit der Entfesselung des Theaters? Er meint die Befreiung von der Diktatur der Literatur. Das Theater, sein Theater, will nicht mehr dienend die vorgeschriebenen Wege des vorher geschriebenen Dramas gehen. Es will nicht mehr bloß Kanzel der Dichter, unselbständiger Dolmetsch außerhalb stehender Schriftsteller sein.

             Das Orchester meutert und empört sich gegen die Partitur, will autonom, aus seinem eigenen Element, spontane Gestalten schaffen. Das Theater soll nicht mehr Ausschank der Literatur sein, sondern ursprüngliche Quelle einer eigenen, selbständigen Kunst werden.

             So ungewohnt diese Absicht auch heute ist, ist sie nichts weniger als neu und unerhört. Bekanntlich ist das Theater älter als das geschriebene Drama, das nur als nachträgliche Kodifizierung und Regelung der allgemein üblichen Stegreifspiele entstanden ist. Die Stücke der Commedia dell’ arte waren keine Literatur, und selbst Shakespeares Dramen sind zum Teil auf der Bühne entstanden. Neu ist also diese revolutionäre Idee nicht. Noch weniger aber ist sie anarchistisch und wider das Gesetz. Vielmehr wird mit ihr die pedante Durchführung eines alten akademisch-ästhetischen Dogmas bezweckt. Es ist das ästhetische Dogma vom „reinen Stil“, von der materieechten, ungemischten Kunst. Denn ein Gemälde etwa, das musizieren täte, oder eine Statue, die Verse sprechen könnte, wäre doch ein grauenhafter Kitsch. Und hat man nicht ästhetische Bedenken gehabt gegen Textillustrationen oder gegen die Oper, gegen diese Mischform von Musik und Drama? Hat man sich nicht ereifert gegen die „literarischen“ Bilder, die irgend einen erzählbaren Inhalt haben? Ja, die Forderung einer reinen, ungemischten Kunst schien ein unbezweifeltes, ästhetisches Dogma zu sein, wiewohl sie auf keinen steinernen Tafeln geschrieben stand. Auch ging man nicht soweit in der Konsequenz, etwa dem Lied die Existenzberechtigung abzusprechen und zu behaupten, Schubert, Schumann, Brahms, Wolff wären Kitscheure, weil sie Musik mit Literatur mischten. Es kommt eben darauf an, ob dabei durch eine wirklich „chemische“ Mischung ein organisches drittes Ding entsteht. Und man kann wohl kaum leugnen, daß dies bei der Mischung von geschriebenem Drama und Bühnenpantomime in vielen Fällen restlos gelungen ist.

             Und doch scheint die Freiheitsbewegung des Theaters um sich zu greifen. Die selbsttätige Bühne in der Form von Balletts, Pantomimen und Sprechchören (bei denen das Wort lediglich nur als akustische Masse mit den Form- und Farbwirkungen kombiniert wird) ist ohne Zweifel aktuell geworden. Das muß außer den besagten ästhetischen Bedenken tiefere Gründe haben. Gewiß ist ein so unliterarisches, autonomes, „entfesseltes“ Theater eine sinnvolle und berechtigte Kunstgattung. Aber daß sie just in unseren Tagen modern wird, das wird mit Dingen zusammenhängen, die außerhalb der Ästhetik liegen.

             Warum kommt man heute vom Worte ab? Warum ist man heute mehr für dekorative Schaustellungen als früher? Das kommt daher, daß das Wort heute nicht mehr zielsicher ist. Dichter und Schauspieler wissen nicht mehr, ob ihr Wort auch richtig verstanden wird. Die geschlossene bürgerliche Kulturgemeinschaft hat aufgehört. Man ist nicht mehr intim unter sich, wie man es seinerzeit in den fürstlichen Theatres parés und auch später im Kreise der gebildeten Patrizier war. Soziale Schichten haben sich verschoben, Klassen und Stände sind durcheinandergewürfelt. Das Publikum ist nicht mehr homogen; es ist ein zufälliges, und man weiß nicht mehr, zu wem man spricht. Was der eine versteht, muß dem anderen fremd klingen. Will man also das Theater für die breite Öffentlichkeit retten und doch auf einem artistischen Niveau erhalten, so greift man eben zu den dekorativen Schaustellungen. Denn diese sind nicht so präzisen Sinnes wie das Wort. Man kann sie auslegen, stimmungsgemäß, je nach Anlage, und subjektiv verschieden deuten. Jeder holt sich daraus, was ihm entspricht. Die unbegrenzte Möglichkeit des Mißverständnisses bürgt für allgemeine Wirkung.

             Das entfesselte Theater deutet eine Freiheit aus Not. Hier ist eine Kunst wieder einmal frei geworden, wie ein Vagabund, der seine Heimat verloren hat.

In: Der Tag, 1. November 1924, S. 2.